7. Kapitel

Crisis of Confidence: Das Jahrzehnt der »Malaise«

Mit Richard Nixons(97) Rücktritt im August 1974 erreichte der kontinuierliche Vertrauensverlust der politischen Institutionen und Eliten, den Meinungsforscher schon seit Mitte der 1960er-Jahre beobachteten, seinen vorläufigen Tiefpunkt. Zehn Jahre zuvor, im Zenit der liberalen Konsensära, hatten zwischen 65 und 75 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner die Frage, ob sie der Regierung immer oder doch meistens vertrauen, noch bejaht. Nun erklärten dies nur noch 25 bis 30 Prozent. Bis Ende der 1970er-Jahre flachte die Kurve weiter ab. Politische Desillusionierung, Zynismus und Misstrauen gegen den Staat prägten die Dekade. Die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen, die zwischen 1952 und 1968 konstant um die sechzig Prozent gelegen hatte, fiel bis 1980 auf knapp 53 Prozent; in den Zwischenwahlen zum Kongress gaben gerade einmal rund vierzig Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Wahlenthaltung spiegelte nicht mehr, wie Politologen lange behauptet hatten, Zufriedenheit mit den Verhältnissen wider, sondern Wut und Enttäuschung über Politiker, die das Gegenteil dessen taten, was sie versprachen. Hatte Lyndon Johnson(65) nicht Frieden versprochen und dann Krieg in Vietnam(67) geführt? Wollte Richard Nixon(98) nicht die Nation zusammenführen und Recht und Ordnung wiederherstellen und hatte das Land dann in eine Verfassungskrise gestürzt? Warum, so fragten sich viele Amerikanerinnen und Amerikaner, sollte man überhaupt noch wählen? In dem populären Spielfilm Network aus dem Jahre 1976 fordert die fiktive Hauptperson, der Fernsehmoderator Howard Beale, sein Publikum auf, die Fenster ihrer Wohnungen aufzureißen und laut hinauszubrüllen: »I’m as mad as hell, and I’m not going to take this anymore!«[1]   

Doch nicht nur das Vertrauen in die Politik hatte gelitten, das nationale Selbstvertrauen insgesamt war schwer angeschlagen, denn Amerika befand sich anscheinend im unaufhaltsamen Niedergang. Wie tief die Selbstzweifel Ende der 1970er-Jahre saßen, bestätigte den Amerikanern sogar ihr Präsident. Am 15. Juli 1979 diagnostizierte James Earl – genannt »Jimmy« – Carter(2) in einer dramatischen Rede an die Nation eine »Krise des Vertrauens« – »a crisis of confidence« –, die Amerikas Demokratie, seine nationale Identität und Einheit bedrohe. Anlass der Fernsehansprache war die durch die Iranische(2) Revolution ausgelöste zweite Ölkrise, die erneut zur Explosion der Benzinpreise und zu landesweitem Treibstoffmangel führte. Doch beließ es der Präsident, ein bekennender »wiedergeborener Christ« und Laienprediger, nicht bei Appellen zum Energiesparen, sondern hielt seinen Landsleuten eine veritable Strafpredigt, in der er Hedonismus und Materialismus anprangerte, den Mangel an politischem Engagement und gegenseitigem Respekt beklagte und zur Abkehr von einer »missverstandenen Freiheit« aufrief, der es nur um den persönlichen Vorteil gehe. Doch Carters »Jeremiade« kam beim Publikum nicht gut an. Kommentatoren tauften die Ansprache »Malaise-Rede«. Anstatt den geplagten Amerikanern eine Botschaft des Optimismus zu vermitteln, so der Tenor der Kritik, geißelte der Präsident das Volk für den Verfall von Moral und Gemeinsinn. Carters(3) energiepolitische Vorschläge gingen fast völlig unter.[2]

Auch wenn der Präsident(4) das Wort »Malaise« gar nicht benutzt hatte, brachte es die Befindlichkeit vieler US-Bürgerinnen und Bürger im Krisenjahr 1979 ebenso wie grundlegende ökonomische Fakten treffend auf den Punkt. Nach dem Ausfall der iranischen(3) Öllieferungen und den kräftigen Preiserhöhungen der OPEC kam es an den Tankstellen erneut zu langen Schlangen und sogar zu Prügeleien um das knappe Benzin. Die Inflation erreichte wieder zweistellige Werte, und die Sparguthaben schmolzen dahin. Die Politik des knappen Geldes, mit der die US-Bundesbank die Geldentwertung zu stoppen versuchte, führte umgehend zu einer scharfen Rezession. Zeitgleich mit dem zweiten Ölpreisschock enthüllte der – vergleichsweise glimpflich verlaufene – Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island in Pennsylvania, dass auch die Kernenergie keinen schnellen und gefahrlosen Ausweg aus der Abhängigkeit von Ölimporten eröffnete. Der Beinahe-Konkurs des Autoriesen Chrysler, der wie seine Konkurrenten General Motors und Ford die Umstellung auf sparsamere Modelle verschlafen hatte und mit öffentlichen Krediten gestützt werden musste, war ein dramatisches Warnzeichen für den Niedergang der amerikanischen Industrie. Anfang November 1979 besetzten radikale iranische(4) Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen 66 Amerikanerinnen und Amerikaner als Geiseln, um die Auslieferung des in die USA geflohenen Schahs Reza Pahlavi(3) zu erzwingen. Das annus horribilis endete damit, dass die Sowjets(16) am Weihnachtstag in Afghanistan(2) einmarschierten und damit endgültig die Détente zu Grabe trugen.[3]

Die 1970er-Jahre sind in das kollektive Gedächtnis Amerikas als Dekade des Missvergnügens eingegangen, die geprägt war durch außenpolitische Demütigungen und innenpolitische Krisen, Stagflation(4) und Deindustrialisierung, den Rückzug ins Private und Exzesse des schlechten Geschmacks. Die Sixties waren das Jahrzehnt der »großen Träume«, so charakterisiert der Historiker Edward Berkowitz das populäre Geschichtsbild, in den Seventies folgte das »unsanfte Erwachen«. Selbst die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung im Juli 1976 hellten die düstere Stimmung allenfalls vorübergehend auf. Doch die Veränderungen, die sich in den 1970er-Jahren vollzogen, waren kaum weniger gravierend als die der Sixties. Die Balance zwischen Exekutive und Legislative verschob sich zeitweilig zulasten des Präsidenten. Nach dem Debakel des Vietnamkrieges(68) mussten die USA ihre Weltmachtrolle neu definieren. Im Zuge der Globalisierung und des ökonomischen Strukturwandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft verlagerten sich die politischen Gewichte vom »Rostgürtel« im industriellen Norden in den »Sonnengürtel« von South Carolina bis Kalifornien. Der konservative Süden gewann an Bevölkerung und politischem Einfluss. Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Staates wich dem Glauben an die Kräfte des freien Marktes. Parallel dazu verstärkte sich der Trend zur Individualisierung der Lebensstile, den der Schriftsteller Tom Wolfe(1) auf das eingängige Schlagwort von der »Me Decade« brachte. In der Rückschau erscheinen die Seventies als »bedeutendste Wasserscheide der modernen US-Geschichte«, so der Historiker Bruce Schulman, die den Übergang von der New-Deal-Ära(20) in unsere eigene Gegenwart markiert.[4]

