3. Kapitel

That Bitch of a War: Der Vietnamkrieg(6) und die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft

Am 31. März 1968, drei Jahre nachdem er die ersten US-Kampftruppen nach Südvietnam abkommandiert hatte, wandte sich Lyndon Johnson(21) in einer Fernsehansprache an das amerikanische Volk. Der Präsident gab den sofortigen Stopp der Luftangriffe auf Nordvietnam bekannt und bot Hanoi – zum wiederholten Male – Verhandlungen an. Am Schluss seiner Rede verkündete Johnson gänzlich unerwartet, er werde nicht noch einmal für das Weiße Haus kandidieren, um mit ganzer Kraft für einen baldigen Frieden arbeiten zu können. Ende Januar, zum vietnamesischen Neujahrsfest »Tet«, hatten starke Kräfte des Vietcong, wie die Guerillakämpfer der kommunistischen Nationalen Befreiungsfront Südvietnams (NLF) genannt wurden, sowie der nordvietnamesischen Armee in ganz Südvietnam militärische und zivile Ziele angegriffen und dabei spektakuläre Anfangserfolge erzielt. Die »Tet-Offensive« hatte die Amerikaner völlig überrascht und strafte alle Beteuerungen der US-Regierung und des Militärs, der Sieg in Vietnam stehe kurz bevor, auf brutale Weise Lügen. Amerikas Fernsehsender zeigten dramatische Bilder vom Nahkampf auf dem Gelände der US-Botschaft in Saigon; der Polizeichef von Saigon schoss vor laufenden Kameras einem gefangenen Vietcong eine Kugel in den Kopf. CBS-Moderator Walter Cronkite(1), bekannt als der »vertrauenswürdigste Mann Amerikas«, reiste unverzüglich nach Vietnam, um sich selbst ein Bild zu machen. Nach seiner Rückkehr erklärte er desillusioniert, der Krieg(7) sei nicht mehr zu gewinnen. Johnson(22) soll daraufhin resigniert bemerkt haben: »Wenn ich Walter Cronkite verloren habe, habe ich Middle America verloren.«[1]

Nach »Tet« glaubte nur noch knapp ein Drittel der Amerikaner an den militärischen Erfolg, und rund die Hälfte stimmte der Einschätzung zu, es sei ein Fehler gewesen, überhaupt Truppen nach Vietnam zu schicken. Die Entsendung weiterer 200 000 Mann, wie sie die Militärs verlangten, hätte Johnson, selbst wenn er sie gewollt hätte, politisch nicht mehr durchsetzen können, denn auch im Kongress und in der Demokratischen Partei wuchs der Widerstand gegen seine Vietnampolitik. Die Senatoren Eugene McCarthy(1) aus Minnesota und Robert F. Kennedy(3) aus New York, die beide einen raschen Verhandlungsfrieden befürworteten, forderten den Präsidenten bei den Vorwahlen offen heraus. Und beinahe täglich gellten Johnson(23) die Sprechchöre von Kriegsgegnern in den Ohren, die ihn, der als großer Reformpräsident in die Geschichte eingehen wollte, als Kindermörder beschimpften: »Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?«

Lyndon B. Johnson(24) sah sich als tragischer Held, dessen Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit einem aufgezwungenen Krieg(8) zum Opfer gefallen sei. Gegenüber seiner späteren Biografin Doris Kearns Goodwin erläuterte er zu Beginn der 1970er-Jahre, warum er glaubte, an der Unterstützung für Südvietnam festhalten zu müssen, obwohl er von Anfang an gewusst habe, dass er nur verlieren konnte[2]:

Wenn ich die Frau verlasse, die ich wirklich liebe – die Great Society – und mich mit diesem Biest von einem Krieg [that bitch of a war] am anderen Ende der Welt einlasse, verliere ich alles zuhause. Alle meine Programme. Alle meine Hoffnungen, die Hungrigen zu speisen und den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu geben. Alle meine Träume, den Braunen und Schwarzen, den Lahmen und Armen Bildung und Medizin zu bringen. Aber wenn ich mich aus dem Krieg zurückziehe und Südvietnam den Kommunisten überlasse, dann wird man mich als Feigling und meine Nation als appeaser sehen, und wir werden nirgendwo auf der Welt noch irgendetwas erreichen können.

Hatte LBJ nicht immer behauptet, Amerika sei stark genug, den Kommunismus in Vietnam und die Armut zuhause zu besiegen? Immerhin erinnerte er nicht zu Unrecht daran, wie der »Verlust Chinas(3)«, also der Sieg der chinesischen Kommunisten im Jahr 1949, die Truman(5)-Administration in die Enge getrieben und die antikommunistische(7) Hysterie weiter angefacht hatte. Den »Verlust Vietnams«, rechtfertigte sich der Ex-Präsident, habe er aus innen- und außenpolitischen Zwängen nicht riskieren können.

Der Weg in den Sumpf

Man muss Johnson(26) zugutehalten, dass er den Krieg(9) weder gewollt noch begonnen hatte. Das Engagement der USA in Indochina(1) resultierte aus der Strategie der globalen Eindämmung des Kommunismus(8), die seit der Präsidentschaft Harry Trumans(6) die US-Außenpolitik bestimmte. Nach der Niederlage der französischen Kolonialmacht gegen die nationalrevolutionären Viet Minh im Jahre 1954 und der anschließenden Teilung Vietnams warnte Präsident Dwight D. Eisenhower(8) davor, der Fall Südvietnams werde einen »Dominoeffekt« auslösen und ganz Südostasien unter kommunistische Kontrolle bringen. Die Dominotheorie prägte fortan die amerikanische Sicht auf den Indochina(2)-Konflikt. Südvietnam hatte für sich genommen geringe Bedeutung, musste aber als wackliger Dominostein stabilisiert werden. Daher unterstützte Washington den südvietnamesischen Diktator Ngo Dinh Diem(1) mit Geld, Waffen und Militärberatern gegen den kommunistischen Norden unter Führung des charismatischen Revolutionärs Ho Chi Minh(1). Das korrupte und repressive Diem-Regime konnte sich allerdings militärisch kaum gegen die Guerillas der Nationalen Befreiungsfront behaupten. Präsident John F. Kennedy(27) schreckte zwar vor der Entsendung regulärer US-Truppen zurück, erhöhte jedoch die Zahl der US-»Militärberater« auf rund 17 000 Mann, die sich mehr oder weniger getarnt an Kampfhandlungen beteiligten. Im Herbst 1963 billigte JFK den Sturz Diems(2) durch das südvietnamesische Militär, zeigte sich anschließend jedoch über die Ermordung des Diktators bestürzt. Dafür, dass er den vollständigen Abzug aus Vietnam plante, wie immer wieder behauptet worden ist, existieren keine überzeugenden Belege. Noch kurz vor seinem Tod bekannte sich Kennedy(28) zur Dominotheorie und bestand darauf, dass sich die USA nicht zurückziehen dürften.[3]

