Utopisch ist ein Bewusstsein,
das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet.
Karl Mannheim, »Ideologie und Utopie«, Bonn 1929, 169
In der vergangenen Dekade wurde auf dem chinesischen Festland wiederholt eine utopische Vorstellung von einer künftigen Welt entworfen, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen Expansion Chinas einerseits bei diversen neuen Theorien aus dem Westen bedient, und sich andererseits gleichzeitig in den Gewändern der traditionellen chinesischen Kultur präsentiert.278 Diese Utopie heißt tianxia 天下.
Bei der Beschreibung dieses »Tianxia« (wörtl. Alles unter dem Himmel) verwende ich hier das Wort »Vorstellung«, obwohl mir bewusst ist, dass »Tianxia« in den Augen seiner Vertreter bereits die reale »politische Sphäre« und das »System« berührt. Solange es aber noch nicht zu einem Prinzip »internationaler Beziehungen« oder »auswärtiger Angelegenheiten« geworden ist, ziehe ich es vor, es als eine »Phantasie« von Gelehrten zu behandeln. Natürlich weiß ich, dass die Vorstellungen von »Tianxia« in den letzten Jahren von einem philosophischen »System des Tianxia« über die politisierte »Weltordnung des Tianxia« bis hin zum konzeptionellen »Tianxia-ismus« (engl., sinocentrism) reichen. Ohne zunächst näher darauf einzugehen, was dahintersteckt, lässt sich zumindest feststellen, dass diese sich an ihrem linken Rand aus den westlichen Theorien der neuen Imperialismuskritik nähren und sich daher sowohl politisch korrekt als auch voller Überzeugungskraft geben. An ihrem rechten Rand sind sie von der traditionellen »Theorie der drei Stadien der menschlichen Entwicklung« (sanshishuo 三世说) des Gongyang-Kommentars zu den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu Gongyang zhuan 春秋公羊传) beeinflusst und wirken gut begründet und historisch fundiert. Implizit als Grundlage für Regierung und Politik gedacht, könnte Tianxia angesichts der wachsenden Zweifel an der Vorherrschaft der USA in der gegenwärtigen Weltordnung durchaus eine Alternative zum gegenwärtigen internationalen System darstellen – mit dem Ziel, eine gerechtere, ausgewogenere und friedlichere Welt in der Zukunft herbeiführen zu können.
Ist dies wirklich der Fall? Ob es nun stimmt oder nicht, diese Art von Erwartung lässt es möglich erscheinen, dass die utopische Vorstellung von »Tianxia« das Potential hat, sich – in Anlehnung an Friedrich Engels – von der »Utopie zur Wissenschaft« zu entwickeln. Im Zusammenhang mit dem so genannten »Aufstieg Chinas« haben einige Kollegen in der akademischen Welt fieberhaft begonnen, über den »chinesischen Moment in der Weltgeschichte« zu diskutieren.279 Was ist damit gemeint? Nun, das 19. Jahrhundert war das britische Jahrhundert, das 20. Jahrhundert das US-amerikanische und das 21. Jahrhundert ist natürlich das chinesische Jahrhundert. Wenn aber das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Chinas ist, dann sollte China die Weltordnung anführen. Nach Meinung ihrer Fürsprecher wäre diese neue Weltordnung die Rekonstruktion des alten chinesischen »Tianxia«. Mit Begeisterung wurde dabei festgestellt, dass das im alten China beschriebene »Alles unter dem Himmel« nicht nur ein »Tianxia« im geografischen Sinne war, sondern auch eine »gemeinsame Volksseele« im psychologischen Sinne (minxin 民心) sowie – noch wichtiger – das »Ideal« oder eine Utopie von »einer Welt« (im Sinne von »die Völker zwischen den vier Meeren sind eine Familie«) sowohl im »ethischen als auch im politischen« Sinne.
Es ist nun aber durchaus nicht so, dass diese optimistischen Wissenschaftler bereit sind, »Tianxia« als eine bloße utopische Vorstellung zu behandeln, die, wie Mannheim es ausdrückte, »in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt«.280 Sie sind vielmehr bereit, die bestehende internationale Ordnung zu zerschlagen und diese »Utopie« erst zu einer »Weltordnung« werden zu lassen und dann von dieser »Weltordnung« aus eine »Weltregierung« aufzubauen.
Warum ist es so, dass Historiker, die daran gewöhnt sind, ihre Aussagen auf Fakten zu stützen, zögern, die Zukunft vorherzusagen? Nun, weil »aus dem Nichts jederzeit ein Sturm aufkommen kann« und die Zukunft »unvorhersehbar« ist. Für die Vergangenheit liegen Anhaltspunkte und Beweise vor, auf deren Grundlage leicht zu argumentieren ist, während die Zukunft auf unsicheren Prognosen beruht und zu vielen Variablen unterliegt. Seltsamerweise muss aber bei denjenigen, die von der Zukunft sprechen, besonders oft die Vergangenheit herhalten und sie versuchen stets, die auf Beweisen beruhende Geschichte zur Untermauerung einer unbewiesenen Zukunft und die Ideale der Vergangenheit zur Untermauerung ihrer Vorstellung von der Zukunft heranzuziehen. Ursprünglich wollte ich nicht auf die Geschichte des »Tianxia«-Konzepts eingehen, da dieses Thema in den Geschichtswissenschaften gut aufgearbeitet ist und es sich daher kaum lohnt, es neu aufzurollen. Da jedoch die Wissenschaftler, die sich ein »Tianxia« vorstellen, einerseits immer eifrig die Klassiker zitieren, wenn sie sich darüber auslassen, wie das historische »Tianxia« gewesen ist, und andererseits die Arbeiten der Historiker hartnäckig ignorieren, muss ich mich hier auch mit der Geschichte befassen, um aufzuzeigen, in welcher Weise es sich bei diesen sogenannten neuen »Tianxia«-Diskursen um eine »nicht-historische Geschichte« handelt.
Eine der phantasievollsten Darstellungen des »Tianxia« besagt, dass das alte chinesische »Tianxia« historische Lehren für die moderne Welt liefere, da es eine Welt gewesen sei, in der die »zehntausend Länder in Harmonie« (wanbang xiehe 万邦协和) existiert hätten. Es soll in diesem »Tianxia« kein »Innen« oder »Außen« und kein »Wir« oder »Ihr« gegeben haben. Alle Menschen seien gleichbehandelt worden. Um eine echte politische und kulturelle Stabilität und Einheit zu erreichen, sei es unumgänglich, die konfuzianische Position des »Tianxia« einzunehmen, eine Politik des »weisen Herrschers« (wörtl. »Weg des Königs«, wangdao 王道) umzusetzen und das »Tianxia«-Programm zu verwirklichen.281
Ob es für diese Behauptungen historische Beweise gibt, interessiert die zeitgenössischen »Tianxia«-Kommentatoren überhaupt nicht. Sie wählen aus historischen Quellen hier und da etwas aus, stellen sich nach ihrem Geschmack daraus einen bunten Teller zusammen und erwecken den Eindruck, sich auf solide Grundlagen berufen zu können. Als Historiker kommt man also nicht darum herum, sich wieder den alten Bücherstapeln zuzuwenden und die Quellen für sich selbst sprechen zu lassen. Wie ich bereits gesagt habe, ist das Konzept des »Tianxia« im alten China in der Geschichtswissenschaft seit langem gut aufgearbeitet. Die einschlägigen historischen Quellen und akademischen Diskussionen dazu sind zahlreich. Nur ist es eben so, dass die Gelehrten, die heute die »Tianxia«-Idee wieder auf die Tagesordnung gebracht haben und sich danach drängen, ihre neuen Sichtweisen zu äußern, sie einfach nicht lesen oder nicht lesen wollen. Ich sehe davon ab, hier alle Arbeiten pedantisch aufzulisten und nenne nur einige der wichtigsten: Vor dem Zweiten Weltkrieg erörterte der japanische Wissenschaftler Ogawa Takuji 小川琢治 (1870–1941) in »Grenzen des geografischen Wissens vor der Zeit der Streitenden Reiche« (Sengoku izen no chiri-jō chishiki no genkai 支那戰國以前の地理上智識の限界) in Studien über die historische Geografie Chinas (Shina rekishi chiri kenkyū 支那歷史地理硏究) das »Tianxia« im alten China. Nach dem Krieg erschien ein langer Aufsatz von Abe Takeo 安部健夫 (1903–1959) mit dem Titel »The view of Tianxia in ancient China« (in Eastern Cultural Lectures 东方文化讲座, Nr. 6 (1956), eine Reihe des Harvard-Yenching Instituts, die von der Harvard-Yenching Society zusammen mit der japanischen Doshisha University herausgegeben wurde). 1982 schrieb der taiwanische Wissenschaftler Xing Yitian 邢义田 den Aufsatz »Eine Familie unter dem Himmel. Die chinesische Sicht des Tianxia«. Unter den Wissenschaftlern aus der Volksrepublik wäre Luo Zhitian 罗志田 mit seinem Beitrag »Die ›fünf Zonen der Unterwerfung‹ in der Zeit vor der Qin-Dynastie und die Idee vom Tianxia im alten China« zu erwähnen.282
Im Gegensatz zu jenen Wissenschaftlern, die heute versuchen, »Tianxia« als neue Weltanschauung zu diskutieren, betonen die Autoren der oben genannten Abhandlungen in ihren Erörterungen des Begriffs »Tianxia« einen zentralen Punkt, nämlich dass »Tianxia« bei den alten Chinesen in der Regel mit den Gegensatzpaaren »wir«/»sie« (wo 我/ta 他), »innen«/»außen« (nei 内/wai 外), »Hua«/»Yi« (hua 华/yi 夷, sprich: Chinesen/Barbaren), kurz »China« und »die (Länder) der vier Himmelsrichtungen« (zhongguo 中国/sifang 四方) zusammengedacht wurde. Am Beispiel der Shang-Dynastie weisen sowohl Chen Mengjia 陈梦家 als auch Hu Houxuan 胡厚宣 und Zhang Guangzhi 张光直 bei der Erörterung der Shang-Orakelknochen und der archäologischen Entdeckung von Gräbern oder Gebäuden in Form des Schriftzeichens ya 亚 darauf hin, dass die Menschen jener Zeit sich »selbst« als Zentrum betrachteten und daraus die »Peripherie« (die fünf oder vier Himmelsrichtungen) konstruierten, weshalb Zeichenkombinationen wie die »vier Erden« oder vier Kommunen (si tu 四土 oder si she 四社), »vier Winde« (si feng 四风) und die »vier Richtungen« (si fang 四方) häufig vorkommen. »Wir«, das war zu jener Zeit die Yin- bzw. Shang-Dynastie, und die »anderen« waren die Völker und Herrschaften der Qiang, Yu, Zhou und Gui. Deren »Ländereien und das Gebiet, das sie umschlossen (das nördliche Henan und das südliche Hebei, der Westen Shandongs, der Norden von Anhui und das nordwestliche Jiangsu), waren das ruhmreiche ›Tianxia‹ des Shang-Königs«.283 Es ist ganz offensichtlich, dass die folgenden Punkte für das »Tianxia«-Konzept außerordentlich wichtig sind: Im geografischen Sinne existierte ein Zentrum, das von den »Gebieten der vier Himmelsrichtungen« umgeben war. Ethnisch gesehen bestand ein Bewusstsein von »wir« im Zentrum und »den anderen« an der Peripherie. Auf der kulturellen Ebene gab es »Chinesen« (hua), also die Zivilisation, und »Barbaren« (yi), die Wilden. Vom politischen Status betrachtet gab es »Überlegene« und »Unterlegene«.
»Unter dem Himmel ist alles Land dem König und alle Menschen sind seine Untertanen« – in der Tat ist der Kern der Ausführungen zum »Tianxia« im frühen Konfuzianismus oft, dass es »im großen Tianxia, innerhalb der vier Meere, nur einen gibt, dem Respekt und Gehorsam gebührt«.284 Die moderne These, dass im »Tianxia nah und fern und groß und klein gleich« seien (oder waren), ist lediglich ein Idealzustand, welcher von späteren Gelehrten, insbesondere den Anhängern der Gongyang-Schule der Han-Dynastie, formuliert wurde. Selbst ein oberflächlicher Blick in die klassische Literatur zeigt, dass es seit den drei Dynastien Xia, Shang und Zhou neben dem vom König kontrollierten »China« immer auch die »vier Orte der Peripherie« gab, die sich dem Zugriff des Königs entzogen. Wenn vom »Tianxia« die Rede ist, dann oft im Zusammenhang mit »China« und den »vier Richtungen«. Es ist bekannt, dass vor sehr langer Zeit »China« (zhongguo) wahrscheinlich nur das Gebiet um Luoyang bezeichnete (als bisher ältester Beleg für die Zeichenkombination »China« gelten die vier Zeichen zhaizi zhongguo 宅兹中国 auf einem 1963 ausgegrabenen, als He zun 何尊 bekannten Bronzegefäß, das auf die westliche Zhou-Zeit (1046–771 v. Chr.) datiert wird und erst mit der allmählichen Ausbreitung der Volksgruppen in der zentralen Ebene wurde zhongguo zu einer Selbstbezeichnung der Bevölkerung dieser Kernzivilisation. In den frühen Texten des Altertums war »Tianxia« manchmal zwar einfach gleichbedeutend mit »China«,285 doch im Zuge der Ausdehnung der Kernregion nahm das Wissen über die Außenwelt zu und die ursprünglichen »vier Barbarenvölker« wurden zum Teil in China integriert, so dass das expandierende China mit immer weiter entfernten Barbaren in Kontakt kam. In der Folge war mit dem, was die Menschen »Tianxia« nannten, mal »China« gemeint und mal »China« einschließlich der »vier Barbaren«.286 Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Aussage von Fan Ju 范睢 im Kapitel »Qince san« in den Strategien der Streitenden Reiche: »Han und Wei sind Länder der Mitte (zhongguo) und das Rückgrat des Tianxia. Wenn der König das Tianxia dominieren möchte, muss er sich mit den Ländern der Mitte gut stellen und sie als Rückgrat behandeln, um Chu und Zhao in Schach zu halten.«287 Hier werden »Tianxia« und »China« gegenübergestellt. »Tianxia« entspricht weitgehend nur »China« und die fremden Völker und Zivilisationen an der Peripherie bilden einen Gegensatz zu »China«. Dies geht auch aus einem kaiserlichen Edikt von Qin Er Shi (dem Sohn des Qin Shihuangdi) hervor: »Das Tianxia wurde errichtet und die vier Barbaren vertrieben.«288 Ein Beispiel für den zweiten Fall findet sich im Buch der Riten, aus dem häufig dieser Satz zitiert wird: »Das Tianxia ist eine Familie, China [eher: die Länder der Mitte] ist wie ein Mensch.«289 Hier ist »Tianxia« größer als »China«. Später, im Kapitel »Haobian 号篇« des Baihutong (Kommentar zu Baihutong, der »Konferenz des Weißen Tigers«), heißt es, dass »der Sohn des Himmels der Höchste ist, das heißt, er ist mit den Insignien des Tianxia ausgestattet und ist Herrscher über alle Staaten«. Hier umfasst »Tianxia« alle Nationen, nicht nur China, sondern auch die »vier Barbaren«.290
Nach der Han-Dynastie, und vor allem in der Sui- und Tang-Dynastie, wurde der Begriff »Tianxia« zunehmend zu einem Synonym für »China« einschließlich der »vier Barbaren«.291 Ursprünglich gab es für dieses »Tianxia« im Altertum verschiedene Bezeichnungen, wie zum Beispiel die »Fünf Zonen der Unterwerfung« (wu fu 五服 = wangji 王畿 (Domäne des Kaisers) und dian 甸; hou 侯; bin 宾; yao 要; huang 荒) im »Yugong«, im Kapitel »Über die Zhou Yi« des Guoyu und im »Jifang Shi« des Zhouli oder die »Neun Zonen der Unterwerfung« (jiu fu 九服 = Domäne des Kaisers und hou; dian; nan 男; cai 采; wei 卫; man 蛮; yi 夷; zhen 镇; fan 藩). Immer aber gab es eine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Chinesen (hua) und Barbaren (yi) und zwischen Überlegenen und Unterlegenen. Daher heißt es im Kapitel »System des Königs« im Buch der Riten, in welchem die Regeln für ein großes vereinigtes »Tianxia« festgehalten sind: »Die Menschen in den Ländern der Mitte (zhongguo), die Barbaren (Rong und Yi) und die Völker aller Himmelsrichtungen (wufang zhi min 五方之民) haben alle ihr eigenes Wesen, das nicht zu ändern ist.«292 Unabhängig von Veränderungen in späteren Zeiten ist dies die eine äußerst wichtige Einschätzung, die sich durch alle Vorstellungen und Ideen von »Tianxia« zieht:
Es wurde zwischen »Innen« und »Außen« unterschieden. Die Erde glich einem Schachbrett oder dem Zeichen hui 回, das sich kontinuierlich vom Zentrum zu den vier Seiten erstreckt. Der Kern des »Inneren« bestand aus den »Neun Provinzen« (Ji, Yan, Qing, Xu, Yang, Jing, Yu, Liang und Yong). Dieser Kern bildete später die Grundlage von »China«. Als »Außen« wurden die so genannten »Randgebiete der vier Himmelsrichtungen« (si yi 四裔) bezeichnet. Im Kapitel »Daxingren 大行人« in den Riten der Zhou heißt es: »Was außerhalb der Neun Provinzen liegt, wird Vasallenstaaten (fanguo 藩国) genannt. Sie senden Tribut, wenn ein neuer König inthronisiert wird, und bringen das, was ihnen wertvoll erscheint.« Dies bezieht sich auf eben jene »östlichen Yi, die nördlichen Di, die westlichen Rong und die südlichen Man«, die einmal in einer Generation an den Hof kamen, um Tribut zu leisten.293
Es wurde zwischen »Hua« und »Yi« unterschieden. Der Ort, an dem man sich befand, war das Zentrum des »Tianxia« und auch das Zentrum der Zivilisation (»Huaxia«). Der Grad der Zivilisation im Zentrum war viel höher als in den Randgebieten (nämlich bei den »Barbaren«).294 In dieser Zivilisationssystematik hing der Grad der Zivilisation mit der räumlichen Entfernung zusammen: Je näher der geografische Raum zum äußeren Rand lag, desto wilder war es dort, desto barbarischer waren die dort lebenden Völker und desto niedriger der Grad der Zivilisation.
