Drei Begriffe sind in der Diskussion um das »Innen/Außen« des historischen China stets von entscheidender Bedeutung: Territorium, Ethnizität (minzu 民族) und Geschichte. Soll das Territorium auf der Grundlage des traditionellen Konzepts der »großen Vereinigung« (da yitong 大一统) und ausgehend vom vollständigen Territorium des modernen China zurück projiziert werden oder soll es entsprechend der Entstehung des historischen China mit seinen aufeinanderfolgenden Dynastien aus der Vergangenheit heraus bis heute betrachtet werden? Sollen die Völker einen gemeinsamen Ursprung im Sinne der »chinesischen Nation«, der für den Aufbau eines modernen Staates erforderlich ist, zurückverfolgen oder konstruieren, oder sollten sie ihre Abstammung anhand ihrer Bräuche und Sprachen, der Verbreitung, Migration und Identität der einzelnen Gruppen erzählen? Soll die Geschichte einem einzigen Narrativ folgen, in das all die verschiedenen Fäden eingewebt werden, oder sollte sie einen Prozess erzählen, der verschiedenen Narrativen folgt, die gleich hundert Flüssen in ein Meer strömen? Diese drei Punkte wurden in der Vergangenheit ausgiebig diskutiert.
In meinem Buch Was ist China? habe ich kurz zwei gegensätzliche Argumentationsschulen vorgestellt:171 Die eine, die u. a. von Bai Shouyi 白寿彝 (1909–2000) vertreten wurde, ist der Ansicht, dass sich das Studium der chinesischen Geschichte nicht auf das »Territorium der kaiserlichen Dynastien« stützen sollte, sondern sich von der Ausdehnung des Staatsgebiets der heutigen Volksrepublik China aus retrospektiv, sozusagen »stromaufwärts«, vorarbeiten sollte. Die Vertreter dieser Schule betonen u.a., dass ein solches rückwärts gerichtetes Vorgehen beim Studium der Geschichte uns erstens »von der Vorherrschaft alter Betrachtungsweisen«, d. h. der historischen Sichtweise der kaiserlichen Dynastien, und zweitens von han-chauvinistischen Tendenzen »befreien« könne, sowie drittens es ermöglichen würde, »die Geschichte im Sinne des Verständnisses der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu studieren«.172 Dieser Ansatz war allerdings bereits in den 1960er Jahren von Sun Zuomin 孙祚民 (1923–1991) angefochten worden. Sun schlug vor, das jeweilige Territorium der aufeinander folgenden Dynastien in der chinesischen Geschichte als Rahmen zu verwenden, da die Herrschaftsbereiche jeder Dynastie unterschiedlich gewesen seien und sich das Territorium im Laufe der Geschichte immer wieder verändert habe. In den 1980ern wurde er in seiner Kritik noch deutlicher: Ausgehend vom Umfang des Territoriums der heutigen Volksrepublik China seien bei der retrospektiven Methode »die Fehler ganz offensichtlich. Die Fehlerhaftigkeit liegt darin, dass der historische Prozess, der zur Entstehung von China als einem ›vereinten, multiethnischen Staat‹ China geführt hat, ignoriert wird und zwei völlig unterschiedliche Zeithorizonte, nämlich die historische ›Gegenwart‹ und die aktuelle Gegenwart vermischt« würden.173
Ich stimme der Position von Sun Zuomin zu. Wissenschaftler, die »China« auf den Grund gehen wollen, müssen den »historischen Prozess« immer im Blick behalten. Ignoriert man ihn, dann handelt es sich nicht nur um keine nach der Wahrheit trachtende Geschichtswissenschaft, sondern um Politikwissenschaft, die nach einer Legitimation des modernen China sucht. In Zeiten, in denen Politik und Wissenschaft unweigerlich miteinander verstrickt sind, sehen sich viele Wissenschaftler in einer Zwickmühle.174 Als es 1980 gerade wieder möglich war, über ethnische Geschichte zu diskutieren, führte die Frage, ob Staatsgründungen/Regime fremder Ethnien in der Geschichte wie der Staat Bohai (koreanisch Parhae), die Khitan, die Jurchen und die Spätere Jin-Dynastie nun als »China« oder »Ausland« anzusehen waren, zu den folgenden zwei Schwierigkeiten: Historiker, die aus politischen Gründen den modernen multiethnischen Staat und die Integrität des Territoriums verteidigen, konnten nur sagen, die beispielhaft genannten Regime seien kein »Ausland«. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, der die Geschichte und die Quellen respektiert, konnten Historiker aber auch nicht behaupten, es habe sich nur um »lokale Regime« (difang zhengquan 地方政权) gehandelt. Wenn sie aber weder »Ausland« noch »lokale Regime« waren, was waren sie dann?175