Gerald Ford und Jimmy Carter(5): Die Ära der »glücklosen« Präsidenten

Nach Richard Nixons(99) Abgang wünschten sich die Amerikaner verständlicherweise einen Präsidenten, der das Land versöhnen und das Vertrauen in die Politik wiederherstellen sollte. Als Vizepräsident Gerald Ford(5) am 9. August 1974 seinen Amtseid als 38. Präsident der Vereinigten Staaten ablegte, versicherte er seinen Landsleuten, der »lange nationale Albtraum« sei nun vorüber und die Wunden der Watergate-Affäre(26) könnten endlich heilen. Der sechzigjährige Abgeordnete aus Michigan, der seit 1949 dem Repräsentantenhaus angehörte und seit 1965 die republikanische Fraktion führte, galt als integre, wenngleich nicht eben charismatische Persönlichkeit und genoss weit über die Parteigrenzen hinweg Respekt. Als Nixon(100) ihn dem Kongress für die Nachfolge des im Oktober 1973 wegen einer Bestechungsaffäre zurückgetretenen Vizepräsidenten Spiro Agnew(2) vorschlug, bestätigten beide Kammern den Kandidaten mit überwältigenden Mehrheiten. Allerdings war sich Ford(6) bei seinem Einzug ins Weiße Haus schmerzlich bewusst, dass er als erster – und bis heute einziger – US-Präsident über keine direkte Legitimation durch die Wähler verfügte. Und er wusste um die Gerüchte, er habe Nixon durch die Zusicherung eines Generalpardons zum Rücktritt bewegt, um selbst Präsident zu werden. »Ich habe dieses Amt nicht durch geheime Versprechen erlangt«, beteuerte er bei seinem Amtsantritt, »und ich bin niemandem etwas schuldig.« Als er einen Monat später seinen Vorgänger begnadigte, brach ein Sturm der Entrüstung los, auch wenn seine Begründung, das Land müsse politisch zur Ruhe kommen, durchaus plausibel klang. Für seine Kritiker war er von nun an »der Mann, der Nixon(101) begnadigte«. Dass der Präsident gleichzeitig ein Amnestieprogramm für ins Ausland geflohene Wehrdienstverweigerer verkündete, wurde kaum zur Kenntnis genommen.[5]

Auch ohne den Gnadenakt für seinen Vorgänger hätte Ford(7) kaum verhindern können, dass die Wähler die Republikaner bei den Kongresswahlen im November 1974 unnachsichtig für Watergate(27) abstraften. Die Demokraten bauten ihre Mehrheit im Senat auf sechzig Sitze aus und erreichten im Repräsentantenhaus sogar eine Zweidrittelmehrheit. Unter den neuen Abgeordneten waren viele junge Progressive, »die sogenannten »Watergate-Babys«, die den Reform-Liberalismus wieder zur bestimmenden Kraft in der US-Politik machen wollten. Unter diesen Umständen konnte Ford kein eigenes Regierungsprogramm durchsetzen, sondern musste sich weitgehend darauf beschränken, Gesetzentwürfe aus dem Kongress mit dem präsidentiellen Veto zu blockieren. Der häufige und wegen Fords eingeschränkter Legitimation nicht unproblematische Gebrauch des Vetos – 66-mal in zweieinviertel Jahren – richtete sich vor allem gegen die Bemühungen des Kongresses, die Kompetenzen des Präsidenten für den inneren und äußeren Notstand zu beschränken, sowie gegen die Erhöhung der Staatsausgaben, die der fiskalisch konservative Ford(8) für Inflationstreiber hielt. Im Kampf gegen die Geldentwertung rief der Präsident zum preisbewussten Einkaufen auf, zum Zeichen ihrer Sparsamkeit sollten sich die Konsumenten Anstecker mit der Aufschrift WIN – für »Whip Inflation Now«! – anheften. Die Kampagne blieb wirkungslos, sorgte aber für reichlich Hohn und Spott. Ebenso wenig, wie er die Ausgabenfreude des Kongresses bremsen konnte, vermochte Ford etwas an ökonomischen Folgen der Energiekrise zu ändern.[6]

Auch in der Außenpolitik trat Ford(9) ein schwieriges Erbe an. Die demütigende Flucht der letzten Amerikaner aus Saigon Ende April 1975 fiel in sein erstes Amtsjahr. Zwei Wochen später kaperten kambodschanische Truppen der Roten Khmer den amerikanischen Frachter Mayaguez und nahmen die Mannschaft gefangen. Ford ordnete eine militärische Befreiungsaktion an, die ihm zwar große Zustimmung einbrachte, aber äußerst verlustreich verlief. Immerhin schien durch Außenminister Henry Kissinger(7) die Kontinuität der Détente gewahrt, und Ford selbst erwarb sich sowohl bei den Verbündeten der USA wie im Kreml rasch hohes Ansehen. Beim Gipfeltreffen mit dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew(2) im November 1974 in Wladiwostok und bei der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im August 1975 in Helsinki machte er eine gute Figur. Doch stieß die Verknüpfung wirtschaftlicher, politischer und militärischer Interessen im Ost-West-Verhältnis nun an ihre außen- und innenpolitischen Grenzen. Zum einen war die Sowjetunion(17) nicht bereit, zugunsten von Handel und Rüstungskontrolle auf die Expansion ihres Einflusses in der »Dritten Welt« zu verzichten. Zum anderen wuchs der Widerstand auf dem rechten Flügel der Republikanischen Partei, der die Entspannungspolitik für einen gefährlichen Irrweg hielt. Der Führer der innerparteilichen Opposition war Ronald Reagan(10), der Ford(10) im Kampf um die Nominierung für die Präsidentschaftswahl 1976 offen herausforderte und bei den Vorwahlen beachtliche Erfolge erzielte. Auf dem Konvent in Kansas City konnte sich der Amtsinhaber nur mit knapper Mehrheit behaupten, allerdings um den Preis, dass er sich von seinem liberalen Vizepräsidenten Nelson Rockefeller(3) trennte und stattdessen den konservativen Senator Robert Dole(1) auf das »Ticket« der Republikaner nahm.[7]

In einem Wahlkampf, der ganz im Zeichen der Verdrossenheit über eine als korrupt und arrogant empfundene Machtelite stand, gerieten die beiden »Washington Insider« Ford(11) und Dole(2) zunächst ins Hintertreffen. Andererseits ließ sich nicht übersehen, dass der demokratische Herausforderer Jimmy Carter(6) kaum über Erfahrung in der nationalen Politik, geschweige denn auf internationaler Bühne verfügte. In der Schlussphase des Wahlkampfes war Ford auf gutem Wege, den anfänglichen Rückstand gegenüber Carter aufzuholen. Doch dann unterlief dem Präsidenten in der Fernsehdebatte am 6. Oktober 1976 ein unbegreiflicher Schnitzer, als er auf die Frage eines Moderators, ob die Administration bereit sei, die Dominanz Moskaus über die Nationen Osteuropas hinzunehmen, antwortete: »Es gibt keine sowjetische(18) Herrschaft in Osteuropa, und unter einer Ford-Administration wird es sie auch nie geben.« Offenkundig wollte Ford sagen, er werde niemals die Legitimität der faktischen sowjetischen Dominanz akzeptieren, aber er drückte sich so ungeschickt aus, dass der Eindruck entstehen konnte, er kenne die politische Landkarte Europas nicht. Damit kamen Zweifel an der außenpolitischen Kompetenz des Präsidenten auf, mit der er eigentlich punkten musste. Schlechte Wirtschaftsdaten kurz vor dem Wahltermin ließen seine Chancen weiter sinken. Gleichwohl fiel Fords(12) Niederlage mit weniger als zwei Prozent Rückstand auf Carter(7) ziemlich knapp aus. Ein paar Tausend Stimmen mehr in den Staaten Hawaii und Ohio hätten ihm die Mehrheit im electoral college(8) und damit den Verbleib im Weißen Haus gesichert.[8]