Es wurde zwischen Überlegen(en) und Unterlegen(en), Herrscher und Untertanen unterschieden. Die Bewohner der Randgebiete mit ihrer niederen Zivilisation sollten sich China unterordnen. Sie erhielten nur niedrigere Ränge und Titel und durften nur bescheidene zeremonielle Kleidung tragen. Ihre politische Legitimation benötigte die Absegnung durch das Zentrum (den Kaiser). Ihre Unterwerfung manifestierte sich in Form von Tributmissionen. Im Guoyu werden mit den Worten Jigong Moufus 祭公谋父 die Opferpflichten der verschiedenen Zonen (dianfu, houfu, binfu, yaofu, huangfu) gegenüber dem Sohn des Himmels und seinen Vorfahren festgelegt. Wenn sie dem Zentrum nicht in Übereinstimmung mit diesen Forderungen dienten und keinen Respekt zeigten, dann seien die Folgen »Strafen und militärische Aktionen. Dafür gibt es Gesetze, Armeen und Ausrüstung, Befehle und offizielle Bekanntmachungen.«295
Ich möchte besonders hervorheben, dass es zwar eine Tradition der Philosophiegeschichte ist,296 einzelne Begriffe »auszuwählen und zu diskutieren«, um eine »abstrakte Herleitung« oder »kreative Auslegung« durchzuführen. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft müssen alte Begriffe jedoch in ihrem spezifischen historischen Kontext interpretiert werden. Alte chinesische Konzepte stellen meistens keine universelle »unverrückbare Wahrheit« (hard facts) dar, sondern müssen im Kontext ähnlicher Ideencluster verstanden werden. Zum Beispiel muss das politische Ideal der »großen Einheit« (da yitong 大一统) im Zusammenhang mit der »Chinesen-Barbaren-Dichotomie« gesehen werden. Dann lässt sich erkennen, dass in dieser »großen Einheit« nicht »alle gleich« waren, sondern in Innen und Außen sowie nah und fern unterschieden wurde. Das pädagogische Konzept der »unterschiedslosen Erziehung« (you jiao wu lei 有教无类) muss zusammen mit der hierarchischen Ordnung von »Herren und Wilden« und dem Prinzip der Arbeitsteilung in »geistige und körperliche Arbeit« betrachtet werden. Erst dann lässt sich verstehen, dass im alten China dem scheinbar diskriminierungsfreien Bildungsprogramm ein System hierarchischer Unterschiede zugrunde lag. Das allgemein verbreitete ethnische Konzept »Barbaren sind Barbaren und Chinesen sind Chinesen« muss im Zusammenhang mit dem Weltbild »Menschen aus der Ferne zu schätzen wissen« (huairou yuanren 怀柔远人) betrachtet werden. Dann erst lässt sich erkennen, dass dies scheinbar egalitäre Kulturverständnis in Wirklichkeit darauf beruhte, die schwächeren Barbaren zu zivilisieren. In gleicher Weise muss eine ferne Vision wie die »Gemeinschaft der Staaten« in Verbindung mit der globalen Ambition gesehen werden, dass alle im »Tianxia« im Herzen eins sind. Ohne die Großzügigkeit des Herzogs von Zhou gegenüber talentierten Untertanen und Gästen und der Fähigkeit, die Führung zu übernehmen, wird man nur »eine Herrschaft« unter »zehntausend Herrschaften« sein, aber nicht ein Held, der das gesamte »Tianxia« beherrscht. Ich meine, nur den Begriff des »Tianxia« zu extrahieren und zu glauben, dies sei eine Weltanschauung voller »Gleichheit« und »Harmonie«, ist leider eine ahistorische Geschichtsvorstellung und bestenfalls Ausdruck eines romantisierenden, hochfliegenden Ideals. Das kann man nicht ernst nehmen, sondern es nur als »auf Papierflugzeugen aus Begriffen dahinsegeln« bezeichnen.
Existierte denn irgendwann einmal ein »Tianxia«, in dem »fern und nah, groß und klein eins« waren, welches kompatibel und harmonisch war und in dem es ein friedliches Miteinander gab?297 Als Belege für die Vorstellungen und Werte der alten Chinesen können neben dem Kapitel der »Weitergabe von Riten« im Buch der Riten vielleicht auch die folgenden Aussagen dienen: »Im Tianxia gibt es keine kleinen oder großen Staaten, alle sind Städte des Himmels« aus dem Kapitel »Fayi 法仪« (Über Standards und Regeln) des Mozi 墨子, und »Zwischen den Meeren ist alles eine Familie« aus »Ruxiao 儒效« (Die Lehre der Konfuzianer), Kapitel 8 des Xunzi 荀子.
Aber vielleicht ist es angemessener, diese Vorstellungen als Ideale zu bezeichnen. In seiner »Einführung in die chinesische Kulturgeschichte« hat der Historiker und Philosoph Qian Mu 钱穆 (1895–1990) geschrieben: »Das so genannte ›Tianxia des Königs‹ jener Zeit entspricht eigentlich dem modernen Ideal der Schaffung einer Weltregierung. Alle Orte, die von der Kultur der Menschheit in der Welt erleuchtet sind, sind unter einer Regierung vereint und werden von derselben Herrschaft regiert.« Er begründete den Zustand eines vereinten Tianxia mit den folgenden Worten aus dem Zhongyong 中庸 (Buch von Maß und Mitte): »Überall im Reich des Tianxia haben die Wagen heute dieselbe Achsbreite, die Schriftzeichen sind vereinheitlicht und für das Verhalten gelten dieselben Regeln. Dies gilt soweit Wagen und Boote fahren können und soweit die Kräfte des Menschen reichen, worüber der Himmel sich erstreckt und was die Erde bedeckt; wo Sonne und Mond leuchten und wo Frost und Tau die Erde benetzen, alle, durch deren Adern Blut fließt und die atmen, lieben und ehren ihn wahrhaftig.« Dieses Zitat verleitete ihn zu der Aussage, dass alle Menschen auf der Welt zu einer Kulturgemeinschaft verschmolzen seien.298 Die Gelehrten, die jetzt »Tianxia-ismus« propagieren, beten also in Wirklichkeit die alte Leier von Herrn Qian Mu nach.
Ich erlaube mir an dieser Stelle offen festzustellen, dass dieses ideale »Tianxia« bestenfalls das »ideologische Werk« antiker Gelehrter war, nicht aber eine »politische Realität« in der Geschichte.299 Selbst im Kapitel »Zhenglun 正论« des Xunzi 荀子 heißt es, dass es auf jeden Fall eine Trennung zwischen den Xia und den Yi geben müsse: »Die Länder der Xia gehorchen dem Kaiser und haben die gleichen Rituale; die Länder der Barbaren (Man, Yi, Rong, Di) gehorchen dem Kaiser, haben aber ein anderes System. Die Domäne des Kaisers wird dianfu genannt. Darum herum liegt die houfu-Zone, sie wird von der bingfu-Zone geschützt. Die Man und Yi leben in der yaofu-Zone, die Rong und Di in der huangfu-Zone. Alle opfern den Ahnen des Kaisers nach bestimmten Regeln. Die huangfu-Zone leistet dem Kaiser Tribut.« Das bedeutet so viel wie: »Der weise König lässt Werkzeuge gemäß dem Bedarf erzeugen und Tribute gemäß der Entfernung einfordern.«300 Was aber war zu tun, wenn kein Tribut gezahlt wurde oder die Völker sich nicht unterwarfen? Dann wurde natürlich Gewalt angewendet. Im Kapitel »Die erfolgreiche Beendigung des Krieges« des Shangshu 尚书 (Buch der Dokumente) steht: »[König Wu] legte seine Rüstung an und befriedete das Reich.« Daran sehen wir, dass eine Großmacht ohne eine überlegene militärische Macht nicht in der Lage war, das Tianxia zu ordnen.301 Aus diesem Grund schrieb Du Fu in seinem Gedicht »Erneuter Besuch am Zhaoling-Grab« über Kaiser Taizong der Tang-Dynastie: »Ein Schwert von drei Fuß Länge im Staub des Krieges, am Erntealtar, ein Mann in seiner Rüstung.« Nach der Legende tanzten die Tiere und die zehntausend Stämme waren in Harmonie, als der Große Yu der Xia-Dynastie, nachdem er das Reich geordnet hatte, die Stammeshäupter zusammenrief. Der Anführer des Fangfeng-Clans aber wurde getötet, weil er zu spät eintraf. Auch zu den umliegenden Barbaren gibt es im Zuozhuan viele ähnliche Beispiele. So sagt der Marquis von Jin im vierten Jahr des Herzogs von Xiang: »Die Rong und Di kennen weder Zuneigung noch Verwandtschaft und sind voller Gier. Es ist das Beste, gegen sie Krieg zu führen. […] Die Rong sind wie wilde Tiere. Was würde es nutzen, ihre Gebiete zu gewinnen und dafür die Mitte (Hua) zu verlieren?« Im achten Jahr des Herzogs von Xi sagt Liang Youmi: »Die Di kennen keine Scham; wenn wir sie verfolgen, werden wir einen großen Sieg erlangen.« Im zweiten Jahr des Herzogs von Cheng heißt es: »Wenn die wilden Völker im Süden, Osten, Westen oder Norden den Befehlen des Königs nicht gehorchen und mit ihrer Zügellosigkeit und Trunkenheit gegen alle Pflichten der Gesellschaft verstoßen, gibt der König den Befehl, sie anzugreifen. Die eroberten Güter werden dem König präsentiert.« Wir sehen also, dass es während der Frühlings- und Herbstperiode und der Zeit der Streitenden Staaten sowohl Kontakte und Austausch mit den »Barbaren des Südens und des Nordens« gab als auch Strafexpeditionen und Vernichtungsfeldzüge gegen sie.
Wann also ist das »Tianxia« in der chinesischen Geschichte jemals ein Ort der hehren Moral und Einheit der Völker gewesen? Wann hat seit der Geburt dieses Huaxia-Chinas jemals ein harmonischer Zustand aller Ländereien bestanden? Selbst Wissenschaftler, die für ein »Tianxia-System« plädieren, müssen zugeben, dass »das alte chinesische Reich in der Realität ziemlich weit vom Ideal eines ›himmlischen Tianxia/Imperiums‹ (天下/帝国) entfernt war, so dass es in vielerlei Hinsicht nur ein ganz gewöhnliches Reich war«. Trotzdem halten sie seltsamerweise an ihrer utopischen Vorstellung fest und behaupten, dass das antike Reich immer versucht habe, »in seinen kulturellen Ambitionen nach den kulturellen Standards eines ›himmlischen Tianxia/Imperiums‹ (天下/帝国) zu handeln«. Es habe keine Häresien gegeben. Tianxia sei ein Gemeinwesen und die Welt eine perfekte politische Einheit gewesen, in der nicht die territoriale Ausdehnung, sondern die Dauerhaftigkeit im Vordergrund gestanden hätte. Das Tributsystem habe auf Freiwilligkeit beruht.302 Aber war es wirklich so? Nehmen wir die Han- und Tang-Dynastie als Beispiel, die von einigen modernen Gelehrten als »das Ende der Zeit der Streitenden Staaten und die Errichtung einer Zivilisation mit einer Tianxia-Kultur« oder »das Ende des Chaos des Mittelalters und die Errichtung eines Tianxia-Reiches« in den Himmel gelobt wurden. Während der Herrschaft von Kaiser Han Wudi in der Han-Dynastie, in einer Periode der Stärke, gab es mehrere Feldzüge gegen die Xiongnu, nach Guangdong und Guangxi im Süden und gegen die Qiang im Westen und die Barbaren im Südwesten. Jushi wurde besiegt und Korea (Chaoxian) ausgelöscht.303 Dabei wandte Han Wudi einerseits Taktik an, d. h. »er vertrieb die Huimou im Osten und errichtete in Korea eine Präfektur«. Im Westen des Landes wurde der Bezirk Jiuquan eingerichtet, um die Hu und die Qiang voneinander zu isolieren. Andererseits wandte er Gewalt an und ließ »30.200 Xiongnu enthaupten und fünf Könige und fünf Königsmütter gefangen nehmen«. Er »bestrafte Qielan und Qiongjun und ermordete Fürst Zuo 笮侯«. Außerdem »unterwarf er die Yue und ließ ihre Städte abbrennen«.304 Nur so hatte das riesige Territorium der Han Dynastie entstehen können. In einer ähnlichen Aufstiegsphase ließ der Tang-Kaiser Taizong zunächst die Turkvölker angreifen und machte die Ländereien der Tanguten zu 16 Amtsbezirken und 47 Kreisen. Es folgten Feldzüge gegen die Tuyuhun, Gorguyeo, gegen Yanqi und Kucha.305 Im alten China wurden Beziehungen zum Ausland generell so beschrieben: »Unser Niedergang ist ihr Aufstieg; unser Aufstieg ist ihr Niedergang. Wenn sie erstarken, dringen sie in unser Gebiet ein. Wenn sie schwach sind, folgen sie unseren Lehren.« Oder: »Sobald die »Armeen der fremden Völker stark sind, dringen sie in die Länder der Mitte ein, um uns zu schikanieren.« In China war es Common Sense, dass die Barbaren »Menschen mit wilden Herzen und nicht von unserer Art sind. Sie rauben, wenn sie stark sind, und verhalten sich unterwürfig, wenn sie schwach sind. Sie kennen weder Dankbarkeit noch Loyalität – das ist ihre Natur.« Nur deshalb erhielt der Tang-Kaiser Taizong den Titel eines »Himmlischen Khans«, weil er über die militärische Macht verfügte, im ganzen Reich Krieg zu führen. Seine Armeen befriedeten die Turkvölker, besiegten die Xue Yantuo, eroberten das Uigurische Kaganat (Huihe 回纥) zurück und unterwarfen Goguryeo. Die Details der Kriege brauche ich nicht zu beschreiben, denn es war – wie es in den Alten Tang-Annalen heißt – immer dasselbe: »Die Knochen der Soldaten bedeckten die Ebene, der Anblick war herzzerreißend.«306
Es gibt Leute, die im Kontakt zwischen den Menschen des Tianxia im Altertum einen Austausch von rituellen Höflichkeiten, eine »Betonung der Reziprozität der Herzen, d. h. des gegenseitigen seelischen Respekts und Dialogs« sehen. Das muss leider als pure Einbildung bezeichnet werden. Selbst der Han-Kaiser Xuan (74–49 v. Chr.) begriff, dass man nicht ausschließlich auf die konfuzianische Tugend bauen konnte, sondern die Methoden des Hegemons und des Königs, d. h. Gewalt und Tugend, gleichzeitig angewendet werden mussten.307 Die Kluft zwischen der Realität der politischen Ordnung und den Phantasien der Gelehrten in ihren Schriften ist wirklich groß.308 Die Vorstellung, die Welt mittels Zivilisation, durch Erbauung, Erziehung und Überzeugung zu beherrschen, mag in den kanonischen Werken existieren, aber die Realität der Geschichte repräsentiert die Statue vor dem Grab von Huo Qubing 霍去病 (?–117 v. Chr.), einem General der östlichen Han-Zeit: Sie zeigt ein Pferd, das einen Xiongnu zertrampelt. Wenn große Mächte sich erheben und Helden erscheinen, dann doch meistens durch Feuersbrunst und Blutvergießen. Zwar wünschen auch wir uns eine internationale Ordnung, die auf Moral, Menschlichkeit und Vernunft aufbaut, doch in der politischen und historischen Realität basierten Recht und Ordnung immer auf Macht und Interessen. Daran ist nichts zu ändern. Selbst nach der Tang- und Song-Dynastie, als die Nachbarländer bereits mit China auf Augenhöhe konkurrieren konnten und Chinas Territorium sich von einer »luxuriösen, achtfüßigen Bettstatt« in eine »Drei-Fuß-Soldatenpritsche« verwandelt hatte, hielt sich in den Herzen immer noch der alte Traum, das »Tianxia-Reich« wieder aufleben zu lassen: »Solange der Mond sich am Grund des Meeres versteckt, liegen die tausend Berge im Dunklen. Erst wenn er hoch am Himmel steht, strahlen die zehntausend Länder in seinem Glanz« (Die Zeilen stammen vom ersten Kaiser der Song-Dynastie, Zhao Kuangyin, der Mond steht für den Kaiser, AdÜ). Nach wiederholten Niederlagen blieb allerdings nichts anderes übrig, als in der Realität am Territorium des han-chinesischen Gebietes festzuhalten und den großen Traum des »alle Völker verehren den Kaiser« in das Reich der Fantasie zu verbannen. Es ist interessant festzustellen, dass China, bevor es schließlich »die Welt zur Kenntnis nahm«, obwohl spätestens seit Zhang Qians Mission in den Westen im 2. Jahrhundert v. Chr. ein relativ großer Teil der Welt bekannt war und China sich bereits in einem internationalen Umfeld des Wettbewerbs und der Konfrontation zwischen verschiedenen Ländern befand, dennoch in der konzeptionellen Geisteswelt lange an einer Art »Tianxia«, wie es im Kapitel »System des Königs« im Buch der Riten aus der frühen Han-Zeit beschrieben wird, festgehalten hat und dies zu einem Idealstaat stilisiert wurde.309 Immer hoffte man auf eine Gelegenheit, um in die Han- oder Tang-Dynastie zurückzukehren. Vielleicht stehen auch die Gelehrten, die heute für ein »Tianxia« eintreten, noch in der Verlängerung dieser Linie der Nostalgie und Imagination.