Ich habe schon immer die Ansicht vertreten, dass das Territorium, die Völker und die Geschichte Chinas nicht »allesamt von [den mythischen Urkaisern, AdÜ] Yan und Huang (oder Chiyou 蚩尤) abstammen« und sich also nicht alles auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lässt. Ebenso wenig haben sich alle ungeachtet ihrer Herkunft aufgrund gegenseitiger Anerkennung zu einer großen Familie der »chinesischen Nation« zusammengeschlossen. Meine obigen Ausführungen zeigen, dass manche Orte im langen Prozess der Geschichte von »Ausland« zu »China« wurden und umgekehrt. Teilungen und Zusammenschlüsse waren ganz normale Vorgänge. In alter Zeit wurden Reiche gegründet und brachen zusammen, vereinigten sich und teilten sich wieder, egal ob es das Römische Reich war, das Han-Reich, das Sassaniden-Reich, das Große Arabische Reich oder das Osmanische Reich.
Man muss nur wissen, dass das alte chinesische Kaiserreich insofern einzigartig war, als das in der Qin- und der Han-Dynastie auf politischer, kultureller und administrativer Ebene zusammengeschmiedete »China« ziemlich stabil und groß war. Daher war die so entstandene politisch-kulturelle Gemeinschaft über einen sehr, sehr langen Zeitraum von äußeren Kräften nicht zu zerschlagen. »China« und seine »Peripherie« waren entweder – in der Han- und der Tang-Zeit – ein Reich und das Reich umgebende Länder, verfeindete Staaten (wie in den Dynastien der Song, Liao, Jin und Xia) oder ein Reich und sein »Inneres« (wie zur Zeit der mongolischen Yuan-Dynastie und der Mandschu-Qing-Dynastie mit ihren inneren Provinzen benbu xingsheng 本部行省).
Deshalb möchte ich bei meinem Rückblick auf die Geschichte betonen, dass ich China weder einfach als eine »imaginäre Gemeinschaft« betrachte noch als einen »konstruierten Zivilisationsstaat«. Genauso wenig meine ich, dass China eine »eindeutige Abstammung« hat, sondern nur eine aus »parallelen Linien« gebildete Geschichte. Ich möchte es so formulieren: »China« als ein kulturelles Phänomen ethnischer Identität, als eine Gesellschaft mit relativ homogenen Bräuchen und Lebensgewohnheiten und als eine kulturelle Gemeinschaft, hat in einem sehr langen historischen Prozess tatsächlich eine ziemlich augenfällige Dauerhaftigkeit und Stabilität gezeigt.
Die Frage, die sich stellt, ist: Warum konnte dieses »China« kontinuierlich existieren?
Wie ich bereits sagte, errichtete die Qin-Dynastie im dritten Jahrhundert v. Chr. ein geeintes Reich und nutzte ihre staatliche Macht, um einheitliche »Gesetze, Maße, eine einheitliche Wagenspur und Schrift«176 durchzusetzen. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. übernahm die Han-Dynastie den Konfuzianismus als Ideologie und »mischte die Methoden des Hegemon und des Königs«.177 Ein politisch, kulturell und sprachlich weitgehend einheitliches chinesisches Imperium (zhonghua diguo 中华帝国) war zu jener Zeit bereits geformt. Aber während wir für die Qin- und Han-Dynastien vor allem über Entstehung und »Ausformung« sprechen, müssen wir im weiteren Verlauf der Geschichte der Frage der »Kontinuität« nachgehen, d. h. der Frage, wie dieses »China« in den zwei Jahrtausenden nach der Qin- und der Han-Dynastie durch alle Dynastiewechsel hindurch, trotz der wiederholten Teilungen und Vereinigungen des Reiches und angesichts der Vermischung von ethnischen Gruppen, seine politische und kulturelle Kontinuität aufrechterhalten konnte. In seinem Buch Huaxia Lunshu (A Discourse on China) hat Cho-yun Hsu die folgenden drei Kräfte genannt, die »China« zusammengehalten und zu seiner Kontinuität beigetragen hätten: erstens die wirtschaftliche Vernetzung, zweitens die politische Elite und drittens die Schrift.178 Ich halte das für weitgehend plausibel, möchte aber an dieser Stelle die Diskussion ein wenig ausweiten und aus drei Perspektiven weiterführen: institutionell, zivilisatorisch und sozial.
