10. Kapitel

Two Nations? Weiße Mehrheit und schwarze Minderheit nach der Bürgerrechtsära

Im Februar 1968 hatte die von Präsident Lyndon B. Johnson(72) eingesetzte Expertenkommission zur Untersuchung der Rassenunruhen, die seit Mitte des Jahrzehnts Amerikas Großstädte erschütterten, davor gewarnt, die Nation drohe in zwei Gesellschaften zu zerbrechen: »eine schwarze und eine weiße – getrennt und ungleich«. Rund fünfundzwanzig Jahre später griff der New Yorker Soziologe Andrew Hacker die Formulierung in einem Buchtitel auf: Two Nations: Black and White, Separate, Hostile, Unequal. Die Bürgerrechtsreformen der Sixties, so lautete Hackers düstere und mit zahlreichen Statistiken unterfütterte Bestandsaufnahme der Rassenbeziehungen, hatten nichts daran geändert, dass die schwarzen Amerikaner weiterhin »als Fremde im eigenen Land« lebten, deren Existenz von Segregation und allgegenwärtigem Rassismus bestimmt werde. Die weißen Amerikaner versteckten sich hinter angeblichen Fortschritten, doch in Wirklichkeit hätten sie sich längst aus ihrer Verantwortung für die »trostlose Lage« ihrer schwarzen Landsleute verabschiedet. Ausdrücklich warnte Hacker seine Leser, keinen optimistischen Ausblick oder gar Lösungsvorschläge zu erwarten, dafür seien die Rassenspannungen zu tief in der amerikanischen Geschichte und Gegenwart verwurzelt.[1]

Two Nations wurde rasch zum Bestseller und erhielt enthusiastische Kritiken, doch blieben Hackers Thesen nicht unwidersprochen. Unter dem das amerikanische Fahnengelöbnis zitierenden Titel America in Black and White: One Nation, Indivisible verfassten die Politikwissenschaftlerin Abigail Thernstrom und der Historiker Stephan Thernstrom eine ebenfalls mit umfangreichem Datenmaterial unterlegte Replik, in der sie zu zeigen versuchten, dass weiße und schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner »eine unteilbare Nation« bildeten: »nicht länger getrennt und viel weniger ungleich, als sie es einmal war, und nach vielen Maßstäben weniger feindselig«. Der offene Rassismus, der vor der Bürgerrechtsrevolution noch allgegenwärtig war, sei nun weitgehend Vergangenheit. Die Integration der Afroamerikaner in den Mainstream von Politik und Gesellschaft habe dramatische Fortschritte gemacht, so sei etwa seit dem Fall der institutionalisierten Rassenschranken eine große schwarze Mittelklasse entstanden. Dass die Fortschritte im öffentlichen Bewusstsein so wenig präsent waren, erklärten die Autoren damit, dass der Diskurs über die Rassenbeziehungen von »schwarzer Wut und weißer Schuld« bestimmt werde. Die jeweils lautstärksten und radikalsten Stimmen aus dem Lager der afroamerikanischen Intellektuellen und des Bürgerrechtsestablishments würden vom weißen Publikum bereitwillig als authentische Repräsentanten der Black Community akzeptiert, um ja nicht in den Geruch zu kommen, den Rassismus zu verharmlosen. Eine höchst problematische Folge dieser einseitigen Perspektive bestehe darin, so die Thernstroms, dass »die Unterklasse unsere Vorstellungen vom schwarzen Amerika bestimmt; aber dies ist ein völlig irreführendes Bild«.[2]

In der Tat hatte sich an der Frage, warum die sogenannte black underclass(2) anscheinend keine Fortschritte machte, eine polarisierte Grundsatzdebatte darüber entzündet, ob die USA auch nach dem Ende der Rassentrennung weiterhin eine strukturell rassistische Gesellschaft waren oder ob die schwarze Ghettobevölkerung durch ihr »dysfunktionales« Verhalten selbst zu ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung und desolaten sozialen Lage beitrug. Die Argumente und Positionen, die in dieser Debatte ausgetauscht wurden, haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, denn sie stehen für zwei völlig konträre Perspektiven auf die Entwicklung der schwarzen Minderheit nach der Bürgerrechtsära. Pessimisten erzählen sie als Geschichte der enttäuschten Hoffnungen, des allgegenwärtigen weißen Backlash und der unüberwindlichen historischen Kontinuitäten des Rassismus, Optimisten dagegen als bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, in deren Verlauf die einstmals diskriminierte und verachtete Minderheit trotz zahlreicher Hindernisse innerhalb weniger Jahrzehnte den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft gefunden habe.[3]