Ohne weiter auf die Han- und Tang-Dynastie einzugehen, möchte ich nun einen Blick auf die spätere Geschichte werfen. An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert verfügte die neugegründete han-chinesische Ming-Dynastie, die das Mongolenreich abgelöst hatte, nur über ein Kernterritorium von »fünfzehn Provinzen«. In den Anfangsjahren des Reiches, während der Regierungszeiten der Kaiser Hongwu und Yongle, waren die Nachbarn im Norden noch mächtig und die Ming-Herrschaft befand sich noch in der Phase der Konsolidierung. Daher wagte man bei einer Reihe von Ländern nicht, sie anzugreifen. Um Ärger zu vermeiden, wurden fremde Staaten außerhalb des eigenen Einflussbereichs möglichst ignoriert. Als sich jedoch die Dynastie im Innern allmählich stabilisiert hatte, erinnerte man sich daran, dass »ein Himmel keine zwei Sonnen hat«, und strebte eine Rückkehr zur »Tianxia-Ordnung« und zum Tributsystem an. Jedoch konnten die Han- und Tang-Dynastie nicht wiederhergestellt werden. Der Unwillen Japans geht aus einem Brief des Prinzen Kanenaga (Kanenaga shinnō 懐良親王 – auch Kaneyoshi gelesen; 1329–1383) an den Ming-Kaiser hervor: Obwohl Ihr schon sehr mächtig seid, »könnt Ihr nicht genug bekommen und wollt weiter erobern und vernichten«. Wenn Ihr den Wunsch habt, Krieg zu führen, werde ich mich zu wehren wissen. Denn »wenn die Fluten kommen, baue ich Dämme und wenn Ihr Eure Generäle schickt, werden sie auf meine Soldaten treffen. Wie könnte ich einfach auf dem Weg knien und auf Euch warten?«310 Der traditionelle Vasallenstaat Korea wehrte sich ebenfalls mit den Worten: »Ihr droht mir wie einem kleinen Kind und überzeugt die Menschen durchaus nicht durch Tugendhaftigkeit. Stattdessen wendet Ihr willkürlich Gewalt an. Gegenüber den Tributländern habt Ihr damit eine falsche Strategie gewählt.«311 Und auch Annam im Südwesten lehnte es ab, sich dem »Tianxia« zu unterwerfen. Obwohl Annam während der Regierungszeit von Kaiser Hongwu noch einen Gesandten geschickt hatte, um eine Ernennung zum König zu erwirken, wollte es nicht, dass sich die Ming-Dynastie in die inneren Angelegenheiten Annams einmischte. Trotz der Drohung des Ming-Kaisers, »ein Heer von 100.000 Mann zu Lande und zu Wasser auszusenden, um im Namen des Kaisers anzugreifen und die Barbaren zu warnen«, leistete Annam den Ming Widerstand. Während der Yongle-Periode zogen Ming-Armeen gen Süden, um Annam zu erobern und dem Ming-Reich einzugliedern. Aber sie stießen auf erbitterten Widerstand, weil man in Annam meinte, dass China unter der Fahne »falscher Güte und Rechtschaffenheit tötete und raubte«. Obwohl die Ming-Armee sich als eine »Armee der Humanität (ren 仁) und Tugend/Rechtschaffenheit (yi 义)« präsentierte, war sie in den Augen der Annamiten ein Eindringling, denn deren Empfinden nach war China China und Annam war Annam: »Als Himmel und Erde festgelegt wurden, waren der Norden und der Süden getrennt, und obwohl der Norden stark war, konnte er den Süden nicht brechen.«312
Von Kaiser Yongle der Ming-Dynastie ist das folgende Zitat überliefert: »Der Kaiser ist im Zentrum. Er versorgt und kontrolliert viele Länder. Mögen der Himmel und die Erde noch so groß sein, so gibt es nur dieses eine Prinzip. Wenn die fernen Völker ins Land kommen, sollen sie besänftigt werden, so dass alle bekommen, was sie wünschen.«313 Genau genommen bedeutet dies, dass »der Kaiser die Unterordnung aller fernen Länder wünscht«.314 So verursachte das durch natürliche Grenzen geschützte Japan Unbehagen. Es wurde als huangfu-Zone klassifiziert und in Laissez-faire-Manier in Ruhe gelassen. Korea unterwarf sich und stellte daher keine Bedrohung dar. Aber wenn es möglich war, wurde auch Gewalt eingesetzt. Die maritimen Expeditionen Zheng Hes zum Beispiel verfolgten ursprünglich das Ziel, »Chinas Truppen in fremden Ländern vorzuführen und seinen Reichtum und seine Stärke zu demonstrieren«. Es war keine harmonische und wohlmeinende Mission, um »fremde Völker wohlgesonnen zu stimmen und Tugend zu verbreiten«. So heißt es in der Geschichte der Ming-Dynastie, dass »die Herrscher der fremden Länder Edikte des Kaisers erhielten. Wenn sie nicht gehorchten, wurden sie mit Waffengewalt niedergeworfen.«315 Von Zheng He selbst sind die folgenden Worte überliefert: »Wenn die Herrscher der fremden Länder unseren Kaiser nicht respektieren, dann nehmen wir sie gefangen. Wenn die Barbaren uns überfallen und berauben, töten wir sie.«316 Erst aus dieser Perspektive kann man die Logik der Yongle-Herrschaft in Bezug auf die »Tianxia-Ordnung« verstehen – dass eine Strafexpedition ausgesendet wird, mittels derer Annam befriedet und in die Ming-Dynastie eingegliedert werden sollte, um mit dieser »Lektion von Annam« die Länder und Herrschaften im Südchinesischen Meer »in Habachtstellung zu versetzen«.317 Danach wurden eindrucksvolle Schiffe mit wertvollen Waren nach Süden geschickt und unterwegs das Oberhaupt von Jiugang (das heutige Palembang in Indonesien), der König des singhalesischen Königreichs von Kotte und der selbsternannte König von Sumatra gefangen genommen sowie andere Gewalttaten verübt.318
Vielleicht weckt dies Assoziationen an das »Gesetz des Dschungels«, nach dem die Starken die Schwachen fressen. Das ist zweifellos nicht sehr erfreulich. Wenn man aber ausschließlich auf der Grundlage der historischen Dokumente ableitet, dass das Tianxia des alten China auf das Ideal oder die Utopie einer »Welt als großer Familie« hingezielt und das chinesische Denken aus diesem Grund weder einen Standpunkt der »Häresie« noch einen klar definierten und entschiedenen Nationalismus wie im Westen hervorgebracht habe, und daraus folgert, dass »Tianxia« den Staat (guojia 国家) transzendiere und der »Vorläufer eines perfekten Weltsystems« sei,319 ja, dass es sogar die Grenzen zur alten chinesischen Geschichte überschreite, und wenn Belehnung und Tributbeziehungen als »ritueller« Ansatz für zwischenstaatliche Angelegenheiten beschrieben werden, wobei nicht die »politische Identität«, sondern die »kulturelle Identität« im Vordergrund gestanden hätte, dann ist dies leider ein einseitiges Wunschdenken. Die Geschichte war nicht so idyllisch und harmonisch. Während das »Gesetz des Dschungels« in der modernen, von den Großmächten beherrschten Welt ein weit verbreitetes Phänomen ist, bei dem die Macht (power) die Verteilung und die Ordnung bestimmt, zeigt ein Blick in die Geschichte Ostasiens, dass die Spielregeln im sogenannten »Tributsystem« oder im »Tianxia-System« ebenso von den Mächtigen festgelegt wurden. Wenn die unterlegenen Länder sich nicht daran hielten, hatte dies blutige Kriege zur Folge. Einige Gelehrte beschreiben das »Tianxia« des alten China als eine Welt ohne Grenzen, ohne »Innen« und »Außen«, ohne »wir« und »ihr«. Es sei eine Welt gewesen, in der alle Menschen gleichbehandelt worden wären. Das mag zwar guten Absichten entspringen und kann nicht als Irrweg bezeichnet werden, aber es ist keine historische Wahrheit. Deshalb nenne ich es eine »Utopie«.
Obwohl die »Tianxia«-Diskussionen bereits Mitte der 1990er Jahre aufkamen,320 möchte ich das 2005 erschienene Buch Tianxia tixi: shijie zhidu zhexue daolun (Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung) von Zhao Tingyang 赵汀阳 als Ausgangspunkt für die Diskussion verwenden,321 nicht nur, weil dieses philosophische Werk eine relativ vollständige Darstellung des »Tianxia« enthält, sondern auch, weil es viel über den politischen Hintergrund und den geistigen Kontext des »Tianxia«-Diskurses verrät. Drei Punkte sind besonders bemerkenswert.
Erstens: Gleich zu Beginn der Einleitung erwähnt der Autor, dass das »intensive Nachdenken über China« dem »wirtschaftlichen Erfolg Chinas« geschuldet sei. Der Erfolg habe »China zu einem Thema von Weltrang« gemacht. Dies zeigt, dass die Popularität des »Tianxia«-Themas viel mit dem »Aufstieg Chinas« nach 1995 und vor allem seit der Jahrtausendwende zu tun hat. Er stellt den politischen Kontext des »Tianxia« dar.
Zweitens: Bevor er beginnt, das »Tianxia« zu erörtern, zitiert Zhao an prominenter Stelle Edward Said zum »kulturellen Imperialismus« und Michael Hardt und Antonio Negri zum »Empire«. Dies offenbart eine neue chinesische Sichtweise auf »Tianxia«, die offensichtlich in einer Verbindung mit der internationalen theoretischen Debatte über »Imperien« steht.
Drittens: Bei der Erörterung von »Tianxia« betont Zhao vor allem das Fehlen eines »Außen« und beruft sich auf chinesische Diskurse innerhalb der Zeitspanne von vor der Qin-Dynastie bis hin zur Ming- und Qing-Dynastie. Er argumentiert, dass im »Tianxia« die Kultur oder Zivilisation die wichtigste Grundlage gewesen sei und dass es kein »Bewusstsein von Ketzerei« oder »feindschaftliche Beziehungen« gegeben habe. »Tianxia« habe die Hinwendung zu militarisierten Imperien verdrängt und ein Weltsystem entworfen. Im »Tianxia« sei der Erhalt des Imperiums wichtig und nicht mehr »territoriale Besitzansprüche«. Es sei eine Einheit auf globaler Ebene gewesen, während die Nationalstaaten nur lokale Einheiten seien. Das Grundprinzip der freiwillig tributleistenden Staaten und einer zentralen Dynastie bestehe aus »Riten«, usw.322 Dies zeigt deutlich, dass es sich bei den neuen Darstellungen des so genannten »Tianxia« oft um moderne Interpretationen des traditionellen Konfuzianismus, insbesondere der Gongyang-Lehre, handelt. Sie bereiten die alten Ideen neu auf und verknüpfen sie mit der aktuellen Weltordnung und dem Diskurs über zwischenstaatliche Beziehungen. Im Folgenden gehe ich auf jeden dieser Punkte ein.
Betrachten wir zunächst den »Aufstieg Chinas«, vor dessen Hintergrund die »Tianxia-Theorie« populär geworden ist. Anfangs wurde der »Tianxia-ismus« möglicherweise nur als Gegenpol zu »Nationalismus«, d. h. als Synonym für »Kosmopolitismus«323 eingeführt. Dann aber wurde es paradoxerweise zu einem kritischen Konzept der »(aktuellen) internationalen Ordnung« und zu einer Alternative zum »Kosmopolitismus«. Die formelle Einführung der Idee des »Tianxia-ismus« geschah in einem 1996 publizierten Beitrag von Sheng Hong (bis 2019 Direktor des Thinktanks Unirule Institute of Economics), in dem er diskutierte, ob China vom Nationalismus zum Tianxia-ismus übergehen solle. Zu jenem Zeitpunkt wurde das Konzept jedoch vor allem als eine »Infragestellung der Fairness und moralischen Legitimität der westlich dominierten internationalen Ordnung« rezipiert. Obwohl Sheng Hong nicht unbedingt ein Befürworter des Nationalismus ist, ist es interessant festzustellen, dass er seine Unzufriedenheit mit dem chinesischen Nationalismus damit begründete, dass es sich um einen »unvollständigen Nationalismus«324 handele und darüber hinaus »China den Nationalismus in letzter Zeit als moralischen Kompromiss«325 angenommen habe – vergleichbar mit der »selbstkastrierenden Modernisierung« der Türkei. Aus diesem Grund solle China von einem Nationalismus der Zugeständnisse und des Rückzugs zu einem allumfassenden und zukunftsorientierten »Tianxia-ismus« übergehen.326
Was ist der Grund dafür, dass der »Tianxia-ismus« in der akademischen Welt Festlandchinas um die Jahrtausendwende eine Umwandlung vom Kosmopolitismus zu einem »als Kosmopolitismus getarnten Nationalismus« erfuhr? Wie ist der Wunsch zu erklären, diesen »-ismus« von einer Imagination in eine institutionalisierte politische Ordnung zu verwandeln? Vereinfacht gesagt war es natürlich die Euphorie und Stimulation, die durch den so genannten »Aufstieg Chinas« hervorgerufen wurde.327 Angestachelt von einer Mischung aus historischer Niedergeschlagenheit und gegenwärtiger Euphorie und durch Publikationen seit Mitte der 1990er Jahren mit Titeln wie »China kann ›Nein‹ sagen«, »China kann immer noch ›Nein‹ sagen«, »Warum China ›Nein‹ sagt« bis hin zu »China ist nicht glücklich« in den 2000er Jahren und »China steht auf« im Jahr 2010,328 waren einige Gelehrte, die sich »Tianxia-Phantasien« hingeben, der Meinung, dass China angesichts seines rasanten Wirtschaftswachstums und der eindrucksvollen Entwicklung seiner materiellen Macht zur Verteidigung seiner globalen Interessen nicht nur seine »Geschäfte mit Waffengewalt« verteidigen können solle, sondern auch einen Beitrag zum »Frieden in der Welt« leisten und vor allem »größere und mehr als die aktuell verfügbaren Ressourcen kontrollieren können« solle. Denn erst das sei die »Erfolgsformel für den Aufstieg einer Großmacht«.329 Sie meinten, dass Chinas »Megatrend der letzten 190 Jahre, seine Entwicklung von Schwäche zu Stärke und die Zunahme seiner harten, realen Macht, nicht nur zu einem Anstieg des ›globalen Status‹ der Nation und sogar zu einer Umstrukturierung der Weltordnung geführt, sondern auch die Psychologie, Wertvorstellungen, Visionen und das Verhalten jedes bewussten Bürgers tiefgreifend beeinflusst habe«.330 So fanden ausgerechnet diejenigen, die sich gegen die US-amerikanische Hegemonie auflehnen, und diejenigen, die die konfuzianische Lehre wiederbeleben wollen, Gemeinsamkeiten. Beide Gruppen schlagen nun zufällig vor, dass in dieser Ära, in der die Rufe nach globaler Governance zunehmen, »ein immer mächtiger werdendes China die orthodoxe konfuzianische Tradition fortsetzen und die konfuzianische Weltanschauung des ›yi Tianxia wei yijia 以天下为一家‹ [eine Familie unter dem Himmel] wiederbeleben sollte«. Denn dieses Ideensystem sei besser geeignet, Gerechtigkeit und Frieden in einer Welt der Konflikte und Interessenverflechtungen zu schaffen und zu erhalten.331 Sie erklären, dass »China die Verantwortung für die Geschichte der Welt übernehmen« müsse. Das sei Chinas »Schicksal«. Denn die Welt sehe sich mit neuen Problemen konfrontiert. Daher fragen sie: »Ist es eine Welt oder sind es zwei? Können China und die Vereinigten Staaten die Welt gemeinsam regieren? Wie wird die Welt aussehen, wenn China bei seinem Aufstieg die Vereinigten Staaten überholt hat?«332