Von großer Bedeutung sind Institutionen, also das Verwaltungssystem. Nach der Einigung Chinas unter der Qin-Dynastie wurde das System der Amtsbezirke und Kreise eingeführt. Schrift, Währung, Verwaltung, Recht und Gesetze, Maße und Gewichte sowie Verkehr und Transport wurden in den bisher unterschiedlich verwalteten sechs Staaten vereinheitlicht und so eine administrative Einheitlichkeit bewirkt (ein weiterer wichtiger Faktor war außerdem die Entmilitarisierung im Innern des Reiches und eine einheitliche und zentrale Kontrolle der Armee, anstelle der Verwendung von lokalen Militäreinheiten). Damit war die wichtigste Grundlage für die Ausformung und den Fortbestand von »China« geschaffen. Auch wenn die geschichtliche Entwicklung nach der Qin- und Han-Dynastie sehr wechselhaft verlief, behielt das politisch-kulturelle Kerngebiet des Reiches seine Grundform dank eines straffen Verwaltungsapparates in einem strengen bis drakonischen System bei. Dokumente aus der Qin und Han-Zeit, unter anderem Aufzeichnungen auf Bambusstreifen aus archäologischen Ausgrabungen wie die »Qin-Bambusstreifen aus Shuihudi« und das in Zhangjiashan gefundene »Ernian jinling« (beide in der Provinz Hubei), zeigen, wie die Politik von oben nach unten kommuniziert wurde und dass dieselben Befehle und Anordnungen in einheitlichen chinesischen Zeichen ausgegeben wurden. Weil das Verwaltungssystem der Zentralregierung bis auf die unterste Ebene reichte (einschließlich der Ernennung von Beamten, Inspektionen und Kontrollen sowie dem Berichtswesen aus den Bezirken und der Haushaltsmelderegister), konnten überall Arbeitskräfte rekrutiert und bei Großprojekten eingesetzt werden (zum Beispiel im Kanalbau, beim Bau der Großen Mauer und für kaiserliche Grabanlagen oder zur Konstruktion von Holzstegen entlang von Felswänden. Die Protagonisten Chen Sheng 陈胜 und Wu Guang 吴广 aus der »Chronik der Familie Chen Sheng« im Shiji waren solche vom Staat zur Arbeit verpflichteten Personen). Die Kontrolle der nationalen Monopole für Salz und Eisen und der Münzprägung sowie der Unterhalt einer großen und einheitlichen Armee unter einem zentralen Kommando machten China in der Qin-Dynastie eindeutig zu einem gut integrierten »Staat«, oder wie Nishijima Sadao 西嶋定生 es nannte, zu einem »legalistischen Staat«. Auch wenn das Reichsterritorium in den späteren Dynastien mal schrumpfte und mal expandierte und die ethnische Zusammensetzung des Volkes und die Strukturen des Herrscherhauses immer wieder anders waren, so trug das politisch-kulturelle Kerngebiet, das durch dieses einheitliche System geformt und geprägt war, maßgeblich zu seiner Kontinuität und Unveränderlichkeit bei.
