2. Kapitel

New Frontiers – Great Society: Der Zenit des amerikanischen Liberalismus

Am 20. Januar 1961 vollzog sich auf den Stufen des Kapitols in Washington, D. C. ein Generationenwechsel. So jedenfalls sah es John F. Kennedy(2), der an diesem Tag seinen Amtseid als 35. Präsident der US-Geschichte ablegte. »Freund und Feind«, verkündete er gleich zu Beginn seiner Antrittsrede, sollten wissen, dass »die Fackel an eine neue Generation von Amerikanern weitergereicht worden ist.« Erstmals trage die im 20. Jahrhundert geborene Generation – Kennedy selbst war Jahrgang 1917 –, die den Krieg erlebt hatte, politische Verantwortung. Sie werde sich, so versicherte der neue Präsident, ihrer historischen Mission daheim und in der ganzen Welt stellen. Für die Verteidigung der Freiheit sei Amerika kein Preis zu hoch, keine Last zu schwer und kein Opfer zu groß. An seine Landsleute richtete Kennedy(3) den berühmten Appell, nicht zu fragen, was ihr Land für sie tue, sondern, was sie für ihr Land tun könnten; die Welt rief er dazu auf, gemeinsam für die Freiheit der Menschheit zu kämpfen.[1]

Bereits im Wahlkampf hatte der Kandidat der Demokraten den Amerikanern versprochen, sie über »neue Grenzen« zu führen. Mit dem Begriff New Frontiers, der zur Signatur seiner Präsidentschaft werden sollte, beschwor Kennedy den Mythos der westlichen Siedlungsgrenze, wo sich nach der berühmten These des Historikers Frederick Jackson Turner(1) im Kampf mit der Wildnis die nationale Identität Amerikas ausgebildet hatte – geprägt von Individualismus, Pioniergeist und Demokratie, die die Amerikaner vor allen anderen Nationen auszeichneten. Nun stand das Land vor neuen Herausforderungen. Kennedy(4) rief seine Landsleute auf, gemeinsam mit ihm die Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts zu überschreiten und das All zu erkunden, den Frieden zu sichern, Armut und Unwissenheit zu besiegen.[2]

JFK

John F. Kennedy(5) verkörperte den Aufbruch, den er verhieß. Er war der jüngste Kandidat, der je ins Weiße Haus gewählt worden war. Sein gutes Aussehen und seine mitreißende Rhetorik standen in erfrischendem Kontrast zur großväterlichen Betulichkeit seines Vorgängers. Vieles an Kennedys Image – die Heldentaten im Krieg, die Lorbeeren als Buchautor, das glückliche Familienleben – war freilich sorgsam inszeniert und diente dem Ziel, dem Spross einer reich gewordenen irisch-katholischen Einwandererfamilie den Weg ins höchste Staatsamt zu ebnen, das bisher ausschließlich Protestanten innegehabt hatten. Im Wahlkampf gelang es Kennedy, das Reizthema Religion durch geschickte Erklärungen zur Trennung von Kirche und Staat zu neutralisieren. Bei den erstmals ausgetragenen Fernsehdebatten gegen seinen republikanischen Rivalen, Vizepräsident Richard Nixon(3), wusste sich JFK telegen in Szene zu setzen. Gleichwohl verdankte Kennedy(6) seinen hauchdünnen Wahlsieg am 8. November 1960 – landesweit erhielt er gerade einmal gut 100 000 Stimmen mehr als Nixon – vielleicht weniger seiner attraktiven Erscheinung als Wahlmanipulationen in den Staaten Illinois und Texas, wo der Demokrat ganz knapp vorne lag und ohne die er keine Mehrheit im Wahlkollegium gehabt hätte. Doch verzichtete der Verlierer darauf, die Wahl anzufechten. Schmutzige Tricks gehörten eben zur Politik dazu, das wussten wenige so gut wie der unterlegene Richard Nixon, der nicht ohne Grund »Tricky Dick« genannt wurde.[3]

In der Geschichte der US-Präsidentschaft bilden John F. Kennedy(7) und Richard Nixon(4) einen grellen Kontrast. Der eine ist der strahlende Held, der durch seinen frühen gewaltsamen Tod zum Mythos wurde. Viele Amerikaner halten ihn für einen großen Präsidenten, der das Land in eine glücklichere Zukunft geführt hätte, wäre er nicht am 22. November 1963 in Dallas, Texas, einem rätselhaften, bis heute von Verschwörungstheorien umrankten Attentat zum Opfer gefallen. Der andere gilt als Schurke und Finsterling, der die USA in eine Verfassungskrise stürzte und als erster und bislang einziger US-Präsident von seinem Amt zurücktreten musste, um der sicheren Amtsenthebung zuvorzukommen.[4]

Im Wahlkampf 1960 konnten viele Beobachter allerdings kaum Unterschiede zwischen Kennedy(8) und Nixon(5) erkennen. Beide gehörten zur Kriegsgeneration und hatten als Marineoffiziere im Pazifik gedient. Beide waren im selben Jahr (1946) ins US-Repräsentantenhaus gewählt worden und anschließend in den Senat aufgerückt. Nixon verfügte als amtierender Vizepräsident über mehr internationale Erfahrung, dem aus eher kleinen Verhältnissen stammenden und oft verklemmt wirkenden Republikaner mangelte es freilich an Kennedys gesellschaftlichem und intellektuellem Schliff. Politisch gehörten beide zu den Befürwortern einer entschiedenen Eindämmungspolitik gegenüber dem Kommunismus, wobei Kennedy sich deutlich militanter gab.[5] Nach dem »Sputnik-Schock« – die Sowjetunion(4) hatte 1957 den ersten Satelliten ins All geschossen – profilierte er sich mit Attacken auf die Eisenhower(7)-Administration, weil diese angeblich eine »Raketenlücke« zugelassen habe, die durch massive Erhöhung der Militärausgaben geschlossen werden müsse. Kennedys(9) Antrittsrede am 20. Januar 1961 war denn auch vor allem ein außenpolitisches Manifest, in dem er Frieden und Freiheit durch eine Politik der Stärke versprach. In der Folgezeit sorgte die Kennedy-Administration für einen stattlichen Anstieg der Militärausgaben, die zusammen mit dem ehrgeizigen und teuren Raumfahrtprogramm für einen kräftigen Wachstumsschub sorgten. Kennedy stellte seine Präsidentschaft bewusst unter den Primat der Außenpolitik und tat alles, um in der Konfrontation mit dem Kreml seinem Image als tatkräftiger und entschlossener Führer gerecht zu werden. Dass in seine Amtszeit die gefährlichsten Krisen des Kalten Krieges fielen – insbesondere der Bau der Berliner Mauer im August 1961 und die Kuba-Krise im Oktober 1962 – war jedoch nicht allein die Schuld des US-Präsidenten, denn auch die Sowjetführung(5) trug ihren Teil zur Eskalation der Spannungen zwischen den beiden Supermächten bei.[6]