Interessant ist, dass der alte Begriff »Mandat des Himmels« (tianming 天命), mit dem im Altertum die Unantastbarkeit der kaiserlichen Macht begründet wurde, in letzter Zeit immer wieder in den Äußerungen moderner chinesischer Gelehrter auftaucht, und zwar nicht nur bei jenen neokonfuzianischen Gelehrten, die sich positiv für ein »Tianxia« einsetzen. 2008 veröffentlichte Wang Xiaodong 王小东, der »Fahnenträger des chinesischen Nationalismus«, ein Buch mit dem Titel Das Mandat des Himmels beruht auf einer großen Nation (Tianming suo gui shi daguo 天命所归是大国; engl., The mandate of heaven settles on a great nation), dessen zentrale Aussage im Untertitel zum Ausdruck kommt: »Wir wollen eine heldenhafte Nation sein und die Führungsposition in der Welt haben«.333 2013 äußerte sich im Red Flag Digest (Hongqi wenzhai 红旗文摘) ein Soziologe zum »Mandat des Himmels« der Kommunistischen Partei Chinas. Es bestehe darin, »eine große asiatische Nation wiederherzustellen, die unserer Bevölkerung, unserem Land und unserem historischen Gedächtnis angemessen ist«. Es gelte »ein Gefühl der Demütigung angesichts des vergangenen Jahrhunderts [zu wecken] und ein beschleunigtes Aufholen zu fordern«. Somit ist dies die »Agenda zur großen Verjüngung der chinesischen Nation« (zhonghua minzu weida fuxing 中华民族伟大复兴).334 Ein Vertreter der neuen Konfuzianer, Yao Zhongqiu 姚中秋, stellte die Frage, wie die internationale Ordnung aussehen könne, wenn China die Vereinigten Staaten abgelöst habe. Seine Antwort lautete, dass der Konfuzianismus im Inneren die chinesischen Werte schützen solle, während der Rest der Welt im Sinne einer chinesischen Weltordnung geordnet werden würde. Dies sei »der chinesische Moment in der Weltgeschichte« und werde »eine Generation oder ein halbes Jahrhundert dauern«.335 Anfang 2015, als ich diesen Artikel schrieb, veröffentlichte Yao einen weiteren Artikel über »Chinas Mandat des Himmels«. Denn »nur die Chinesen können das Ende der Geschichte, d. h. die Tragödie des generellen Todes der Zivilisation, verhindern«. Warum? Weil von allen Zivilisationen die Chinesen am ehesten in der Lage seien, der Welt »eine wirklich zivilisierte Weltordnung (Tianxia) zu bringen«.336
Diese aufwühlende Botschaft wird von einem anderen Gelehrten, dem Literaturwissenschaftler Wan Songsheng 万松生 (Pseudonym: Moluo 摩罗), noch pathetischer formuliert. Seit über hundert Jahren habe der Westen sich gegen China verschworen, es ausgeplündert und unterdrückt. Jetzt, wo der Westen in einer Krise stecke und China immer stärker werde, werde China den Westen retten, so dass »in der Zukunft die Chinesen die gesamte Menschheit politisch vereinen und eine Weltregierung errichten werden«.337 Offen gesagt bin ich nicht überrascht, dass Wan Songsheng, der vom Liberalismus zum Etatismus übergewechselt ist, diese Position vertritt, überrascht bin ich vielmehr darüber, dass ausgerechnet der Shanghaier Historiker Xu Jilin 许纪霖 (1957–), der Wans etatistische Tendenzen scharf kritisiert hat, ebenfalls der Meinung ist, dass die Zeit für einen neuen »Tianxia-ismus« gekommen sei. Zwar schreibt er äußerst höflich: »China ist bereits ins wirtschaftliche Zentrum der Welt vorgerückt, aber noch nicht zum politischen Zentrum der internationalen Angelegenheiten geworden. […] In zivilisatorischer Hinsicht ist China nicht darauf vorbereitet, die Rolle eines globalen Imperiums zu übernehmen.« Warum aber könnte China die Rolle eines »globalen Imperiums« einnehmen? Xu Jilins Erklärung ist die von Lucian W. Pye, dass China eigentlich ein »Zivilisationsstaat [sei], der vorgibt, ein Nationalstaat zu sein« (a civilization-state pretending to be a nation-state), und China »seine eigene zivilisatorische Natur vergessen« habe. Der Zivilisationsstaat denke an das »Tianxia«, während der Nationalstaat nur seine Souveränität im Blick habe; der Zivilisationsstaat suche nach der universellen Vernunft, während der Nationalstaat sich nur um seine eigene Macht kümmere.338
Der politische Hintergrund des »Tianxia-ismus« springt ins Auge. Die Veränderungen in der politischen Ideologie des chinesischen Festlandes in den letzten zehn Jahren, vom »Aufstieg einer Großmacht« (daguo jueqi 大国崛起) zum »Weg des Wiedererstarkens« (fuxing zhi lu 复兴之路), spiegeln die Tatsache wider, dass China im Zuge seines wirtschaftlichen Aufstiegs allmählich seine Strategie der »Zurückhaltung« und der »Konfliktvermeidung« aus den Anfängen der Reform- und Öffnungsperiode aufgegeben hat und den sogenannten »chinesischen Traum« einer Weltmacht verfolgt. Wenn wir die von einigen militärischen Hardlinern unter den Akademikern vorgeschlagenen hegemonialen Strategien und Methoden der unbegrenzten (unrestricted) Kriegsführung339 sowie die endlosen medialen Inszenierungen militärischer Macht und fortschrittlicher Waffensysteme in den letzten Jahren damit in Verbindung setzen, können wir den sehr realen politischen Hintergrund erkennen, den dieser so genannte »Tianxia-ismus« in der akademischen Welt hat. In der Welt der Ideen, diesem zutiefst pessimistischen und abstrusen Ort, wird einerseits der durch den »chinesischen Exzeptionalismus« beförderte »Aufstieg Chinas« und das »chinesische Modell« kritisiert und gleichzeitig auf den »chinesischen Exzeptionalismus« zurückgreifend versucht, »die Weltgeschichte selbst neu zu definieren und zu verändern« und in diesem chinesischen Moment der Weltgeschichte den Beginn einer »zivilisatorischen Post-Achsen-Ära auf der Grundlage des Tianxia-ismus einzuläuten«.340
Als Nächstes möchte ich aufzeigen, in welcher Beziehung die Neukonzeptionierung des »Tianxia« zur internationalen theoretischen Debatte über das »Imperium« und zur These vom Zivilisationsstaat des »chinesischen Exzeptionalismus« steht.
Wie bereits erwähnt, beginnt Zhao Tingyang in »Tianxia-System« seine formale Diskussion über »Tianxia« mit Zitaten aus Edward Saids Kultur und Imperialismus und Empire von Antonio Negri und Michael Hardt. Das ist nicht überraschend, denn sowohl Saids Theorie des »Orientalismus« und seine Kritik am »Kulturimperialismus« als auch die Theorie des »Empires« von Hardt und Negri waren am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts in China sehr einflussreich341 und diese Wissenschaftler sind angesehene kritische Persönlichkeiten. Allerdings kann es bei der Verpflanzung neuer Theorien in ein anderes Umfeld passieren, dass etwas ganz anderes dabei herauskommt. Die Kritik an westlichen Mainstream-Diskursen hat in der nicht-westlichen Welt teilweise Identifikation und emotionale Sympathie angesichts eines gemeinsamen Feindes ausgelöst, was wiederum in einen extremen Nationalismus und eine Bewegung gegen universelle Werte und die herrschende Ordnung mündete.
Um die Jahrhundertwende löste sich diese Kritik an der vom Westen, insbesondere von den USA, dominierten Weltordnung in der chinesischen Wissenschaft allmählich aus ihrem ursprünglichen Kontext, indem sie einen Nationalismus oder Etatismus aktivierte, der schon seit langem in den Herzen der chinesischen Intellektuellen schlummert. Sie wurde im Einklang mit bestimmten geistigen Tendenzen im modernen China recht populär. Ursprünglich war diese neue Theorie von voller Gerechtigkeit und Mitgefühl eine Kritik aus dem Westen am Westen. Politisch gesehen stellte sie einen heftigen Angriff auf die politische Hegemonie des Imperialismus in der jüngeren Vergangenheit dar und auf der kulturellen Ebene eine Reflexion über die diskursive Hegemonie des westlichen Imperialismus. Dadurch wurde das »Empire« zu einem heiß diskutierten Begriff. Seit den 1980er Jahren waren zahlreiche westliche Diskurse, die dem Westen kritisch gegenüberstanden, wie postmoderne, postkoloniale und poststrukturelle Theorien, in China rezipiert worden, und einige westliche Bücher zum »Imperium« und zum »kulturellen Imperium« wurden ins Chinesische übersetzt, wie das bereits erwähnte Empire. Die neue Weltordnung von Hardt und Negri (übersetzt von Yang Jianguo 杨建国 und Fan Yiting 范一亭, Nanjing 2008) und Niall Fergusons Empire: The rise and demise of the British world order (2003, übersetzt von Yu Ke 雨珂, Peking 2012), John Tomlinsons Cultural imperialism: A critical introduction (übersetzt von Feng Jiansan 冯建三, Shanghai 1999) und Edward W. Saids Kultur und Imperialismus (1993, übersetzt von Li Kun 李琨, Peking 2003).
Die ursprüngliche Ausrichtung dieser Diskurse über das »Imperium« ist alles andere als einheitlich. Einige Sprecher kritisierten die Art und Weise, wie der entwickelte Westen im Zeitalter der Globalisierung durch das Finanzkapital, die Massenkommunikation, die Geisteswissenschaften und die Kunst eine kulturelle Sprachlosigkeit der armen und schwachen Länder hervorgerufen habe und damit die kulturelle Identität der Dritten Welt bedrohe; andere befassten sich mit der kulturellen Ausbreitung der Globalisierung und der Moderne selbst, die eine immer homogenere Welt nach sich ziehen und die kulturelle Vielfalt bedrohten; einige untersuchten den Übergang vom Imperialismus in die moderne Weltordnung und die Frage, wie das Verschwinden der Imperien zu einer Welt ohne Ordnung geführt habe; andere kritisierten, dass nach der Auflösung der Imperien, die durch Kolonisierung und Ausbeutung in der frühen Moderne entstanden waren, Globalisierung und internationales Kapital einen neuen Imperialismus etabliert haben, der die Welt auf eine unterschwellige und beängstigende Weise kontrollierte. Das Einzige, was all diesen Theorien unterschiedlicher Ausrichtung gemeinsam war, war die Betonung der Tatsache, dass das »Imperium« den »Staat« transzendiere und dass, egal ob in den alten, vormodernen Reichen oder im neuen postmodernen Imperium, das wesentliche Merkmal des Begriffs des Imperiums sei, dass es keine Grenzen habe und seine Regel sei, dass es keine Regeln gebe.342 Der Begriff des »Imperiums« hat in China das lange verschüttete »Tianxia« wieder zum Vorscheinen kommen lassen und der Wunsch nach Abrechnung mit »einem Jahrhundert der Demütigung«, die intellektuellen Strömungen der Kritik an der »Moderne« und die Ambitionen, das »Tianxia«-System neu zu gestalten, erhielten durch diese kritische Theorie oder Theorie der Kritik mit ihrer Kritik an der Globalisierung, der Moderne und der gegenwärtigen Weltordnung neuen Auftrieb.
Wie Hardt und Negri zu Beginn des Vorworts zu Empire erklären, »materialisiert sich das Empire vor unseren Augen«, denn zusammen »mit dem globalen Markt und mit globalen Produktionsabläufen entstand eine globale Ordnung, eine neue Logik und Struktur der Herrschaft – kurz, eine neue Form der Souveränität. Das Empire ist das politische Subjekt, das diesen globalen Austausch tatsächlich reguliert, die souveräne Macht, welche die Welt regiert.«343 Doch wo ist das Zentrum dieses »Empires«? »Wenn Britannien das 19. Jahrhundert prägte, dann Amerika das 20.; oder besser, war die Moderne europäisch, so ist die Postmoderne amerikanisch«, schreiben Hardt und Negri und beziehen sich dabei auf die Vereinigten Staaten. Aber was ist mit dem 21. Jahrhundert? Dazu sagen sie nichts. Ist es das aufstrebende China? Was kommt nach dem amerikanischen Imperium? Interessanterweise wird in den verschiedenen »Tianxia«-Entwürfen, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, der Begriff »Tianxia« dem Begriff »Imperium« gegenübergestellt (zum Beispiel Zhao Tingyangs »Tianxia/Imperium«), und es ist nicht ungewöhnlich, dass die Autoren, die sich für »Tianxia« als Alternative zum »Imperium« begeistern, andeuten, dass das von den Vereinigten Staaten beherrschte »Imperium« des 20. Jahrhunderts und das von China errichtete »Imperium« des 21. Jahrhunderts im Begriff sind, eine Sequenz zu bilden und obwohl es sich sowohl beim »Imperium« als auch bei »Tianxia« um eine »Auffassung von Macht handelt, die anerkannt wird, weil sie eine neue Ordnung errichtet, und die jeden Zentimeter der Welt, also einen grenzenlosen und einheitlichen Raum umfasst«, ist »Tianxia« in den Ausführungen einiger Gelehrter ein gerechterer und gütigerer Ort als das »Imperium«.
Bevor ich darauf eingehe, warum das »Tianxia« besser wäre als das »Imperium«, wollen wir uns ein anderes Argument ansehen, das ebenfalls die »Tianxia«-Debatte befeuert, nämlich jenes vom traditionellen China als »Zivilisationsstaat« (wenming guojia 文明国家). Wie ich in meinem Buch Hier in China lebe ich mehrfach betont habe, bestreite ich nicht, dass sich die Staatsform des alten China von der anderer europäischer und sogar asiatischer Länder unterschieden hat. In Was ist China habe ich anhand der Geschichte der späten Qing-Dynastie bis zur Republik dargelegt, dass der Übergangsprozess von einem traditionellen Reich zu einem modernen Staat, der China sowohl »vom Tianxia zur Nation« als auch zum Vielvölkerstaat machte (»die Barbaren in die chinesische Nation integrierte«), anders verlief als in den Ländern des modernen Europa und Asiens, was zu der komplexen Situation im heutigen China geführt hat. Ich bin durchaus dafür, dass wir uns von den zwei aus der europäischen Moderne stammenden Definitionen des Staates als »Imperium« oder »Nationalstaat« lösen.344 Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass China seit dem Altertum weder ein »Reich« noch eine »Nation« gewesen ist, geschweige denn, dass es immer ein »Zivilisationsstaat« war, was eine vollkommen ahistorische Behauptung ist.
Der so genannte »Zivilisationsstaat« (civilization-state) könnte, wie bereits erwähnt, auf die Formulierung des US-amerikanischen Sinologen und Politikwissenschaftlers Lucian W. Pye zurückgehen, der China einen »als Nationalstaat getarnten Zivilisationsstaat« nannte. Chinesische Intellektuelle wie der politische Philosoph Gan Yang haben diese Argumentation übernommen und versuchen, den »chinesischen Exzeptionalismus«345 mit der Dimension des »Staates« zu unterfüttern. Das Problem ist jedoch, dass Pye weder eine vertiefte historische Analyse Chinas als »Zivilisationsstaat« vorgenommen noch den »Zivilisationsstaat« näher definiert hat, geschweige denn, dass er sich klar und deutlich zur Rolle des »Zivilisationsstaates« in der modernen Weltordnung geäußert hätte. Trotzdem haben in den letzten Jahren einige Wissenschaftler, die das »China-Modell« oder den »chinesischen Exzeptionalismus« propagieren, diese fadenscheinigen Konzepte wieder aufgegriffen, wobei sie sich auf die Werke einiger westlicher Nicht-Historiker wie Henry Kissingers China und Martin Jacques’ When China rules the world gestützt haben,346 um das historische China zu exzeptionalisieren. Einerseits haben sie versucht, das alte chinesische Tributsystem als zivilisiert darzustellen, andererseits das moderne China von den Zwängen moderner Institutionen auszunehmen.347 Das hat viele Wissenschaftler dazu gezwungen, eine neue Diskussion über das Wesen des »traditionellen China« zu beginnen.