Nach den Dynastien Qin und Han bildeten chinesisches Wissen, Denken und religiöse Überzeugungen allmählich eine klare und stabile kulturelle Tradition heraus. Die vom Kaiser angeleiteten Staatsrituale formten einen sakralen Glauben und die Geschichtsschreibung konstruierte eine gemeinsame Geschichte. Diese scheinbar sehr schwammige Kulturtradition, der sakrale Glaube und die gemeinsame Geschichte waren relativ wichtig. Wenn ich auch nicht ganz mit der These von der »vorgestellten Gemeinschaft« (imagined community) von Benedict Anderson einverstanden bin, so bin ich doch bereit, seinen Begriff »vorgestellt« zu übernehmen, um zu erklären, dass diese »Vorstellung«, genau wie er es formuliert hat, auch ein Akt der »Schöpfung« ist. Dies gilt vor allem, wenn Menschen in einem gemeinsamen Raum unter dem Einfluss eines vereinten Imperiums leben und sich mit derselben Kultur, demselben Glauben und derselben Geschichte »identifizieren«, um sich dann in dieser kulturellen Tradition, diesem heiligen Glauben und dieser gemeinsamen Geschichte, die durch das »Medium der Sprache und der Schrift« verbunden sind, vorzustellen, dass sie eine gemeinsame Tradition haben und deshalb naturgemäß auch ein Volk und eine Nation sind. Ganz wie Anderson schreibt, haben solche »Kultursysteme, die vor dem Aufkommen des Nationalismus existierten, den Nationalismus erst hervorgebracht und auch den Hintergrund für sein Entstehen gebildet«.179 In diesem Moment hat die »vorgestellte« Gemeinschaft nicht nur ein nationales Bewusstsein und Identitätsgefühl gefördert, sondern die echte Nation auch »erschaffen«.
Wenn wir die Entstehung dieser gemeinsamen Kultur, Religion und Geschichte betrachten, sollten wir drei spezifische Punkte in den Blick nehmen. Zuerst eine gemeinsame Lebensweise und soziale Regeln und Normen. Schaut man auf die Geschichte der Qin- und der Han-Dynastie, so ist die Geschichte der Qin-Dynastie zwar so kurz, dass es schwierig ist zu sagen, inwieweit die »Praxis des einheitlichen Verhaltens« (xingtonglun 行同伦), wie sie im Buch der Riten (Kapitel 29 »Zhongyong«) beschrieben wird, umgesetzt wurde, aber zweifellos hatte die Qin-Dynastie eine Strategie zur Schaffung einer politischen und kulturellen Ordnung.180 Als nämlich Li Si 李斯 (Großkanzler unter Kaiser Qin Shihuang, AdÜ) nach der Zeit der »Reichseinigung unter einem Kaiser mit einer klaren Unterscheidung von Schwarz und Weiß und einheitlichen Standards« verlangte, dass »das Volk sich der Landwirtschaft und dem Handwerk widme und die Gelehrten die Gesetze und Verbote studieren«,181 geschah dies vor dem Hintergrund des mit staatlicher Macht durchgesetzten Verbots von abweichenden Meinungen. Bei der späteren Entscheidung zur »Ablehnung der hundert Schulen und alleinigen Verehrung des Konfuzianismus« (bachu baijia, duzun rushu 罢黜百家, 独尊儒术) unter Kaiser Wudi in der Han-Zeit handelte es sich letztlich um eine Fortsetzung der ideologischen und kulturellen Vereinheitlichung. Von Shu Suntong 叔孙通 und Dong Zhongshu 董仲舒 in der Westlichen Han-Dynastie bis zum Baihutong (Halle des Weißen Tigers) in der Östlichen Han-Dynastie wurden die zivilisatorischen Normen des alten China wie »die große Einheit«, die Hierarchie von Herrscher und Untertan, die drei großen und drei minderen Prinzipien (Sangang liuji 三纲六纪; die drei großen Prinzipien regelten die Unterordnung von Ministern, Söhnen und Frauen unter Herrscher, Väter und Männer, AdÜ) sowie die gleichzeitige Beachtung von Riten und Gesetzen etabliert. Die Menschen im politischen und kulturellen Kerngebiet des Han-Reiches entwickelten allmählich eine ähnliche Clanstruktur sowie ähnliche Rituale und Bräuche. Im Gegensatz zur Qin-Dynastie, die ihre Herrschaft ausschließlich auf Gewalt stützte, setzte die Han-Dynastie sowohl auf Macht bzw. Gewalt als auch auf Bildung. Sie kam in einem zweigleisigen Ansatz der »schonungslosen Beamten« und der »vernünftigen [oder wohlwollenden] Beamten« zur Geltung als eine »Mischung des Wegs des Königs und des Hegemon« und brachte gemeinsame zivilisatorische Normen hervor.182