Ein innenpolitisches Programm sucht man in Kennedys(10) Antrittsrede vergeblich. Das drängendste gesellschaftspolitische Problem der USA, die Forderung der Afroamerikaner nach einem Ende von Rassentrennung und Diskriminierung, erwähnte der neue Präsident lediglich verklausuliert, als er vage Amerikas Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte »zuhause und überall auf der Welt« betonte. Dass Kennedy in der Bürgerrechtsfrage keinen Aufbruch zu neuen Grenzen plante, lag zum Teil an seinem geringen Handlungsspielraum. Nicht nur mangelte es ihm angesichts des knappen Wahlergebnisses an einem »Mandat« für weitreichende Reformen, er musste zudem auf den mächtigen Flügel der Südstaatler in der eigenen Partei Rücksicht nehmen, der das Jim-Crow-System(3) kompromisslos verteidigte. Der Solid South, wo die meisten Afroamerikaner vom Wählen ausgeschlossen blieben und die große Mehrheit der Weißen traditionell die Demokraten wählten, weil die Republikaner als Partei Lincolns(3) und der Yankees galten, verfügte de facto über eine Vetomacht im Kongress. Die Südstaatler blockierten, oft im Verein mit konservativen Republikanern, Bürgerrechtsreformen, die von liberalen Demokraten und Republikanern aus dem Norden unterstützt wurden. Demokraten aus dem Süden kontrollierten viele der wichtigsten Kongressausschüsse. Für seine wirtschafts- und steuerpolitische Agenda brauchte Kennedy(11) ihre Kooperation, die er nicht durch kontroverse Bürgerrechtsinitiativen gefährden wollte.[7]

Als Liberaler war Kennedy(12) zudem davon überzeugt, dass Wandel in den Rassenbeziehungen Zeit benötigte und sich möglichst konsensual vollziehen sollte. Die Bundesregierung konnte dort beginnen, wo es nicht besonders kontrovers erschien. So berief der neue Präsident zu Beginn seiner Amtszeit fünfzig Afroamerikaner auf politisch verantwortliche Posten in seiner Administration, weit mehr als jeder seiner Vorgänger. Ansonsten jedoch hatte Kennedy es nicht eilig. Als er nach einem Jahr im Amt noch immer nicht sein Wahlkampfversprechen erfüllt hatte, Rassendiskriminierung im sozialen Wohnungsbau »mit einem Federstrich«, also per Präsidentenerlass, abzustellen, schickten ihm Bürgerrechtler zur Erinnerung Federhalter und Tinte ins Weiße Haus. Ungerührt wartete JFK noch ein Dreivierteljahr ab, bevor er schließlich das Dekret nach den Kongresswahlen im Herbst 1962 unterzeichnete. Doch nicht der Präsident und die Bundesregierung bestimmten die Agenda der Bürgerrechtspolitik, sondern die Dynamik kreativer Konfrontation, mit der die Bürgerrechtsbewegung zu Beginn der 1960er-Jahre das System des institutionellen Rassismus herausforderte.[8]

Freedom Now

Der afroamerikanische Protest der Nachkriegszeit war keine Reaktion auf verschärfte rassistische Unterdrückung und soziale Not. Im Gegenteil, insbesondere der Teil der schwarzen Bevölkerung, der während des Krieges den ländlichen Süden verlassen hatte, profitierte vom Boom. Zwischen 1940 und 1960 wuchsen die Realeinkommen schwarzer Industriearbeiter um 250 Prozent, der Anteil von Facharbeitern und Angestellten unter afroamerikanischen Erwerbstätigen stieg von einem Zehntel auf ein Viertel. Immer mehr junge Schwarze gingen länger zur Schule und erwarben einen Abschluss. Mit der wirtschaftlichen Sicherheit wuchs auch das politische Selbstbewusstsein. In den Industriezentren des Nordens und Westens bildeten afroamerikanische Wähler inzwischen einen beachtlichen Stimmenblock, und selbst im Süden zeigte das politische System der weißen Vorherrschaft Risse. Zwischen 1940 und 1960 verzehnfachte sich in den elf Staaten der ehemaligen Konföderation die Zahl der als Wähler registrierten Afroamerikaner von mageren 150 000 auf fast 1,5 Millionen, wobei der Zuwachs vor allem in den größeren Städten zu beobachten war.[9]

Die schwarze Minderheit teilte die Hoffnungen der weißen Mehrheit auf ein besseres Leben und war weniger denn je bereit, sich mit dem Status von Bürgern zweiter Klasse zu bescheiden. Der Busboykott in Montgomery, Alabama, setzte 1955/56 ein erstes starkes Zeichen für die Kampfbereitschaft der Black Community des Südens. Ausgelöst durch die Verhaftung der schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks(1), die sich – keineswegs spontan – geweigert hatte, ihren Sitzplatz für einen Weißen zu räumen, zwang der ursprünglich nur für einen Tag geplante Boykott die städtische Busgesellschaft nach 381 Tagen zur Aufhebung der Rassentrennung. Mit dem jungen Baptistenpfarrer Martin Luther King Jr.(1) brachte der Boykott zudem eine charismatische Führungspersönlichkeit hervor, die in den kommenden Jahren das Gesicht der Bürgerrechtsbewegung maßgeblich prägte.[10]