Mit seiner Abwahl nach nur gut zwei Jahren im Amt erwies sich Gerald Ford(13) als der schwache Übergangspräsident, für den ihn nicht nur seine Kritiker von Anfang an gehalten hatten. In den ruhigeren Zeiten des liberalen Konsenses hätte er sich vermutlich, ähnlich wie Dwight D. Eisenhower(10), als gradliniger Charakter und väterliche Integrationsfigur den Respekt seiner Landsleute erworben. Nach Watergate(28) kannte die Öffentlichkeit jedoch keine Gnade mit dem bisweilen hölzernen und rhetorisch ungeschickten Staatsoberhaupt, über das sich allabendlich die Kabarettisten lustig machten. In der Rückschau bescheinigen ihm die meisten Historiker zumindest das ehrliche Bemühen, die Wunden zu heilen, die seine Vorgänger dem Land zugefügt hatten. Ford ist, wie er es sich selbst wünschte, als »netter Kerl, der das Weiße Haus in besserem Zustand hinterließ, als er es vorfand«, in die Geschichte eingegangen. Die politische Vertrauenskrise der Vietnam(69)-Watergate(29)-Ära konnte er nicht überwinden.[9]

Dies sollte auch seinem Nachfolger Jimmy Carter(8) nicht gelingen. Dabei war Vertrauen die zentrale Botschaft, die dem fast unbekannten früheren Gouverneur des Staates Georgia, der sich bei den demokratischen Vorwahlen gegen ein weites Feld von Konkurrenten aus dem Parteiestablishment durchsetzen konnte, überhaupt die Chance auf das Weiße Haus eröffnete. Carters Versprechen, das amerikanische Volk niemals zu belügen, seine demonstrative Bescheidenheit, Frömmigkeit und Volksnähe – er wollte auch als Präsident »Jimmy« genannt werden – trafen einen Nerv vieler Wähler und überdeckten anfänglich seinen Mangel an Erfahrung und seine inhaltlichen Unschärfen. Sein knapper Wahlsieg gegen Ford(14) beruhte vor allem darauf, dass er noch einmal die Basis der alten New-Deal-Koalition(21) mobilisieren konnte. Im Nordosten gewann Carter die meisten der industriell geprägten Staaten, im Süden genoss er als native son und Repräsentant des »Neuen Südens«, der die Rassenkonflikte der Vergangenheit hinter sich lassen wollte, die breite Unterstützung der weißen wie der schwarzen Wähler. Auch die evangelikalen(3) Protestanten wählten mehrheitlich den »wiedergeborenen Christen«. Gleichwohl hatte der neue Präsident weder ein überzeugendes Mandat erhalten – die Wahlbeteiligung war auf den niedrigsten Stand seit 1948 gefallen –, noch konnte er darauf bauen, dass ihm der Kongress, trotz demokratischer Mehrheiten in beiden Häusern, bereitwillig Gefolgschaft leisten würde.[10]

Carters(9) Repräsentations- und Regierungsstil war eine demonstrative Absage an die »imperiale Präsidentschaft«. Bei der Parade zu seiner Amtseinführung gingen der Präsident und seine Gattin zu Fuß, die Ausgaben für das Weiße Haus wurden rigoros gekürzt. Sein unprätentiöses Auftreten und seine bisweilen entwaffnende Offenheit, mit der er um das Vertrauen seiner Landsleute warb, wirkten durchaus authentisch, trugen ihm aber in Verbindung mit seiner Neigung zum Moralisieren rasch das Image des naiven Provinzlers ein, der sich in die Hauptstadtpolitik verirrt hatte. In Wirklichkeit war der »Erdnussfarmer« aus Plains, Georgia, ein erfolgreicher Agrarunternehmer und hatte an der Marineakademie Ingenieurwissenschaften studiert. Seine intellektuellen Fähigkeiten, sein Problembewusstsein und seine Arbeitsdisziplin halten dem Vergleich mit jedem anderen modernen US-Präsidenten stand. Carters große Schwäche war, dass er auch als Staats- und Regierungschef sein Rollenverständnis als Außenseiter nicht ablegen wollte. Sein schlechtes Verhältnis zum Kongress, der viele seiner Initiativen blockierte, wurzelte vor allem darin, dass er sich beharrlich den üblichen »Deals« verweigerte, einflussreiche Volksvertreter und Lobbyisten abkanzelte und sich bevorzugt mit Beratern aus seinem Heimatstaat Georgia umgab. Zudem tendierte der Präsident dazu, sich auch um die Details des Regierungshandelns persönlich zu kümmern, sodass ihm schnell der Ruf des beratungsresistenten Technokraten vorauseilte. Carter(10) habe einfach nicht verstanden, wie Washington funktioniert, klagte der demokratische Sprecher des Repräsentantenhauses, Thomas »Tip« O’Neill(1), und habe es auch gar nicht lernen wollen. Der fiskalisch und sozialpolitisch eher konservative Carter lag permanent im Streit mit dem linken Flügel seiner Partei um Senator Edward Kennedy(1), dem jüngeren Bruder von John F.(37) und Robert Kennedy(6), der das Banner des New-Deal-Liberalismus(22) hochhielt.[11]

Wie bereits seine beiden Vorgänger fand Carter(11) kein Mittel gegen die Stagflation(5) und schwankte in seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik zwischen Konjunkturprogrammen und Austerität. Mit dem zweiten Ölpreisschock geriet die Inflation zeitweilig völlig außer Kontrolle und kletterte im Wahljahr 1980 auf 13,5 Prozent. In der Außenpolitik sollten nach Carters Vorstellungen künftig Moral und Menschenrechte Priorität vor kalter Machtpolitik und Rückendeckung für Militärdiktaturen haben – ein Versprechen, das angesichts der Realitäten des Kalten Krieges nur schwer einzuhalten war und Carters Ruf als naiver Moralist festigte. Tatsächlich bescherte ihm die Außenpolitik den größten Erfolg seiner Amtszeit. Im September 1978 unterzeichneten Präsident Anwar as-Sadat und Ministerpräsident Menachem Begin in Camp David, dem Landsitz des US-Präsidenten in Maryland, den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel, den Carter(12) nach zähen Verhandlungen vermittelt hatte. Andere außenpolitische Leistungen Carters waren dagegen äußerst umstritten. Dass er vertraglich die Kontrolle über den Panama-Kanal ab dem Jahr 1999 aufgab und 1979 den Sturz des proamerikanischen Diktators von Nicaragua, Anastasio Somoza, durch die linke Sandinisten-Bewegung geschehen ließ, sahen viele Kritiker als Ausverkauf nationaler Interessen in Amerikas »Hinterhof«.[12]