Johnson(27) erbte mithin einen Konflikt, in den die USA bereits seit rund eineinhalb Jahrzehnten verstrickt waren. Doch trugen er und seine engsten außenpolitischen Berater die Verantwortung für die massive Ausweitung des militärischen Engagements(10) zwischen dem Frühjahr 1964 und dem Sommer 1965, obgleich ihnen die Risiken klar vor Augen standen. Im März 1964 erstattete Verteidigungsminister Robert S. McNamara(1) Johnson(28) einen alarmierenden Bericht. Obwohl gut ausgerüstet und ausgebildet, sei die südvietnamesische Armee dem Vietcong nicht gewachsen und habe die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren. Zahlreiche Soldaten desertierten, während die Zivilbevölkerung »Apathie und Gleichgültigkeit« zeige. Die Militärregierung in Saigon verfüge weder im Volk noch in der Armee über Rückhalt. Dennoch hielt McNamara an den Prämissen der Dominotheorie fest und erklärte Südvietnam zum »Testfall« der amerikanischen Eindämmungspolitik. Den Einsatz amerikanischer Kampftruppen lehnte der Pentagon-Chef jedoch noch ab. Die Südvietnamesen müssten »ihren Krieg selbst gewinnen«, allerdings sollten die USA »so lange Hilfe und Unterstützung leisten, bis der Aufstand unter Kontrolle gebracht ist«.[4] McNamaras(2) Lagebeurteilung spiegelte das Dilemma, in dem die Eskalationslogik der kommenden Jahre angelegt war. Wenn Washington Südvietnam aus geostrategischen Gründen nicht preisgeben konnte und die Südvietnamesen trotz umfassender Hilfen den Kampf zu verlieren drohten, dann war die »Amerikanisierung« des Konfliktes früher oder später unausweichlich. Und je stärker sich die USA in Vietnam militärisch engagierten, umso mehr stand Amerikas Glaubwürdigkeit als Vormacht der »Freien Welt« auf dem Spiel.

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Eskalation des Krieges(11) erfolgte im August 1964, als nordvietnamesische Patrouillenboote im Golf von Tonkin einen US-Zerstörer beschossen, der sich auf einer Aufklärungsmission befand. Kurze Zeit später meldete ein anderes US-Kriegsschiff ebenfalls einen Angriff, doch höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen Fehlalarm. Der Präsident(29) befahl als Vergeltung für diese »Provokation« unverzüglich Luftangriffe auf Stützpunkte der nordvietnamesischen Marine. Für den Verdacht, die Zwischenfälle seien inszeniert gewesen, um Johnson einen Vorwand für eine militärische Intervention zu liefern, haben sich nie Belege gefunden. Doch nutzte Johnson die Gelegenheit, um sich vom Kongress die schon seit längerem angestrebte Vollmacht erteilen zu lassen, »alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Angriffe auf die Streitkräfte der Vereinigten Staaten zurückzuschlagen und weitere Aggressionen zu verhindern«. Wie lange die Ermächtigung gelten sollte, konnte der Präsident praktisch selbst entscheiden. LBJ scherzte, die Resolution sei so weit wie »Omas Nachthemd«, sie decke alles ab, was er künftig in Vietnam tun würde.[5]

Die nahezu einstimmige Verabschiedung der »Golf-von-Tonkin-Resolution« – lediglich im Senat gab es zwei Gegenstimmen – zeigte, dass Johnsons(30) Vietnampolitik von breiter Zustimmung getragen wurde. Umfragen ergaben, dass mehr als drei Viertel der Amerikaner die Bombenangriffe auf Nordvietnam befürworteten. Fast die Hälfte wünschte sogar ein härteres Vorgehen. Daran war dem Präsidenten vorerst jedoch nicht gelegen, denn sein Hauptziel bestand darin, das Vietnam-Problem aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Die schleichende Eskalation des Konfliktes war bislang noch kaum ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit getreten, doch fürchtete LBJ, die Republikaner könnten ihn mit dem Vorwurf der Nachgiebigkeit gegenüber kommunistischer Aggression unter Druck setzen. Tatsächlich gelang es Johnson, sich als Friedenskandidat zu profilieren, weil sein republikanischer Herausforderer, Senator Barry Goldwater(2) aus Arizona, ein antikommunistischer(9) Hardliner, die Wähler mit Spekulationen über den Einsatz von Atomwaffen in Vietnam verschreckte. Der Präsident dagegen versprach kurz vor den Wahlen, unter seiner Führung werde Amerika sich weder aus Vietnam zurückziehen noch einen großen Krieg beginnen, sondern dem Kommunismus(10) durch Hilfe zur Selbsthilfe entgegentreten: »Wir schicken keine amerikanischen Jungs 9000 oder 10 000 Meilen fort von zuhause, um zu tun, was asiatische Jungs selber tun müssen.« Johnson(31) wurde mit großem Vorsprung wiedergewählt, aber es dauerte nicht lange, bis ihn sein Versprechen einholte.[6]

Allen Vietnamexperten musste klar sein, dass der Einsatz amerikanischer Bodentruppen nur eine Frage der Zeit war. Hanoi und der Vietcong hatten die »Golf-von-Tonkin-Resolution« als Kriegserklärung(12) aufgefasst und gingen dazu über, gezielt US-Stützpunkte anzugreifen. Gleichzeitig erlitt die südvietnamesische Armee verheerende Niederlagen, die ihren baldigen Zusammenbruch befürchten ließen. Mitte Februar 1965 befahl der US-Präsident den Beginn einer Luftoffensive gegen Nordvietnam, Operation Rolling Thunder. Da die Luftwaffenstützpunkte geschützt werden mussten, folgte im März die Stationierung der ersten Marineinfanteristen; schon im April trafen weitere 40 000 US-Soldaten in Südvietnam ein, und bis zum Jahresende standen knapp 200 000 GIs im Land. Ihren Höhepunkt erreichte die Truppenstärke der Amerikaner 1968/69 mit weit über einer halben Million Soldaten. Als die letzten US-Kampftruppen 1973 abzogen, hatten knapp 60 000 Amerikaner in Vietnam ihr Leben verloren; die Zahl der militärischen und zivilen Todesopfer unter der süd- und nordvietnamesischen Bevölkerung dürfte rund 3,5 Millionen betragen haben.[7]

Gab es Alternativen zur Amerikanisierung des Vietnamkrieges(13)? Hätte eine kluge Politik die Demütigung der Supermacht USA vermeiden und der US-Gesellschaft die Polarisierung über einen Krieg ersparen können, dessen Sinn und Legitimität immer weniger Amerikaner einsahen, je länger er dauerte? Oder schlitterten die Verantwortlichen in den Konflikt hinein, weil sie, wie Robert McNamara(3) nachträglich behauptete, die Konsequenzen ihres Handelns nicht vorhersahen und im Gruppendruck gefangen waren?[8] Immerhin führte die Johnson(32)-Administration eine bemerkenswert kontroverse Diskussion über die Risiken und Optionen ihrer Vietnampolitik. Das gängige Klischee von den »Falken« und den »Tauben« führt dabei in die Irre. Denn auch die Befürworter einer Eskalation wie McNamara glaubten niemals an einen militärischen Sieg über das kommunistische Nordvietnam, sondern wollten Hanoi durch die Demonstration amerikanischer Stärke an den Verhandlungstisch zwingen. Skeptiker wie der stellvertretende Außenminister George W. Ball(1) stellten die Strategie der Eindämmung keineswegs grundsätzlich in Frage, sondern argumentierten, dass diese auf Südvietnam nicht anwendbar sei.[9]