Die Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 1960er-Jahre stand in einer langen Tradition des »schwarzen Freiheitskampfes«, doch ist es verfehlt, sie auf eine beschränkte Agenda formaler Gleichberechtigung zu reduzieren, wie dies in der US-Geschichtsschreibung seit einiger Zeit zur neuen Orthodoxie geworden ist.[11] In Wirklichkeit handelte es sich um eine kraftvolle Massenbewegung, die nicht nur den lang ersehnten Durchbruch gegen das Jim-Crow-System erkämpfte, sondern darüber hinaus in der gesamten westlichen Welt zum Vorbild der emanzipatorischen Bestrebungen wurde, die unsere Gegenwart geprägt haben. Ihre politische Dynamik und moralische Kraft bezog die Bewegung aus der gewaltlosen direkten Aktion, mit der die Bürgerrechtler das Übel des Rassismus auf dramatische Weise in Szene setzten. Gewaltlose Protestformen wie Boykotte und Massendemonstrationen waren ebenso wenig neu wie ziviler Ungehorsam durch gezielte Verletzung der Segregationsgesetze. Dass sie seit Mitte der 1950er-Jahre ins Zentrum des schwarzen Freiheitskampfes rückten, lag vor allem an der wachsenden Ungeduld der jungen Generation, die nicht länger auf graduellen Wandel warten wollte, sondern »Freedom Now!« verlangte, auch wenn dieses Ziel im Extremfall den Einsatz des eigenen Lebens erforderte. Die Jahre zwischen 1955 und 1965 wurden so zur »heroischen Dekade« der Bürgerrechtsbewegung.[12]

Die Protagonisten der nonviolent direct action beriefen sich auf die Prinzipien christlicher Menschen- und Feindesliebe. So hieß es im Gründungsmanifest des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC)(1): »Liebe ist das zentrale Motiv der Gewaltlosigkeit.« Auch im Angesicht brutaler Feindseligkeit werde man an den Geboten der Liebe und Vergebung festhalten. Die Gruppe hatte sich 1960 gebildet, nachdem schwarze und weiße Studenten in Kaufhäusern und Cafeterien sit-ins abgehalten hatten, um die Rassentrennung herauszufordern, und dabei von Mobs schwer misshandelt und anschließend von der Polizei verhaftet worden waren. Gewaltloser Widerstand, so erläuterte es Martin Luther King Jr.(2) in einer Fernsehdiskussion, ziele auch auf die »Erlösung« der Unterdrücker ab, deren »Herzen und Seelen« man durch das eigene Verhalten erreichen wolle.[13]

So sehr die meist jungen Frauen und Männer durch Prinzipienfestigkeit und Leidensbereitschaft beeindruckten, so war doch unübersehbar, dass hinter der Rhetorik von Gewaltlosigkeit und Feindesliebe eine gezielte Strategie kreativer Konfrontation stand. Der von konservativen Kritikern erhobene Vorwurf, die Bürgerrechtsbewegung provoziere bewusst die Gewalt, um sie anschließend anprangern zu können, traf im Kern durchaus zu. Nonviolent direct action basierte auf dem Kalkül, dass die zu erwartende rassistische Gewalt gegen friedliche Bürger die Verteidiger der weißen Vorherrschaft moralisch diskreditieren, öffentlichen Druck erzeugen und so die US-Bundesregierung zum Handeln zwingen werde. Gewaltloser Widerstand, so formulierte es der Bürgerrechtler James Farmer(1), sei »moralisches und taktisches Judo«, das die Gewalt des Gegners zum eigenen Vorteil wende. Eine zentrale Rolle in dieser Strategie spielte das Fernsehen, das in den 1950er-Jahren eine neue Öffentlichkeit geschaffen hatte. Dass die nationalen Fernsehsender die Bilder hasserfüllter Mobs und prügelnder Polizisten mit bissigen Hunden in die amerikanischen Wohnstuben lieferten, ist in seiner Bedeutung für die Delegitimierung des Jim-Crow-Systems(4) kaum zu überschätzen. Als John F. Kennedy(14) 1963 in den Fernsehnachrichten verfolgte, wie bei den von Martin Luther King(3) organisierten Protestmärschen in Birmingham, Alabama, Polizeihunde auf schwarze Schulkinder gehetzt wurden, bekannte er, ihm sei beim Zuschauen »übel« geworden.[14]

