CODA

Es geschah alles vor langer Zeit, in einer Gesellschaft mit völlig anderem politischen System, in dem weder eine Verfassung das Recht auf freie Meinungsäußerung garantierte noch grundlegende demokratische Normen herrschten. Als Shakespeare ein Kind war, wurde ein wohlhabender Katholik namens John Felton gevierteilt, weil er den Text einer päpstlichen Bulle verbreitet und behauptet hatte, »dass die Königin niemals die wahre Königin von England« gewesen sei. Wenige Jahre später wurde dem Puritaner John Stubbs die rechte Hand abgehackt, weil er ein Flugblatt geschrieben hatte, das die geplante Ehe Königin Elisabeths mit einem französischen Katholiken verurteilte. Der Verteiler des Flugblatts wurde auf ähnliche Weise bestraft. Vergleichbare Strafen für Aussagen und Handlungen, die von den Behörden als Verbrechen gewertet wurden, gab es während der ganzen Regierungszeit von Elisabeth und Jakob I.

Zweifellos wurde Shakespeare Zeuge solcher scheußlichen Spektakel. Sie zeigten ihm nicht nur die Grenzen dessen, was er sagen durfte, sondern enthüllten auch viel über das Wesen des Menschen im Angesicht größten Leidens. Und dazu eine Menge über die Ängste und Wünsche der Masse, also ebenjene Leidenschaften, die dem Dramatiker seinen Stoff lieferten. Seine Macht als Künstler wurzelte im Volk. Er setzte sich die Aufgabe, nicht für eine kleine Gruppe zu schreiben und die Gunst eines kultivierten Mäzens zu erwerben, sondern ein populärer Unterhalter zu sein, der die Massen anlockte, damit sie ihre Pennys für dramatischen Nervenkitzel hingaben.20

Dieser Nervenkitzel spielte häufig mit Überschreitungen der Grenzen des Erlaubten – daher die ständigen Forderungen von Moralisten, Ministern und städtischen Beamten, alle Theater zu schließen. Doch Shakespeare wusste, wo die Gefahr lauerte. Dass es Verrat war, »durch Schreiben, Drucken, Predigen, Ansprachen und Worte« zu behaupten, der Herrscher sei »ein Schismatiker, Tyrann, Ungläubiger oder Usurpator der Krone«. Und er wusste, dass für einen Dramatiker jede kritische Reflexion über mächtige lebende Personen oder umstrittene Themen so reizvoll wie riskant war. Sein Kollege Thomas Nashe floh vor einem Haftbefehl wegen Aufwiegelung; Ben Jonson musste wegen ähnlicher Vorwürfe ins Gefängnis; Thomas Kyd starb, kurz nachdem er im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen seinen Mitbewohner Christopher Marlowe gefoltert worden war; Marlowe wurde von einem Geheimagenten der Königin erstochen. Es kam darauf an, vorsichtig zu sein.

Als Meister der verborgenen Perspektive lenkte Shakespeare seine Einbildungskraft weg von seiner direkten Umgebung. Und der Verhaftung zu entgehen, war dabei nicht sein einziges Motiv. Er war nicht verbittert, einer, der die Autorität von diesem oder jenem Lord oder Bischof, geschweige denn die des Monarchen untergraben oder Aufruhr entfachen wollte. Er war auf dem besten Weg, ein wohlhabender Mann zu werden, der ein ständiges Einkommen aus Eintrittsgeldern, Immobilien, Warenhandel und diskretem Geldverleih bezog. Unordnung lag nicht in seinem Interesse. Seine Werke zeugen von tiefer Abneigung gegen Gewalt – sogar oder vielleicht besonders gegen sogenannte prinzipiengeleitete Gewalt –, die sich gegen Angehörige der Oberschicht richtete.