Wir wissen, dass sich der moderne Staat nach der allgemeinsten Definition in mehrfacher Hinsicht vom traditionellen Imperium unterscheidet: erstens durch das Vorhandensein einer eindeutigen nationalen Grenze. Nationalstaaten grenzen ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Raum gegeneinander durch nationale Grenzen ab, während es in den antiken oder mittelalterlichen Staaten, in denen auch eine zentrale politische Macht und politische Institutionen existierten, keine klar gezogene Staatsgrenze zur Markierung der nationalen Souveränität gab; zweitens durch das Bewusstsein von der staatlichen Souveränität, d. h. dem Vorhandensein eines politischen Raums des Nationalstaats, der sich prinzipiell innerhalb des Bereichs seiner nationalen Souveränität befindet, zusammen mit dem Konzept der nationalen Souveränität und der nationalen Selbstbestimmung, welche keine Einmischung durch andere Staaten erlauben; drittens durch die Bildung des Konzepts vom Staatsbürger und die ideologische Beherrschung der integrierten Nation, d. h. einem Nationalismus mit der Nation als räumlicher Einheit, aber nicht nur einer Nation, wie sie durch die Verfassung, das Zivilrecht und das Staatsangehörigkeitsrecht definiert ist, sondern auch die Ideologie, die durch Patriotismus, Kultur, Geschichte, Mythen usw. konstruiert ist; viertens durch die Institutionen und das Verwaltungssystem des Staates, die den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Raum kontrollieren (nicht nur die Macht eines Kaisers oder Monarchen); und fünftens durch die internationalen Beziehungen, die die Staaten eingehen, deren Existenz auf die souveräne Unabhängigkeit und räumliche Begrenzung eines Nationalstaates hinweist.348
Was ist dann ein »Zivilisationsstaat«? Vielleicht hat er weder eine durch eine Staatsgrenze definierte Beschränkung noch eine klare staatliche »Souveränität«; vielleicht hat er ein nationales Bewusstsein, das sich eher mit der traditionellen Kultur als mit den Institutionen des Staates »identifiziert«; vielleicht wird er nicht von einer modernen Regierung, sondern von einer traditionellen imperialen Macht kontrolliert; vielleicht sind die Beziehungen zu seinen Nachbarn nicht solche zwischen gleichberechtigten Staaten, sondern beruhen nur auf kulturellen Bindungen. Aber war China wirklich ein solches Land? Und wenn ja, inwiefern hat es sich von einem »Imperium« unterschieden? Wenn es den Staat transzendierte und der Peripherie seine Kultur aufdrückte – was unterscheidet es dann von dem, was die moderne kritische Theorie als »Kulturimperialismus« oder »Neoimperialismus« bezeichnet? Es scheint, dass nichts klar ist, trotzdem werden die unklaren Begriffe häufig verwendet und die Idee ist populär,349 weil in ihr der »Kulturalismus« vieler früherer chinesischer Gelehrter in Bezug auf »Tianxia« mitschwingt, d. h. die Vorstellung, dass China das ostasiatische Tributsystem nicht mit Gewalt, sondern durch Rituale geschaffen habe.350
Aber ist das wirklich so? Hardt und Negri zufolge »setzt der Begriff des Empire ein Regime voraus, das den Raum in seiner Totalität vollständig umfasst, oder anders, das wirklich über die gesamte ›zivilisierte‹ Welt herrscht. Keine territorialen Grenzziehungen beschränken seine Herrschaft.«351 Was ist dann das »Tianxia«? Ist es nicht dasselbe wie das »Empire«, das eine neue Ordnung schafft, die »die gesamte ›zivilisierte‹ Welt umfasst«? Steckt hinter diesem »Imperium/Tianxia« nicht auch ein Designer? Auf welcher Basis entscheidet er, dass er selbst die Zivilisation repräsentiert und die anderen »Wilde« sind? Und wenn jeder sich an seine Kultur und sein System halten muss, sind wir dann nicht wieder bei der traditionellen Ordnung des alten China, die zwischen Chinesen und Barbaren unterschied? Interessanterweise wies Régis Debray in einer Diskussion mit Zhao Tingyang, dem Schöpfer des »Tianxia-Systems«, darauf hin, dass dieses System zu »einheitlich, homogen und vage« sei, und stellte eine Reihe von gezielten Fragen, wie: Wer würde das »Oberhaupt« des Tianxia (pater familias, da jiazhang 大家长) wählen, und wie? Wem gegenüber wäre das Oberhaupt rechenschaftspflichtig? Wie würden die Gesetze gemacht? Würden Proklamationen an das Volk in lateinischen Buchstaben oder in chinesischen Schriftzeichen verfasst? Zhao Tingyang soll in diesem Zusammenhang zugegeben haben, dass er die politischen Prinzipien und universellen Werte des »Tianxia-Systems« nur in einem philosophischen Sinne erörtert habe und dass es schwierig sei, sich die konkreten politischen Machtinstitutionen im Voraus vorzustellen. Er sei nicht in der Lage gewesen, eine gute Lösung für das Problem des »Oberhauptes« zu finden.«352 Eben genau das ist die Frage: Wer wäre das Oberhaupt dieser »Familie«? Wer würde die Regeln für dieses »Tianxia« machen? Wer würde dieses Weltsystem entwerfen und über seine Rationalität entscheiden? Die Antworten sind der Schlüssel zu der Frage, ob das »Tianxia« besser wäre als das »Imperium«. Wenn diese Fragen nicht geklärt werden, wird das »Tianxia« sich in ein »Imperium« zurückverwandeln.
Hierzu können wir einen Blick auf die Einschätzung des Koreaners Baik Youngseo 白永瑞 von der Yonsei University in Seoul werfen. In einem Beitrag mit dem Titel »Die Bedeutung des chinesischen Imperialismusdiskurses in Ostasien« (Zhonghua diguolun zai dongya de zhuyi 中华帝国论在东亚的意义) wirft er die Frage auf, ob das heutige China immer noch ein »Imperium« sei. Stellt es eine Fortsetzung des alten Kaiserreichs, insbesondere des Qing-Reiches dar? Mit großer Zurückhaltung weist er darauf hin, dass das »Imperium« aufgrund seines ausgedehnten Herrschaftsbereichs und seiner pluralistischen Heterogenität eine Art Prinzip der Toleranz gehabt habe, und fährt nicht ohne Sorge fort, dass »das moderne China als Imperium nicht nur ein Reich zum Nutzen Chinas, sondern auch ein ›gutes Imperium‹ zum Nutzen der Welt sein sollte«, nur dann wäre es ein »sich selbst erfüllendes Versprechen«, da beim »Imperium« neben dem Prinzip der »Toleranz« auch der Faktor »Expansion« eine Rolle spiele.353
Was sind die Folgen von »Expansion«? Befürchtet dieser Wissenschaftler aus Chinas Nachbarland etwa, dass, wie Martin Jacques es formulierte, »China seine Beziehungen zu Ostasien zunehmend in Form eines Tributsystems statt auf der Basis gleichgestellter Nationalstaaten begreifen wird«?354 Welchen Unterschied würde es dann machen, ob dieses Weltsystem, das Völker minzu 民族 und Staaten guojia 国家 transzendiert, »Tianxia« oder »Imperium« genannt wird?355
Nun kommen wir zu der Kernfrage: Wie kam es dazu, dass einige der idealisierenden Aussagen über »Tianxia« aus der traditionellen konfuzianischen Literatur Schritt für Schritt in die moderne Version des »Tianxia-ismus« hineininterpretiert wurden?
Aussagen zum »Tianxia« gibt es im alten China schon sehr früh. Wenn man in die Textquellen schaut, dann findet man die Zeichen sowohl in Schriften des Konfuzianismus, des Taoismus als auch des Mohismus. Es ist nicht nötig, hier weiter ins Detail zu gehen. Selbst in den ganz frühen konfuzianischen Texten tauchen sie sehr zahlreich auf, wie beispielsweise im Lunyu: (Wenn ein Mensch sich einen Tag lang unterordnen und zum Anstand zurückkehren kann,) »wird das Tianxia ihm vollkommene Tugend zuschreiben« (tianxia guiren 天下归仁); im Kapitel »Lilou I 离娄上« des Menzius: (Wenn der Prinz die Wohltätigkeit liebt, wird er) »im Tianxia keine Feinde haben« (tianxia wudi 天下无敌, Übersetzung nach James Legge, AdÜ), oder im »Liyun 礼运« des Buch der Riten (Als der große Weg eingeschlagen wurde,) »herrschte ein öffentlicher und gemeinsamer Geist im Tianxia« (tianxia weigong 天下为公).356 Ich möchte hier jedoch keine Kollektion einzelner Textschnipsel und -passagen präsentieren (die im Internetzeitalter leicht zu bewerkstelligen wäre), sondern aus der historischen Perspektive, insbesondere aus der Perspektive der Ideengeschichte, das Gedankengebäude erörtern, welches die moderne Vorstellung vom »Tianxia« am meisten stimuliert hat, nämlich den Ursprung und die Entwicklung der Gongyang-Denkschule.
In den aktuellen Diskussionen zu »Tianxia« wird am häufigsten der Gongyang-Kommentar zu den Frühlings- und Herbstannalen (Chunxiu Gongyang zhuan 春秋公羊传) zitiert. Dort heißt es im Kapitel »Erstes Jahr des Herzogs von Yin« (712 v. Chr., AdÜ): »Gongzi Yishi starb.« Dass der genaue Todestag fehlt, erklärt der Gongyang-Kommentar mit dem zeitlichen Abstand: In den »Frühlings- und Herbstannalen« seien nur Dinge aufgezeichnet worden, die »gesehen, gehört oder weitererzählt wurden und die vom Üblichen abweichen«. Von He Xiu 何休 (129–182 n. Chr.), einem Kommentator der östlichen Han-Dynastie, wurde dies zunächst so ausgelegt, dass das Chunqiu die zwölf Generationen der Herzöge von Lu in der Frühlings- und Herbstperiode umfasse und auf drei verschiedenen Zeitebenen des historischen Gedächtnisses beruhe, nämlich erstens der Epoche der drei Generationen von »Zhao, Ding und Ai«, die von Konfuzius und dessen Vater »selbst erlebt« worden sei; zweitens der Epoche der vier Generationen von »Wen, Xuan, Cheng und Xiang«, von denen Konfuzius’ Vater durch Gerüchte und Überlieferungen aus zweiter und mehr Hand gehört habe; und drittens der Epoche der fünf Generationen Yin, Huan, Zhuang, Min und Xi, die soweit zurücklag, dass sie nur von Konfuzius’ Vorfahren »überliefert« worden sei. Die Widersprüche im Chunqiu seien auf die unterschiedlichen Zeiten sowie die unterschiedlichen Umstände, Perspektiven und Einstellungen jedes Einzelnen zurückzuführen. Bis hierhin ist eigentlich alles nachvollziehbar, aber dann entwickelte He Xiu die drei Zeitebenen des unterschiedlichen Gedächtnisses weiter zu Epochen mit unterschiedlichen politischen Systemen und moralischen Zuständen: In der ersten Epoche seien »der Staat Lu innen und die verschiedenen chinesischen Herrschaften außen« gewesen (neiqi guo er wai zhuxia 内其国而外诸夏), in der zweiten die »chinesischen Herrschaften innen und die Fremden außen« (nei zhuxia er wai yidi 内诸夏而外夷狄), während in der letzten Epoche »im Tianxia nah und fern und groß und klein eins« gewesen seien (tianxia yuanjin xiaoda ruoyi 天下远近小大若一). Interessanterweise wurde gerade diese Auslegung, die eine so ganz andere Richtung einschlug, später von den so genannten Gelehrten der (konfuzianischen) Neutextschule (jinwen jingxue 今文经学) aufgegriffen. Sie entwickelte sich zu einem wichtigen Diskurs über die reale und ideale »Ordnung des Tianxia«.357
Die beiden Formulierungen »die königliche Hauptstadt innen und die verschiedenen chinesischen Herrschaften außen« sowie die »chinesischen Herrschaften innen und die Fremden außen« stammen ursprünglich aus dem Buch Chunqiu Gongyang zhuan (neben dem Zuozhuan 左传 und dem Guliang zhuan 谷梁传 einem der drei Kommentare zu den Frühlings- und Herbstannalen bzw. dem Chunqiu, AdÜ). Im Chunqiu wird im elften Monat des fünfzehnten Jahres der Herrschaft von Herzog Cheng berichtet, dass Shusun Qiaoru, ein hoher Minister im Staate Lu, mit Shi Xie vom Staat Jin, Gao Wugou vom Staat Qi, Huayuan vom Staat Song, Sun Linfu vom Staat Wei und Herzog Zi vom Staat Zheng zusammentraf. Danach folgt ein einzelner Satz: »Treffen mit Staat Wu in Zhongli«. Warum werden die Abgesandten von Wu nicht mit denen von Jin und Qi in einem Satz genannt? Aufgrund dieses Hinweises spekuliert der »Gongyang«-Kommentar, Wu im Chunqiu sei anders betrachtet worden, weil Wu anders als Qi, Jin und Zheng »außerhalb« gelegen habe. Es gebe daher einen Unterschied zwischen Innen und Außen. Folglich heißt es: »Was ist Außen?« Im Chunqiu steht: »Die königliche Hauptstadt ist innen und die verschiedenen chinesischen Herrschaften sind ›außen‹« und die »chinesischen Herrschaften sind innen und die Fremden außen«.358 Ist das nicht etwas weit hergeholt? An dieser Stelle brauchen wir darauf nicht näher einzugehen. Der erste Schritt zu einer eingehenderen Interpretation wurde von Dong Zhongshu 董仲舒 (179–104 v. Chr., einem Vertreter der Neutextschule, AdÜ) in der westlichen Han-Zeit vorgenommen. Im Kapitel »Weg des Königs VI« (wangdao diliu 王道第六) seines Chunqiu fanlu 春秋繁露 (Üppiger Tau des Chunqiu) stellte Dong sich vor, dass in jenen vergangenen Zeiten, als die fünf Kaiser und drei Könige das Tianxia regierten, »niemand es wagte, zwischen dem Geist des Herrschers und dem seines Volkes zu unterscheiden«. Die Herrscher hätten nicht nur ihr Volk wertgeschätzt und eine friedliche Gesellschaft schaffen wollen, sondern auch regelmäßig Opfer gebracht. Daher sei das antike »Tianxia« einer idealen Welt sehr nahe gewesen.359 Weil die späteren Könige »sich für allmächtig hielten und anmaßend wurden«, verschlechterte sich die politische Lage in nachfolgenden Zeiten immer mehr, so dass schließlich regionale Herrscher wie Herzog Huan von Qi und Herzog Wen aus Jin auszogen, um die »mittleren Länder (zhongguo) zu retten, die Barbaren (Yi und Di) bekämpften, Chu unterwarfen, und so die Aufgaben des Königs erfüllten«. Angesichts dieser Situation etablierte Konfuzius im Chunqiu die Prinzipien (chunqiu liyi 春秋立义), nach denen der Sohn des Himmels, die Herren der Länder (zhuhou 诸侯), die hohen Beamten und die fernen »Barbaren« einer klaren Hierarchie folgen sollten. Dies zeigte sich zum Beispiel in den Opferpflichten: Der Sohn des Himmels opferte dem Himmel und der Erde und die Vasallen opferten dem Erntealtar. Den Bergen und Flüssen, die nicht in ihren Gebieten lagen, wurde nicht geopfert. Außerdem durften die Vasallen keine Lehen vergeben und nicht die Musik des Kaisers spielen. Die hohen Beamten durften nicht dieselben Erbtitel genießen wie die Vasallen, ganz zu schweigen von den Barbaren. Erst durch diese Struktur der Differenzierung in nah und fern und innen und außen sowie nach der »königlichen Hauptstadt im Zentrum und den verschiedenen chinesischen Herrschaften außen« und der »chinesischen Herrschaften/Länder innen und den Fremden außen« war es möglich, in einer Zeit der Unordnung und des Chaos im Tianxia wieder eine universelle Ordnung herzustellen.360
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Dong Zhongshus hierarchische Einteilung des Tianxia nach dem Prinzip der Entfernung in »den Staat Lu« (guo 国), die verschiedenen unterschiedlich behandelten chinesischen Herrschaften (zhuxi 诸夏) und die Fremden (yi di 夷狄) nicht dem harmonischen und egalitären »Tianxia« entspricht, in dem »nah und fern, groß und klein eins sind« und welches das Ideal der heutigen Verfechter des Tianxia-ismus darstellt. Wir sollten nicht vergessen, dass Dong Zhongshu während der Regierungszeit (141 bis 87 v. Chr.) von Kaiser Han Wudi lebte, der, wie bereits erwähnt, offensiv die Expansion des Landes in alle vier Himmelsrichtungen betrieb. Auch wenn Dong Zhongshu für die Han-Dynastie das Ideal der »einen Familie innerhalb der vier Meere« entwarf, so durfte diese »Familie« doch nur innerhalb der Vereinigung unter der glorreichen Führung des Kaisers der Han-Dynastie existieren. In diesem »Tianxia« herrschte eine hierarchische Ordnung und die Länder waren in Xia und Yi und nah und fern unterteilt. Innerhalb von drei Jahrzehnten eroberte Kaiser Wu Korea und Minyue (im heutigen Fujian), zerstörte Nanyue, bewirtschaftete den Südwesten und bekämpfte die Xiongnu. Auf diese Weise stellte er nicht nur das Territorium des Qin-Reiches wieder her, sondern erweiterte es sogar noch und integrierte dadurch die »vier Barbaren« in das han-chinesische Tianxia-Reich.361 Dies entsprach dem, was später in der Gongyang-Lehre die »drei Themen und neun Aspekte« (san ke jiu zhi 三科九旨) genannt wurde, nämlich »die drei Zeitalter« (zhang san shi 张三世), die »Drei-Phasen-Kreislauflehre« (cun san tong 存三统) und die »Unterscheidung zwischen Außen und Innen« (yi wai nei 异外内). Gut 250 Jahre später übernahm He Xiu 何休 in der östlichen Han-Dynastie zwar die Formulierungen Dong Zhongshus, änderte aber deren Bedeutung. Er stellte sich anhand der Klassiker vor, dass das ursprünglich »nicht einheitliche« Tianxia allmählich »wie einheitlich« wurde. Dabei nahm er Anleihen bei alten chinesischen Vorstellungen vom »goldenen Zeitalter der Antike« und der »ständigen Rückwärtsbewegung der Geschichte«.362 In seiner rückwärtsgewandten Konstruktion der Zukunft würde ein Tianxia entstehen, welches jenem der alten Vergangenheit glich.