Allerdings war Kennedy(15) über die Protestaktionen der Bürgerrechtsbewegung alles andere als erfreut. Er verstand sehr gut, dass diese das Ziel verfolgten, Krisen zu provozieren, um ihn unter Druck zu setzen. Als der Congress of Racial Equality (CORE)(1), eine bereits 1942 in Chicago gegründete Gruppe schwarzer und weißer Aktivisten, im Mai 1961 »Freiheitsfahrten« unternahm, um das kurz zuvor vom Obersten Gerichtshof(6) erlassene Verbot der Rassentrennung im Reiseverkehr zwischen den Bundesstaaten zu testen, informierten die Bürgerrechtler vorab die Bundespolizei FBI, weil sie fest mit rassistischen Ausschreitungen rechneten. Kleine Gruppen von Freedom Riders bestiegen in der Bundeshauptstadt Washington Überlandbusse mit dem Fahrtziel Mississippi. Schwarze und weiße Bürgerrechtler saßen nebeneinander und ignorierten an den Raststätten die Schilder, die Reisenden nach Hautfarbe getrennte Wartesäle, Toiletten und Imbisstheken zuwiesen. Der Mob ließ nicht lange auf sich warten. In Alabama prügelten Angreifer die Freiheitsfahrer fast zu Tode und setzten einen Bus in Brand. Da die örtliche Polizei untätig blieb, sah sich JFK gezwungen, Bundesbeamte zu mobilisieren, um der Gewalt Einhalt zu gebieten. In Mississippi rang Justizminister Robert Kennedy(1), der jüngere Bruder des Präsidenten, den lokalen Behörden zwar das Versprechen ab, die Freedom Riders zu schützen, doch in Mississippi hatte man eine ganz eigene Vorstellung von Schutz. Gleich bei ihrer Ankunft wurden die Bürgerrechtler wegen »Reisens zum Zwecke des Aufruhrs« verhaftet und anschließend zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Obwohl die Kennedy-Brüder die Freiheitsfahrer zum vorläufigen Abbruch ihrer Aktionen aufforderten, setzten CORE und SNCC die Aktionen solange fort, bis die für das nationale Verkehrswesen zuständige Bundesbehörde im Sommer 1961 das Urteil des Supreme Courts(7) auch im tiefen Süden durchsetzte.[15]

Das Muster der Freedom Rides wiederholte sich auch in den folgenden Jahren. Immer wieder zwangen die Gewaltexzesse der Segregationisten die Kennedy(17)-Administration zum Eingreifen, um die Autorität der Bundesregierung zu wahren. Nachdem sich der afroamerikanische Veteran James Meredith(1) im September 1962 vor Gericht die Zulassung zur University of Mississippi erstritten hatte, versuchten Mobs, ihn an der Einschreibung zu hindern. Weil der Gouverneur des Staates sich weigerte, Recht und Ordnung zu gewährleisten, musste Kennedy erneut Bundespolizei und Armeeeinheiten schicken. Bei den folgenden bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen auf dem Campus der Universität wurden zwei Personen getötet. Spätestens jetzt dürfte der Präsident die Hoffnung, das Ende der Rassentrennung lasse sich schrittweise und geräuschlos durchführen, begraben haben. Die Gewaltbereitschaft und Intransigenz der weißen Südstaatler ließen ihm(18) keine andere Wahl, als das Recht mit Bundeszwang durchzusetzen.[16]

Die Wende in der Bürgerrechtspolitik kam im Frühjahr 1963 mit den Massendemonstrationen, die King(4) zusammen mit lokalen Bürgerrechtsgruppen gegen die Rassentrennung in Birmingham, Alabama, organisierte. Birmingham galt als die am rigidesten segregierte Großstadt der USA und als Hochburg des terroristischen Ku Klux Klan, der Polizeichef, Eugene »Bull« Connor(1), war für seine Neigung zu brutaler Repression berüchtigt. Die Fernsehbilder von Polizisten, die mit Schlagstöcken, Hochdruckschläuchen und bissigen Hunden friedliche Demonstranten, darunter auch Schulkinder, malträtierten, schockierten die amerikanische Öffentlichkeit und den Präsidenten(19) gleichermaßen. Auch Kennedy gelangte jetzt zu der Einsicht, dass es nicht mehr reichte, nur zu reagieren. Als George Wallace(1), der Gouverneur von Alabama, der seinen Wählern »Segregation Forever« versprochen hatte, am 11. Juni 1963 mit großer Geste die Desegregation der University of Alabama verhindern wollte und persönlich den Eingang des Gebäudes versperrte, wurde er von Robert Kennedys(2) Beamten beiseitegedrängt. Am Abend desselben Tages trat der Präsident mit einer dramatischen Fernsehansprache vor die Nation, in der er die moralische Krise des Landes eingestand und seine weißen Landsleute aufforderte, darüber nachzudenken, ob sie selbst in Amerika leben wollten, wenn ihre Hautfarbe schwarz wäre. Eine Woche später legte JFK dem Kongress einen Gesetzentwurf vor, der ein Verbot der Rassentrennung im öffentlichen Leben des gesamten Landes vorsah. Auch aus privaten Geschäften und Gaststätten sollten die »Whites Only«-Schilder verschwinden.[17]

Im Sommer 1963 neigten sich öffentliche Meinung und politische Macht erkennbar zugunsten der schwarzen Bürgerrechtler. Der »Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit«, bei dem am 28. August rund 250 000 schwarze und weiße Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Solidarität mit den Forderungen nach einem Ende der Rassendiskriminierung bekundeten, wurde zur eindrucksvollen Demonstration der Stärke. Neben den afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisationen sprachen auch Vertreter der mächtigen Automobilarbeitergewerkschaft(2), des American Jewish Congress und der katholischen und protestantischen Kirchen. Den unvergesslichen Höhepunkt setzte Martin Luther King(5) mit seiner Rede vor dem Lincoln(4)-Memorial. Mit seinem »Traum« von einem brüderlichen Amerika ohne Rassenhass sandte der Bürgerrechtler seinen weißen Landsleuten die Botschaft, dass die Gleichberechtigung der Afroamerikaner keine Bedrohung, sondern das Versprechen auf eine bessere Gesellschaft für alle bedeutete. Ein Fernsehkommentator schwärmte, Amerika und die Welt seien Zeugen eines neuen Bürgergeistes geworden. Auch Präsident Kennedy(21), der von der Massendemonstration zunächst nicht begeistert gewesen war, weil er gewaltsame Ausschreitungen befürchtet hatte, sah den Marsch als politischen Erfolg. Unmittelbar nach der Kundgebung empfing er die Veranstalter im Weißen Haus und forderte sie auf, jetzt alle Anstrengungen auf die Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes(1) zu richten.[18]