Die Underclass-Debatte

Ende August 1977 brachte das Time Magazine(2) eine vielbeachtete Titelgeschichte über eine Horrorwelt aus Armut, Gewalt, Drogen und sozialer Zerrüttung, die kaum ein Leser aus eigener Anschauung kannte. Hinter den Mauern des Ghettos, diagnostizierten die Autoren, »lebt eine große Gruppe von Menschen, die noch widerspenstiger, noch sozial entfremdeter und noch feindseliger sind, als sich das irgendjemand vorstellen kann. Sie sind die Unerreichbaren: die amerikanische Unterklasse«. Nicht Armut, sondern soziale Devianz charakterisiere die underclass. In den verfallenen Innenstädten sei eine Kultur entstanden, die nichts mehr mit den Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft oder auch nur der Mehrheit der Armen zu tun habe. Gangster, Zuhälter und Drogenhändler seien die Vorbilder für die jungen Männer, während viele junge Frauen ihren Lebensunterhalt als von der Sozialhilfe alimentierte welfare mothers bestritten. Ein überproportionaler Teil der Kriminalität und des Missbrauchs von Drogen und öffentlichen Sozialleistungen entfalle auf die black underclass(3), die doch nur eine Minderheit unter den sieben bis acht Millionen Menschen der amerikanischen Unterschichten darstelle. Die Frustration und Wut, die sich in den Ghettos angestaut hatten, stellten nach Auffassung der Time(3)-Autoren eine Gefahr für den sozialen Frieden dar. Als im Juli 1977 in weiten Teilen von New York City der Strom ausfiel, kam es in den Slums der Bronx und Brooklyns zu Plünderungen und Brandstiftungen, wie sie die US-Großstädte zuletzt in den »heißen Sommern« der späten 1960er-Jahre erlebt hatten.[4]

Time(4) konzedierte, dass auch viele Weiße und Hispanics zur amerikanischen Unterklasse zählten, doch den harten Kern bilde die schwarze Ghetto-Bevölkerung. Die Autoren räumten ein, dass fortdauernder Rassismus und Diskriminierung wichtige Gründe dafür waren, warum den Angehörigen der black underclass(4) der Ausbruch aus den Slums schwerfiel. Aber immerhin hatte Amerika »zwanzig Jahre lang Fortschritte bei den Bürgerrechten gemacht und dreizehn Jahre lang Programme zur Armutsbekämpfung aufgelegt«, die dazu beigetragen hatten, dass die Armutsquote signifikant gefallen und zahlreichen Afroamerikanern der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen war. Zwar lebte noch immer fast ein Drittel der schwarzen Familien unter der offiziellen Armutsgrenze, doch andererseits gehörten bereits über vierzig Prozent statistisch zur Mittelklasse. Die Unterklasse dagegen versinke in Hoffnungslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialtransfers. Auch Time(5) hatte freilich keine Patentrezepte anzubieten, wie dieser Teufelskreis durchbrochen werden konnte. Offenkundig fehlte es an Arbeitsplätzen, aber staatliche Beschäftigungsprogramme wie zu Zeiten der Great Society hatten eine geringe Wirkung erzielt. Bessere Schulen, in denen Wissen und Selbstdisziplin gelehrt wurden, erschienen den Autoren ebenso dringlich wie ein härteres Durchgreifen von Polizei und Justiz, um die Ghettobewohner vor dem allgegenwärtigen Terror krimineller Banden zu schützen. Dennoch, so das Fazit von The American Underclass, werde es »eine Generation oder mehrere« brauchen, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Sie zu ignorieren, könne sich die »wohlhabendste Gesellschaft der Welt« nicht länger leisten.

Armut, Ghettoisierung und Diskriminierung der afroamerikanischen Minderheit waren wahrlich keine neuen sozialen Erscheinungen. Die Bezeichnung underclass bürgerte sich freilich erst in den 1970er-Jahren ein, als in der amerikanischen Sozialwissenschaft und in der breiteren Öffentlichkeit die Enttäuschung darüber wuchs, dass trotz der liberalen Bürgerrechts- und Sozialreformen und eines signifikanten Rückgangs der Armutsquote ein beträchtlicher Teil der schwarzen Bevölkerung weiterhin eine randständige Parallelgesellschaft bildete. Die Debatte darüber war vor allem eine Debatte über die Bilanz der Bürgerrechtsbewegung. Die seit den 1960ern initiierten Gesetze und Programme, so die bis heute im akademischen Diskurs dominante Deutung linker Gesellschaftskritiker, hätten lediglich formale Gleichheit gebracht und vornehmlich der schwarzen Elite genutzt, aber nichts an der ökonomischen Benachteiligung und Unterdrückung der allermeisten Afroamerikaner geändert. Im Gegensatz dazu feierten Konservative und Libertäre die Abschaffung der Rassentrennung als epochale historische Zäsur, nach der es für die schwarze Minderheit keine Entschuldigung mehr gebe, sich dem Wettbewerb in einer farbenblinden Leistungsgesellschaft zu entziehen. Wenn die black underclass(5) sich den Normen und Standards der Mehrheitsgesellschaft verweigerte, durfte sie sich nicht über soziale Ausgrenzung beschweren. In ihrem 1994 erschienenen, umstrittenen Buch The Bell Curve gingen der Psychologe Richard Herrnstein und der Ökonom Charles Murray(3) so weit, die soziale Lage der Afroamerikaner mit ihrem angeblich niedrigeren Intelligenzquotienten zu erklären. Eine kognitive Unterschicht, so ihre Diagnose, bilde in jeder freien Gesellschaft einen permanenten Bodensatz und könne auch durch staatliche Förderung nicht auf ein höheres Niveau gehoben werden. The Bell Curve wurde zwar weithin als Rückfall in den alten pseudowissenschaftlichen Rassismus verdammt, belegte aber, dass akademisch verbrämte Thesen über »natürliche Rassenhierarchien« noch immer ihr Publikum fanden.[5]