Seit Herbst 1964 warnte Ball in ausführlichen Denkschriften vor der Illusion, die USA könnten die Kontrolle über die militärische Eskalation behalten. Wer einmal auf »dem Rücken des Tigers« sitze, komme so schnell nicht wieder herunter. Ball(2) bestritt, dass Amerikas Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stehe und dass in Vietnam auch Berlin verteidigt werde. Im Gegenteil, Amerikas europäische Verbündete seien besorgt, dass ein unnötiger Krieg in Indochina(3) die Verteidigungsfähigkeit des Westens schwächen werde. Auf keinen Fall, beschwor er Johnson(33) im Juli 1965, dürfe man noch mehr Truppen schicken und sich für eine »verlorene Sache« in einen endlosen Krieg mit hohen Verlusten hineinziehen lassen, an dessen Ende eine »nationale Demütigung« drohe. Die beste Lösung seien Verhandlungen und ein geordneter Rückzug. Ball räumte ein, dass die Machtübernahme der Kommunisten wohl unvermeidlich sein werde, aber letztlich das kleinere Übel bedeute: »Wenn wir jetzt die kurzfristigen Kosten akzeptieren, können wir auf längere Sicht womöglich eine Katastrophe vermeiden.«[10]

Vermutlich glaubte Ball(3) selbst nicht daran, dass er Johnson(34) und McNamara(4) vom Kriegskurs abbringen konnte. Ihm fiel die Rolle der Kassandra zu, deren düstere Prophezeiungen sich auf unheimliche Weise erfüllten. Der Bombenregen auf Nordvietnam(14), der Einsatz von Napalm gegen südvietnamesische Dörfer, der zermürbende Dschungelkrieg gegen einen zäh kämpfenden Gegner und die steigende Zahl gefallener US-Soldaten, die der Undersecretary in seinen Memoranden ausmalte, untergruben sukzessive die innenpolitische Unterstützung für die Kriegspolitik des Präsidenten. Johnson(35) beteuerte rückblickend, auch die Befürworter einer militärischen Eskalation hätten Balls(4) Zweifel geteilt. Doch noch größer sei die Sorge gewesen, dass ein Rückzug den Glauben an Amerikas Entschlossenheit erschüttern und weitere kommunistische Aggressionen in aller Welt ermutigen werde. Allen habe die Beschwichtigungspolitik der 1930er-Jahre als Warnung vor Augen gestanden, dass Schwäche am Ende zu einem dritten Weltkrieg führen werde. Immer wieder fiel bei den Beratungen das Wort von einem neuen »München«.[11]

Zur Logik des Kalten Krieges und fragwürdigen historischen Analogien gesellte sich die Hybris der Macht. Der Gedanke, dass ein Land der sogenannten Dritten Welt, zu dem LBJ im kleinen Kreis vor allem Obszönitäten einfielen, der Supermacht USA die Stirn bot, war schlechterdings inakzeptabel. Das Problem sei, konterte Außenminister Dean Rusk(1) die Bedenken seines Stellvertreters, dass Amerika bisher nicht genug getan habe, um das Erstarken der Kommunisten in Vietnam zu verhindern. General Earle G. Wheeler(1), der Chef der Vereinigten Generalstäbe, versicherte, je mehr Truppen man nach Vietnam schicke, desto geringer würden die eigenen Verluste sein. Sicherheitsberater McGeorge Bundy(1) wies jeden Vergleich mit der französischen Niederlage 1954 zurück. Frankreich sei eine verhasste und zerstrittene Kolonialmacht gewesen. Die USA dagegen kämen einer befreundeten Nation zu Hilfe und hätten noch gar nicht ihr volles Machtpotenzial eingesetzt. Bundy verwies auf die breite innenpolitische Zustimmung für Johnsons(37) Vietnampolitik: »Zuhause bleiben wir politisch stark und, im Allgemeinen, einig.«[12]

Tatsächlich beschränkte sich die Kritik an der Vietnampolitik der Johnson(38)-Administration zunächst auf kleine pazifistische Gruppierungen wie das Committee for a Sane Nuclear Policy (SANE) und Women Strike for Peace, die aus Protest gegen das nukleare Wettrüsten gegründet worden waren. Auch in Teilen der akademischen Jugend regte sich Widerstand. Im Frühjahr 1965 organisierten Kriegsgegner an einigen Universitäten Teach-ins zum Vietnamkonflikt(15), die linken Students for a Democratic Society (SDS)(1) brachten ca. 25 000 Demonstranten zu einer Protestkundgebung in Washington, D. C., auf die Straße. Im Juli forderte der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr.(8) Verhandlungen mit der Nationalen Befreiungsfront und eine sofortige Beendigung des Krieges. Aktivisten riefen junge schwarze Männer zur Wehrdienstverweigerung auf, weil der Dienst in Vietnam Verrat an den »farbigen Völkern dieser Welt« sei. Allerdings sahen sich die Dissidenten rasch heftiger Kritik vonseiten einer Öffentlichkeit ausgesetzt, die es gewohnt war, sich um »die Flagge zu scharen«, wenn US-Soldaten ins Feld zogen.[13]

Nachdem er sich endgültig für eine Eskalationsstrategie entschieden hatte, trat Johnson(39) Ende Juli 1965 vor die Presse, um die Amerikaner auf den Militäreinsatz(16) einzustimmen. Der Präsident wiederholte die bekannten Gründe, die ihm die »schmerzliche Pflicht« auferlegten, die »Blüte unserer Jugend« in die Schlacht zu schicken: die kommunistische Bedrohung, die Lehren der Geschichte, Amerikas Glaubwürdigkeit. Doch zugleich versicherte Johnson seinen Landsleuten, dass der Krieg begrenzt bleiben werde. Eine Intervention der Volksrepublik China(4) oder der Sowjetunion(6), gar einen dritten Weltkrieg, müssten sie nicht befürchten. Sein Ziel sei es, die Kommunisten davon zu überzeugen, dass sie die USA nicht besiegen könnten und Verhandlungen zustimmen müssten, zu denen Washington jederzeit bereit sei. Über Ausmaß und Dauer des militärischen Einsatzes(17) sagte Johnson(40) wenig Konkretes. Erst einmal werde die Truppenstärke von 75 000 auf 125 000 Soldaten erhöht, doch würden wohl weitere Verstärkungen nötig sein. Auf die Frage eines Journalisten, ob sich etwas an der bisherigen Strategie ändere, dass die südvietnamesische Armee die Kampfeinsätze führe und die US-Truppen lediglich Sicherungsaufgaben hätten, antwortete der Präsident knapp: »Es bedeutet keinerlei Änderung unserer Politik und unserer Ziele.«[14]

Es war nicht das erste Mal, dass Johnson(41) die Öffentlichkeit täuschte, und es würde nicht das letzte Mal bleiben. Wie bereits sein Vorgänger versuchte LBJ, das Ausmaß und den Charakter der US-Militäroperationen(18) in Vietnam möglichst zu verschleiern. Dahinter stand kein abgefeimter Plan, das arglose amerikanische Volk in einen imperialistischen Krieg zu lotsen, sondern die Furcht vor den innenpolitischen Kosten und Rückwirkungen des Konfliktes. Deshalb versprach der Präsident, dass der Krieg gegen die Armut fortgesetzt werde, und deshalb wich er der Frage nach einer formellen Kriegserklärung durch den Kongress aus. Vietnam sollte der Öffentlichkeit als eine notwendige, doch begrenzte Intervention verkauft werden. Zunächst schien dieses Kalkül aufzugehen. Medienecho und Meinungsumfragen nach Johnsons(42) Pressekonferenz fielen positiv aus, die Kommentatoren lobten ausdrücklich die Besonnenheit des Präsidenten.[15] Doch sobald offenkundig wurde, dass von einem begrenzten Engagement keine Rede mehr sein konnte, stellte sich die Frage nach den Zielen und Mitteln der amerikanischen Kriegsführung(19). Wenn Vietnam so wichtig war, dass dort immer mehr US-Soldaten kämpfen und sterben mussten, so fragten bald die »Falken«, warum führte man den Krieg dann nicht mit aller Macht und mit dem Ziel, den Feind entscheidend zu besiegen, anstatt lediglich auf Verhandlungen zu hoffen?[16]