Die Verabschiedung des Gesetzes verzögerte sich jedoch bis zum Juli 1964, denn erwartungsgemäß leisteten die Südstaatler im Kongress erbitterten Widerstand. John F. Kennedy(22) erlebte sein Inkrafttreten nicht mehr, er wurde am 22. November 1963 in Dallas, Texas, von Lee Harvey Oswald(1), einem ehemaligen Marineinfanteristen und Anhänger der kubanischen Revolution, ermordet.[19] Der Mord an Kennedy hatte keinen direkten Bezug zur Rassenfrage, doch zeigten die Reaktionen auf seinen Tod, wie stark der Hass der radikalen Segregationisten auf den Präsidenten wegen seiner Bürgerrechtspolitik angewachsen war. Während der Rest der Nation trauerte, kam es in Mississippi vielerorts zu Beifallskundgebungen und an einigen Straßen tauchten Plakate mit der Aufforderung auf: »K. O. the Kennedys!« Dass die Rassisten vor Mord und Terror nicht zurückschreckten, hatten sie schon häufig bewiesen.[20]

Ob Kennedys(23) Nachfolger, Vizepräsident Lyndon B. Johnson(2), die liberale Bürgerrechtspolitik seines Vorgängers fortsetzen würde, erschien zunächst unsicher. Der Texaner hatte zwar nie zu den Bannerträgern der weißen Vorherrschaft gehört, aber dass ausgerechnet ein aus dem Süden stammender Präsident zum Motor der Bürgerrechtspolitik werden würde, erwartete niemand. Doch bereits wenige Tage nach Kennedys Tod machte Johnson gegenüber führenden Bürgerrechtlern deutlich, dass er sich energisch für das Ende der Rassentrennung einsetzen werde. Als die Südstaatler im Senat erwartungsgemäß einen filibuster inszenierten – einen Redemarathon zur Blockade der Gesetzgebung –, ließ der Präsident wissen, es sei ihm egal, wie lange es dauern werde, bis das Gesetz verabschiedet werde. Tatsächlich legten die Südstaatler den Senat geschlagene 82 Sitzungstage lang lahm. Aber auch Johnson(3) bewies einen langen Atem. Anfang Juni 1964 gelang es ihm, nicht zuletzt mithilfe liberaler Republikaner, die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Senat zusammenzubringen. Kurz danach verabschiedete der Kongress den Gesetzentwurf, und am 2. Juli unterzeichnete der Präsident den Civil Rights Act(2) von 1964, der das Ende der legalen Rassentrennung in den USA einleitete.[21]

Johnson(4) war bewusst, dass seine Partei einen hohen Preis für diesen Erfolg zahlen würde. Das Bürgerrechtsgesetz(3) war der Anfang vom Ende des Solid South als Bastion der Demokraten. Es lag daher im dringenden Interesse der nationalen Demokratischen Partei, sich im Süden eine neue schwarze Wählerbasis zu schaffen. Schon die Kennedy(24)-Administration hatte Projekte zur Registrierung schwarzer Wähler in den Südstaaten unterstützt. Im ländlichen Deep South jedoch trafen diese Bemühungen auf erbitterten Widerstand. Im Sommer 1964 entführten und ermordeten in Mississippi Mitglieder des Ku-Klux-Klans(1) unter Führung des lokalen Sheriffs zwei weiße und einen schwarzen Wahlrechtsaktivisten, deren Leichen erst nach wochenlanger Suche gefunden wurden. Der Fall erregte nationales Aufsehen, Johnson(5) persönlich beauftragte das FBI mit den Ermittlungen. Der Präsident war zudem fest entschlossen, dem Wahlrecht der schwarzen Amerikaner nun auch im Süden Geltung zu verschaffen, wo ihnen durch pseudolegale Hürden, Behördenwillkür und Einschüchterung weiterhin die Ausübung ihrer politischen Rechte verwehrt wurde. So waren in Mississippi gerade einmal 6,6 Prozent der erwachsenen Afroamerikaner als Wähler registriert.[22]

Einmal mehr gab die Taktik der nonviolent direct action dem politischen Prozess die nötige Schubkraft. Zwischen Januar und März 1965 führte Martin Luther King(6) eine Demonstrationskampagne in Selma, Alabama, an, wo von 15 000 Schwarzen im Wahlalter gerade einmal etwas mehr als 300 im Wählerverzeichnis standen. Der örtliche Sheriff Jim Clark(1) war ein berüchtigter Rassist und ging erwartungsgemäß mit brutaler Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten vor. Am 7. März, der als »Bloody Sunday« in die Annalen der Bürgerrechtsbewegung einging, knüppelte die Staatspolizei von Alabama 600 Marschierer nieder, die sich auf den Weg in Alabamas Hauptstadt Montgomery gemacht hatten, um dort Gouverneur George Wallace(2) eine Petition zu übergeben. Die Empörung über die Prügelszenen aus Selma, für die die nationalen Fernsehsender ihr Programm unterbrachen, war groß. Präsident Johnson(6) drohte mit der Entsendung von Bundestruppen und ordnete an, die Marschierer auf ihrem Marsch nach Montgomery durch Bundespolizei zu schützen. Wenige Tage später, am 15. März, trat er vor den Kongress und präsentierte ein drastisches Wahlrechtsgesetz, das Wählerregistrierung und Wahlen in sieben der elf Südstaaten unter Bundesaufsicht stellte und die diskriminierenden Lesetests suspendierte. Als der US-Präsident in seiner Ansprache die Bürgerrechtshymne »We Shall Overcome« zitierte, brach im Plenum und auf der Galerie donnernder Applaus aus, viele der Anwesenden hatten Tränen in den Augen.[23]