Das Scheitern der Carter-Präsidentschaft ist jedoch mit keinem anderen Ereigniskomplex so eng verknüpft wie mit der Iranischen Revolution, die 1978/79 das repressive Regime von Schah Reza Pahlavi(4) hinwegfegte. Noch Ende 1977 hatte Carter(13) bei einem Staatsbesuch in Teheran den Iran(5) als »Insel der Stabilität« gepriesen. Nur wenige Wochen später begannen Massendemonstrationen, die der Sicherheitsapparat des Schahs auch mit massiver Gewalt nicht mehr unterdrücken konnte. Mitte Januar 1979 floh Pahlavi zunächst nach Ägypten. Kurz darauf kehrte der schiitische Geistliche und Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Khomeini(1) aus dem Exil zurück. Am 1. April 1979 proklamierte Khomeini die Islamische Republik Iran und riss innerhalb weniger Monate die Macht an sich. Beinahe über Nacht wurde aus Amerikas treuestem Verbündeten im Mittleren Osten ein geschworener Feind. Mit dem islamischen Fundamentalismus trat zugleich eine neue, radikal antiamerikanische und antiwestliche Kraft auf die internationale Bühne, deren explosives Potenzial bis dahin im Westen kaum jemand erkannt hatte.[13]

Die Carter(14)-Administration wurde von der Revolution völlig überrascht und war uneins über die Frage, wie man ihr begegnen sollte. Während Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski(1) dafür plädierte, den Schah(5) unbedingt an der Macht zu halten, glaubten der Präsident und sein Außenminister Cyrus Vance(1) an einen Dialog mit den moderaten Kräften der Opposition, die freilich rasch von den Radikalen beiseitegedrängt wurden. Als Carter Ende Oktober 1979 dem Schah erlaubte, zur Behandlung seiner Krebserkrankung in die USA einzureisen, kochte im Iran(6) die Wut auf den »Großen Satan« Amerika über. Am 4. November 1979 stürmten radikale Studenten die US-Botschaft in Teheran und setzten das Botschaftspersonal gefangen. Die Geiselnehmer, die sich der Billigung Khomeinis(2) gewiss sein durften, verlangten nicht nur die Auslieferung des Schahs, sondern auch die Freigabe sämtlicher iranischer(7) Vermögenswerte in den USA sowie eine offizielle Entschuldigung der US-Regierung für den Staatsstreich von 1953, als die CIA den nationalistischen Ministerpräsidenten Mossadegh(2) gestürzt hatte, um die Herrschaft des Schahs(6) zu sichern.[14]

Die Gefangenschaft der Geiseln dauerte 444 Tage, während derer die Supermacht USA immer wieder als hilfloser Riese erschien. Jeden Abend erinnerten die Moderatoren der großen amerikanischen Nachrichtensendungen die Zuschauer daran, wie lange die Qual ihrer Landsleute bereits andauerte. Eine von Carter(15) im April 1980 angeordnete Befreiungsaktion endete im Chaos: US-Transportflugzeuge und Hubschrauber gerieten auf einer entlegenen Wüstenpiste südwestlich von Teheran in einen Sandsturm, und bei einer Kollision kamen acht US-Soldaten ums Leben. Wäre das Kommando tatsächlich bis zur US-Botschaft in der Hauptstadt vorgedrungen, hätte es nach Auffassung von Militärexperten ein Blutbad gegeben. Auch so bedeutete der Fehlschlag einen Triumph für das Revolutionsregime und ein weiteres Debakel für Carter. Erst am 20. Januar 1981, dem Tag der Amtseinführung von Carters Nachfolger Ronald Reagan(11), kamen die Geiseln frei. Gerüchte über geheime Absprachen zwischen Reagans Wahlkampfteam und den Iranern(8), die Geiseln nicht vor den Präsidentschaftswahlen freizulassen, sind nie bewiesen worden.[15]

Kurz nach der Botschaftsbesetzung in Teheran musste die US-Außenpolitik den nächsten Rückschlag hinnehmen, als der Kreml Ende Dezember 1979 militärisch in Afghanistan(3) intervenierte, um das prosowjetische Militärregime in Kabul zu stabilisieren. Die Motive Moskaus waren vielschichtig und wohl eher defensiver Natur. So argwöhnte die Sowjetführung, die afghanische Regierung könnte das Land an die USA annähern. In Washington befürchtete man dagegen, der Einmarsch sei der Beginn einer strategischen Offensive, mit dem Ziel, Zugang zum Persischen Golf und die Kontrolle über die für die westliche Ölversorgung lebenswichtigen Tankerrouten zu gewinnen. Carter(16), der noch im Juni auf einem Gipfel in Wien mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef das Nachfolgeabkommen über die Begrenzung von strategischen Atomwaffen (SALT II) unterzeichnet hatte, sah sich zu einer scharfen außenpolitischen Kehrtwende gezwungen. In der sogenannten Carter-Doktrin erklärte er den Persischen Golf zum »vitalen Interessengebiet« Amerikas, das jeden Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle über die Region zu gewinnen, notfalls mit militärischen Mitteln abwehren werde. Die Militärausgaben sollten drastisch steigen, und Moskau, so Carter, würde einen hohen Preis für seine Aggression zu zahlen haben. Die USA verhängten ein Getreideembargo gegen die Sowjetunion(19) und boykottierten gemeinsam mit den meisten ihrer Verbündeten die Olympischen Spiele in Moskau. Den SALT-II-Vertrag(4), der ohnehin keine Chance auf eine Ratifizierung mehr hatte, zog die Administration vor der Abstimmung im Senat zurück, hielt sich jedoch, ebenso wie die Sowjets, an seine Bestimmungen. In Afghanistan(4) jedoch wollte man, nach Aussage des Sicherheitsberaters Brzezinski(2), der Sowjetunion ihr »Vietnam« bereiten, indem man den islamischen Widerstand großzügig mit Geld und Waffen ausstattete.[16]

Um die Jahreswende 1979/80 war freilich nicht absehbar, dass die Besetzung Afghanistan(5)s tatsächlich zur finalen imperialen Überdehnung und Destabilisierung der Sowjetunion(20) führen würde. Kurzfristig erschien der sowjetische Vorstoß als weiterer Beleg für die Schwäche Amerikas und das Scheitern der Détente, die viele Amerikaner für naive »Beschwichtigungspolitik« hielten. Carter setzte nun ebenfalls auf eine Politik der militärischen und ökonomischen Stärke, erinnerte die Amerikaner aber auch daran, dass die USA endlich ihren verschwenderischen Energieverbrauch und ihre Abhängigkeit von Ölimporten reduzieren mussten. Notfalls werde er das Benzin rationieren lassen. Die Zukunft, so appellierte der Präsident(17) im Januar 1980 an das Volk, werde der Nation Opfer abverlangen, doch werde sie alle Herausforderungen »in einem neuen Geiste der Einheit und Entschlossenheit […] mit Selbstvertrauen und Hoffnung« meistern.[17]