Doch obwohl He Xius Auslegungen in späteren Zeiten erweitert und aufgewertet wurden, waren sie im alten China lange Zeit nur das Ideal eines Exegeten der Klassiker, von dem sogar He Xiu selbst sagte, es sei »äußerst bizarr und exzentrisch«. Wie auch Liang Qichao 梁启超 (1873–1929) feststellte, wurde es lange Zeit nicht besonders beachtet: »Seit der Wei- und der Jin-Dynastie hat es niemand mehr gewagt, sich zu Gongyang […] zu äußern, seit 2000 Jahren ist es eine tote Wissenschaft.«363
Nach Ansicht einiger Wissenschaftler kehrte sie in die traditionelle chinesische Geisteswelt zurück und wurde zum Mittelpunkt der Debatte, als in der Mitte der Qing-Zeit die Changzhou Gongyang-Schule auflebte. Relativ frühe moderne Abhandlungen der Changzhou-Gongyang-Schule finden sich in zwei Werken Liang Qichaos: Überblick über die Wissenschaft in der Qing-Zeit aus dem Jahr 1920 und Wissenschaftsgeschichte Chinas der letzten 300 Jahre aus dem Jahr 1929. Liang Qichao, der sich selbst als Vertreter der Gongyang-Schule bezeichnete, nannte unter den »Meistern der Neutextschule« an erster Stelle Zhuang Cunyu 莊存與 (1719–1788), den Begründer der Changzhou-Schule und dessen Schrift Chunqiu zhengci 春秋正辭 (Correcting terms in the Spring and Autumn Annals), in der Zhuang sich der Enthüllung der »großen Prinzipien in esoterischer Sprache« (weiyan dayi 微言大义) im Gongyang zhuan gewidmet habe. An zweiter Stelle folgt Liu Fenglu 刘逢禄 (1776–1829) mit seinem Chunqiu Gongyang jingzhuan Heshi shili 春秋公羊经传何氏释例 (Master He Xiu’s explication of the precedents in the Gongyang commentary to the Spring and Autumn annals), in dem er die »drei Zeitalter« (zhang san shi 张三世) und die »Vereinigung der drei Traditionen« (tong san tong 通三统) sowie die »Degradierung von Zhou und Erhöhung von Lu« (chuzhou wanglu 绌周王鲁) und das »Mandat zur Reform von Institutionen« (shouming gaizhi 受命改制) herausgearbeitet habe. Diese Werke inspirierten Gong Zizhen 龚自珍 (1792–1841) und Wei Yuan 魏源 (1794–1857)364 dazu, »auf der Grundlage der kritischen Gelehrsamkeit der Zeit der Kaiser Qianlong und Jiaqing (1735–1820) Studien der praktischen Anwendung konfuzianischer Prinzipien zur Neuordnung der Gesellschaft zu Zeiten von Shunzhi und Kangxi (1644–1722) zu etablieren«.365
Es ist ein verbreitetes und wichtiges Phänomen in der chinesischen Geistesgeschichte, dass neue Ideen oft auf der Interpretation alter Klassiker beruhen und sich auf deren Autorität stützen, um die Legitimität unorthodoxer Ideen zu untermauern. Die regulären Kommentare sind häufig nicht in der Lage, Aufsehen zu erregen, während stattdessen eine zufällige »Fehlinterpretation« der Randnotizen die Entstehung neuer Ideen vorantreibt, insbesondere wenn diese »Fehlinterpretation« so »ausgearbeitet« werden kann, dass sie ihre Form ändert und eine neue Frucht hervorbringt. Als eine in der Rückschau moderne Idee wird diese auf einen traditionellen Sockel gestellt. Man kann es auch mit den Worten des Historikers Qian Mu 钱穆 (1895–1990) sagen: »Je mehr eine Idee vorangetrieben wird, desto mehr wird sie debattiert.«366 Wenn wir uns jedoch in den historischen Kontext der damaligen Zeit zurückversetzen und unsere Vorfahren nicht »aus der heutigen Sicht« beurteilen, können wir aus den verschiedenen erhaltenen Quellen von Zhuang Cunyu und Liu Fenglu wahrscheinlich nur zwei Dinge erkennen: erstens ihre Besorgnis über das Verschwinden der historischen Tradition der Erläuterung der »großen Prinzipien, die sich beim Studium der konfuzianischen Klassiker in einer esoterischen Sprache verstecken«, und zweitens ihre Kritik an dem zeitgenössischen, d. h. in der Qianlong-Ära vorherrschenden Verständnis der Bedeutung des Studiums der konfuzianischen Klassiker auf der Grundlage historiografischer Prinzipien.367
Wie Zhuang Cunyu in der »Einführung« von Chunqiu zhengci schreibt, bezieht sich der erste Punkt auf die eifrige Suche der »Anhänger von Jia Kui [贾逵] und Zheng Xuan [郑玄] [nach der späteren Han-Dynastie] nach Gelegenheiten, ihre Ansichten niederzuschreiben und die Klassikerstudien zu stören«. Das Studium der Klassiker sei seit der Wei- und Jin-Dynastie bis zur Tang- und Song-Dynastie auseinandergetrieben worden und das Studium des Konfuzianismus’ nur noch bruchstückhaft erhalten. In der Folge sei die Rechtschaffenheit des Chunqiu verloren gegangen. Und in Liu Fenglus Guliang feiji shen he 谷梁废疾申何368 heißt es in der »Einführung«: »Leute wie Zheng und Jia hatten nichts Gutes im Sinn. Mit ihren Fächern verteilten sie giftige Dämpfe und versuchen, verderbliche Prophezeiungen und Gerüchte zu verbreiten« und »der Himmel hat die Han-Dynastie nicht beschützt, die Jin-Dynastie ist in Aufruhr, der Konfuzianismus ist im Niedergang begriffen und verschiedene Denkschulen konkurrieren miteinander«.369 Offensichtlich bezogen sich diese beiden Autoren auf die Unfähigkeit der traditionellen konfuzianischen Gelehrten in der Geschichte, die »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, in den Klassikern herauszuarbeiten. Sie bemühten sich, die Tradition der Gongyang-Studien wieder aufleben zu lassen. Der letzte Punkt entspricht dem, was Zhuang Cunyu in der Einführung zu Chunqiu zhengci formuliert hat: Das Chunqiu sei ein Werk zur »Korrektur von Ungenauigkeiten und Unordnung« und keine »Chronik«. Die Bedeutung der Klassiker könne keinesfalls einfach nur mittels der phonetischen und exegetischen Methode der Textkritik beurteilt werden.370
Liu Fenglu drückte sich sogar noch deutlicher aus, als er in seinem Chunqiu Gongyang jing shili schrieb, dass »die Menschen in der Qing-Dynastie […] sich der aus der Luft gegriffenen [Ideen] schämen und an den Lehren der Han-Zeit festhalten«. In ihrem Verständnis der Bedeutung des Gongyang zhuan folgten sie den Lehren von Jia Kui und Zheng Xuan aus der östlichen Han-Dynastie. Sie hätten deshalb die wahre Bedeutung des Gongyang zhuan, welches Flexibilität und Anpassung an die jeweilige Situation lehre, nicht wirklich verstehen können.371 Daher war Liu Fenglus Chunqiulun eine Reaktion auf den Politiker Qian Daxin (1728–1804), von dem er schrieb, er habe das Gongyang zhuan gering geschätzt und verehre das Zuozhuan, weil er den Unterschied zwischen den Klassikern und der Geschichtswissenschaft nicht verstehe. Auch wisse er nicht, dass »das Zuo detailliert Ereignisse festhalte, während das Chunqiu die Bedeutung anstelle der Ereignisse betone«. Wenn der Gongyang-Kommentar nach historischen Methoden bewertet werden würde, dann ist es so, als ob »Sie nur ein einziges Beispiel auswählen und es mit dem ›Chunqiu‹ zusammenbringen. Es wäre es besser, wenn Sie gleich eine ordentliche Geschichtsdarstellung verfassten, als dem Kaiser so einen Mist zu berichten.«372
Die Vorstellung von der Gongyang-Lehre des Chunqiu, wie sie von Zhuang Cunyu und Liu Fenglu dargelegt wurde, war erstens eine Darstellung des »Tianxia des Königs« (d. h. Konfuzius’ Kritik an den Erbtiteln und das Streben nach der politischen Einheit des Staates), zweitens das Streben nach der »Großen Einheit« (da yitong 大一统, nach einer einheitlichen Dynastie, die in China im Laufe der Jahrhunderte immer das Ziel war, auch in der Qing-Dynastie) und drittens die Vorstellung von der »Einheitlichkeit der Bräuche und der Erziehung und des Gemeinwesens innerhalb der neun Provinzen« nach der Herstellung der »Großen Einheit« (von einem Zustand »einheitlicher Moral und einheitlicher Sitten«, auf den die Menschen des Altertums immer gewartet haben). Über diese Ziele herrschte unter den konfuzianischen Gelehrten der Han-, Tang-, Song- und Ming-Dynastien durchweg Einigkeit, und auch im politischen Kontext der Epoche der Kaiser Qianlong und Jiaqing der Qing-Dynastie lässt sich darin schwerlich eine »moderne« Bedeutung herauslesen. Selbst bei Wei Yuan 魏源 und Gong Zizhen 龚自珍, die den Wandel der Zeit bereits voraussahen und sozusagen »mit offenen Augen auf die Welt schauten«, ist eine bewusste »moderne« Bedeutung in der Gongyang-Doktrin der Qing-Dynastie ebenfalls nicht zu erkennen. In seinem Nachruf auf Zhuang Cunyu liefert Gong Zizhen einen Rückblick auf Zhuang Cunyus wissenschaftliche Ziele, aus dem wir ersehen, dass Zhuang die »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, betonte und hauptsächlich die allgemeinen Praktiken der Textkritik seiner Zeit kritisierte. In seiner »Studie über die Alttextschule und die Neutextschule in den beiden Han-Dynastien« liefert Wei Yuan (1794–1857) eine Zusammenfassung der Strömungen der Klassikerstudien in der Qing-Dynastie, der wir entnehmen können, dass die Gongyang-Schule in dieser Epoche nur eine Art »Erneuerung durch Wiederherstellung des Alten« vornahm, eine Rückwärtsbewegung von der östlichen zur westlichen Han-Zeit: »Indem die Exegese und der Klang zum kanonischen Regelwerk der östlichen Hauptstadt (Luoyang) wurde, wurde ›Qi zu Lu‹; indem das kanonische Regelsystem der östlichen Han-Zeit Teil der ›großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken‹, der westlichen Han-Dynastie wurde und Schrift, Ereignisse und Kommentare zusammengeführt wurden, wurde Lu zu einem Staat der wahren Prinzipien [dao 道].« (Bei »Qi wurde zu Lu« und »Lu wurde zu einem Staat der wahren Prinzipien« handelt sich um Zitate aus Konfuzius’ Lunyu. Bei der Aussage von Wei Yuan handelt sich um eine Interpretation der »Drei Zeitalter«, AdÜ).373
Es ist offensichtlich, dass es in der Ausarbeitung der »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, von Zhuang Cunyu und Liu Fenglu noch keine Spuren moderner Konzepte (zum Beispiel staatliche Institutionen, internationale Ordnung) gegeben hat. Tatsächlich wurden die so genannten modernen Bedeutungen in den Auslegungen der Gongyang-Schule während der Qing-Zeit in mehreren Wellen dort hineininterpretiert, durch Publikationen wie Ruan Yuans 阮元 (1764–1849) Zhuang Fanggeng zongbo jing shuoxu 庄方耕宗伯经说序 (Vorwort zu den Auslegungen der Klassiker von Magistrat Zhuang Fanggeng; »Magistrat Zhuang Fanggeng« ist Zhuang Cunyu), das Zhuangshi Yi shuoxu 庄氏易说序 (Vorwort zur Auslegung des Yijing von Zhuang) von Dong Shixi 董士锡 bis hin zu Wei Yuans Wujin Zhuang shaozongbo yishu xu 武进庄少宗伯遗书序 (Vorwort zu den Schriften von Shaozongbo Zhuang aus Wujin), ganz gemäß der Aussage von Qian Mu, das »je mehr [eine bestimmte Auslegung] vorangetrieben wird, desto mehr wird sie debattiert«.374 Es ist diese durch die Umbruchzeiten bedingte Überinterpretation, die die Bedeutung der Gongyang-Studien in der Qing-Dynastie Schritt für Schritt ihrer »historischen« Schicht« beraubt und sie zu etwas »Modernem« erhoben hat. Einige Wissenschaftler haben als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten der »modernisierten« Gongyang-Studien in der Qing-Dynastie bereits darauf hingewiesen, dass »die Bedeutung der Changzhou-Schule in der akademischen Geschichte in die Mitte der Qing-Dynastie und nicht in die späte Qing-Dynastie gehört und sich an der Tradition und nicht an der Moderne orientiert«.375 Ich stimme mit dieser Auffassung überein. Wenn man den akademischen und intellektuellen Kontext an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beiseite lässt, dann ist die Darstellung der Gongyang-Schule von Zhuang Cunyu und Liu Fenglu als »Wiederentdeckung der Identität Chinas und Gesetzgebung für eine zukünftige Welt« leider lediglich die übertriebene Interpretation nachfolgender Generationen in einer krisengeschüttelten Epoche. Hatten Zhuang und Liu damals ein so klares neues Bewusstsein? Gab es damals in den »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, einen neuen Entwurf für die Welt der Zukunft? Darauf ist Liang Qichao nicht weiter eingegangen.
Lange Zeit sah die akademische Gemeinschaft Gong Zizhen und Wei Yuan im Mittelpunkt der Übertragung traditioneller Quellen in das moderne Denken, während Zhuang Cunyu und Liu Fenglu nicht im Rampenlicht der historischen Bühne standen.
Meiner groben Einschätzung nach hat es zwei Schlüsselmomente gegeben, die dazu führten, dass Gongyang-Gelehrte der Qing-Dynastie wie Zhuang Cunyu und Liu Fenglu wieder aus der Versenkung geholt wurden, in den Mittelpunkt der modernen Ideengeschichte rückten und eine moderne Auslegung vorgenommen wurde: In der späten Qing-Dynastie versuchte zuerst Kang Youwei 康有为 (1858–1927) angesichts der Flut an westlichem Gedankengut, Technologie usw. die Lage zu retten. Er griff auf alte chinesische Quellen zurück, um mittels dieser institutionelle Reformen zu propagieren (tuogu gaizhi 托古改制). Zu diesem Zweck setzte er bei der Gongyang-Schule an und brachte die »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, ins Spiel. Hundert Jahre später dann, am Ende des späten 20. Jahrhunderts, wurde die Geisteswelt durch die Bücher eines chinesischen Konfuzianers und eines US-amerikanischen Historikers erneut stimuliert.
Die »Theorie der Zeitalter« (auch: »Theorie der drei Stadien der menschlichen Entwicklung«, sanshishuo 三世说) legte als Blaupause für die Gestaltung der zukünftigen Welt mit Kang Youwei in der späten Qing-Dynastie einen Senkrechtstart hin. Die Lektüre von Kangs Werken wie Chunqiu dongshi xue 春秋董氏学, Kongzi gaizhikao 孔子改制考 (Abhandlung über Konfuzius als Reformer) und Datong shu 大同书 (Die große Gemeinschaft) zeigt deutlich, wie sehr er die alten Lehren politisiert und modernisiert hat. Wie viele Gelehrte, darunter der Historiker Hsiao Kung-Chuan萧公权 (1897–1981) und Zhu Weizheng 朱维铮 (1936–2012, Professor für Geschichte an der Fudan Universität), schon früh betont haben, versuchten einige Gelehrte der späten Qing-Dynastie, von Liao Ping (1852–1932) bis Kang Youwei, aus den traditionellen Klassikern Antworten auf die Herausforderungen einer sich insbesondere durch den Westen wandelnden Welt zu finden. Liao Ping stand dabei nur mit einem Fuß außerhalb des Dunstkreises der Konfuzianer. In drei aufeinander folgenden Aufsätzen, die er zwischen 1884 und 1886 verfasste, legte er lediglich dar, dass »Konfuzius, als er das Chunqiu verfasste, das System des Königs bewahren wollte […] [ich] habe es neu geschrieben, um das System der Riten zu verdeutlichen. Es gibt nichts, was nicht mit dem Chunqiu übereinstimmt.«376 Kang Youwei hingegen hatte die Welt der Konfuzianer bereits hinter sich gelassen. Anleihen beim Chunqiu Gongyang zhuan und den Theorien zu den »drei Zeitaltern« und dem »Innen und Außen« in den Kommentaren nahm er nur, um die Krise der Qing-Dynastie innerhalb Chinas und den Zusammenbruch der Hua-Yi-Ordnung in Chinas Außenbeziehungen im Kontext der neuen internationalen Ordnung seiner Epoche zu behandeln. Einerseits erkannte er an, dass diese neue internationale Ordnung dazu führt habe, dass »China« keine »himmlische Dynastie« mehr sei und die alten Vorstellungen von der »königlichen Hauptstadt im Zentrum, der verschiedenen chinesischen Herrschaften ›außerhalb‹« sowie der »chinesischen (xia 夏) Herrschaften/Länder innen und der Fremden (yi di 夷狄) außen« keine Geltung mehr hätten. Andererseits wollte er Chinas Selbstvertrauen wieder herstellen, indem er als Vision für die entfernte Zukunft ein vereintes Tianxia entwarf, in dem »nah und fern, groß und klein wie Eines« wären, eine Vision von Chinas Bemühungen, die Welt wieder mit seiner Zivilisation (Konfuzianismus) zu umhüllen. Hierdurch erlangten das Chunqiu Gongyang zhuan und die Interpretationen der »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, eine Bedeutung als Quelle für die moderne Welt und das politische System.