Zwar dauerte es noch knapp fünf Monate, bis der Kongress das Gesetz verabschiedete und Johnson(7) den Voting Rights Act(1) am 6. August feierlich unterzeichnete, doch stand die Mehrheit niemals in Frage. In der ersten Hälfte des Jahres 1965 hatte sich ein überparteilicher Konsens gebildet, dass die Bundesregierung der politischen Diskriminierung der Afroamerikaner im Süden ein Ende machen musste. Selbst unter den Senatoren und Abgeordneten aus den Südstaaten machte sich die Einsicht breit, dass das Gesetz nicht zu verhindern sein würde; am Ende stimmten vier Senatoren aus Texas, Tennessee und Florida dafür. Im Unterschied zur Rassenintegration, die in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nur schleppend vorankam, zeitigte der Voting Rights Act(2) rasch beeindruckende Ergebnisse. Seit Bundesbeamte die Wählerregistrierung im Süden beaufsichtigten, schnellte die Zahl der schwarzen Wähler gerade dort rasant in die Höhe, wo sie bislang fast vollständig vom Wählen ausgeschlossen waren. In Mississippi gab es 1964 lediglich 29 000 registrierte Afroamerikaner, zwei Jahre später waren es 175 000 und bis 1970 kamen noch einmal mehr als Hunderttausend hinzu. Anfang der 1970er-Jahre lag die afroamerikanische Registrierungsquote in den Südstaaten mit knapp 60 Prozent nur noch leicht unter dem Niveau der weißen Bevölkerung. Und während sich im Süden der USA vor 1965 fast keine gewählten schwarzen Amtsträger fanden, wuchs ihre Zahl nach der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes(3) kontinuierlich an. In Atlanta, New Orleans und Birmingham wurden in den 70ern erstmals schwarze Bürgermeister gewählt. Afroamerikanische Wähler bildeten zunehmend die Wählerbasis der Demokratischen Partei im Süden. Bei den Präsidentschaftswahlen 1976 sicherten sie dem aus Georgia stammenden Demokraten Jimmy Carter(1), einem Vertreter des neuen »progressiven« Südens, in zehn von elf Staaten der ehemaligen Konföderation eine Mehrheit und damit den Einzug ins Weiße Haus.[24]

LBJ und der Krieg gegen die Armut

Die weißen Südstaatler dagegen wandten sich in Scharen von den Demokraten ab. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen im November 1964 fielen fünf Staaten des tiefen Südens an den republikanischen Kandidaten Barry Goldwater(1), der im Senat gegen den Civil Rights Act(4) gestimmt hatte. Diese Entwicklung sollte sich fortsetzen, fiel aber aktuell noch nicht ins Gewicht. Denn mit 61 Prozent der Stimmen und einem Vorsprung von mehr als 400 Wahlmännern(4) ging Lyndon Johnson(8) als strahlender Sieger aus der Wahl hervor. Zudem fuhren die Demokraten komfortable Kongressmehrheiten ein. Der amerikanische Liberalismus stand im Zenit, und Johnson war entschlossen, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Amerika sollte eine »Große Gesellschaft« werden, in der die Armut überwunden sein würde und alle Bürger gleiche Chancen haben würden. Sein Namenskürzel LBJ, so hoffte der Präsident, werde in den Geschichtsbüchern gleich neben FDR stehen, seinem bewunderten Vorbild Franklin D. Roosevelt(3), dessen New Deal(7) er vollenden wollte.[25]

Dem aus dem ländlichen Texas stammenden und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Johnson(9) fehlten indessen das Charisma und der Glanz eines FDR. Er war ein Opportunist und Machtmensch, berüchtigt für seine ungehobelten Umgangsformen und seine derbe Ausdrucksweise, dabei ständig um Zuneigung und Bewunderung buhlend. Doch LBJ war ein political animal, dem in der amerikanischen Politik nur wenige das Wasser reichen konnten. Der Texaner verfügte über immense Erfahrung im Umgang mit dem Kongress, wo er 1931 seine Laufbahn als Mitarbeiter eines Abgeordneten begonnen hatte. Mit gerade einmal 29 Jahren wurde er 1937 selbst ins Repräsentantenhaus gewählt, zog 1949 in den Senat ein und stieg schon vier Jahre später zum Mehrheitsführer und damit zu einem der einflussreichsten Politiker der USA auf. Johnson wusste, wie man Mehrheiten zustande bringt und wozu er sie nutzen wollte. Kennedy(25), so schilderte er es später seiner Biografin Doris Kearns Goodwin, sei als Märtyrer gestorben, doch erst er, LBJ, habe die große liberale Sache gleichsam nachgeliefert. Seine Vision taufte er, wenig bescheiden, Great Society. Sie beruhte auf der Vorstellung vom aktivierenden Staat, der die Menschen vor existenzieller Not schützt und sie in die Lage versetzt, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Rassendiskriminierung und Rassentrennung hatten in dieser Gesellschaft ebenso wenig Platz wie die Armut, der Johnson(10) bereits im Januar 1964 den »bedingungslosen Krieg« erklärte.[26]

Der Präsident(11) ahnte, dass die Reformstimmung kurzlebig sein könnte, und trieb zur Eile an. In den Jahren 1964 bis 1967 lancierte seine Administration eine Flut neuer Gesetze und Programme mit dem Ziel, die USA zu einem modernen Sozialstaat zu formen. Die Sitzungsperiode des Kongresses von Anfang 1965 bis Ende 1966 tauften die Liberalen den »Kongress der Erfüllung«. Der 1964 verabschiedete Economic Opportunity Act sollte benachteiligten Jugendlichen Bildungs- und Berufschancen eröffnen. Mit Medicare(1) und Medicaid(1) wurden Programme zur medizinischen Versorgung von Senioren und Bedürftigen geschaffen. Darüber hinaus verabschiedete der Kongress Gesetze zur Sanierung der Innenstädte und Förderung des sozialen Wohnungsbaus, zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs und für besseren Umwelt- und Verbraucherschutz. Der Bund stellte umfangreiche Gelder für den Ausbau der öffentlichen Schulen und die besondere Förderung benachteiligter Kinder zur Verfügung. Ähnlich wie während der Großen Depression bot die Regierung arbeitslosen Jugendlichen einen freiwilligen Arbeitsdienst an. Bedürftige erhielten Bezugsscheine für Lebensmittel, der Mindestlohn wurde deutlich angehoben. Auch die Gründung der beiden großen nationalen Kulturstiftungen für die Künste und die Geisteswissenschaften gehört zu den gesetzgeberischen Leistungen der Johnson(12)-Administration.[27]