Protest und Provokation: Die Antikriegsbewegung

Mit demselben Recht ließ sich fragen, welches nationale Interesse es rechtfertigte, dass »amerikanische Jungs« nun doch das tun sollten, was »asiatische Jungs« augenscheinlich weder tun konnten noch wollten. Und mit welcher verfassungsrechtlichen Autorität führte der Präsident Krieg(20), den laut US-Verfassung der Kongress erklären muss? Die demokratischen Senatoren Wayne Morse(1) und Ernest Gruening(1) hatten der »Golf-von-Tonkin-Resolution« unter anderem deshalb die Zustimmung verweigert, weil der Präsident sie als Blankoscheck für einen unerklärten Krieg missbrauchen könne. Mit Beginn der Operation Rolling Thunder und der Stationierung der ersten Kampftruppen in Südvietnam äußerten weitere Demokraten im Senat Zweifel an der Vietnampolitik, darunter der Mehrheitsführer Mike Mansfield(1) und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, William J. Fulbright(1). Die Stimmen der Kritiker im Kapitol wurden bald noch zahlreicher. Anfang 1966 begann Fulbright vor dem Auswärtigen Ausschuss mit öffentlichen Anhörungen zur Vietnampolitik der Regierung, bei denen kein Geringerer als der Ex-Diplomat und einstige Vordenker der Eindämmungspolitik, George F. Kennan(1), den Krieg der USA in Vietnam(21) als strategischen Irrtum einstufte. Wenig später publizierte Fulbright seine aufsehenerregende Streitschrift über die »Arroganz der Macht«, die Amerika dazu verleitet habe, ein »kleines, fremdes, unterentwickeltes Land« nach den eigenen Vorstellungen reformieren zu wollen. Blinder Antikommunismus(11) verstelle den Blick dafür, dass es sich in Vietnam um einen Bürgerkrieg(22) handele, in dem keine der beiden Seiten für die Demokratie kämpfe. Als Schritte zu einer friedlichen Lösung forderte der Senator unter anderem direkte Verhandlungen mit Hanoi und der NLF, einen Stopp des Bombenkrieges und die Zusicherung eines späteren Abzugs aller US-Streitkräfte.[17]

Auch der radikale Protest gegen den Vietnamkrieg(23) nahm jetzt Konturen an. Die moralische Empörung über einen brutalen Krieg, der immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte, verband sich mit Kritik am »System« und dem Ruf nach einer breiten Antikriegsbewegung, die auch zuhause gegen Ungerechtigkeit und Rassismus kämpfen sollte. Anfangs verströmte der Protest noch den Reform-Idealismus der Kennedy(29)-Ära. »Wir wollen Dörfer aufbauen und nicht niederbrennen«, hieß es in einer Erklärung der SDS vom Oktober 1965, »wir wollen unserem Land helfen und es aufbauen und nicht andere Länder zerstören.« Zwar appellierten die Studenten an die Einsicht der Johnson(43)-Administration, betonten aber zugleich, dass der Vietnamkrieg(24) keine unglückliche Verirrung sei, sondern das Werk von Liberalen, die im Namen des Antikommunismus(12) Amerikas freiheitliche Ideale und Traditionen zugrunde richteten. Aus Sicht der studentischen Kritiker ging es in Vietnam nicht um den Kommunismus, sondern um den Kampf eines unterdrückten Volkes gegen eine korrupte Diktatur und schreiende soziale Ungerechtigkeit. Die Rebellion der Südvietnamesen sei ebenso verständlich und legitim wie die der schwarzen Bevölkerung in den Ghettos amerikanischer Großstädte.[18]

Der Protest gegen den Vietnamkrieg(25) verband sich früh mit dem Protest gegen den heimischen Rassismus, denn zeitgleich mit der Eskalation des Krieges radikalisierten sich viele der jüngeren Bürgerrechtsaktivisten. Während die ältere Generation afroamerikanischer Führer daran festhielt, schwarze Amerikaner müssten als Patrioten für ihr Land kämpfen, fragten nicht wenige wehrpflichtige Afroamerikaner, warum sie in Vietnam für die Freiheit kämpfen sollten, die ihnen zuhause verweigert wurde. Nach der Ermordung eines schwarzen Bürgerrechtlers in Alabama erklärte das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC)(2): »Sammy Younge wurde ermordet, weil die US-Gesetze nicht durchgesetzt werden. Vietnamesen werden ermordet, weil die Vereinigten Staaten eine aggressive und völkerrechtswidrige Politik betreiben.« Die Wortführer der Black-Power-Bewegung(1) verdammten den Vietnamkrieg(26) als imperialistische Aggression gegen eine nichtweiße Nation zur Sicherung der »internationalen weißen Vorherrschaft«. Die militanten Black Panthers(1) boten dem Vietcong sogar freiwillige Kämpfer an; der lehnte das Angebot allerdings höflich ab.[19]

Die gewichtigste afroamerikanische Stimme gegen den Krieg(27) gehörte Martin Luther King(9). Der Friedensnobelpreisträger von 1964 hatte sich immer wieder kritisch zu den Kosten des Krieges und zum Leiden der Zivilbevölkerung geäußert, vermied aber lange den offenen Bruch mit der Johnson(44)-Administration. Im April 1967 trat er schließlich mit einer schonungslosen Anklage gegen die Vietnampolitik und Kriegsführung(28) der USA an die Öffentlichkeit, die in dem Diktum gipfelte, seine eigene Regierung sei der »schlimmste Gewalttäter in der heutigen Welt«. Den Einsatz von Napalm und Entlaubungsmitteln verglich King mit den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern der Nazis. Dass der Friedensnobelpreisträger außerdem konkrete Vorschläge zur Beendigung des Krieges(29) machte, änderte nichts an der Empörung, die ihm in weiten Teilen der US-Öffentlichkeit, einschließlich des »schwarzen Establishments«, entgegenschlug. Das Magazin Life giftete, die Rede höre sich an, als sei sie für Radio Hanoi geschrieben worden. FBI-Direktor J. Edgar Hoover(1), der den Bürgerrechtler seit langem bespitzeln ließ, sah sich einmal mehr in seinem Verdacht bestätigt, dass King(10) ein kommunistischer Agent war.[20]

Doch auch wenn eine Mehrheit der Amerikaner Martin Luther Kings(11) radikale Kritik nicht billigte: Im Frühjahr 1967, zwei Jahre nachdem die ersten US-Kampftruppen in Südvietnam gelandet waren, ließ sich nicht mehr kaschieren, dass die vermeintlich begrenzte Militärintervention längst zum Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg(30) eskaliert war. Die US-Truppen hatten sich, wie George Ball(5) prophezeit hatte, »im Dschungel und auf den Reisfeldern verheddert und schossen das Land langsam in Stücke«. Militärischer Erfolg bemaß sich nicht an der Kontrolle über Territorium, sondern an der Zahl der getöteten Feinde. Der berüchtigte »body count« wurde zur Obsession vieler Militärs und Politiker. Irgendwann, so das Kalkül, würden dem Vietcong und den Nordvietnamesen die Kämpfer ausgehen und sie würden zu Washingtons Bedingungen verhandeln müssen. Diese Strategie führte zu einer extremen Brutalisierung des Krieges(31). Weil sich die Zivilbevölkerung kaum von feindlichen Guerillas unterscheiden ließ, feuerten die GIs in den Kampfzonen auf alles, was sich bewegte. Doch auch die Führung in Hanoi verfolgte eine Strategie des Blutvergießens, in der die horrenden eigenen Verluste eine untergeordnete Rolle spielten. Sie vertraute darauf, dass mit der Zahl der südvietnamesischen Opfer die Verbitterung und Unterstützung für den Vietcong wachsen würden. Und mit jedem US-Soldaten, der in einem Zinksarg heimkehrte, würde der Rückhalt für den Krieg in der amerikanischen Öffentlichkeit schwinden.[21]