Neben der vieldiskutierten Krise der schwarzen Familie – zwischen den 60er- und den 90er-Jahren stieg der Anteil der unehelich geborenen afroamerikanischen Kinder von zwanzig auf siebzig Prozent – stand vor allem die Gewaltkriminalität im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die war seit den Sixties steil in die Höhe geschossen und verdoppelte sich zwischen 1970 und 1990 noch einmal. Dabei entfiel ein weit überproportionaler Teil der Raubüberfälle und Tötungsdelikte auf die afroamerikanische Bevölkerung, und zwar sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern. Rund die Hälfte aller Mordverdächtigen und aller Mordopfer in den USA waren Schwarze. Unter jungen afroamerikanischen Männern wurde Mord zur häufigsten Todesursache, was vor allem eine Folge der brutalen Kriege zwischen den Drogengangs in den Ghettos war. Dass sich die Angst vor »schwarzen Kriminellen« politisch ausbeuten ließ, änderte nichts daran, dass insbesondere die Straßenkriminalität von vielen Menschen als reale Bedrohung erlebt wurde und das soziale Vertrauen und den Zusammenhalt in den Stadtvierteln untergrub. Umfragen ergaben, dass die afroamerikanische Bevölkerung, die am meisten unter der Kriminalitätswelle litt, sich auch am meisten vor schwarzen Verbrechern fürchtete. Selbst der bekannte Bürgerrechtler Jesse Jackson(1) gab offen zu, er sei erleichtert, wenn er die Straße entlang gehe und hinter sich eine weiße Person erblicke. Mütter klagten darüber, dass sie ihre Kinder nicht mehr aus der Wohnung lassen konnten und sich aus Angst vor Querschlägern kaum noch ans Fenster trauten.[6]

Linke und Liberale neigten dazu, das Kriminalitäts- und Gewaltproblem als rassistische Stereotypisierung abzutun, und nahmen die Lage der schwarzen Unterklasse als Beweis dafür, dass die USA auch nach dem Ende der Rassentrennung eine strukturell rassistische Gesellschaft geblieben waren. Die sozialen Pathologien des Ghettos erklärten sie mit fortdauernder De-facto-Segregation und Diskriminierung oder zu rassistischen Fantasien der weißen Mehrheit. Vom Zerfall der traditionellen Familie rede nur, wem das Verständnis für die besonderen afroamerikanischen Lebens- und Gemeinschaftsformen jenseits der Kernfamilie fehle. Historiker stellten den Begriff underclass in die lange Tradition der Stigmatisierung der Armen und Unterdrückten. Wie das historische Erbe und die hartnäckigen Strukturen des Rassismus überwunden werden sollten, blieb freilich vage. Einerseits wurden ebenso gigantische wie unrealistische Forderungen nach materieller Umverteilung erhoben, die beispielsweise im Rahmen von »Reparationen« für die Sklaverei erfolgen sollte. Andererseits herrschte im radikalen Lager ein äußerst resignativer Grundton vor. »Rassismus«, bilanzierte der afroamerikanische Intellektuelle Derrick Bell(1) 1992, »ist ein integraler, permanenter und unzerstörbarer Grundpfeiler dieser Gesellschaft«.[7]

In Teilen der Black Community nahm das Misstrauen gegen Staat und Gesellschaft paranoide Züge an. In den 80er-Jahren erlangte eine als »The Plan« bekannte Verschwörungstheorie Popularität, der zufolge der amerikanische Staat das Ziel verfolgte, die schwarze Bevölkerung durch Drogen, Schusswaffen und die besonders im Ghetto grassierende AIDS-Epidemie zu dezimieren. Begriffe wie Genozid und Holocaust gehörten zur Standardrhetorik afroamerikanischer Radikaler. Umfragen ergaben, dass eine Mehrheit der schwarzen Amerikaner es zumindest für möglich hielt, dass der Staat, der angeblich Krieg gegen die Drogen führte, selbst am Drogenhandel in den Ghettos beteiligt war. Louis Farrakhan(1), der Führer der separatistischen Nation of Islam(2), behauptete sogar, die weiße Elite fördere die Gewaltkriminalität, um die Leichen schwarzer Männer für den Organhandel ausschlachten zu können.[8]