Kang Youweis Ideen nahmen gemäß den Forschungen von Zhu Weizheng in den Jahren zwischen 1885 und 1890 Gestalt an.377 Nachdem er in den Landesprüfungen gescheitert war, reiste er durch die Region Jiangnan (Zhejiang, Jiangsu usw.) und erwarb dort zahlreiche Übersetzungen westlicher Bücher, die von der Übersetzungsabteilung des Jiangnan Arsenals und der Westlichen Kirche herausgegeben worden waren. Er begann, Renlei gongli 人类公理 und Kangzi neiwai pian 康子内外篇 (Interior and Exterior Chapters of Master Kang) zu verfassen. Nach eigenen Angaben nutzte er bereits Konfuzius’ »Theorie der Zeitalter«, nämlich die Periode des Chaos (juluan 据乱), die Periode des nahenden Friedens (auch: Wiederherstellung der Ordnung, shengping 升平) und die Periode des universalen Friedens (oder »große Harmonie«, taiping 太平). Er plante ein »Institut für Weltsprachenforschung«, ein Weltparlament sowie »die Aufstellung einer öffentlichen Armee für den Umgang mit nicht kooperativen Ländern. Auf diese Weise sollte Harmonie auf der Erde geschaffen werden.«378
1890 wurde Kang durch Liao Ping mit der Gongyang-Lehre bekannt. Im darauffolgenden Jahr gründete er die Schule Wanmu caotang und begann, diese »höchst seltsame Theorie« zu lehren. In Jiaoxue tongyi 教学通议 (The general import of teaching and learning) wandte Kang erstmals die »Theorie der drei Zeitalter« (san shi shuo 三世说) auf die Periodisierung der chinesischen Geschichte an: die Ära von der Jin-Dynastie bis zu den Sechs Dynastien (265–589 n. Chr.) klassifizierte er als das chaotische Zeitalter einer Autokratie, den Zeitraum von der Tang- bis zur Song-Dynastie als die Periode des herannahenden Friedens einer konstitutionellen Monarchie, in der sich Yin und Yang trennten und die soziale Hierarchie gefestigt wurde, sowie den Zeitraum von der Ming-Dynastie bis zur aktuellen Dynastie als Periode des universellen Friedens und des Wohlstands, in der »die ganze Welt einschließlich des kleinsten Lebens und des kleinsten Geldstücks dem Sohn des Himmels untersteht«. In dieser Zeit seien die Gelehrtenbeamten durch ihre Integrität, Loyalität und Patriotismus gegenüber dem König motiviert gewesen. Die einfachen Menschen »alterten und starben, ohne Krieg und Revolution erlebt oder Frondienst geleistet zu haben«.379 In Chunqiu Dongshi xue betont Kang dann, dass die »Theorie der drei Zeitalter« das herausragende Prinzip des Konfuzius sei, welches er im »Chunqiu« verdeutlicht […] »Dies ist das wichtigste Prinzip der Rechtschaffenheit des Chunqiu.«380 Erst in seinen Studien zu Konfuzius als Reformer äußert er sich schließlich ganz und gar positiv über »die Theorie der drei Zeitalter in Zeiten des Chaos« von Konfuzius im Chunqiu. Denn »in dieser Zeit sind viele Staaten entstanden und der Blick richtet sich auf die große Einheit der Erde, in der nah und fern, groß und klein eins« sein sollten.381 Wenig später verfasste er das Buch von der großen Gemeinschaft (1902, veröffentlicht 1935), ein Werk, das auf dem Chunqiu Gongyang zhuan und Kangs Verständnis von Konfuzius’ Ideal einer Welt basiert. Darin stellt er sich eine Welt der großen Gemeinschaft vor, in der »alles innerhalb der vier Meere eins ist und alle Menschen wie eine Familie sind«.382
Es stellt sich die Frage, ob Kang Youweis Theorien der »drei Zeitalter« und insbesondere der »Großen Gemeinschaft« als Vorlage für eine künftige Weltordnung dienen können, wie es die derzeitigen Verfechter des »Tianxia-ismus« oder des »Tianxia-Systems« behaupten. Wang Hui, der dazu eine relativ moderne und theoretische Analyse geliefert hat, schreibt Kang Youwei »bei Chinas Selbsttransformation vom Kaiserreich zum souveränen Staat« die Rolle eines »Gesetzgebers« (lifazhe 立法者) zu. Warum? Erstens, weil Kang Youwei die damalige Weltlage mit dem Begriff des »Wettbewerbs der Staaten« beschrieben und sich für die Umwandlung des »imperialen Systems in ein nationalstaatliches« ausgesprochen habe. Zweitens, weil er eine neue Interpretation von »China« geliefert habe, indem er den Faktor der »Rasse« eliminiert habe. Sein Ziel sei es gewesen, die Wurzeln der chinesischen Identität in der Kultur zu begründen und auf der politischen Ebene für »China« eine anti-nationalistische Theorie der Nationenbildung herauszuarbeiten. Drittens habe Kang den moralischen Universalismus des Konfuzianismus mit der wissensbasierten Politik des Westens kombiniert und daraus die utopische Vision einer großen Gemeinschaft geschaffen. Und schließlich habe er diese utopische Vision mit einem modernem Etatismus und dem Konfuzianismus zu einer Art religiöser Reform verbunden. So trete der »neuzeitliche Etatismus auch in Form einer quasi-religiösen Revolution auf und ist prädestiniert, in enger Verbindung zu einem Universalismus zu stehen, der über den Staat hinausgeht«.383 Einfach ausgedrückt nahm Kang Youwei zur Kenntnis, dass China sich in einer Zeit des Chaos befand und daher nur ein Zustand der »königlichen Hauptstadt im Zentrum und der verschiedenen chinesischen Herrschaften ›außen‹« denkbar war. Da das Qing-Reich aber ein Vielvölkerstaat war, mussten die ethnischen Beschränkungen überwunden und eine kulturelle Identität als Basis geschaffen werden, um aus der »chinesischen Herrschaft [xia 夏] im Innern und den Fremden [yi di 夷狄] außen« einen geeinten Staat zu bilden und in eine Ära des Aufstiegs und des Friedens einzutreten. Im nächsten Schritt konzipierte er einen utopischen Frieden und ein Gemeinwesen, in dem auf der Basis eines chinesischen Konfuzianismus, der den gesamten Raum abdeckte, »nah und fern, groß und klein eins« wären.
War Kang Youwei wirklich ein so großer, moderner Gesetzgeber?384 Ich habe an diesem Punkt meine Zweifel, auch wenn K. C. Hsiao argumentiert, dass Kang Youwei »nicht nur Chinas Platz in der modernen Welt abgesteckt, sondern auch die Ideale einer neuen Welt definiert« habe.385 Liang Qichao kritisierte später seinen Lehrer Kang Youwei, indem er schrieb, dass die Gelehrten, die damals zur »Bewahrung des Konfuzianismus« aufriefen, diesen oft mit den »neuen, modernen Lehren vermischten und dann erklärten, dass ihr Konfuzius dies und jenes bereits gewusst und gesagt habe. […] Sie haben aber die neuen Lehren gar nicht wirklich verstanden, sondern nur einiges übernommen, weil es ihrem Verständnis von Konfuzius entspricht.«386 Dass Kang Youwei die Konzepte der Gongyang-Lehre einer Modernisierung unterzog, um seine Vorstellung von einer zukünftigen Welt durch Parallelen zu den Klassikern zu untermauern, war im Kontext der späten Qing-Zeit nicht falsch. Viele Menschen hätten das Gleiche getan.387 Die heutigen Diskutanten und Kommentatoren behandeln Kang Youwei jedoch immer noch als Propheten, indem sie seine fragwürdigen Thesen aufgreifen, um sie mit modernen Theorien und Konzepten neu zu entfalten. Dies lässt sich vielleicht mit einem Zitat von Chen Yinke 陈寅恪 (1890–1969) beschreiben: »Je strukturierter und einheitlicher die Aussagen sind, desto weiter sind sie von der Wahrheit der alten Lehren entfernt.«388 Obwohl sie »die Absichten der Alten entsprechend der Zeit und des Umfeldes, in dem diese lebten, und den Lehren, die sie verinnerlicht hatten, auslegen«, haben sie möglicherweise den historischen Kontext, in dem Kang Youwei lebte, übersehen. Als han-chinesischer Gelehrter, der lange Zeit unter der Herrschaft des Qing-Reiches gelebt hat, und als ein politischer Führer, der »die Qing-Dynastie schützen wollte«, konnte Kang Youwei keinen neuen Staat entwerfen, ohne sich seiner »Identität« bewusst zu sein, die durch seine »ethnische und staatliche Zugehörigkeit« bedingt war.
Alle, die sich mit der Geschichte der Qing beschäftigen, wissen, dass das Qing-Reich die politische Legitimität der Dynastie auf drei Prinzipien stützte: Erstens wurde nicht zwischen Chinesen (hua 华) und anderen Ethnien/Völkern (yi 夷) unterschieden: »Unsere Dynastie beruht auf dem Mandat des Himmels und herrscht über die Untertanen der Länder der Mitte und außerhalb«, deshalb »darf es keine Unterscheidung zwischen den Ethnien geben«. Zweitens »liegt das Mandat des Himmels bei dem mit der größten Tugend«. Die Entscheidung darüber, wer das Tianxia regierte, basierte also auf Moral und Tugend, d. h. darauf, »wer seine Natur beherrschen kann und es versteht, sowohl zu gewinnen als auch zu verzichten«. Drittens wurde die Beurteilung der ethnischen Gruppen anhand ihres Zivilisationsgrades vorgenommen. Wenn »China barbarisch war, so war es eben barbarisch. Nahmen die Barbaren aber die chinesische Kultur an, zählten sie als Chinesen.« So hielt Kaiser Yongzheng im Dayi juemi lu 大义觉迷录 fest: »Dass unsere Dynastie nach dem Eintritt in die Zentralebene das Tianxia beherrscht und die weit entfernten mongolischen Stämme in das Territorium integriert worden sind und dadurch die Grenzen Chinas ausgeweitet wurden, ist ein großer Segen für die chinesischen Untertanen. Wie könnte es Unterschiede zwischen Hua und Yi, Chinesen und Ausländern geben?«389 War Kaiser Yongzheng angesichts dieses Prinzips des Qing-Reiches mit seiner Gleichheit ohne Unterscheidung der Rasse und seiner Toleranz des Tianxia als einer Familie nach moderner Interpretation etwa auch ein »Visionär der Zukunft« und ein »Gesetzgeber der Moderne«?
Es ist offensichtlich, dass Kang Youwei, der zu Veränderungen innerhalb des Qing-Reiches aufrief, aufgrund seiner Identifikation mit dem Qing-Reich und seiner Verteidigung der Grenzen, Völkerschaften und Institutionen der Qing-Dynastie wohl kaum die drastische »strikte Trennung zwischen Hua und Yi« oder die »Unterscheidung zwischen China und Ausland« befürworten konnte, wie es Zhang Taiyan und Sun Yat-sen taten.390 Angesichts der neuen Situation im In- und Ausland am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren seine politischen Ideale die »Bewahrung des Landes« (baoguo 保国; des Qing-Reichs), die »Bewahrung der Völker« (baozhong 保种; der Mandschu, Han-Chinesen und der anderen Ethnien im Qing-Reich) und die »Bewahrung der Lehre« (baojiao 保教; des Konfuzianismus). So konnte seine Strategie nur so aussehen: Erstens war wahrscheinlich die Anwendung der Konzepte der Gongyang-Lehre für eine kompromisshafte Interpretation des multiethnischen Reiches der einzig gangbare Weg; zweitens stellte die Meiji-Restauration in Japan, die die Autorität des Kaisers neu gestaltete, eine nicht unbedeutende Inspiration und einen Ansporn für die Strategie Kang Youweis und anderer Intellektueller zur Formulierung politischer Reformen dar. Insbesondere der chinesisch-japanische Krieg bewies die Wirksamkeit der Strategie »den König zu ehren und die Barbaren zu vertreiben«, die zufällig mit der »großen Einheit« des Chunqiu Gongyang zhuan zusammenfiel. Wieder einmal wurde das konfuzianische Tianxia des »nah und fern, klein und groß wie eins« als Kosmopolitismus verpackt, der einen Egozentrismus (ziwo zhongxin zhuyi 自我中心主义) verhüllte. Wenn nun dieses »Tianxia« durch eine »quasi-religiöse Revolution« des Konfuzianismus verwirklicht werden sollte, indem Kang Youwei anstrebte, die protestantische Revolution in Europa nachzuahmen und einen neuzeitlichen Nationalstaat zu errichten sowie eine moderne internationale Ordnung als Alternative zur bestehenden modernen Weltordnung zu schaffen, dann handelt es sich dabei nicht einfach um einen »den Staat transzendierenden Universalismus«. Erst als diese Vorstellungen, die Kang Youwei aus dem Chunqiu Gongyang zhuan herausinterpretierte und entwickelte, von späteren Gelehrten als Prophezeiungen oder Gesetzgebung für eine neue moderne Weltordnung und ein modernes chinesisches Staatssystem verwendet wurden, wurde Kang Youwei tatsächlich zu einem »Heiligen Weisen aus Nanhai«.391
Interessanterweise hat in letzter Zeit eine Gruppe chinesischer Wissenschaftler in China eine »Rückkehr zu Kang Youwei« gefordert. Sie behaupten, dass Kang Youwei aufgrund seines Vorschlags für eine Welt der Großen Gemeinschaft und der Theorie des Konfuzianismus als Staatsreligion der »Gesetzgeber des modernen China ist, und nicht Sun Yat-sen 孙中山, Mao Zedong 毛泽东 oder Zhang Taiyan 章太炎 […] Meiner Meinung nach ist das Wichtigste in den intellektuellen Kreisen Chinas derzeit, den Status von Kang Youwei als Gesetzgeber des modernen China zu festigen. Erst danach können andere Themen auf hohem Niveau diskutiert werden.«392
Kang Youwei war sehr von sich eingenommen. K. C. Hsiao schrieb über ihn, »sein starkes Selbstvertrauen, das an Selbstverherrlichung grenzte, war das auffälligste Merkmal seines Charakters«.393 In seinen Schriften erwähnt er nicht nur Zhuang Cunyu und Liu Fenglu kaum, sondern auch Liao Ping, der ihn doch zum Studium der Gongyang-Lehre inspiriert hatte.394 Da die Gongyang-Lehre durch Kang jedoch wieder Beachtung fand und Konzepte wie die »drei Themen und neun Aspekte« (san ke jiu zhi 三科九旨) angesichts ihrer modernen Interpretationen eine neue Bedeutung erhielten, rückte die Changzhou-Gongyang-Schule in dem Maße, in dem die Ideenhistoriker ihre akademischen und intellektuellen Ursprünge zurückverfolgten, nach und nach in das Blickfeld der Forschenden und wurde zu einem wichtigen Thema der Ideengeschichte. Dennoch standen Zhuang Cunyu und Liu Fenglu in der akademischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert lange Zeit im Schatten von Gu Yanwu 顾炎武, Huang Zongxi 黄宗羲, Wang Fuzhi 王夫之, Dai Zhen 戴震, Zhang Xuecheng 章学诚 oder sogar ihrer Zeitgenossen Ling Tingkan 淩廷堪 und Ruan Yuan 阮元.395 In der Ideengeschichte hat Kang Youwei weder den hohen Status eines »Gesetzgebers des modernen China« noch scheint er der Prophet einer modernen oder gar zukünftigen Welt zu sein, sondern wird im Gegenteil oft als ein Vertreter des konservativen Denkens im modernen China dargestellt. Wie bereits erwähnt, arbeitete erst sein Schüler Liang Qichao in seinem »Überblick über die Wissenschaft in der Qing-Zeit« die Entwicklung der modernen Geistesgeschichte heraus, wobei er den Weg von Kang Youwei zu Wei Yuan und Gong Zizhen und von Wei Yuan und Gong Zizhen zu Zhuang Cunyu und Liu Fenglu zurückverfolgte.
Warum aber wurde die Gongyang-Lehre am Ende des 20. Jahrhunderts zur großen Aufklärungslehre der Neuzeit hochgejubelt? Wie wurden Zhuang Cunyu und Liu Fenglu zu einer Quelle des modernen chinesischen Denkens und Kang Youwei zu einem messiasgleichen Propheten? Auslöser dürften die beiden bereits erwähnten Monografien eines einheimischen chinesischen Konfuzianers und eines US-amerikanischen Historikers, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen sind, gewesen sein.