In den Jahren 1965 und 1966 waren die Proteste gegen den Krieg(32) noch weitgehend auf lokale Einzelaktionen beschränkt geblieben. Im Herbst 1966 jedoch schlossen sich Pazifisten, Bürgerrechtler, Künstler, Intellektuelle und Repräsentanten der Studentenbewegung zum Nationalen Mobilisierungskomitee zur Beendigung des Vietnamkrieges – kurz »the Mobe« genannt – zusammen, um eine landesweite Demonstrationskampagne für das kommende Frühjahr vorzubereiten. Am 15. April 1967 fand in New York City die erste Massendemonstration mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern statt, unter ihnen Martin Luther King(12) und andere Führer der Bürgerrechtsbewegung. Zeitgleich marschierten in San Francisco 50 000 Demonstranten. Im Oktober folgte eine nationale »Antikriegswoche(33)«. In Oakland, Kalifornien, kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, und beim »Marsch auf das Pentagon« vor den Toren der Bundeshauptstadt wurden mehr als 500 Demonstranten verhaftet. Bis Anfang der 1970er-Jahre gelang es der Antikriegsbewegung immer wieder, Massendemonstrationen, Mahnwachen, Sitzblockaden und andere Aktionen des zivilen Ungehorsams zu organisieren.[22]

Die meisten Protestaktionen blieben friedlich, zielten aber, ganz im Sinne der nonviolent direction action, auf symbolische Provokationen und Regelbrüche ab, die den Mainstream-Patriotismus der US-Gesellschaft verunsichern sollten. Antikriegsgruppen riefen zur Wehrdienstverweigerung auf. Junge Männer verbrannten öffentlich ihre Einberufungsbefehle, einige von ihnen nahmen Haftstrafen in Kauf oder setzten sich ins Ausland ab. Während Kriegsdienstverweigerer, die sich auf ihr Gewissen beriefen, noch auf Verständnis hoffen konnten, galt dies nicht für die Solidarisierung mit dem Feind, die beim radikalen Flügel der Bewegung in Mode kam. Demonstranten schwangen Vietcong-Flaggen und skandierten »Ho, Ho, Ho Chi Minh(2)«-Sprechchöre, die dem Ansehen der Antikriegsbewegung gerade bei den Amerikanerinnen und Amerikanern schadeten, die dem Krieg(34) eigentlich skeptisch gegenüberstanden.[23]

Dass militante Gruppen und gewalttätige Konfrontation das öffentliche Bild der Antikriegsbewegung bestimmten, lag einerseits an der Berichterstattung der Medien, andererseits jedoch an der Reaktion der staatlichen Autoritäten, die oft mit rabiater Härte vorgingen. Als das »Mobe« für Ende August 1968 Demonstrationen zum Parteitag der Demokraten in Chicago ankündigte, drohten die Yippies (Youth International Party(1)), eine kleine anarchistische »Spaßguerilla«, das Trinkwasser der Stadt mit Drogen zu versetzen und öffentliche Sexorgien zu veranstalten. Der humorlose Bürgermeister Richard J. Daley(1) verwandelte Chicago in eine Festung und ließ den weitgehend friedlichen Protest vor laufenden Fernsehkameras niederknüppeln. Als Aktivisten Ende April und Anfang Mai 1972 die US-Bundeshauptstadt durch Sitzblockaden auf Brücken und Straßenkreuzungen lahmzulegen versuchten, verhafteten Polizei und Militär mehr als 7000 Personen und hielten sie zeitweilig in Sportstadien fest. Präsident Richard Nixon(6) hätte gerne Schlägertrupps losgeschickt, um seine Kritiker zu »zerquetschen«.[24]

Ihren traurigen Höhepunkt erreichte die Gewalt Anfang Mai 1970 bei den Demonstrationen gegen die US-Invasion von Kambodscha, wo US-Truppen die Nachschubwege des Vietcongs abschneiden sollten. Auf dem Campus der Kent State University in Ohio kam es zu tagelangen Zusammenstößen zwischen Studenten und der Polizei. Aktivisten setzten das Ausbildungszentrum für Reserveoffiziere auf dem Campus in Brand und bewarfen Feuerwehr und Polizei mit Steinen. Bei einer verbotenen Demonstration am 4. Mai eskalierte die Lage, als Nationalgardisten in Panik gerieten und zu schießen begannen. Zwei junge Männer und zwei junge Frauen im Alter von 19 und 20 Jahren starben. Das »Kent-State-Massaker(1)« löste eine landesweite Welle der Solidarität aus, Millionen Studenten beteiligten sich an Streikaktionen und Demonstrationen. Das Foto einer Studentin, die entsetzt neben einem der Toten kniet, wurde später mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Die Mehrheit der Amerikaner befand allerdings, die Demonstranten trügen selbst die Schuld an der Gewalteskalation.[25]

Dass die Universitäten zum Brennpunkt der Antikriegsbewegung wurden, war allein deshalb wenig überraschend, weil die Wehrpflicht grundsätzlich auch Studenten betraf, wenngleich großzügige Rückstellungsregelungen lange dafür sorgten, dass nur wenige von ihnen tatsächlich einberufen wurden. Von den 1203 männlichen Harvard-Absolventen des Jahrgangs 1968 dienten lediglich 26 in Vietnam(35). Die Studentenzahlen der Colleges schossen in die Höhe, und bei Umfragen gaben bis zu drei Vierteln der Befragten an, dass sie auch deshalb studierten, um der Einberufung zu entgehen. Da deutlich weniger junge schwarze Männer ein College besuchten, lag ihr Risiko, zum Militär eingezogen zu werden, doppelt so hoch wie das ihrer weißen Altersgenossen. Der Vietnamkrieg(36) offenbarte eine tiefe soziale Kluft. Die Jugend der working class kämpfte im Krieg, die akademische Jugend kämpfte gegen den Krieg. Während etwa achtzig Prozent der US-Soldaten in Vietnam aus blue-collar-Familien stammten, war die Antikriegsbewegung ganz überwiegend eine Sache der gebildeten Mittel- und Oberschichten. Eltern, deren Söhne nach Vietnam geschickt wurden, musste es übel aufstoßen, dass sogar Kinder führender Mitglieder der Johnson(45)- und der Nixon(7)-Administrationen gegen den Krieg ihrer Väter rebellierten. Craig McNamara, der Sohn des Verteidigungsministers, hatte in seinem Zimmer eine Vietcong-Flagge aufgehängt und ließ sich regelmäßig bei Demonstrationen der Friedensbewegung sehen. Solange er an der kalifornischen Eliteuniversität Stanford studierte, blieb er vom Wehrdienst zurückgestellt.[26]