Jimmy Carter(18) war allerdings nicht mehr der Mann, der den Amerikanerinnen und Amerikanern Selbstvertrauen und Hoffnung geben konnte, auch wenn seine Beliebtheit nach der Botschaftsbesetzung kurzfristig anstieg. Unter dem Druck der Geiselkrise zog er sich immer mehr zurück. Nur mit großer Mühe gelang es dem Präsidenten, sich in den Vorwahlen gegen Edward Kennedy(2) durchzusetzen. Aber die Partei blieb gespalten, und der liberale Flügel der Demokraten zeigte im Wahlkampf wenig Enthusiasmus für den Amtsinhaber. Gleichwohl rechnete sich Carters Wahlkampfteam gute Chancen gegen den als rechtslastigen Ideologen verschrienen Ronald Reagan(12) aus, der im zweiten Anlauf endlich die Nominierung der Republikaner errungen hatte. Teile des moderaten republikanischen Establishments waren über Reagans Kandidatur so unglücklich, dass der Kongressabgeordnete John B. Anderson(1) als unabhängiger Kandidat antrat. Doch hatte sich Reagan längst zur konservativen Integrationsfigur gemausert, der die Führungsstärke und den Optimismus ausstrahlte, die Carter(19) fehlten. Viele unentschlossene Wähler entschieden sich vermutlich für Reagan, als dieser ihnen im Fernsehduell mit Carter die berühmten Fragen stellte: »Geht es Ihnen heute besser als vor vier Jahren? Wird Amerika in der Welt heute noch genauso respektiert wie früher?« Niemand hätte ehrlicherweise mit ja antworten können. Reagans(13) Wahlsieg fiel mit etwas über fünfzig Prozent der Wählerstimmen bei weiter gesunkener Wahlbeteiligung augenscheinlich knapp aus, aber weil Anderson viele enttäuschte Demokraten, sofern diese nicht überhaupt zuhause blieben, für sich gewinnen konnte, lag Carters Stimmenanteil bei mageren 41 Prozent. Da der Amtsinhaber nur in sechs Staaten und der Bundeshauptstadt die Mehrheit hatte, war er im electoral college(9) mit 49 zu 489 Stimmen weit abgeschlagen. Zudem eroberten die Republikaner erstmals seit 1955 den Senat und erzielten beachtliche Gewinne im Repräsentantenhaus. Die Erwartung der Liberalen, nach Watergate(30) wieder die Richtung der amerikanischen Politik bestimmen zu können, wurde bitter enttäuscht. In Wirklichkeit kam die New-Deal-Ära(23) mit der Präsidentschaftswahl 1980 endgültig an ihr Ende.[18]

Die meisten Historiker sehen Gerald Ford(15) und Jimmy Carter(20) als glücklose Präsidenten, denen sie persönliche Integrität und den Willen bescheinigen, das Wohl des Landes über ihre eigenen politischen Interessen zu stellen. Letztlich scheiterten beide an einer Zusammenballung innen- und außenpolitischer Probleme, die aus heutiger Sicht kaum lösbar erscheinen, selbst wenn Ford und Carter durchsetzungsfähiger gewesen wären. Die Wähler allerdings ließen nach den Frustrationen der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte keine mildernden Umständen gelten und wählten – zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte – in zwei aufeinanderfolgenden Wahlen den Amtsinhaber ab. Es war ihnen kaum zu verdenken. Ford(16) gelang es nicht, ein eigenes Profil zu gewinnen, und Carter(21) wirkte in seinen letzten beiden Amtsjahren wie ein Prophet, der seinem Volk ständig Unheilsbotschaften verkündete, ohne mit dem gewohnten amerikanischen Optimismus Lösungen aufzuzeigen. Bei seiner Abwahl war er genauso unpopulär wie Richard Nixon(102) vor dem Rücktritt.[19]

Doch erklären die Defizite der beiden »glücklosen« Präsidenten den zeitweiligen Autoritätsverfall der Institution nur zum Teil. Nach Vietnam(70) und Watergate(31) versuchte ein misstrauischer und machtbewusster Kongress, die Kompetenzen des Präsidenten einzuschränken und die Kontrollfunktionen der Legislative wieder zu stärken. Zudem nutzten Senatoren und Abgeordnete bereitwillig jede Gelegenheit, sich auf Kosten der schwachen Präsidenten zu profilieren. Im Regierungssystem der USA, das auf der strikten Trennung von Exekutive und Legislative beruht und kaum Fraktionsdisziplin kennt, gibt es so viele »Vetospieler«, dass es ohne ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft zwischen den Gewalten und den Parteien permanent zu Blockaden kommt. Der gridlock wiederum führt dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Regierung und der Institutionen verlieren. Dies gibt populistischen Außenseitern die Gelegenheit, sich als starke Führungspersönlichkeiten zu profilieren, die vollmundig versprechen, endlich den Washingtoner »Sumpf« der Korruption und des Lobbyismus auszutrocknen. Die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Regierung und der staatlichen Bürokratie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Amerikaner sehr wohl hohe Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Staates hatten. Als ihnen Jimmy Carter(22) mit der ihm eigenen Ehrlichkeit eröffnete, der Staat könne nicht »alle unsere Probleme lösen, […,] nicht die Armut beseitigen, für eine blühende Wirtschaft sorgen, die Inflation reduzieren, unsere Städte retten, das Analphabetentum abschaffen und die Energieversorgung sicherstellen«, verstanden sie seine Worte weniger als Appell an die Selbstverantwortung der Bürger denn als Eingeständnis der Ratlosigkeit und fanden, dass eine schwache Regierung vielleicht doch schlimmer war als eine mächtige.[20]

Die konservative Bewegung und die Reagan-Koalition

Warum aber gelangen dann Ronald Reagan(14) mit seinem kämpferischen Credo »Die Regierung ist nicht die Lösung unserer Probleme, sie ist das Problem!« zwei triumphale Wahlsiege und warum konnte er »zur bedeutendsten politischen Figur einer ganzen Ära« werden? Ein differenzierter Blick auf den Reaganschen Konservatismus zeigt, dass von einer prinzipiellen Opposition gegen den Staat keine Rede sein kann. Wenn es um militärische Macht und die nationale Sicherheit oder um die Bekämpfung der Kriminalität ging, konnte die Regierung für den konservativen Geschmack gar nicht stark genug sein. Auch der Durchsetzung traditioneller Werte und Moralvorstellungen durch die öffentliche Gewalt zollte die Reagan-Administration primär rhetorischen Tribut. Der Antietatismus der »Reagan Revolution« konzentrierte sich vor allem auf die Wirtschaft. Ein von staatlicher Bevormundung befreiter Kapitalismus, so lautete das Versprechen, werde Wachstum, Wohlstand und den amerikanischen Traum für alle wiederherstellen. Hinter der »Reagan Revolution« verbarg sich das alte Projekt des fusionism, also der Versöhnung von religiös-moralischem Traditionalismus und libertärem Individualismus unter dem Banner des militanten Antikommunismus(17), an dem konservative Intellektuelle und Aktivisten seit den 1950er-Jahren gearbeitet hatten. Mit Reagans(15) Einzug ins Weiße Haus erreichte der lange Marsch, der den amerikanischen Konservatismus aus der politischen Wildnis der New-Deal-Ära(24) an die Schalthebel der Macht führen sollte, endlich sein Ziel.[21]