Farrakhan(2) und die Nation of Islam(3) fanden mit ihrer auf Selbstachtung und Abgrenzung von der weißen Gesellschaft abgestellten Botschaft besonders unter jüngeren Männern große Resonanz. Anfang der 1990er-Jahre sah sich sogar die NAACP(11), die in der Bürgerrechtsära stets das Banner der Rassenintegration hochgehalten hatte, zur Annäherung an den separatistischen schwarzen Nationalismus gezwungen. Bei einem »Gipfeltreffen« mit Farrakhan, an dem neben NAACP-Führer Benjamin Chavis(1) auch Jesse Jackson(2) teilnahm, beschwor man die »größtmögliche Einheit« der Black Community im Kampf gegen den Rassismus. 1995 rief Farrakhan zu einem »Million Man March« in Washington, D. C., auf, der die Einheit des schwarzen Amerika demonstrieren sollte und von dem Weiße, aber auch Frauen ausgeschlossen waren. Ob am 19. Oktober 1995 wirklich eine Million afroamerikanische Männer auf der Mall in Washington erschienen, blieb umstritten, aber tatsächlich folgten Hunderttausende dem Aufruf zu einem »Tag der Einkehr«. Schwarze Männer sollten sich verpflichten, Verantwortung für ihr Leben und ihre Familien zu übernehmen. Auch führende afroamerikanische Politiker und Bürgerrechtler beteiligten sich an der Veranstaltung. Die Mainstream-Medien richteten ihr Augenmerk vor allem auf Farrakhans(3) notorischen Antisemitismus und notierten bedauernd, dass ein schwarzer Separatist mehr Menschen mobilisieren konnte als der legendäre »Marsch auf Washington« am 28. August 1963, als Martin Luther King Jr.(24) die Nation mit seinem Traum von einem brüderlichen Amerika begeistert hatte. Die große Mehrheit der Teilnehmer sah den »Million Man March«, der im Übrigen ohne Zwischenfälle ablief, jedoch vor allem als Demonstration schwarzer Solidarität, aus der sich keinesfalls auf eine Radikalisierung schließen ließ.[9]

Auch wenn sie die historische Erblast des Rassismus nicht gänzlich leugneten, deuteten Konservative die Marginalisierung der schwarzen Unterklasse primär als Folge von Selbstausgrenzung. Die Protestkultur der Sixties und der paternalistische Wohlfahrtsstaat der Great Society hätten Werte wie Selbstverantwortung, Arbeitsmoral, Familiensinn und Gesetzestreue untergraben und eine parasitäre Kultur der Armut und Abhängigkeit geschaffen. So beschwor der Publizist Myron Magnet wehmütig die Zeit, als »das Aufziehen illegitimer Kinder auf Kosten der arbeitenden Nachbarn« noch nicht als »stolzes Bürgerrecht«, sondern als Anlass für »Scham und Missbilligung« gegolten habe. Magnet und andere konservative Sozialwissenschaftler plädierten für eine Politik der Sozialdisziplinierung, um die Unterklasse zur Änderung ihrer selbstzerstörerischen Verhaltensweisen zu zwingen. Der Vorschlag, Sozialleistungen an eine Arbeitspflicht zu koppeln, wurde in den 1990er-Jahren unter dem Schlagwort workfare zur Grundlage der zwischen dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton(6) und dem republikanisch dominierten Kongress ausgehandelten Reform des amerikanischen Sozialstaates, die vor allem alleinerziehende Mütter einem rigiden Kontrollregime unterwarf. Kritiker sprachen von einer »neuen Sklaverei«, doch reflektierte die welfare reform der Clinton-Administration eine gesellschaftliche Grundnorm, dass alle arbeitsfähigen Amerikanerinnen und Amerikaner verpflichtet sind, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Auch im Ghetto war die amerikanische Leistungsethik im Übrigen keineswegs unbekannt. So warben Drogenbosse in Detroit mit einem Poster um neue Bandenmitglieder, auf dem zu lesen stand: »Mit harter Arbeit und Fleiß sind wir in zwölf Monaten alle reich!«[10]