Ein breiter sozialer und kultureller Graben trennte die aktive Antikriegsbewegung von dem weit größeren Teil der US-Bevölkerung, der den Krieg(37) nicht aus moralischen oder politischen Gründen ablehnte, sondern weil er als Verschwendung von Menschenleben und Geld erschien, das Land spaltete und Amerikas Selbstbild und Werteordnung in Frage stellte. Spätestens seit der Tet-Offensive hatten die meisten Amerikaner den Glauben an einen günstigen Ausgang des Krieges verloren und befürworteten einen raschen Abzug. Doch so sehr sie des Krieges überdrüssig waren, so sehr missbilligten sie es, wenn Protestierende amerikanische Flaggen verbrannten und die in Vietnam kämpfenden GIs als Mörder beschimpften. Gerade der radikale Flügel der Antikriegsbewegung, der sich gerne zur Avantgarde der Unterdrückten stilisierte, fand kaum Zugang zur Arbeiterschicht, der offenkundig das »richtige« politische Bewusstsein fehlte. Umgekehrt provozierten die elitäre Herkunft und Attitüde vieler studentischer Kriegsgegner bei Angehörigen der working class eine Feindseligkeit, die bisweilen in Gewalt ausartete. Im Mai 1970 verprügelten Bauarbeiter in New York City die Teilnehmer an einer Solidaritätskundgebung für die Opfer der Kent-State-Unruhen(2); auch andernorts kam es zu Ausschreitungen gegen Kriegsgegner.[27]

Alle Meinungsumfragen der Vietnam-Ära belegen, dass die Antikriegsbewegung in der US-Bevölkerung durchgängig unpopulärer war als der Krieg selbst. Die Bewegung repräsentierte niemals auch nur annähernd eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner. Gleichwohl handelte es sich um die größte und wirkmächtigste Opposition gegen einen Krieg in der amerikanischen Geschichte. Der Protest konnte sich auf eine breite Koalition der emanzipatorischen Bewegungen der 1960er-Jahre stützen. Die Ablehnung des Vietnamkrieges(38) einte religiöse Pazifisten, schwarze Bürgerrechtler, Black-Power-Aktivisten(2), traditionelle Frauenorganisationen, radikale Feministinnen(1), gegenkulturelle Hippies, liberale Demokraten und radikale Linke.[28] Diese Heterogenität machte freilich koordiniertes politisches Handeln äußerst schwierig. Prominente Kriegskritiker und militante Aktivisten, wie etwa der SDS-Führer Tom Hayden(1) und seine Ehefrau, die Schauspielerin Jane Fonda(1), verstanden es, sich medienwirksam zu inszenieren, aber eine politische Führung existierte ebenso wenig wie ein Konsens über die Ziele und Methoden. Alle forderten ein Ende des Krieges. Aber wie sollte dieses Ziel erreicht werden? War nur ein sofortiger und bedingungsloser Rückzug akzeptabel? Reichte es, gegen den Krieg in Vietnam(39) zu demonstrieren, oder musste die Bewegung nicht auch zugleich gegen Rassismus und alle anderen Formen der Unterdrückung in der amerikanischen Gesellschaft kämpfen? Hatte es Sinn, sich an Wahlen zu beteiligen, nachdem der Einsatz im Wahlkampf 1968 für Eugene McCarthy(2) und Robert F. Kennedy(4) vergeblich geblieben war? Wenn Märsche und Demonstrationen augenscheinlich nichts bewirkten, mussten die Aktivisten dann nicht zu militanten Protestformen wie Sabotage und vielleicht sogar Gewalt übergehen? Die Antworten auf diese Fragen hingen davon ab, ob man, wie die meisten Liberalen, den Vietnamkrieg(40) als einen schweren politischen Fehler betrachtete, der mit demokratischen Mitteln korrigiert werden musste, oder ob man, wie die radikalen Kriegsgegner, Vietnam als imperialistischen Aggressionskrieg sah, der seine Wuzeln im kapitalistischen System hatte. Wer sich an das Maximalziel der Revolution klammerte, trat früher oder später die Flucht ins Sektierertum an oder verfiel der Resignation.[29]

Peace with Honor

Dass die Antikriegsbewegung nach dem »Kent-State-Massaker(3)« an Mobilisierungskraft verlor, lag allerdings auch an der Politik der Nixon-Administration. Der Republikaner Richard Nixon(8), der sich bei den Wahlen im November 1968 knapp gegen Vizepräsident Hubert Humphrey(1) und den Rechtspopulisten George Wallace(3) durchsetzte, galt dem radikalen Flügel der Friedensbewegung als Kriegstreiber. Sein Einzug ins Weiße Haus bewirkte zunächst einen weiteren Radikalisierungsschub. Bei seiner Amtseinführung im Januar 1969 kam es zu schweren Ausschreitungen. In Wirklichkeit stand auch der neue Präsident unter großem Druck, den Krieg, der monatlich mehr als 500 US-Soldaten das Leben kostete, Unsummen verschlang und die Gesellschaft polarisierte, möglichst bald zu beenden. Im Wahlkampf hatte er behauptet, einen Geheimplan für einen »ehrenvollen Frieden« zu haben. Ein solcher Plan existierte nicht, aber mit seinem Wahlsieg am 5. November 1968 wurde Vietnam zu Nixons Krieg(41). Die Öffentlichkeit erwartete, dass der neue Präsident die Truppen nach Hause holte, ohne dass der Rückzug zu sehr nach einer Niederlage aussah und ohne dass Amerikas Prestige als Supermacht allzu großen Schaden nahm.[30]

Nixon(9) hatte sich geschworen, er werde nicht wie LBJ enden, aber die Strategie der »Vietnamisierung«, die er der »schweigenden Mehrheit« seiner Landsleute als Königsweg zu einem »ehrenvollen Frieden« verkaufte, war Johnsons(46) alter Wein in neuen Flaschen. Die südvietnamesische Armee sollte gestärkt und mit modernsten Waffen ausgerüstet werden, damit sie dem Feind Paroli bieten und US-Truppen abgezogen werden konnten. Zwischen Mitte 1969 und Ende 1971 reduzierte Nixon sukzessive die amerikanische Truppenstärke in Vietnam von 550 000 auf 157 000 Soldaten; im Frühjahr 1972 waren noch 95 000 GIs in Vietnam stationiert, von denen lediglich 6000 in Kampfeinheiten dienten. Mochten die militärischen Erfolgsaussichten der Vietnamisierung gering erscheinen, innenpolitisch war sie ein geschickter Schachzug, weil sie der Antikriegsbewegung Wind aus den Segeln nahm. Die Zahl junger Männer, die einberufen und nach Vietnam abkommandiert wurden, sank ebenso rapide wie die amerikanischen Verluste. Parallel erfüllte der Präsident sein Wahlversprechen, möglichst zügig die Wehrpflicht abzuschaffen. Darüber, wer zum Militär musste, entschied seit 1970 das Los, sodass die Bevorzugung von Studenten nominell aufhörte. Mit dem Abzug der letzten US-Truppen aus Südvietnam Anfang 1973 wurde die Wehrpflicht dauerhaft ausgesetzt .[31]