Seine Werke zeugen aber zugleich von einer Aversion gegen die Parolen der Obrigkeit, etwa in den »Predigten über Gehorsam«, oder gegen reaktionäre Gemeinplätze, die bei öffentlichen Anlässen wie Wahlen oder Hinrichtungen abgespult und von korrupten Priestern unter die Leute gebracht wurden. Vielleicht glaubte Shakespeare, die offizielle Strategie – das Bejubeln der Herrschenden, die demonstrative Weigerung, krasse wirtschaftliche Ungleichheit zur Kenntnis zu nehmen, die ständige Anrufung Gottes zur Unterstützung der Oberen und die Dämonisierung auch nur der leisesten Form von Skepsis – würde die gewünschte Wirkung ins Gegenteil verkehren. Denn es bestärkte nur das Gefühl, das ganze Wertesystem – wer als ehr- und wer als nichtswürdig gilt, was gut ist und was böse, wo die Grenzen zwischen Wahrheit und Lügen verlaufen – sei ein großer Betrug. Sir Thomas Morus, dem Shakespeare so viel für sein Porträt Richards III. verdankte, hatte die Sache fast 100 Jahre zuvor am klarsten ausgedrückt. In seiner Utopia schrieb er: »Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute in Blüte stehen, im Geiste betrachte, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen.«21

Shakespeare fand einen Weg, das zu sagen, was er sagen wollte. Es gelang ihm, jemanden auf der Bühne vor 2000 Zuschauern – darunter auch Regierungsspitzeln – ausrufen zu lassen: »Dem Hund im Amt gehorcht man.« Die Reichen kommen mit dem davon, wofür die Armen brutal bestraft werden. Seine Figur fügte hinzu:

Beschlag mit Gold die Sünde –
Das starke Schwert des Rechts prallt harmlos ab;
Umpanzer sie mit Lumpen – ein Strohhalm bohrt
sie durch.

Wer so etwas im Wirtshaus sagte, musste damit rechnen, dass ihm die Ohren abgeschnitten würden. Doch solche Worte erklangen Tag für Tag in der Öffentlichkeit, und nie wurden die Büttel geholt. Warum nicht? Weil die Person, die sie sprach, Lear in seinem Wahnsinn war (König Lear, IV, 6, 157-165).

Wie wir gesehen haben, dachte Shakespeare sein Leben lang darüber nach, wie Gemeinschaften sich auflösten. Gesegnet mit einer präzisen Kenntnis des menschlichen Charakters und einer rhetorischen Begabung, um die ihn jeder Demagoge beneidet hätte, beschrieb er die Art von Mensch, die in unruhigen Zeiten aufsteigt, an die niedersten Instinkte appelliert und aus den tiefsten Ängsten der Zeitgenossen schöpft. Eine durch Parteienzank entzweite Gesellschaft ist für ihn besonders anfällig für Populismus. Dazu gibt es immer Anstifter, die den Ehrgeiz des Tyrannen entfachen, und Ermöglicher, die zwar die Gefahren sehen, die damit verbunden sind, aber meinen, sie könnten den Tyrannen kontrollieren und von seinem Angriff auf die etablierten Institutionen profitieren.

Wiederholt schilderte der Dramatiker das Chaos, das entsteht, wenn Tyrannen, die im Allgemeinen kein administratives Talent und keine Vision für erfolgreichen Wandel besitzen, tatsächlich an die Macht kommen. In seiner Vorstellung besaßen selbst vergleichsweise intakte und stabile Gesellschaften nur wenige Mittel, um sich einer mitleid- wie skrupellosen Figur zu erwehren; ebenso unfähig sind sie, mit legitimen Herrschern umzugehen, die Anzeichen von irrationalem Verhalten zeigen.