Im Jahr 1995 veröffentlichte Jiang Qing 蒋庆, ein Verfechter des politischen bzw. institutionellen Konfuzianismus, eine Einführung in die Gongyang-Schule. Darin zeigte sich deutlich sein Ansatz, bei der Interpretation des Chunqiu Gongyang zhuan die »großen Prinzipien (der Gongyang-Lehre), die sich in esoterischer Sprache verstecken«, von einer rein philosophisch-theoretischen Lehre in den politischen Bereich zu verschieben. Jiang ist überzeugt, »dass das Bewusstsein der Menschen mit dem System verbunden ist und dass es keinen Ersatz für die Wirksamkeit von Regeln und Vorschriften bei der Lösung sozialer Probleme gibt«.396 Er vertritt daher die Meinung, dass »die Anhänger der Changzhou Gongyang-Schule Zhuang, Liu, Song und Kong in der Qing-Dynastie die Vorläufer waren, denen Ling, Gong, Wei und Chen folgten«. So sei eine »tausend Jahre alte tiefgründige Lehre wieder fruchtbar gemacht und der Welt zurückgegeben worden, um diese zu erleuchten«.397
Im Gegensatz zu Jiang Qing hat der amerikanische Historiker und Asien-Experte Benjamin A. Elman eine historische Begründung für die Rückkehr von Zhuang Cunyu und Liu Fenglu ins Zentrum der intellektuellen Arena geliefert, die er aus der Verbindung der politischen und intellektuellen Veränderungen in der Qing-Dynastie abgeleitet hat. In seinem 1990 veröffentlichten Buch Classicism, politics, and kinship. The Ch’ang-chou school of new text Confucianism in late imperial China hob er die Bedeutung dieser beiden Personen, insbesondere von Liu Fenglu, hervor und sorgte damit für großes Aufsehen: »Zhuang Cunyu stand im Zentrum der politischen Bühne des chinesischen Kaiserreiches. Im Vergleich dazu waren Gong Zizhen und Wei Yuan Randfiguren, deren historische Bedeutung weitgehend auf einem Konsens von Historikern des 20. Jahrhunderts beruht.«398
Diese zwei Monografien wurden innerhalb Chinas unter zwei Aspekten beachtet: Jiang Qing wollte in seiner Publikation die politische Bedeutung der Gongyang-Lehre hervorheben. Jiang argumentierte, dass dieser »politische Konfuzianismus vom (Neo-)Konfuzianismus des Geistes (mind confucianism) zu unterscheiden« sei, es handele sich um einen »Konfuzianismus des ›äußeren Königs‹ im Unterschied zum Konfuzianismus des ›inneren Weisen‹«, um einen »praktischen Konfuzianismus, der in einem dunklen Zeitalter Hoffnung bietet«. Jiang betonte, dass die »ideale Welt eines universalen Friedens und einer großen Gemeinschaft die Hoffnung sei, die die Gongyang-Lehre den Menschen in Zeiten des Chaos gegeben« habe.399 Dieses Ideal der Gongyang-Schule wurde nicht nur von dem berühmten Rechtshistoriker Liang Zhiping 梁治平 (1959– ) lobend hervorgehoben, sondern seine Aussage, dass eben gerade »der Nationalismus der Gongyang-Schule, der sich auf eine kulturbasierte Debatte der Hua-Yi-Dichotomie stützt, ein gesunder und legitimer Nationalismus« sei,400 war leider in gewissem Maße auch eine Inspiration für Sheng Hong 盛洪, der sich später stark für den »Tianxia-ismus« eingesetzt hat.401 Elmans Werk wurde 1998 ins Chinesische übersetzt und veröffentlicht und erhielt viel Beifall. Im Nachwort schreibt er, dass »die Konfuzianer der Neutextschule neue Überzeugungen in einer Ära des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Chaos« repräsentiert und »Pragmatismus bei den Regierungsgeschäften sowie notwendige Reformen befürwortet« hätten. Beginnend mit Zhuang Cunyu und Liu Fenglu hätten sich »moderne Schriftgelehrte dafür eingesetzt, durch die Rekonstruktion der Vergangenheit eine Gesetzgebung für die Zukunft zu schaffen«. Diese Aussagen, so fürchte ich, haben auch einige (zeitgenössische) Intellektuelle inspiriert, die die Ursprünge und Entwicklung des modernen chinesischen Denkens zu den Gong Yang-Gelehrten der Qing-Dynastie zurückführen.402
Weil diese in der chinesischen Fachwelt einflussreichen Intellektuellen gleichzeitig begannen, sich mit der modernen Bedeutung der qingzeitlichen Gongyang-Lehre zu beschäftigen, sind Zhuang Cunyu und Liu Fenglu und ihre bruchstückhaften Ausführungen zum Gongyang zhuan zu einem heißen Thema der Auslegung geworden. Wieder einmal wurden diese »bizarren Theorien« zu Prophezeiungen oder Lehrsätzen für eine künftige Welt.403 Festzuhalten ist allerdings, dass die politischen Implikationen von Jiang Qings Ausführungen offensichtlich sind, denn er versucht stets, den Konfuzianismus in den Bereich der praktischen politischen Institutionen zu bringen. Im Vorwort zu seiner Einführung in die Gongyang-Schule schreibt er selbst, dass sein Buch keine objektive Darstellung sei, »sondern die Gongyang-Lehre propagieren will. Die Gongyang-Lehre gehört zur Neutextschule, folglich gehört auch mein Buch zur Neutextschule.« Damit ist die Leserschaft gewarnt, dass es sich bei der Veröffentlichung lediglich um Jiangs Überzeugungen handelt und es dem Autor darum geht, die »großen Prinzipien, die sich in esoterischer Sprache verstecken«, der Gongyang-Lehre herauszuarbeiten, die nicht mit den historischen Texten und der Geschichte übereinstimmen müssten.404 Als Historiker betont Elman, dass »der politische Hintergrund des Aufstiegs der Neutextschule die Heshen-Affäre« gewesen sei und Zhuang Cunyus Werk Chunqiu zhengci vor allem als »Ausdruck der Unzufriedenheit unter dem Deckmantel der Klassiker angesichts der Machtkonzentration von Heshen« sowie insbesondere als ein »Widerstand gegen die Ausbreitung der Han-Studien und ihrer kleinteiligen Textkritik zugunsten einer holistischen Betrachtung der Klassiker« zu sehen sei.405 Im Hinblick auf eine Bedeutung der Gongyang-Lehre für die moderne Politik äußerte er sich nur sehr kurz, dass die Changzhou-Schule »auf die Rekonstruktion der Vergangenheit für die Autorisation (der Gegenwart) und die Gesetzgebung für die Zukunft zurückgriff«, und stellt vorsichtig fest, dass ihre Vertreter »noch kein Konzept einer politischen Revolution erreicht oder das Ausmaß des sozialen Fortschritts vollständig verstanden« hätten.406
Dass Jiang Qing eine moderne Interpretation der Gongyang-Studien vorgenommen hat, steht außer Frage. Aber auch in Elmans historischer Ausführung gibt es Elemente der persönlichen Spekulation und seine These, dass Zhuang Cunyu sein Chunqiu zhengci als Protest gegen Heshen verfasste, wurde bereits in Frage gestellt. Auch seine These, Liu Fenglu habe in Chunqiulun (Discourse of the Annals) die Worte der Weisen verwendet, um die Legitimität des Tributsystems zu rechtfertigen, entbehrt leider ebenfalls eindeutiger Belege.407 Ganz abgesehen davon ist fraglich, ob Liu Fenglu es als Beamter der mandschurischen Qing-Dynastie gewagt haben könnte, so kühne Aussagen wie die »allmähliche Assimilierung« der nicht-han-chinesischen Kaiser durch den chinesischen »Weg des Königs« aufzustellen. Wie Elman hervorhebt, konnte Liu Fenglu als kaiserlicher Beamter unter der Herrschaft einer ethnischen Minderheit nur zustimmen, dass das Chunqiu den politischen Status in Bezug auf kulturelle und nicht auf ethnische Merkmale definierte. Die Wandlung von Barbaren mit »Außenseiter-Status« zu konfuzianischen »Insidern« war ein Prozess der kulturellen Assimilation, der auf dem chinesischen Modell der kaiserlichen Güte basierte. Mit Bedacht hat Elman darauf hingewiesen, dass Liu Fenglus Position in Bezug auf die »äußeren Barbaren« viel gemäßigter war (als jene der Song-Konfuzianer), weil er Beamter einer Dynastie gewesen sei, »die von einer erobernden Minderheit gegründet worden war«.408 Zweifellos konnte Liu Fenglu, der unter fremder Herrschaft stand, nichts anderes tun, als die Unterscheidungen zwischen Chinesen und anderen ethnischen Gruppen (Hua und Yi) aus dem Chunqiu herunterzuspielen. Dies war der reale Kontext der Gongyang-Lehre der Qing-Dynastie. Und wenn man dies mit der unbarmherzigen und tragischen Erfahrung der Inquisition der Qing-Dynastie in Verbindung bringt, wäre eine plausible Erklärung für das Herunterspielen der Hua und Yi-Unterschiede durch Liu Fenglu und andere, dass es eine behelfsmäßige Strategie der Literaten darstellte, die konfuzianischen Klassiker zu besprechen. Möglicherweise haben alle Literati der Qing-Dynastie, die mit den heiklen Fragen um die Beziehungen zwischen Chinesen und Nicht-Chinesen konfrontiert waren, eine derart zweideutige Haltung eingenommen. Wenn man also, um mit Quentin Skinner zu sprechen, die »Ideen in ihren Kontext zurückversetzt«, sind die (qingzeitlichen, AdÜ) Interpretationen des Chunqiu Gongyang zhuan vielleicht gar nicht so »vorausschauend« und die Gongyang-Gelehrten der Qing-Zeit waren gar nicht unbedingt in der Lage, eine künftige, vereinte Welt, in der die ethnischen Grenzen aufgelöst wären, zu entwerfen.
Ist das also so zu verstehen, wie Wang Hui schreibt: »Zhuang Cunyu, Liu Fenglu, Wei Yuan, Gong Zizhen und andere diskutierten ab der Mitte der Qing-Zeit Fragen der Legitimität der Dynastie anhand der Chinesen-Fremde-Dichotomie, Innen und Außen und der ›drei Traditionen und drei Zeitalter‹. Sie konstruierten auf der Grundlage von Ritual und Gesetz ein neues Verständnis von China. Aus der Sicht der Klassiker entwickelten diese Gelehrten der Neutextschule eine Reihe von rituellen und juristischen Ideen für den Umgang der Dynastien mit ihren inneren und äußeren Beziehungen und lieferten damit die theoretischen Voraussetzungen und den geistigen Boden für eine neue historische Praxis – die Reform von Recht und Ordnung unter den Bedingungen der Kolonialzeit.«409 Einige Wissenschaftler argumentieren, dass das konfuzianische »Tianxia« des alten China eine Kritik am britisch dominierten kolonialen Weltsystem und an der amerikanisch dominierten modernen Weltordnung sei und ein alternatives Konzept für eine rationalere Welt in der Zukunft darstellen könnte. Dieses alternative Konzept, so sagen sie, leite sich von der Gongyang-Schule ab, von Dong Zhongshu und He Xiu über Zhuang Cunyu und Liu Fenglu bis hin zu Kang Youwei, und liefere »Werte und Normen für eine auf Einheit orientierte Weltordnungspolitik (world governance)« und, um es noch einmal mit Wang Huis Worten zu sagen: »Die Vision der ›Großen Gemeinschaft‹, die sich allmählich aus dieser Aktivität der Neukonfiguration des Weltbildes entfaltet, ist in ihrer Analyse der kapitalistischen Weltbeziehungen zutiefst vorausschauend und scharfsinnig, insbesondere was ihre pointierte Kritik an den hierarchischen Beziehungen von Staaten, Grenzen, Klassen und Geschlechtern, auf denen diese Weltbeziehungen beruhen, angeht.«410
Ist dies wirklich der Fall? Ich fürchte, dabei handelt es sich um eine Überinterpretation unserer Zeitgenossen.
Das Konzept von Tianxia durchdringt die gesamte chinesische Geschichte. Es war gegenwärtig in den Vorstellungen über das goldene Zeitalter der antiken Welt bei den Gelehrten verschiedener Denkschulen der Zeit vor der Qin-Dynastie und in den Idealen über die Realität bei den Konfuzianern nach der Qin- und der Han-Dynastie. Es taucht auf in den Interpretationen chinesischer Klassiker der qingzeitlichen Gongyang-Schule, die den Textkritikern und Historikern der Ära von Kaiser Qianlong und Jiaqing widersprechen, und in den utopischen Ideen einer Welt der »Großen Gemeinschaft« von Kang Youwei in den Zeiten der großer Wirren. Es erschien ebenso im politischen Konfuzianismus, »Tianxia-System und Tianxia-ismus« des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. In der Gegenwart erscheint es wieder im zeitgenössischen chinesischen Denken, dieses Mal als Versuch, die aktuelle Weltordnung zu ersetzen. Das Bedürfnis, die internationale Stimmung nach dem Aufstieg der großen Nationen und der Kritik in Europa und den Vereinigten Staaten an Chinas »neuem Imperium« neu einzustellen, hat beim Ansporn zur Reinterpretation der chinesischen Klassiker als Unterstützung dieses Anspruchs eine Rolle gespielt. So sehr ich mir allerdings auch manchmal Mühe gebe, mit dieser Gemütsverfassung zu sympathisieren, die hinter dem Diskurs über »Tianxia« steht, kann ich doch als Historiker dieser schrittweisen, aus Nebenkommentaren entwickelten Überinterpretation ebenso wenig zustimmen wie einer Vorstellung, die Begriffe aus ihrem historischen Kontext herauslöst.
Einige zeitgenössische Gelehrte haben die alte chinesische Vorstellung vom »Tianxia« in einen »Tianxia-ismus« für die moderne Weltordnung umgewandelt und glauben, dass dieser »Tianxia-ismus« es der Welt gemäß der Theorie der drei Zeitalter ermöglichen werde, vom Chaos über den herankommenden Frieden zum universalen Frieden zu gelangen. Sie glauben, dass er ein Weltsystem entworfen habe, in dem »es keine Unterschiede mehr zwischen großen und kleinen Staaten und fortschrittlichen und rückständigen Zivilisationen gibt, und in dem nationale und ethnische Grenzen aufgehoben sind« (»nah und fern, groß und klein wie Eines«), womit dieser Tianxia-ismus nicht nur die Grundlagen für das moderne China bildet, sondern auch für die Zukunft der Welt. Aus akademischer Sicht sind diese Visionen, unabhängig von ihrer Motivation, die Konstruktion einer ahistorischen Geschichte. Wie ich bereits eingangs geschrieben habe, wäre es vielleicht unproblematisch, wenn diese Ideen sich auf akademische Gedankenspielereien von Gelehrten beschränkten, die sich den Klassikern zuwenden, um sich mit antiken »Vorstellungen« und »Sehnsüchten« zu beschäftigen, solange diese nicht in die Sphäre der Realpolitik oder auf die institutionelle Ebene vordrängen. Das Problem ist jedoch, dass immer versucht wird, diese Doktrin des Tianxia-ismus zur »Grundlage von Regierung, Politik und politischen Strategien« zu machen, und daher frage ich mit Sorge, ob der Tianxia-ismus mit jenen bereits in der alten chinesischen Tianxia-Ordnung angelegten Unterscheidungen in Hua und Yi, Innen und Außen, Herrscher und Beherrschte, sowie der Strategie, das Reich mit Feuer und Blut, also militärischer Gewalt, zu vereinen, in einem Umfeld des »Austilgens von hundert Jahren der Erniedrigung« und der »Propagierung der chinesischen Zivilisation« als Nationalismus, der sich als Kosmopolitismus tarnt, dazu dienen soll, vor dem Hintergrund des Aufstiegs Chinas den »chinesischen Traum« einer »Weltherrschaft Chinas« zu verwirklichen. Ich weiß es nicht. Was wir aber sehen können, ist, dass die Diskussionen zum Tianxia-ismus bereits über die Geschichte, die Literatur und die intellektuelle Auseinandersetzung hinaus in die chinesische Politik, Diplomatie und sogar in den Bereich der militärischen Strategie vorgedrungen sind. Einige Wissenschaftler, die nicht aus der Geschichtswissenschaft kommen, haben begonnen, den Slogan des Tianxia-ismus aufzugreifen und der Regierung einen strategischen Fahrplan »vom Imaginären zum Realen« präsentiert, der China von Zentralismus und Isolationismus zu Offenheit und Tianxia-ismus führen soll. Warum? Es wird gesagt, dies sei darauf zurückzuführen, dass sich der »Kosmopolitismus« der chinesischen Zivilisation sehr von jenem der westlichen Zivilisation unterscheide, der vor allem durch Expansion gekennzeichnet sei. Der chinesische Kosmopolitismus ziele hingegen auf Frieden und Bewahrung ab. Deshalb schlagen sie vor, dass der Tianxia-ismus zu einem »einzigartigen Instrument der chinesischen Diplomatie werden und an die Stelle des aktuellen Weltsystems der Nationalstaaten treten soll«.411
Ich bin nicht in der Lage, über die Vor- und Nachteile des Tianxia-ismus als künftiges politisches System zu urteilen, sondern ich habe nur die Politik, das Denken und die Wissenschaft, die hinter diesem Konzept stehen, aus einer historischen Perspektive analysiert. Heutzutage zeigen die Intellektuellen, die sich für den »Tianxia-ismus« oder ein »Tianxia-System« einsetzen, eine außerordentliche Begeisterung für dieses antike Konzept, das »Tianxia« genannt wird, und behaupten, dass es die Welt retten kann. Aber ist das wirklich der Fall? Weder die Geschichte noch die Literatur noch die Realität scheinen diese Behauptung zu bestätigen. Als ich diesen Aufsatz beinah fertiggestellt hatte, stieß ich auf ein relativ neues Werk mit dem Titel »Zurück zum ›Weg des Königs‹: Konfuzianismus und die neue Weltordnung«,412 in dem Themen und Fragen wie »Was ist Tianxia?«, »Tianxia und der Weg des Königs«, »der König kennt kein außen« (wang zhe wu wai 王者无外) und die »Einheit aller Dinge« erörtert werden. Ich gebe zu, dass der Titel dieses Buches sehr gut ist. Wenn es wirklich möglich wäre, mittels eines »Weges des Königs« eine neue Ordnung für diese nicht so gute Welt zu schaffen, dann wäre das natürlich zu begrüßen. Aber die notwendige Frage ist, warum das moderne westliche Denken einen »hegemonialen Weg« und der alte chinesische Konfuzianismus einen »Weg des Königs« bieten sollte? Warum entscheiden sich die einen für den »Königsweg« als Lösung und die anderen für den »Weg des Hegemons«?413 Das bringt uns immer wieder zum Ausgangspunkt der Frage zurück: Wer ist der Urheber des Weltsystems und wer soll die Rationalität dieses Systems beurteilen?
Das ist das eigentliche Problem, das diskutiert werden muss.