Dass es für viele Schwarze kaum eine Alternative zur Schattenwirtschaft des Ghettos gab, war für den afroamerikanischen Soziologen William Julius Wilson(1) das Kernproblem. Ende der 1970er-Jahre trat er mit der provokanten These hervor, nicht mehr Rassendiskriminierung, sondern der Strukturwandel von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft bestimme die soziale Lage der schwarzen Bevölkerung. Während die aufstrebende Mittelklasse von dieser Entwicklung profitiere, habe die Deindustrialisierung der Metropolen die schwarze Arbeiterklasse mit voller Wucht getroffen und zu einer katastrophalen Arbeitslosigkeit besonders unter jungen schwarzen Männern ohne Schul- und Berufsausbildung geführt. Während die sozialen Aufsteiger aus den einstmals intakten Schwarzenvierteln abwanderten, konzentrierten sich dort immer mehr die abgehängten Teile der afroamerikanischen Bevölkerung. Da die Probleme der black underclass(6) Wilson(2) zufolge primär ökonomisch bedingt waren, konnten sie ihm zufolge auch durch wirtschaftspolitische Interventionen gelöst werden. Seine Lösungsvorschläge liefen auf eine Neuauflage der liberalen Sozial- und Vollbeschäftigungspolitik hinaus, auf die Lyndon Johnson(73) mit der Great Society gesetzt hatte, deren politische Basis indessen längst zerfallen war.[11]

Kritiker warfen Wilson(3) vor, sich mit seiner These von der schwindenden Bedeutung des Rassismus zum intellektuellen Gewährsmann des konservativen Backlash gegen die Interessen und Rechte der Afroamerikaner gemacht zu haben. Dieser Vorwurf hinderte den Soziologen nicht daran, auch die sozialen Pathologien der Ghettokultur offen anzusprechen. Wilson erhob beileibe nicht als einziger prominenter Schwarzer die Stimme gegen eine Romantisierung des Ghettos als Ort authentischer schwarzer Kultur und Gemeinschaft. Das Ghetto, schrieb sein Kollege Orlando Patterson, sei nicht die solidarische, nachbarschaftliche »hood« [für neighborhood, Nachbarschaft], sondern ein »soziales Vakuum«, in dem sich »mörderische Banden wie Krebsgeschwüre« ausbreiteten. Damit die afroamerikanische Minderheit endlich im amerikanischen Mainstream ankommen könne, müsse das Ghetto nicht verbessert, sondern beseitigt werden. Vor allem forderte Patterson ein Ende der Fixierung auf den Rassenkonflikt im Allgemeinen und auf die black underclass(7) im Besonderen. Es sei an der Zeit anzuerkennen, dass die schwarze Minderheit eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe bilde, die sich überwiegend »überraschend glücklich und sehr amerikanisch« fühle und nicht länger auf einen historischen Opferstatus reduziert werden dürfe.[12]

Auf dem Weg in den Mainstream?

In der Tat kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass sich der politische und soziale Status ebenso wie die Lebenswirklichkeit und die Lebenschancen der schwarzen Minderheit seit Mitte des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt hatten. Auch wenn sich viele Verbesserungen bereits vor der Bürgerrechtsära abzeichneten – so verringerten sich die Einkommensunterschiede zwischen weißen und schwarzen Amerikanern zwischen 1940 und 1970 schneller als danach –, kommt den Bürgerrechtsreformen der 1960er-Jahre dennoch entscheidende Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere für den Süden, wo vor der Verabschiedung des Civil Rights Act(10) von 1964 die Rassentrennung das Leben der Afroamerikaner beherrscht hatte. In einigen Bereichen ging die Desegregation dann aber überraschend schnell und geräuschlos vonstatten. Die Protestaktionen, mit denen Restaurants und Geschäfte zur Integration gezwungen werden sollten, hatten der Bürgerrechtsbewegung ikonische Bilder geliefert, doch nach 1964/65 führte die Desegregation des Konsums und der kommerziellen Unterhaltung kaum noch zu ernsthaften Zwischenfällen. Die Furcht vieler Geschäftsleute vor dem Verlust ihrer weißen Kunden erwies sich als unbegründet, tatsächlich schossen die Umsätze sogar in die Höhe. Die alte whites-only-Welt mit getrennten Parks, Restaurants oder Hotels gehörte wenige Jahre später der Vergangenheit an.[13]