Reagans(16) Durchbruch verdankte sich einer beharrlichen Mobilisierungsanstrengung, die das von enttäuschten Linken gepflegte Klischee der angeblich unpolitischen Seventies Lügen straft. Das Abflauen der Antikriegsbewegung und der rapide Niedergang der Neuen Linken zu Beginn des Jahrzehnts dürfen keineswegs mit einer allgemeinen Entpolitisierung verwechselt werden. Im Gegenteil, der soziale und politische Aktivismus, der in den USA mit dem Begriff Rights Revolution assoziiert wird, hielt in den 1970er-Jahren unvermindert an.[22] Doch die fortschreitende Liberalisierung der Wertvorstellungen und Lebensstile rief eine ebenso mächtige Gegenbewegung auf den Plan, deren Erfolg auf einer neu gewonnenen ideologischen Integrationskraft und organisatorischen Innovationsbereitschaft beruhte. Den Architekten der Neuen Rechten gelang es, die historischen Gräben innerhalb des konservativen Lagers zuzuschütten. So half die gemeinsame Opposition gegen die Liberalisierung der Abtreibung(2) die einstmals unversöhnlich erscheinenden konfessionellen Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken zu überbrücken. Die Trennlinien zwischen religiösen Konservativen und Libertären wiederum waren oft eher philosophischer als praktischer Natur. Traditionalisten hielten die Kernfamilie als Keimzelle der Gesellschaft hoch, während Libertäre dem Individuum unbedingten Vorrang einräumten, aber man war sich einig, dass die Bundesregierung sich aus den Belangen lokaler Gemeinschaften heraushalten musste. Religiöse Konservative glaubten ebenso an den freien Markt und die Selbstverantwortung des Einzelnen wie Libertäre. Im Kampf gegen den Kommunismus schlossen beide Strömungen die Reihen und unterstützten bereitwillig hohe Militärausgaben und einen starken nationalen Sicherheitsstaat. Der wichtigste gemeinsame Nenner der neuen konservativen Koalition war freilich die Überzeugung, dass der Liberalismus das Land in eine tiefe materielle und moralische Krise gestürzt hatte, aus der es nur eine entschlossene und schlagkräftige konservative Bewegung herausführen konnte.[23]

Der Aufstieg des Konservatismus in den 1970ern bezog seine Dynamik aus einer Vielzahl kreativer Organisationsleistungen ganz unterschiedlicher Gruppen und Personen. Viele Aktivisten hatten sich ihre ersten Sporen bei den Young Americans for Freedom(10) und in der Goldwater-Kampagne(14) verdient. Zu den Schlüsselfiguren der neuen Rechtskoalition gehörten Richard Viguerie(1) und Paul Weyrich(1), die beständig daran arbeiteten, die Spenden- und Wählerbasis des Konservatismus zu verbreitern und seinen intellektuellen Einfluss zu steigern. Viguerie, der zunächst George Wallace(14) unterstützte und wenig Berührungsängste gegenüber Segregationisten hatte, gilt als Pionier des politischen direct mailing. Mithilfe computergestützter Datenbanken wurden massenhaft maßgeschneiderte Appelle an konservative Wähler und Unterstützer versendet. So erhielten Abtreibungsgegner(3) Anschreiben mit der Aufforderung »Stop the Baby Killers!«, verbunden mit der Bitte um Spenden und dem Appell, bei der nächsten Wahl für konservative Kandidaten zu stimmen. Der dem religiösen Lager nahestehende Paul Weyrich knüpfte gute Beziehungen zu Großunternehmern wie Joseph Coors(1), dem Besitzer des gleichnamigen Brauereikonzerns, den Weyrich(2) 1973 zur Finanzierung der Heritage Foundation(1) bewegen konnte. »Think Tanks« wie Heritage oder das libertäre Cato Institute(1) erlangten erhebliche Bedeutung als Kaderschmieden und »Denkfabriken«, die den Konservatismus vom Stigma des Antiintellektualismus zu befreien suchten. Intellektuelle Respektabilität brachten auch die sogenannten Neokonservativen mit, unter denen sich viele jüdische Intellektuelle mit linker Vergangenheit fanden, die sich vom Liberalismus der Great Society ebenso wie von der Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion(21) abgewandt hatten und für eine kompromisslos antikommunistische(18) Außenpolitik der Stärke eintraten.[24]

Großzügige Unternehmer, die sich ein Ende des Sozial- und Interventionsstaates der New-Deal-Ära(25) wünschten, und Denkfabriken konnten der konservativen Sache jedoch keine Massengefolgschaft verschaffen. Dazu bedurfte es kontroverser Themen, die das Potenzial hatten, breite Bevölkerungsschichten zu mobilisieren. Der »massive Widerstand« gegen Rassenintegration und die Gleichberechtigung der Afroamerikaner war in den 1970er-Jahren moralisch und politisch diskreditiert, auch wenn das busing(3) für erheblichen Konfliktstoff sorgte und die Entfremdung der weißen Arbeiter- und Mittelklasse von der Demokratischen Partei weiter vorantrieb. Die eigentliche konservative Innovation der Seventies war die Fundamentalpolitisierung der Religion. Der Appell zur Restauration von Religion, Moral und traditionellen Familienwerten traf den Nerv vieler christlich-konservativer Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich in einer säkularen, individualisierten und schrankenlos freizügigen Gesellschaft immer mehr als bedrängte Minderheit fühlten. Dass die Bundesregierung und insbesondere die Bundesgerichte bei der Legalisierung von Empfängnisverhütung, Abtreibung(4) und Pornografie(1) eine maßgebliche Rolle spielten, interpretierten die Führer der sogenannten Religiösen Rechten(2) als Abfall von Gott, der sich Amerika erst wieder zuwenden werde, wenn die Nation auf den rechten Weg zurückkehrte.[25]

Von hoher Sprengkraft waren die Auseinandersetzungen um die Auslegung des Ersten Zusatzartikels zur US-Verfassung aus dem Jahre 1791, der die Einrichtung einer Staatsreligion verbietet und die freie Religionsausübung garantiert. Die Klauseln waren lange Zeit als staatliche Verpflichtung zur wohlwollenden Neutralität gegenüber den vielen verschiedenen Glaubensgemeinschaften interpretiert worden, doch seit den 1960er-Jahren setzte sich in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes(12) immer mehr die Deutung durch, die Verfassung gebiete eine strikte Trennung von Staat und Religion. Dass der Supreme Court 1962/63 das bis dahin selbstverständliche morgendliche Gebet in öffentlichen Schulen untersagte und in späteren Entscheidungen auch freiwillige Schulgebete kassierte, empörte viele gläubige Eltern, die ihr Recht auf freie Religionsausübung verletzt sahen. Da eine breite Mehrheit der Bevölkerung das Schulgebet befürwortete, galt das Verbot als Ausdruck elitärer Arroganz gegenüber den gottesfürchtigen und patriotischen Amerikanern. Der Protest dagegen war weit über die Religiöse Rechte(3) hinaus anschlussfähig.[26]