Die Vietnamisierung des Krieges war allerdings auch deshalb unumgänglich, weil die Einsatzbereitschaft der US-Truppen in Vietnam unaufhaltsam erodierte. Drogenkonsum, Rassenspannungen, unerlaubte Entfernung von der Truppe und Befehlsverweigerung bis hin zu Meuterei und zu Gewalttaten gegen Offiziere hatten bedrohliche Ausmaße angenommen. Im Mai 1971 befand ein Oberst der Marineinfanterie, Moral, Disziplin und Kampfkraft der Truppe seien niedriger als zu jedem anderen Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte. Die noch in Vietnam verbliebenen Streitkräfte stünden am Rande des Zusammenbruchs. Die meisten Soldaten hatten schlicht keine Lust mehr, weiter in einem Krieg zu kämpfen, den sowohl die politische Führung als auch die »Heimatfront« aufgegeben hatten. Eine kleine Minderheit betrieb innerhalb des Militärs aktive Opposition gegen den Krieg. Soldaten druckten Flugblätter und Untergrundzeitungen, organisierten Petitionen und spontane Protestkundgebungen. Schon 1967 hatten Veteranen eine Vereinigung gegen den Vietnamkrieg(42) gegründet. Ehemalige Soldaten, unter ihnen der spätere Präsidentschaftskandidat und US-Außenminister John Kerry(1), erregten 1971 große Aufmerksamkeit, als sie bei öffentlichen Anhörungen und Demonstrationen über Kriegsverbrechen berichteten und demonstrativ ihre Orden wegwarfen. Die Öffentlichkeit sollte nicht länger ignorieren, dass das berüchtigte Massaker im Dorf My Lai, wo eine US-Einheit im März 1968 Hunderte Zivilisten regelrecht abgeschlachtet hatte, keine bedauerliche Ausnahme, sondern die Konsequenz einer systematisch entgrenzten Brutalisierung war.[32]

Als ein Kriegsgericht im März 1971 den verantwortlichen Offizier, Leutnant William L. Calley(1), zu lebenslanger Haft verurteilte, war die Mehrheit der Amerikaner jedoch überzeugt, Calley habe nur seine Pflicht getan und solle zum Sündenbock gemacht werden. Im Weißen Haus traf eine halbe Million Telegramme ein, in denen seine Begnadigung gefordert wurde. Nixon(10) ließ sich nicht lange bitten und ordnete an, Calley bis zum Berufungsverfahren unter Hausarrest zu stellen; drei Jahre später begnadigte ihn der Armeeminister. Middle America mochte den Vietnamkrieg(43) längst als folgenschweren Fehler sehen und sein Ende herbeisehnen, in seinem »Right-or-Wrong-My-Country«-Patriotismus ließ es sich nicht beirren.[33] Dass Nixons Versprechen eines »ehrenvollen Friedens« breite Unterstützung genoss, zeigte sich eindrucksvoll im November 1972, als ihm die Wähler mit mehr als sechzig Prozent der abgegebenen Stimmen einen Triumph bereiteten. Sein demokratischer Gegenkandidat George McGovern(1), ein Exponent des linken Parteiflügels, der für den sofortigen Rückzug aus Vietnam eintrat, lag lediglich in einem einzigen Bundesstaat, dem liberalen Massachusetts, sowie in der Hauptstadt Washington vorne.[34]

Zuvor hatte die US-Luftwaffe Hanoi konzessionsbereit gebombt. Im April 1972 waren die Luftangriffe auf Nordvietnam wiederaufgenommen worden, weil die südvietnamesische Armee erneut vor dem Kollaps stand. Ein vorläufiger Kompromiss, den Sicherheitsberater Henry A. Kissinger(1) und der nordvietnamesische Unterhändler Le Duc Tho(1) im Herbst 1972 bei den seit 1969 laufenden Pariser Friedensgesprächen ausgehandelt hatten, scheiterte indessen zunächst am Widerstand Saigons. Die südvietnamesische Regierung befürchtete zu Recht, dass ein Friedensschluss auf ihre Kosten gehen würde. Um Hanoi zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen, ordnete Nixon(11) zu Weihnachten 1972 die größte Luftoffensive des gesamten Krieges(44) an. Am 27. Januar 1973 unterzeichneten die Regierungen der USA, Nord- und Südvietnams sowie Vertreter der NLF schließlich ein Abkommen, das einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung aller Kriegsgefangenen und den raschen Abzug aller US-Truppen vorsah. Doch mehr als 100 000 nordvietnamesische Soldaten durften in Südvietnam verbleiben, und die Nationale Befreiungsfront wurde de facto politisch anerkannt. Ob das Pariser Abkommen ein »ehrenvoller Frieden« war, musste Ansichtssache bleiben. Die Saigoner Regierung hatte ihm nur unter massivem Druck Nixons(12) zugestimmt, der zudem versprach, den Bombenkrieg wiederaufzunehmen, falls Hanoi den Waffenstillstand brechen sollte. Doch angesichts der Kriegsmüdigkeit der amerikanischen Öffentlichkeit und des Kongresses war damit nicht ernstlich zu rechnen. Der Sieg der Kommunisten schien nur eine Frage der Zeit. Henry Kissinger(2) soll damit gerechnet haben, dass es eineinhalb Jahren dauern würde; am Ende waren es 27 Monate.[35]

Am 30. April 1975 verfolgten Amerikas Fernsehzuschauer vor ihren Bildschirmen, wie Hubschrauber die letzten Botschaftsangehörigen und Marines vom Dach der US-Botschaft in Saigon evakuierten. Der »Verlust Vietnams«, dessen innenpolitische Konsequenzen John F. Kennedy(30), Lyndon Johnson(47) und Richard Nixon(13) so gefürchtet hatten, ließ die Amerikaner jedoch erstaunlich kalt. Niemand sprach mehr von der Dominotheorie, als im benachbarten Kambodscha die Roten Khmer ihre Schreckensherrschaft errichteten. Präsident Gerald Ford(1), der Nixon nach dessen Rücktritt wegen der Watergate-Affäre(3) im August 1974 ins Weiße Haus nachgefolgt war, und sein Außenminister Kissinger(3) appellierten vergeblich an den Kongress, die bedrängten Regierungen in Saigon und Phnom Penh noch einmal mit mehr als 700 Millionen Dollar zu stützen. Bei Meinungsumfragen lehnten rund achtzig Prozent der Befragten jede weitere Hilfe ab. Die Amerikaner wollten den Albtraum ein für alle Mal hinter sich bringen.[36]

Gespaltene Erinnerung

Die Auseinandersetzungen über die Verantwortung für den Krieg(45) und die Niederlage gingen freilich weiter und haben tiefe Spuren in Politik und Kultur der USA hinterlassen. Auf der Rechten sowie bei vielen Militärs und Veteranen verfestigte sich der Glaube an eine amerikanische »Dolchstoßlegende«, der zufolge der Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in den Wohnzimmern und auf den Straßen Amerikas verloren worden sei. Anstatt den in Vietnam kämpfenden Soldaten den Rücken zu stärken, hätten die Medien mit verstörenden Bildern von toten Zivilisten und verstümmelten Kindern das Vertrauen in die Legitimität des Krieges untergraben. Den Kriegsgegnern wurde vorgeworfen, dass sie mit dem Feind fraternisiert und Amerikas Ehre in den Schmutz gezogen hätten. Die Niederlage lastete man mutlosen Politikern an, die den Militärs die für den Sieg nötigen Ressourcen verweigert hätten. Um etwa 2000 vermisste US-Soldaten, die angeblich in geheimen Lagern in Vietnam schmachteten, entwickelte sich eine politisch schlagkräftige Subkultur. Deren Vertreter konnten zwar nie Belege für ihre Behauptungen vorlegen, verhinderten aber lange eine Normalisierung der Beziehungen zu Vietnam. Die Resonanz der POW/MIA-Bewegung (Prisoner of War/Missing in Action) beruhte auch auf der Verbitterung vieler Veteranen, die sich von der Gesellschaft verachtet und verraten fühlten.[37]