Auch die Integration der Schulen, die nach der Brown-Entscheidung von 1954 massiven Widerstand provoziert hatte, machte dank der energischen Durchsetzung durch Bundesregierung und Bundesgerichte seit Ende der 60er-Jahre schnelle Fortschritte. Besuchten 1968 noch achtzig Prozent der afroamerikanischen Schulkinder im Süden rein schwarze Schulen, so waren es vier Jahre später nur noch ein Viertel, weniger als im Rest des Landes. Integrierte Schulen, dies belegten zahlreiche Studien, verbesserten die Leistungen und Berufschancen schwarzer Schülerinnen und Schüler. Die Zahl der Schulabbrecher verringerte sich ebenso wie das Leistungsgefälle zu weißen Schülern. 1964 hatten lediglich rund 25 Prozent aller Afroamerikaner einen Schulabschluss und nur fünf Prozent das College besucht. Im frühen 21. Jahrhundert konnten 87 Prozent der schwarzen Männer und Frauen ein High-School-Zeugnis und über zwanzig Prozent ein Collegediplom vorweisen. Gewiss verbarg sich dahinter weiter große Ungleichheit, insbesondere beim Zugang zu den Elite-Universitäten, doch insgesamt waren die Bildungsfortschritte der schwarzen Minderheit beeindruckend. Seit den frühen 1990er-Jahren lockerten jedoch immer mehr Gerichte die zuvor bindenden Integrationsauflagen mit der Folge, dass viele Städte und Gemeinden ihre Schulbezirke wieder den unverändert stark segregierten Wohnvierteln anpassten und eine Resegregation der Schulen einsetzte. Zudem war die »erzwungene Integration« der Schulen immer unpopulär geblieben. Zahlreiche weiße Eltern, die es sich leisten konnten, schickten ihre Kinder auf Privatschulen. In den öffentlichen Schulen der meisten Großstädte sank der Anteil weißer Schulkinder auf unter zwanzig Prozent. Umstritten blieb, ob die De-facto-Resegregation den Tatbestand struktureller Rassendiskriminierung erfüllte und daher verstärkte Integrationsanstrengungen erforderte oder ob es angesichts der demografischen und sozialen Realitäten nicht sinnvoller war, Eltern die Entscheidung zu überlassen, auf welche Schulen sie ihre Kinder schicken wollten, dafür aber alle öffentlichen Schulen besser auszustatten.[14]

Integration war niemals ein Selbstzweck, sondern zielte auf die gleichberechtigte wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe der schwarzen Minderheit. Der segregierte Arbeitsmarkt des Jim-Crow-Systems(9) hatte die Afroamerikaner systematisch von qualifizierten Tätigkeiten ferngehalten und auf schlecht bezahlte Jobs beschränkt. Die schwarze Mittelklasse bestand aus kleinen Geschäftsleuten sowie Lehrern, Pfarrern und wenigen Ärzten und Anwälten, die ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich in der Black Community verdienten. Das im Bürgerrechtsgesetz(11) von 1964 kodifizierte Verbot der Diskriminierung im Arbeitsleben ebnete jedoch weitreichenden affirmative-action(3)-Programmen den Weg, von denen nicht nur Afroamerikaner, sondern auch andere Minderheiten und ganz allgemein Frauen profitierten. Der öffentliche Sektor spielte eine Vorreiterrolle dabei, dass schwarze Arbeitnehmer erstmals in größerem Umfang Zugang zu white-collar-Arbeitsplätzen erhielten. Aber auch private Unternehmen begannen bald, gezielt Schwarze und andere ethnische Minderheiten zu rekrutieren, weil diversity – Vielfalt – als ökonomischer Vorteil betrachtet wurde. Als die Reagan(24)-Administration in den 1980er-Jahren die Durchsetzung der Antidiskriminierungsbestimmungen des Civil Rights Act(12) absichtlich schleifen ließ, hielten sich viele Unternehmen weiterhin an dessen Bestimmungen. Obwohl sich die Forschung weitgehend einig ist, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes nicht auf Kosten der weißen Arbeitnehmer ging, blieb affirmative action(4) bei einer Mehrheit der Weißen als Inbegriff »umgekehrter Diskriminierung« verhasst, während afroamerikanischen Aufsteigern oft unterstellt wurde, dass sie ihren beruflichen Erfolg ihrer Hautfarbe verdankten.[15]

Tatsächlich hatte der ökonomische Aufstieg der Afroamerikaner bereits mit dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt, als rund eineinhalb Millionen schwarze Südstaatler in den Norden abwanderten, wo Industriearbeitsplätze lockten und die Rassenschranken niedriger waren als im Jim-Crow-Süden(10). Auch die schwarze Minderheit profitierte spürbar vom Boom der Nachkriegszeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg zählten gerade einmal fünf Prozent der schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner zur Mittelklasse; 1970 waren bereits 22 Prozent in white-collar-Jobs tätig, und bis 1990 verdoppelte sich der Anteil noch einmal auf rund vierzig Prozent. Der Großteil war zwar eher der unteren Mittelklasse zuzurechnen – Frauen arbeiteten oft als Krankenschwestern, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen, Männer als Buchhalter, Postboten oder Angestellte im öffentlichen Dienst –, aber auch in den hochqualifizierten Professionen ging es aufwärts. Zwischen 1970 und 1990 verdreifachte sich die Zahl der schwarzen Ärzte, die der Ingenieure vervierfachte sich, und es gab sechsmal so viele Anwälte. Unbestreitbar sahen sich die sozialen Aufsteiger mit unsichtbaren Schranken und versteckten Ressentiments konfrontiert, doch dass sich in den 1990er-Jahren zwischen vierzig und fünfzig Prozent der Afroamerikaner selbst als Angehörige der Mittelklasse einstuften, zeugte vom neuen Selbstbewusstsein einer sozialen Schicht, die lange Zeit in dem Ruf gestanden hatte, sich ihre prekären Privilegien durch Anbiederung an die weißen Eliten zu erkaufen.[16]