Während Gott in den öffentlichen Schulen keinen Platz mehr hatte, hielt der Sexualkundeunterricht Einzug. Sittenstrenge Eltern fürchteten, ihre Kinder würden zur Sünde angestiftet, und suchten Zuflucht in privaten Konfessionsschulen. Da diese zunächst von den Vorschriften zur Rassenintegration des öffentlichen Schulwesens ausgenommen blieben, erfreuten sie sich gerade im Süden großer Beliebtheit. Allerdings untersagte das Bürgerrechtsgesetz(8) von 1964 ausdrücklich die staatliche Förderung segregierter Einrichtungen. Daher strich die Steuerbehörde des Bundes, der Internal Revenue Service (IRS), 1978 christlichen Privatschulen, die sich nicht an die Integrationsbestimmungen hielten, die Steuerbefreiung. Die Maßnahme provozierte eine gewaltige Protest-Kampagne konservativer Aktivisten, die argumentierten, die Rassenfrage sei nur ein Vorwand, um gegen religiöse Privatschulen vorzugehen, die angesichts des Niedergangs der öffentlichen Schulen eine Alternative und Schutz vor dem Verfall der Werte und Sitten bieten wollten. Am Ende wurde der Druck auf den Kongress und die Carter(23)-Administration so groß, dass der IRS seine Pläne aufgeben musste.[27]

Die Hochburgen der Religiösen Rechten(4) lagen im Süden, wo sich der theologische Konservatismus der Evangelikalen(4) und Fundamentalisten, die auf der wörtlichen Auslegung der Bibel beharren, mit dem Misstrauen gegen eine dirigistische Bundesregierung verband, der man unterstellte, in allen Lebensbereichen die Normen des »säkularen Humanismus« durchzusetzen. Die Evangelikalen hatten lange als eher unpolitisch gegolten, weil ihnen die Läuterung und Bekehrung der Sünder wichtiger erschien als die Verbesserung der Gesellschaft. Doch wo sie christliche Werte und die Familie durch Feminismus(9), Abtreibung(5), Pornografie(2) und Homosexualität(3) bedroht sahen, wurde politischer Aktivismus für sie zur Pflicht. Wie »Sodom und Gomorrha«, warnte der Reverend Jerry Falwell(1), werde das moralisch verkommene Amerika den Zorn des Herrn auf sich ziehen, wenn es nicht endlich Buße tue. Deshalb müsse die »moralische Mehrheit« aus ihrer politischen Apathie ausbrechen und zur Wahl gehen, um Amerika wieder auf den rechten Weg zu führen: »Zurück zu Gott, zurück zur Bibel, zurück zur Moral!« Mit der Gründung der Moral Majority(1) im Juni 1979 schuf Falwell die schlagkräftigste Organisation der Religiösen Rechten(5) und stieg selbst zu einer ihrer prominentesten Figuren auf. Bereitwillig bot der Reverend dem konservativen Republikaner Ronald Reagan(17) seine Unterstützung an. Reagan, der weder einer evangelikalen(5) Kirche angehörte noch als besonders religiös bekannt war, witterte die Chance, dem »wiedergeborenen Christen« Jimmy Carter(24) die Stimmen der Evangelikalen abzunehmen, und identifizierte sich im Wahlkampf öffentlich mit den Zielen der Religiösen Rechten. Carters demütigende Niederlage im Süden – er konnte sich lediglich in seinem Heimatstaat Georgia behaupten – deuteten Meinungsforscher nicht zuletzt als Ergebnis der Mobilisierungskampagne Falwells(2) und der Moral Majority(2).[28]

Weiße evangelikale(6) Südstaatler nahmen eine zentrale Stellung in der Religiösen Rechten(6) ein, doch schlossen sich ihr auch konservative Katholiken an. Phyllis Schlafly(1), die Bannerträgerin des Antifeminismus(10), war eine fromme Katholikin, und der Katholik Paul Weyrich(3) prägte bei einem Strategietreffen mit Falwell(3) den Slogan von der »moralischen Mehrheit«. Weyrich warb dafür, die alten Glaubensstreitereien ruhen zu lassen, um eine »christliche demokratische Bewegung« für die Familie und gegen die Abtreibung(6) zu schmieden, in der neben Katholiken und Protestanten auch Mormonen und orthodoxe Juden Platz finden sollten. Wenn er seinen protestantischen Gesinnungsfreunden ausdrücklich versicherte, der Kampf gegen die Abtreibung sei »kein Instrument der katholischen Bischöfe«, dann spielte er darauf an, dass die Opposition gegen das Abtreibungsurteil des Supreme Court(13) von 1973 (Roe v. Wade) zunächst vor allem von der katholischen Kirche ausgegangen war, während viele evangelikale(7) Protestanten weder Abtreibung(7) noch Empfängnisverhütung grundsätzlich ablehnten. Allerdings erkannten auch deren Wortführer bald, welch hohes Mobilisierungs- und Spendenpotenzial im Kampf für das ungeborene Leben lag.[29]

Davon, dass die Moral Majority(3) wirklich die Mehrheit des amerikanischen Volkes repräsentierte, wie Falwell(4) behauptete, kann freilich keine Rede sein. Weiße evangelikale(8) Christen machten rund ein Viertel der US-Bevölkerung aus, aber längst nicht alle bekannten sich zur Religiösen Rechten(7). Die theologisch konservativen schwarzen Evangelikalen blieben politisch immer liberal eingestellt, weil sie im Kampf für die Bürgerrechte auf die Bundesregierung zählten. Auch die interkonfessionelle Zusammenarbeit funktionierte in der Praxis nicht so reibungslos wie erhofft. Umfragen zufolge unterstützten höchstens 10 bis 15 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner die Moral Majority(4) oder ähnliche Gruppierungen.[30] Das Milieu der Religiösen Rechten war wichtig für die Mobilisierung der konservativen Wählerbasis, doch um nationale Wahlen zu gewinnen, mussten die Republikaner die vielen Wähler für sich gewinnen, die weniger den Zorn Gottes als den ökonomischen und sozialen Abstieg fürchteten und die Ronald Reagan(18) mit seiner Frage köderte, ob es ihnen besser gehe als vier Jahre zuvor.