Ein zweiter Punkt ist der gemeinsame heilige Glauben. Auch wenn man festhalten kann, dass die Opfer- und Ritualtraditionen der sechs Staaten mit den Guanzhong-Schreinen des Qin-Heimatlandes, den acht Hauptheiligtümern des Staates von Qi (für den Himmel, die Erde, Soldaten, Yin, Yang, die Sonne, den Mond und die vier Jahreszeiten) und den berühmten Bergen und Flüssen jedes Landes während des Qin-Reiches zunächst beibehalten wurden, so wurden von der Qin- zur Han-Zeit doch schrittweise die staatlichen Opferrituale etabliert, um die Autorität der Eroberer, d. h. des Kaisers, zu demonstrieren. In der Han-Dynastie wurde ebenfalls manches übernommen, aber es gab auch Veränderungen und es wurde Schritt für Schritt ein einheitliches staatliches Ritualsystem etabliert, dessen Heiligkeit auf den Klassikern beruhte. Hierdurch verschwanden alle Arten von lokalen Schreinen und Tempeln der Staaten und Amtsbezirke von der Bühne der Geschichte. »Die staatlichen Rituale des vereinigten Reiches entledigten sich der vor-Qin-zeitlichen Strukturen und traten in einen neuen Modus ein.« Dieser neue Modus entsprach einerseits dem Bedürfnis nach einem gemeinsamen sakralen Glauben in dem vereinigten Reich und sollte andererseits wiederum die Einheit des Reiches stärken.183
Drittens komme ich zum gemeinsamen historischen Narrativ. Sima Qians Shiji stellt in gewisser Weise die historische Beweisführung für das riesige Reich dar und ähnelt darin jener Universalgeschichte Roms, den Historien, verfasst von Polybios (ca. 200–120 v. Chr.), der die Ursprünge der Geschichte eines weltenumspannenden Römischen Reiches in einen verständlichen Kontext stellen musste.184 Sima Qian und sein Sohn erlebten einige symbolträchtige epochale Ereignisse, darunter »Naturereignisse, die das Mandat des Himmels bestätigten, die kaiserlichen Fengshan-Rituale der Himmels- und Erdverehrung am Taishan, eine Kalenderreform, den Wechsel der Kleidung und die Verleihung des Himmelsmandats«, wurden Zeugen der »unterschiedlichen Bräuche im Ausland und der Unterwerfung vielsprachiger, weit entfernter Völker unter die Herrschaft der Han«, d. h. der großen Veränderungen,185 die mit dem Aufschwung und der Expansion des Reiches einhergingen, so dass Sima Qian aus eigenem Antrieb die verantwortungsvolle Aufgabe übernahm, die Geschichte dieses großen Reiches zu schreiben. In den »Aufzeichnungen der fünf Kaiser« und den »Aufzeichnungen der Xia, Shang und Zhou« dokumentierte er die Ursprünge des Reiches und konstruierte einen historischen Stammbaum. Kapitel wie »Über die Dayuan« und »Über die Xiongnu« u. a. etablierten den Kern und die Peripherie dieses Reiches und markierten die Grenze zwischen Innen und Außen.
Mit seiner Einteilung in »Kaiserbiografien«, »Biografien von Herzögen und Fürsten« sowie »Biografien beispielhafter Persönlichkeiten« definierte das Werk die unterschiedlichen sozialen Gruppen des Imperiums. Die Kapitel über Staatswesen und Kultur definieren die wichtigsten Bereiche der historischen Perspektive. In diesem geschichtlichen Meisterwerk wird erstmals die Silhouette »Chinas« sichtbar. Wir sagen immer, die Geschichte werde von Menschen geschrieben, aber sobald sie einmal niedergeschrieben ist, hat sie eine große, identitätsstiftende Kraft. Die verschiedenen historischen Werke, die auf das Shiji folgten, insbesondere die offiziellen Geschichtswerke, egal ob sie in han-chinesischen oder fremdbeherrschten Dynastien erstellt wurden, übernahmen in ihrer Geschichtsschreibung die Herausstellung »Chinas« und führten die Betonung der Kontinuität der »chinesischen« Geschichte fort.186
Die Gelehrtenbeamten in der Qin und Han-Zeit, die diese Zivilisation propagierten, umsetzten und verbreiteten, wurden mit der Zeit zu einer eigenen Klasse.187 Weil sie eine gemeinsame politische Idee des Staates teilten, bildeten sie in der Gesellschaft eine untereinander verbundene Gemeinschaft und entwickelten allmählich in ihrem Denken ein gemeinsames konfuzianisches Ethos.188 Darüber hinaus knüpften sie untereinander Kontakte und Freundschaften. Sie wurden zu Kollegen und bildeten Gruppen, und formierten sich seit dem Mittelalter durch das kaiserliche Prüfungswesen zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Klasse von Menschen, die ungeachtet der ethnischen Herkunft des Herrscherhauses und wechselnder Dynastien durch Abstammung und verwandtschaftliche Sippenverbindungen, Rituale der Ahnenverehrung, Gemeinschaftseigentum der Familienclane, Planung und Anlage der Grabstätten und durch die Teilhabe an der lokalen Verwaltung Clannetzwerke und lokale Gemeinschaften bildeten, in deren Mittelpunkt die Gentry bzw. der Gelehrtenadel stand.