Dieses Selbstbewusstsein verdankte sich auch der wachsenden politischen Bedeutung, die sich zunächst vor allem in den Südstaaten zeigte, wo afroamerikanische Wahlberechtigte vor 1965 weithin von der politischen Teilhabe ausgeschlossen waren. Nachdem der Voting Rights Act(9) Registrierung und Stimmabgabe im Deep South unter Bundesaufsicht gestellt hatte, verdoppelte sich die Zahl der dort registrierten schwarzen Wählerinnen und Wähler innerhalb weniger Jahre von 27 auf 55 Prozent und erreichte bis Ende der 70er-Jahre etwa das Niveau der weißen Südstaatler. Zwischen 1964 und 1970 verzehnfachte sich die Zahl der afroamerikanischen Mandatsträger im Süden von siebzig auf rund 700 und stieg bis Anfang der 80er-Jahre auf deutlich über 3000. Allein in Mississippi, der Zitadelle der weißen Vorherrschaft, bekleideten über 400 schwarze Politiker Wahlämter. In fast allen Großstädten des Südens wurden afroamerikanische Bürgermeister gewählt, zuerst im Jahr 1973 in Atlanta. Auch gemäßigt-progressive weiße Politiker wie etwa Jimmy Carter(25) in Georgia warben jetzt um die Stimmen der Afroamerikaner. Bei den Präsidentschaftswahlen 1976 verhalf die geschlossene Unterstützung der schwarzen Südstaatler Carter in zehn von elf Staaten der ehemaligen Konföderation zur Mehrheit. Als sein knapper Vorsprung in Mississippi ihm schließlich den Einzug ins Weiße Haus sicherte, frohlockte der Bürgerrechtler Andrew Young(1): »The hands that picked the cotton finally picked the president« – die schwarzen Baumwollpflücker hatten einen weißen Südstaatler zum Präsidenten der USA gemacht.[17]

Gleichwohl war der Süden keinesfalls zu einer »farbenblinden Demokratie« geworden. Unverändert war lediglich eine liberale Minderheit der weißen Wählerschaft bereit, für schwarze Kandidaten zu stimmen, sodass diese nur in Wahlbezirken mit mehrheitlich afroamerikanischer Bevölkerung gewinnen konnten. Zudem gab es weiterhin hartnäckige Widerstände gegen die politische Beteiligung der Schwarzen, die darauf abzielten, den Erfolgswert der afroamerikanischen Stimmen möglichst zu verwässern und die Wahl schwarzer Repräsentanten zu erschweren. Zu den einschlägigen Techniken gehörten unter anderem die Zusammenlegung von Wahlbezirken, Änderungen am Wahlmodus und den Mehrheitsregeln sowie vor allem das gerrymandering(2). Viele Südstaaten zogen die Wahlkreise möglichst so, dass entweder kompakte afroamerikanische Wohngebiete auf angrenzende Bezirke aufgeteilt oder möglichst viele schwarze Wähler in einen Wahlkreis gepackt wurden, um die umliegenden Wahlkreise umso sicherer für weiße Kandidaten zu machen. Der Oberste Gerichtshof(17) setzte diesen Praktiken in einer Serie von Urteilen Grenzen, untersagte aber seit 1993 auch die Schaffung mehrheitlich schwarzer Wahlkreise, wenn dahinter allein die Absicht stand, den Erfolg afroamerikanischer Kandidaten sicherzustellen. Eine derartige Praxis, so das Gericht, verletze das Recht aller Wähler auf einen »farbenblinden politischen Prozess« und laufe auf eine neue Form der »politischen Apartheid« hinaus. Bürgerrechtler sahen eine »Resegregation der amerikanischen Demokratie« heraufziehen, doch tatsächlich blieb die Zahl der afroamerikanischen Kongressmitglieder, die zwischen 1965 und 1993 von sechs auf 41 gestiegen war, davon 13 aus dem Süden, auch in der Folgezeit konstant.[18]