Viele Angehörige der Arbeiter- und Mittelklasse hatten gute Gründe, diese Frage zu verneinen. Zum ersten Mal seit den 1930er-Jahren waren die Amerikaner am Ende eines Jahrzehnts unter dem Strich ärmer. Hohe Inflation und Arbeitslosigkeit führten zu empfindlichen Einbußen bei den Realeinkommen. Da vielerorts keinerlei Möglichkeit bestand, auf öffentliche Verkehrsmittel auszuweichen, schlugen die explodierenden Benzinpreise voll auf das Familienbudget durch. Mehr noch: Da die Bundesstaaten, Städte und Gemeinden die anschwellenden Kosten kommunaler Dienstleistungen an die Bürger weitergaben, stiegen die lokalen Steuern und Abgaben. Besonders hart traf es die Hausbesitzer. Weil die Inflation die Grundstückspreise in die Höhe trieb, erhöhte sich automatisch auch die Bemessungsgrundlage für die Grundsteuern. Wer sich auf Kredit ein Haus in den suburbs gekauft hatte, um den verwahrlosenden Innenstädten zu entfliehen, lief nun Gefahr, sein Eigentum verkaufen zu müssen. Bei immer mehr Hausbesitzern verfestigte sich die Überzeugung, sie würden geschröpft, damit die Kommunen ihre großzügigen Sozialleistungen und den aufgeblähten öffentlichen Dienst finanzieren konnten. New York City wurde zum Symbol dieses Konfliktes, als die Stadt 1975 vor dem Bankrott stand und um Bundeshilfen nachsuchte, sich jedoch beharrlich weigerte, die Fahrpreise der U-Bahn zu erhöhen und in den städtischen Universitäten Studiengebühren zu erheben. Präsident Ford(17) verweigerte zunächst den Bailout, musste sich später aber doch auf einen Kompromiss einlassen.[31]

Hohe Steuern waren im ganzen Land unpopulär, aber nirgendwo hatten sie so weitreichende politische Konsequenzen wie in Kalifornien. Hier schritt die Suburbanisierung schnell voran, sodass das Potenzial unzufriedener Hauseigentümer besonders groß war. Vor allem bietet Kalifornien seinen Bürgern die Möglichkeit, durch Instrumente der direkten Demokratie Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Bürgerinitiativen können Gesetzesvorschläge einbringen, über die bei den kommenden Wahlen ein Referendum abgehalten wird. Anfangs richtete sich der Ärger der Steuerzahler noch nicht so sehr gegen den Staat, sondern zielte darauf, die großen Vermögen höher zu belasten und die kleinen zu schonen. Doch je stärker die Inflation durchschlug, umso mehr Resonanz fand die Forderung konservativer Aktivisten nach Steuersenkungen für alle und Kürzung der öffentlichen Ausgaben, zumal der Staat Kalifornien sogar Haushaltsüberschüsse erzielte. Mit der »Proposition 13«, über die Kaliforniens Bürger im Juni 1978 abstimmten, gelang der »Steuerrebellion« der Durchbruch. Mehr als 62 Prozent der Wähler befürworteten eine in der Staatsverfassung verankerte Steuerreform, die den Grundsteuersatz bei einem Prozent des geschätzten Verkehrswertes festschrieb und Erhöhungen auf zwei Prozent im Jahr begrenzte. Tatsächlich ging das Grundsteueraufkommen daraufhin um rund sechzig Prozent zurück. Außerdem verlangte Proposition 13 für künftige Steuererhöhungen eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern der Legislative; lokale Steuern und Gebühren bedurften einer Zweidrittelmehrheit der Wähler. Die Bürger, so sahen es die »Steuerrebellen«, hatten der unersättlichen Geldgier der Regierung endlich Grenzen gesetzt.[32]

Der spektakuläre Erfolg der kalifornischen Steuerrevolte löste im ganzen Land eine Kettenreaktion aus. In zahlreichen Bundesstaaten resultierten Volksabstimmungen oder vorauseilende Beschlüsse der Staatslegislativen in Steuersenkungen, die klaffende Löcher in die öffentlichen Kassen rissen und Einschnitte bei Sozialleistungen und Kulturangeboten nach sich zogen. Aber bedeutete die Steuerrebellion wirklich eine »Revolution gegen den Staat«, wie Kommentatoren mutmaßten? Es darf bezweifelt werden, dass die Amerikaner mehrheitlich zu radikalen Libertären geworden waren. Grundpfeiler des Sozialstaats wie die Rentenversicherung (Social Security) und die Krankenversicherung für Senioren (Medicare(3)), die als Absicherung der arbeitenden Bevölkerung konzipiert waren, blieben weiterhin populär und wurden auch in der Ära Reagan(19) nicht angetastet. Doch waren viele Angehörige der working classes dank des Nachkriegsbooms inzwischen selbst zu Hauseigentümern geworden, die ihren neu erworbenen Status durch hohe Steuern gefährdet sahen. Dadurch entstand ein Resonanzboden für die Botschaft, das sauer verdiente Geld der Bürger werde von elitären Bürokraten für soziale Wohltaten verschwendet, die vor allem der »schwarzen Unterklasse« in den Großstädten zugutekamen. Anstatt sich um die Nöte und Sorgen der einfachen Leute zu kümmern, wolle der Staat dem Land eine ideologische Agenda aufzwingen, der zufolge die angeblichen Rechte von Minderheiten grundsätzlich Vorrang vor den Wünschen und Werten der Mehrheit haben sollten. Als sich Ronald Reagan im Wahlkampf 1980 zum Vorrang für die Rechte der Einzelstaaten bekannte, legten ihm dies seine Gegner nicht ganz zu Unrecht als Versuch aus, sich dem weißen Süden mit verschlüsselten rassistischen Botschaften anzubiedern. Aber seine Polemik gegen eine überbordende Bürokratie, die den Willen des Volkes und der lokalen Gemeinschaften missachte und die Privatinitiative lähme, war weit über den tiefen Süden hinaus anschlussfähig.[33]

Die Koalition, die dem Republikaner Reagan(20) 1980 zu einem Erdrutschsieg verhalf, war, wie auch die New-Deal-Koalition(26), eine Sammlungsbewegung, in der sich höchst heterogene Bevölkerungsgruppen und Interessen zusammenfanden. Sie bestand aus militanten Antikommunisten(19), der Religiösen Rechten(8), libertären Individualisten, Anhängern eines möglichst unbeschränkten Unternehmertums, weißen Südstaatlern, die sich als Verlierer der Bürgerrechtsreformen fühlten, und sogenannten »Reagan-Demokraten«, also ehemals demokratischen Stammwählern aus dem »ethnischen« Arbeitermilieu, denen die Partei Franklin Roosevelts(5) zu elitär geworden war.[34] Alle diese Wählergruppen einte nicht die prinzipielle Ablehnung des Staates, sondern die tiefe Unzufriedenheit mit dem liberalen Interventionsstaat, von dem sie sich im Stich gelassen oder gar bedroht fühlten. Das Schlagwort von der »Reagan(21) Revolution« führt jedoch in die Irre. Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse und die Neuorientierung der Loyalitäten in der amerikanischen Politik, die zum Ende der New-Deal-Ära(27) führten, geschahen nicht abrupt, sondern vollzogen sich über anderthalb Jahrzehnte, die geprägt waren von politischer und gesellschaftlicher Polarisierung, ökonomischen Krisen, einem sieg- und sinnlosen Krieg sowie internationalem Macht- und Prestigeverlust. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass der Ruf nach Wiederherstellung der traditionellen Werte und Tugenden, die Amerika groß gemacht hatten, auf starken Widerhall in der Wählerschaft stieß. Wer jedoch auf die Rückkehr des »goldenen Zeitalters« der Nachkriegszeit, die Zurückdrängung des Staates und die Restauration von traditioneller Moral und Religion hoffte, sah sich bald enttäuscht. Auch während der augenscheinlichen Hegemonie des Konservatismus, die auf das Ende der New-Deal-Ära(28) folgte, setzten sich die Liberalisierung der gesellschaftlichen und kulturellen Normen sowie die rasante ökonomische und demografische Transformation der USA unaufhaltsam fort.