Die Reformagenda der Great Society zielte nicht auf Umverteilung, sondern auf soziale und ökonomische Modernisierung, die durch keynesianische(4) Wachstumspolitik finanziert werden sollte. Für amerikanische Verhältnisse waren die Ziele ambitioniert, bewegten sich jedoch im Rahmen des New-Deal-Konsenses(8). Vor allem die Programme, von denen breite Bevölkerungsschichten profitierten, erfreuten sich großer Zustimmung. Dies galt insbesondere für Medicare(2), die Krankenversicherung für Rentner, obwohl die Kosten für das Gesundheitswesen nach ihrer Einführung explodierten. Der Krieg gegen die Armut war dagegen von Anfang an kontrovers und prägte rasch das Bild der Great Society insgesamt. Konservative sahen Freiheit und Eigeninitiative bedroht und argumentierten, anstatt die »Kultur der Armut« aufzubrechen, verfestige der überbordende Wohlfahrtsstaat die Abhängigkeit von Transferleistungen. Besonders beliebt waren Geschichten von jungen Frauen mit Kindern, die sich angeblich von ihren Ehemännern scheiden ließen, um die staatliche Unterstützung für Alleinerziehende zu kassieren. Unbestreitbar war allerdings, dass die Zahl der Sozialhilfeempfänger seit Beginn des Krieges gegen die Armut deutlich anwuchs, während bei Umfragen immer mehr Amerikaner ihren Ärger über den scheinbar massenhaften Missbrauch des Sozialstaats bekundeten.[28]

Linke Kritiker betrachteten die Maßnahmen des War on Poverty dagegen als unzureichend und halbherzig, weil sie nichts an der bestehenden Ungleichheit änderten. Auch sie beklagten die Tendenz zum paternalistischen Fürsorgestaat. Dabei hatten die Planer der Great Society ganz bewusst auf die »größtmögliche Beteiligung« der Betroffenen gesetzt, die aber insbesondere in den schwarzen Ghettos immer wieder zu Konflikten zwischen der Wohlfahrtsbürokratie und radikalen Aktivisten führte. Berichte über Straßengangs in Chicago, die mit fingierten Vorschulprogrammen Fördergelder anzapften, waren Wasser auf die Mühlen aller Kritiker, die im Krieg gegen die Armut eine gigantische Verschwendung der Steuern hart arbeitender Amerikaner sahen. Lokalpolitiker der Demokratischen Partei rebellierten dagegen, dass ihnen die Kontrolle über die Verteilung von Jobs und Subventionen zu entgleiten drohte. Im traditionellen weißen Arbeitermilieu, dem Rückgrat der New-Deal-Koalition(9), machte sich Unmut darüber breit, dass der Staat angeblich Müßiggänger alimentierte. Auf den Stoßstangen vieler Autos prangten Aufkleber mit der Aufschrift: »I Fight Poverty. I Work.« Bei den Kongresswahlen 1966 erlitten die Demokraten empfindliche Verluste, auch wenn sie ihre Mehrheit in beiden Kammern behaupten konnten.[29]

Die Kennedy(26)- und Johnson(13)-Administrationen bemühten sich redlich, Armut nicht als »schwarzes« Problem erscheinen zu lassen, und stellten bewusst die weiße Armut in den ländlichen Regionen und in den Kohlerevieren von Kentucky und West Virginia in den Mittelpunkt. Gleichwohl ließ sich nicht verhindern, dass der Krieg gegen die Armut in der amerikanischen Öffentlichkeit vor allem mit den Ghettos der Großstädte assoziiert wurde, wo es seit Mitte der 1960er-Jahre immer wieder zu gewalttätigen Rassenunruhen kam. Die Architekten der Great Society betrachteten den Krieg gegen die Armut daher auch als »Bollwerk gegen die totale Entfremdung« der Ghettobevölkerung. Das liberale Verständnis von Armut als gesellschaftlichem Strukturproblem, das durch gezielte politische Intervention gelöst werden könne, kollidierte freilich mit der tief verwurzelten Vorstellung, dass nur die unverschuldet in Not geratenen Armen, die »deserving poor«, Anspruch auf Unterstützung hatten. Je mehr Kriminalität, Drogen, die Zerrüttung der Familien und gewalttätige Ausschreitungen das Bild der schwarzen Ghettobevölkerung bestimmten, umso mehr erschien der Krieg gegen die Armut als ein zum Scheitern verurteiltes Projekt naiver Weltverbesserer.[30]

Tatsächlich war der Krieg gegen die Armut immer als Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert gewesen und zudem mit maximal eineinhalb Prozent des Bundeshaushalts finanziell relativ bescheiden ausgestattet. Dass die Zahl der Amerikanerinnen und Amerikaner, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, in den 1960er-Jahren von knapp 40 Millionen auf 25 Millionen bzw. von 22, 2 Prozent auf 12,6 Prozent fiel, kann daher auch nicht einfach der Erfolgsbilanz des »War on Poverty« gutgeschrieben werden, sondern war vor allem eine Folge des kräftigen Wirtschaftswachstums, das Mitte der 1960er-Jahre bei rund sechs Prozent lag. Darin wiederum spiegelte sich zu einem Gutteil die Kriegskonjunktur, die aus dem US-Engagement in Vietnam resultierte, das aber zugleich die Bundesausgaben in die Höhe trieb. Angesichts der rasant steigenden Ausgaben für den Vietnamkrieg(4) – zwischen 1965 und 1968 erhöhten sich die Kosten von fünf Milliarden Dollar auf über dreißig Milliarden – musste Johnson 1967 eine zehnprozentige Erhöhung der Einkommensteuer im Kongress durchsetzen. Für die wachsende Schar ihrer Kritiker war längst offensichtlich, dass die Johnson(14)-Administration den Krieg gegen die Armut ihrem Krieg in Vietnam geopfert hatte. Die Hoffnungen, die der Präsident bei den Armen – schwarzen wie weißen – geweckt habe, erklärte Martin Luther King(7) im April 1967, seien endgültig zerbrochen, der Vietnamkrieg(5) sauge die für die Überwindung der Armut nötigen Ressourcen auf wie eine »dämonische, destruktive Röhre«.[31]