Von oben betrachtet, arbeiteten das Qin- und das Han-Reich, insbesondere unter den Kaisern Qin Shihuang und Han Wudi, »beide daran, die universellen Werte des Reiches an seine Ränder auszustrahlen und dort zu verbreiten«. Dies führte zu einer kontinuierlich zunehmenden Integration des Reiches. Auf der unteren Ebene waren es jedoch »die mächtigen Grundbesitzer und die großen und kleinen Clans innerhalb der Dorfgesellschaften der Qin- und Han-Zeit«, die das solide Fundament dieses Reiches ausmachten. Wie Li Mingzhao 黎明钊 hervorhebt, war das die Grundlage, auf der das Reich »zusammenwuchs« und eine »Ordnung« etablierte.189 Einerseits vertraten die lokale Gentry und die Großfamilien die lokalen Interessen gegen die direkte Kontrolle des kaiserlichen Zentrums (in den Geschichtsbüchern als »illoyale und böse Gentry« bezeichnet), andererseits fungierten sie als Repräsentanten des Zentrums, indem sie als Vermittler zwischen der lokalen Bevölkerung und der kaiserlichen Regierung auftraten (wie die halboffiziellen Sanlao und andere Dorfbeamte niedrigen Ranges). Diese Schicht ermöglichte es, dass die soziale Grundstruktur sowie die grundlegenden kulturellen Gewohnheiten in allen Dörfern, Landkreisen und Präfekturen des Reiches vom Anfang bis zum Ende bestehen blieben. In dem Maße, wie sie zu einer hierarchischen Struktur mit überschneidenden Verbindungen auf lokaler, mittlerer und sogar zentraler Ebene wurden, verdichteten sie wie armierter Beton das Land zu einer Einheit. Ungeachtet der dynastischen Wechsel an der Spitze des Reiches gelten die alten chinesischen Redewendungen wie »die Kasernen stehen starr und unbeweglich, die Soldaten kommen und gehen« oder »wenn sich das Wasser zurückzieht, kommen die Steine zum Vorschein«, um die Beziehung zwischen dem sich verändernden Staat und einer stabilen Gesellschaft, zwischen den wechselnden dynastischen Herrscherhäusern und der unveränderten lokalen Gentry zu verdeutlichen. Mochten auch die kaiserlichen Herrscher von der Qin- und Han-Dynastie bis zur späten Qing-Dynastie häufig wechseln, so erwiesen sich die lokalen Gesellschaften im traditionellen chinesischen Kernland gleichzeitig als weitgehend stabil.