Die Dolchstoßlegende mochte die Kränkung durch die Niederlage mildern, die eine »viertklassige Macht« dem Selbstbild der USA zugefügt hatte, doch mit der Wirklichkeit hatte sie wenig zu tun. Tatsächlich unterstützte die Mehrheit der Wähler und der Medien bis 1968 die Vietnampolitik der Johnson(48)-Administration und danach Nixons(14) Eskalationsstrategie als Weg zu einem »ehrenvollen Frieden«. Die Friedensbewegung repräsentierte immer nur eine Minderheit der Amerikaner und war politisch viel zu schwach, um den Rückzug der USA zu erzwingen. Gewiss beeinflussten die Massenproteste das Kalkül der Entscheidungsträger, die eine weitere innenpolitische Polarisierung fürchteten. Aber der Verzicht auf eine Invasion Nordvietnams oder gar den Einsatz taktischer Nuklearwaffen, die Hardliner immer wieder forderten, beruhte vor allem auf der geopolitischen Prämisse, unbedingt eine direkte Konfrontation mit der Sowjetunion(7) und der Volksrepublik China(5) zu vermeiden. Auch die Vorstellung, die heimkehrenden Vietnamveteranen seien überall auf Ablehnung gestoßen und hätten im zivilen Leben nicht mehr Fuß fassen können, beruht zu einem Gutteil auf Übertreibung.[38]

Die öffentliche Erinnerung an den Vietnamkrieg(46) blieb gespalten. Die Frage, wie die Veteranen und Gefallenen angemessen zu ehren seien, führte zu heftigen Kontroversen. Schon 1982 wurde mithilfe privater Spenden auf der National Mall in Washington, D. C., wo Amerika seine historische Identität in Stein meißelt, das Vietnam Veterans Memorial eingeweiht. Das ebenso schlichte wie eindrucksvolle Denkmal, entworfen von einer jungen Architekturstudentin chinesischer Abstammung, besteht aus einer langen, in den Boden eingelassenen, angewinkelten Wand aus poliertem schwarzen Granit, auf der die Namen der knapp 60 000 in Vietnam getöteten US-Soldaten eingraviert sind. Das Memorial entwickelte sich rasch zu einem vielbesuchten Erinnerungs- und Begegnungsort für Veteranen und Angehörige der Gefallenen, doch Kritikern war es zu wenig heroisch und patriotisch. Sie setzten durch, dass 1984 in unmittelbarer Nähe eine naturalistische Statuengruppe errichtet wurde, die einen weißen, einen afroamerikanischen und einen hispanischen US-Soldaten in martialischer Pose darstellt; 1993 folgte ein weiteres Denkmal zu Ehren der in Vietnam eingesetzten weiblichen Angehörigen der US-Streitkräfte, dessen Gestaltung – eine Krankenschwester hält einen Verwundeten im Arm – ebenfalls eher traditionellen Rollenbildern entspricht. Versuche, den Vietnamkrieg(47) als ehrenvollen Kampf für eine »gerechte Sache«, so US-Präsident Ronald Reagan(3), in der nationalen Erinnerungskultur zu verankern, haben sich jedoch nicht durchsetzen können. Für die Amerikaner bleibt Vietnam eine nationale Tragödie – an die Tragödie des vietnamesischen Volkes denken dagegen nur wenige.[39]

Vor allem durfte sich ein Desaster wie Vietnam nicht wiederholen. Der Kongress, der 1964 Johnson(49) freie Hand für die militärische Eskalation gegeben hatte, verabschiedete 1973 ein Gesetz, das die Kompetenzen des Präsidenten zur eigenmächtigen Kriegsführung drastisch beschränkte. Doch blieb der War Powers Act(1) verfassungsrechtlich umstritten und politisch weitgehend wirkungslos. Gleichwohl entwickelte sich zwischen Exekutive, Militär und Legislative ein Konsens, dass die USA nur Kriege führen sollten, die klar definierte nationale Sicherheitsinteressen verfolgen, breite innenpolitische Unterstützung genießen, militärisch gewinnbar und in ihrer Dauer begrenzt sind. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 schienen die zuvor vielbeschworenen Lehren aus dem Vietnamkrieg vergessen, traten aber angesichts der Kriege in Afghanistan(1) und im Irak(2) bald wieder ins kollektive Gedächtnis.[40]

Die Auswirkungen des Vietnamkrieges(48) auf die politische Kultur und das Parteiensystem der USA wurden weniger beachtet, waren aber mindestens so bedeutsam wie seine außenpolitischen Folgen. In den erbitterten Auseinandersetzungen über den Sinn und die Legitimität des Krieges bildeten sich Grundmuster der Polarisierung in den folgenden Jahrzehnten aus. Vietnam war nicht der einzige Grund für den Zerfall des liberalen Konsenses, trug aber entscheidend zur Diskreditierung des Liberalismus bei. Die Liberalen hatten Amerika in den vietnamesischen »Sumpf« geführt, in den Augen vieler Amerikaner waren sie daher auch für die Toten, die demütigende Niederlage und die innere Zerrissenheit des Landes verantwortlich. Die Demokraten brachte der Krieg an den Rand der Spaltung. Bei den Präsidentschaftswahlen 1968 zeigte die Parteilinke Hubert Humphrey(2), dem Mann des Parteiestablishments, die kalte Schulter. Vier Jahre später weigerten sich der konservative Parteiflügel und die mächtigen Gewerkschaften(3), George McGovern(2) zu unterstützen, und riefen mehr oder weniger offen zur Wahl Nixons(15) auf. Anfang der 1990er-Jahre diagnostizierte McGovern, weder die Demokratische Partei noch der Liberalismus hätten sich vom Vietnam-Trauma erholt.[41]

Die New-Deal-Koalition(10) zerbrach in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, als sich demokratische Stammwähler aus der weißen Arbeiter- und Mittelschicht von ihrer Partei abzuwenden begannen und sich empfänglich zeigten für den Rechtspopulismus von George Wallace(4) oder Richard Nixons(16) Appell an die »schweigende Mehrheit« der patriotischen und gesetzestreuen Bürger. Vietnam spielte in diesem Entfremdungsprozess eine zentrale Rolle, denn der Krieg gab den latenten sozialen und kulturellen Gegensätzen zwischen der working class und der liberalen Elite eine unmittelbare existenzielle Dimension. Es sei eine brutale Form der Klassendiskriminierung gewesen, erinnerte sich der Journalist James Fallows(1) an seine Musterung. Die Studenten aus Harvard schlugen dem System ein Schnippchen, die »weißen Proleten aus Boston« wurden zum Kämpfen und Sterben nach Vietnam geschickt. Die »Proleten« wiederum mochten wenig Sinn im Krieg sehen, doch entging ihnen nicht, dass Vietnam ein Krieg(49) der Arbeiterklasse war, die dann dafür beschimpft wurde, dass sie ihre Pflicht tat. »Wo waren die Söhne der großen Tiere, die den Krieg unterstützten?«, fragte ein Heimkehrer wütend. »Nicht in meinem Zug! Unsere Jungs waren alles Arbeiter … Wenn der Krieg so wichtig war, warum haben unsere Politiker dann nicht alle geschickt, warum nur uns?«[42]

Das Gefühl, von den liberalen Eliten mit moralischer Herablassung behandelt zu werden und zugleich den Preis für ihre Politik zu zahlen, prägte auch die Sicht vieler weißer Amerikaner auf die Rassenfrage. Ihnen sprach der Südstaatenpopulist George Wallace(5) aus der Seele, wenn er gegen die »Liberalen und Linken« polemisierte, die schuld am Desaster in Indochina(4) seien und den einfachen Weißen die Rassenintegration aufzwingen wollten, aber ihre eigenen Kinder auf teure Privatschulen schickten.[43] Mehr noch als gegen den Emanzipationsanspruch der Afroamerikaner richtete sich der White Backlash(1) gegen die als Heuchelei empfundene Liberalität des »Establishments«.