Shakespeare wandte nie den Blick von den schrecklichen Folgen für die Gesellschaften ab, die Tyrannen in die Hände fallen. »O armes Land!«, klagt eine der Figuren in Macbeths Schottland,

Fast bang, im Spiegel sich zu schaun. Man kann’s
Nicht »Mutter« nennen, nur noch Grab; wo niemand
Als der, der nichts weiß, noch ein Lächeln trägt;
Wo Seufzen, Stöhnen, Schrein die Luft zerreißt,
Und keinen kümmert’s mehr; wo wildes Leid
Wie Alltagsstimmung scheint.
(Macbeth, IV, 3, 164-170)

Shakespeare erkannte auch, wie viel Leid und Elend geschehen müssen, damit ihre Verursacher beseitigt werden, doch er war nicht ohne Hoffnung. Er glaubte, die Lösung sei nicht das Attentat, ein verzweifelter Schritt, der in seinen Augen üblicherweise genau das heraufbeschwor, was er abwenden sollte. Zum Ende seiner Laufbahn war er vielmehr überzeugt, dass größere Hoffnung im schier unkalkulierbaren Verhalten der Menge lag, die sich weigerte, auf Befehl irgendeiner Person in Reih und Glied zu marschieren. Die unbegrenzte Zahl von Faktoren, die ständig im Spiel sind, macht es für einen Idealisten oder einen Tyrannen, einen Brutus oder einen Macbeth, unmöglich, den Gang der Ereignisse zu kontrollieren oder »schon Zukunft hier im Jetzt« zu sehen, wie Lady Macbeth es sich einbildet (I, 5, 57).

Als Dramatiker machte Shakespeare sich diese Unvorhersehbarkeit auffällig zu eigen. Er schrieb Stücke mit Haupt- und Nebenhandlungen, warf Könige und Narren zusammen, brach immer wieder literarische Gattungsregeln und übertrug sowohl den Schauspielern wie dem Publikum die Kontrolle über die Interpretation. In dieser Theaterpraxis liegt ein fundamentales Vertrauen begründet, dass eine extrem heterogene, zufällige Ansammlung von Zuschauern sich am Ende einen Reim darauf machen kann. Shakespeares Zeitgenosse Ben Jonson äußerte einst die Fantasie, die Zuschauer sollten ein Stück gemäß ihrer Finanzkraft beurteilen dürfen: »Ein jeder soll gesetzlich berechtigt sein, sein Urteil anzugeben je nach der Höhe seines Eintrittspreises, sei er sechs Pence, zwölf Pence, achtzehn Pence, zwei Schillinge oder eine halbe Krone hoch.«22 Nichts konnte Shakespeares ureigener Überzeugung ferner liegen. Für ihn hat jeder im Theater das gleiche Recht, sich eine Meinung zu bilden, und die Gesamtheit der Meinungen, so chaotisch sie ausfallen mag, wird letztlich über Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens entscheiden.

Eine ähnliche Überzeugung liegt wohl der Darstellung der knappen Rettung Roms vor der Tyrannei in Coriolan zugrunde, einer Rettung, die aus einem Knäuel von Ursachen erwächst: der psychischen Labilität des autokratischen Helden, der Überredungskunst seiner Mutter, der beschränkten Handlungsfähigkeit des Volkes, dem Verhalten der Wähler und ihrer gewählten Anführer. Der Dramatiker wusste, dass es leicht ist, diese Anführer mit Zynismus zu betrachten und an den allzu menschlich handelnden Männern und Frauen zu verzweifeln, die ihnen ihr Vertrauen schenken. Die Anführer sind oft kompromittiert und käuflich; die Menge ist oft dumm, undankbar, leicht von Demagogen zu täuschen und unschlüssig über ihre wahren Interessen. Es gibt Zeiten, manchmal recht lange, in denen die grausamsten Motive zu triumphieren scheinen. Doch Shakespeare war überzeugt, die Tyrannen und ihre Günstlinge würden am Ende scheitern, an ihrer eigenen Bösartigkeit und an einem Geist der Menschlichkeit, der sich zwar unterdrücken, aber nie ganz ausrotten lasse. Die größte Chance, den kollektiven Anstand wiederzubeleben, lag für ihn im politischen Handeln gewöhnlicher Bürger. Er verlor nie die Menschen aus dem Blick, die beharrlich schwiegen, wenn sie dem Tyrannen zujubeln sollten: den Diener, der seinen bösartigen Herrn am Foltern eines Gefangenen zu hindern versuchte, oder den hungrigen Bürger, der nach Gerechtigkeit verlangte. »Was ist die Stadt sonst als das Volk?«