Johnson(15) dagegen versicherte den Amerikanern unentwegt, das Land sei stark genug, seine weltpolitischen Ziele zu erreichen und gleichzeitig zuhause die Große Gesellschaft aufzubauen; allenfalls müsse man ein paar Abstriche machen. Noch in seinen 1971 veröffentlichten Memoiren bekannte er sich zu seiner, wie er sie selbst nannte, »Kanonen-und-Butter«-Politik und verwies auf die vielen Milliarden Dollar, die seine Administration für Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung aufgewendet habe. Kurz vor seinem Tod im Januar 1973 beklagte sich der Ex-Präsident verbittert bei einem engen Vertrauten über die Undankbarkeit »all dieser Leute …, denen ich so viel gegeben habe«.[32]

Dankbarkeit ist in der Politik bekanntlich eine flüchtige Emotion, doch erscheint LBJs(16) Klage nicht ganz unverständlich. Seit Abraham Lincoln(5) hatte kein US-Präsident sich so energisch für die Bürgerrechte der Afroamerikaner eingesetzt. Der Civil Rights Act(5) von 1964 und der Voting Rights Act(4) von 1965, für deren Verabschiedung Johnson seine ganze Autorität in die Waagschale warf, gehören zu den bedeutendsten Gesetzen, die der US-Kongress im 20. Jahrhundert beschloss. Mehr noch: Johnson verstand sehr wohl, dass Rechtsgleichheit und Wahlrecht nur der Anfang sein konnten, auf den echte Chancengleichheit und sozialer Aufstieg folgen mussten. In einer der leidenschaftlichsten Reden seiner gesamten Amtszeit versicherte der Präsident im Juni 1965 auf der Abschlussfeier der »historisch schwarzen« Howard University in Washington, D. C., dass seine Regierung »Gleichheit nicht nur als Recht und als Theorie, sondern als Faktum und als Ergebnis« anstrebe. Echte Chancengleichheit bedeute, die »Narben der Jahrhunderte« anzuerkennen und die schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner in die Lage zu versetzen, in der amerikanischen Wettbewerbsgesellschaft bestehen zu können. Andere Minderheiten hätten nicht dieselbe Bürde von Versklavung und Diskriminierung zu tragen gehabt wie die Afroamerikaner, denen Staat und Gesellschaft nun dabei helfen müssten, die Versprechen auf Gleichheit und Teilhabe zu verwirklichen.[33]

Aus heutiger Sicht mögen Johnsons(17) Vorstellungen von einer Gesellschaft, in der sich Schwarze und Weiße »lediglich durch ihre Hautfarbe unterscheiden«, naiv und paternalistisch erscheinen. Doch gerade schwarze Bürgerrechtsveteranen, die jahrzehntelang um jeden noch so kleinen »Fortschritt« hatten ringen müssen und die aus dem Weißen Haus selten etwas anderes als salbungsvolle Phrasen gehört hatten, sahen in Johnsons Großer Gesellschaft die Erfüllung ihrer kühnsten Hoffnungen. Für den 1901 geborenen NAACP-Führer(2) Roy Wilkins(1) wurde LBJ zum politischen Heros, dem er trotz seiner Vietnampolitik die Treue hielt. In seinem Nachruf vom Januar 1973 feierte er Lyndon Johnson(18) als den »besten Präsidenten der Vereinigten Staaten vom Standpunkt der armen weißen Amerikaner und der nichtweißen Minderheiten aus gesehen«.[34]

Den Stolz auf die Errungenschaften der Great Society ließen sich Johnson und seine liberalen Mitstreiter nicht nehmen. Zum Abschied aus dem Weißen Haus schenkten ihm die Mitglieder seines Kabinetts eine silberne Schreibtischplatte, auf der alle 207 Gesetze der Great Society verzeichnet waren. Sie sollte ihn daran erinnern, dass man gemeinsam das Leben vieler Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner spürbar verbessert hatte. Joseph Califano(1), LBJs(19) wichtigster innenpolitischer Berater, sprach von einer »Revolution«, die »Amerika zu einem besseren Ort« gemacht habe. Er gab zu, die Liberalen seien bisweilen der Neigung zur Überregulierung verfallen, hätten sich aber immer dem »fundamentalen Recht aller Menschen, in Würde zu leben«, verpflichtet gefühlt.[35]

In Johnsons(20) Großer Gesellschaft kulminierten der Fortschrittsoptimismus und die Reformeuphorie der Liberalen. Der »wachsende ökonomische Kuchen«, so beschrieb Califano(2) die Logik der Great-Society-Reformen, sollte es erlauben, die Armut zu bekämpfen, die Staatsausgaben zu steigern, der großen Mehrheit ihren fairen Anteil am Wohlstand zu sichern, ohne den Wohlhabenden etwas nehmen zu müssen.[36] Es war die Vision von der besten aller Konsenswelten, in der genug für alle da war, niemand etwas abgeben musste und sozialer Aufstieg und Integration auch den bislang Ausgeschlossenen und Benachteiligten offenstehen würden; in der gesellschaftliche Konflikte wie die Rassenfrage, wenn nicht vollständig gelöst, so doch entschärft und moderiert werden konnten. Mitte der 1960er-Jahre erschien dieses politische Versprechen großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung attraktiv. Nur wenige Jahre später jedoch versank die Große Gesellschaft in Gewalt und Konfrontation.