Es ist festzuhalten, dass die drei oben genannten Punkte nicht der Schlüssel zur Entstehung eines riesigen »Reiches« bzw. einer »Dynastie« sind, sondern zum Fortbestand der politisch-kulturellen Gemeinschaft »China«. In dem im Großen und Ganzen von den Dynastien Qin und Han etablierten Territorium wurden innerhalb der darauf folgenden zweitausend Jahre Reiche errichtet und zerfielen, Dynastien entstanden und zerbrachen, das Territorium wurde geteilt und wieder vereinigt und ethnische Gruppen mischten sich – aber dieses im politischen und kulturellen Sinne existierende »China« bestand kontinuierlich. Institutionen, Zivilisation (Kultur) und Gesellschaft – diese drei Elemente bildeten die Grundlage dafür, dass dieses »China« alle »Reiche« bzw. »Dynastien« transzendieren konnte. Sie führten dazu, dass das politisch-kulturelle Kerngebiet »China« in der alten Kaiserzeit eine ähnliche institutionelle, kulturelle und soziale Homogenität aufwies wie moderne Staaten. Ich möchte hier auch noch einmal deutlich machen, dass »China« zwar als politisch-kulturelle Gemeinschaft nach der Qin- und der Han-Dynastie fortbestand, aber nicht immer vollständig den Territorien der späteren Reiche entsprach, bzw. dass die Politik und Kultur des han-chinesischen China sich nicht unbedingt über das gesamte Reichsgebiet erstreckte. Insbesondere weil das Territorium mal geteilt und mal vereinigt und von unkalkulierbaren Prozessen der Expansion und Schrumpfung gekennzeichnet war, muss ein Ort, der sich heute an der chinesischen »Peripherie« befindet, früher nicht zwangsläufig »innerhalb« Chinas gelegen haben. Um das historische China zu verstehen, ist es nicht zwingend notwendig, sich auf die vollständigen »9,6 Millionen Quadratkilometer« (die Fläche des Territoriums der heutigen Volksrepublik China) oder auf den Umriss des Landes in Form eines »Hahns« oder eines »Zierapfels« zu fixieren, um anhand des modernen chinesischen Staates seine Geschichte zurückzuverfolgen, sondern es ist besser, das Territorium Chinas im chinesischen Kontext zu beschreiben.
Wenn wir davon abkommen würden, die historische Rückschau nach modernen nationalen Idealen auszurichten, dann könnte der historische Diskurs über die modernen Staatsgrenzen hinaus transzendieren. Wenn wir das historische Territorium des alten China als einen Zustand permanenter Bewegung und Veränderung verstünden, dann könnten wir das Gebiet jenseits des Jiayu-Passes vor der Ära der drei Qing-Kaiser Kangxi, Yongzheng und Qianlong vielleicht als die 36 westlichen Staaten der Han-Dynastie erkennen, als einen Ort, wo sich im Mittelalter die Völker mischten und religiöse Konflikte ausgetragen wurden, als einen Ort des wiederholten Tauziehens zwischen der Tang-Dynastie und dem tibetischen Tubo-Reich oder als eine Grenzregion, in der vor dem 18. Jahrhundert Ost und West aufeinander trafen, wie es James A. Millward vorgeschlagen hat,190 oder sogar in Anlehnung an Peter C. Perdue als das im 17. und 18. Jahrhundert von den drei Imperien Mandschu-Qing (1644–1911), Russland (1613–1917) und der mongolischen Dsungarei (1671–1760) umkämpfte Kerngebiet Eurasiens (Perdue führt den Begriff »Central Eurasia« ein, Preface xiv, AdÜ).191 Genauso könnten wir uns darauf einigen, das historische Yunnan nicht mehr als eine Randregion des chinesischen Kaiserreichs zu betrachten, sondern als ein Kerngebiet für das Zusammentreffen indischer und han-chinesischer Kultur, des chinesischen Buddhismus und des Theravada-Buddhismus sowie vieler ethnischer Gruppen wie Thai, Miao, Yi , Han usw.192 Analog dazu könnten wir auch dazu übergehen, Geschichte nicht immer nur als Geschichte von Ländern/Staaten zu erzählen, sondern zum Beispiel das ostchinesische Meer mit den Anrainern Japan, Korea, China, Vietnam, Philippinen usw. als einen Raum mit dem Meer als Zentrum zu betrachten und eine neue Geschichte der Beziehungen und Verzahnungen zu schreiben.
Ein historisches Narrativ, welches nur von einem Zentrum (einem Staat) ausgeht, wird immer zu einer Geschichte mit einem Zentrum und einer Peripherie führen, wobei das Zentrum oft klar und der Rand oft verschwommen ist. Wenn sich die Geschichte nur auf das Zentrum konzentriert, gerät die Peripherie immer ins Hintertreffen. Wenn man jedoch mehrere Zentren und mehrere historische Kreise (Räume) heranzieht, wird es viele Überlappungen an den Rändern dieser historischen Kreise geben. Deshalb plädiere ich dafür, nicht nur »China von der Peripherie aus zu betrachten«, sondern auch Japan, Korea und die Mongolei. Ich wünsche mir, eine Reihe historischer Kreise zu ziehen und die Geschichte in diesen sich überschneidenden Peripherien neu zu betrachten und so vielleicht viele verschiedene historische Landschaften zu entdecken. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass antike Reiche keine Grenzen hatten, sondern nur Grenzregionen, und dass diese unscharfen Grenzregionen wiederum miteinander verflochten sein konnten. Nach einer modernen Definition unterscheidet sich das traditionelle »Imperium« dadurch vom modernen »Staat«, dass es für gewöhnlich »keine Grenzen hat« und ein riesiges Territorium besitzt, welches »den unbegrenzten Raum mit vier Meeren in einem« umfasst. Es handelt sich nicht um einen ethnisch homogenen Staat, sondern um »ein Vielvölkerreich«. Daher war das Oberhaupt Kaiser und »Khan« zugleich. Gleichzeitig waren seine »Untertanen« keine »Staatsbürger«, sondern Untertanen verschiedener sozialer Ränge. Außerdem wurde das Imperium nicht mittels »Institutionen«, sondern durch »Gewalt« regiert.193 Im Gegensatz dazu hat der moderne »Staat« konkrete Staatsgrenzen, eine eindeutige und unabhängige Souveränität. Seine Bürger sind Staatsbürger, deren Identität auf der Grundlage des Staates gründet und nicht auf lokalen oder ethnischen Zugehörigkeiten oder Bräuchen. Er regiert auch nicht mittels Macht, Prestige und Mythos, sondern mittels eines Systems von staatlichen Institutionen, die von den Staatsbürgern anerkannt werden. Noch wichtiger ist, dass er gleichberechtigte internationale Beziehungen unterhält. Auch wenn die historischen Reiche der Römer, Sassaniden, Osmanen, Moguln und Chinesen nicht in jedem Punkt genau der Definition entsprochen haben, so ist es doch wahr, dass traditionelle Reiche oft unterschiedliche Verwaltungssysteme, Pluralismus der Kulturen und eine Segmentierung des Territoriums aufwiesen und sich nach ihrem Zusammenbruch in einzelne Bestandteile auflösten, so wie das antike Römische Reich und das moderne Osmanische Reich in mehrere Staaten mit unterschiedlichen Ethnien und Religionen zerfielen.194
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass das chinesische Reich im Vergleich zu den anderen alten Imperien einige Besonderheiten aufweist, weil sein politisch-kulturelles Kerngebiet und das »han-chinesische China« verhältnismäßig groß waren. Wenn auch sein Territorium und seine Völker nicht zu einem System, einer Kultur und einer Geschichte gehörten, so war es dennoch ein traditionelles multikulturelles Vielvölkerimperium. Beim Übergang von einem traditionellen Imperium zu einem modernen Staat verschlang dieses als »China« bezeichnete politisch-kulturelle Kerngebiet mit seiner Kultur die Peripherie wie ein schwarzes Loch im Universum oder hielt gleich einem Planeten im Universum mit Gewalt seine Monde bei sich. So hat der Prozess der Transformation des modernen China eine außerordentlich komplizierte Situation hervorgebracht, nämlich das, was ich die Vermengung der beiden Systeme »von Tianxia zu den Nationen« (cong tianxia dao wanguo 从天下到万国) und »die Inklusion der vier Barbaren in China« (na si yi ru zhonghua 纳四裔入中华) nenne.
Was ist das Ergebnis dieses Wandels? Wie ich bereits in Hier in China lebe ich geschrieben habe, denke ich, dass das »chinesische Reich« mit einem stabilen Kern und unscharfen Rändern den langen Schatten des »Zentrums der Welt« und »eines großen Landes ohne Grenzen« hinter sich herzieht, was ihm immer das Gefühl gibt, ein Weltreich zu sein. Die Transformation des modernen Staates in China war also »nicht der Übergang vom Kaiserreich zum Nationalstaat. Es waren vielmehr das Konzept eines begrenzten ›Staates‹ im Bewusstsein eines grenzenlosen ›Reiches‹, die Vorstellung eines grenzenlosen ›Reichs‹, die sich in der Wahrnehmung des begrenzten ›Staates‹ erhalten hat, die Metamorphose des modernen Nationalstaates aus dem traditionellen Weltreich und die Reste des traditionellen Bewusstseins des Weltreiches, die im modernen Nationalstaat verblieben sind.«195