Hinter den Debatten um die »rassenbewusste« Ziehung von Wahlkreisen stand die Grundsatzfrage, ob die Afroamerikaner und gegebenenfalls andere ethnische Minderheiten ein Recht auf Repräsentation gemäß ihrem Bevölkerungsanteil haben sollten. Dieses Ziel ist im Rahmen des in den USA vorherrschenden relativen Mehrheitswahlrechts kaum realisierbar. Die Bürgerrechtsanwältin Lani Guinier(1) forderte daher Anfang der 1990er-Jahre proporzbasierte Wahlverfahren, die nicht nur eine angemessene Präsenz von Minderheiten in der Gesetzgebung sicherstellen, sondern auch die effektive Vertretung ihrer Interessen garantieren sollten. Guinier schlug vor, schwarzen Abgeordneten in allen die schwarze Minderheit betreffenden Fragen eine Vetoposition einzuräumen, weil sie ansonsten permanent von der weißen Mehrheit majorisiert würden. Kritiker sahen in solchen Forderungen den Beginn einer »Balkanisierung« der amerikanischen Politik und bestritten, dass nur Schwarze die Interessen von Schwarzen vertreten könnten. Als Präsident Bill Clinton(7) Guinier(2) 1993 für die Leitung der Bürgerrechtsabteilung im Justizministerium nominierte, brach im Kongress und in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung über die angebliche »Quotenkönigin« los, und der Präsident ließ seine Kandidatin umstandslos fallen.[19]

Angesichts der historischen Prägung der amerikanischen Politik durch den Rassenkonflikt erschien die Beschwörung eines »farbenblinden politischen Prozesses« bestenfalls naiv. Umgekehrt wurde jedoch auch immer deutlicher, dass die Fixierung auf die Zahl schwarzer Mandatsträger eine Kehrseite hatte. Dass ausgerechnet die Administration des Republikaners George H. W. Bush(2) Anfang der 1990er-Jahre auf die Schaffung zusätzlicher schwarzer Wahlkreise im Süden drängte, beruhte auch auf dem Kalkül, die dortige Wählerbasis der Demokraten auf wenige Hochburgen zusammenzudrängen und so alle übrigen Wahlkreise zu sicheren Sitzen für die GOP zu machen. Auch unter schwarzen Bürgerrechtlern und Politikern mehrten sich die Stimmen, die dafür plädierten, sich nicht länger auf den numerischen Proporz zu konzentrieren und lieber die eigenen Interessen in mehrheitsfähigen rassenübergreifenden Koalitionen geltend zu machen. Für schwarze Politiker, die außerhalb der Black Community Wahlen gewinnen wollten, gab es dazu ohnehin keine Alternative. In zwei Dritteln der 87 Städte, die zwischen 1967 und 1993 einen Afroamerikaner zum Bürgermeister wählten – darunter die drei Metropolen Los Angeles (1973), Chicago (1983) und New York City (1989) –, bildeten schwarze Wähler nur eine Minderheit. 1989 gewann Douglas Wilder(1) knapp die Gouverneurswahlen in Virginia, wo der schwarze Bevölkerungsanteil nur etwa zwanzig Prozent betrug. Wilder wurde damit zum ersten direkt gewählten afroamerikanischen Gouverneur eines US-Bundesstaates. Zwar stimmte zumeist nur eine Minderheit der Weißen für den afroamerikanischen Kandidaten, die aber substanziell genug war, um einem rassenübergreifenden Wahlbündnis zum Erfolg zu verhelfen. Optimisten wie die Thernstroms sahen in diesen Entwicklungen einen grundlegenden Wandel in der politischen Kultur. Gewiss blieben viele weiße Wähler für kodierten Rassismus empfänglich, und gelegentlich erzielten sogar die alten Rassenhetzer noch Erfolge. So gewann der ehemalige Ku-Klux-Klan(3)-Führer David Duke(1) 1991 bei der Gouverneurswahl in Louisiana 55 Prozent der weißen Wähler, verlor die Wahl allerdings deutlich. Immer mehr weiße und schwarze Bürgerinnen und Bürger, so die These von One Nation, Indivisible, schauten nicht mehr auf die Hautfarbe der Kandidaten, sondern auf Programme und Persönlichkeiten. Amerika mochte noch keine »farbenblinde Demokratie« sein, befand sich jedoch auf gutem Wege.[20]

Vielen Beobachtern erschienen die Rassenbeziehungen im späten 20. Jahrhundert von Paradoxien geprägt. Einerseits machte die politische, soziale und kulturelle Integration unübersehbare Fortschritte, andererseits dominierte im öffentlichen Diskurs der Pessimismus. Afroamerikaner stiegen nicht nur in die Mittelklasse, sondern erstmals auch in das Segment der Superreichen auf. Erfolgreiche Entertainer, Schauspieler, Musiker und Sportler erwarben einen noch kurz zuvor unvorstellbaren Starruhm. Der Popsänger Michael Jackson(1) und der Basketballer Michael Jordan(1) wurden zu globalen Superstars, allein Jordans Werbeeinnahmen beliefen sich auf bis zu siebzig Millionen Dollar jährlich. Natürlich waren Jackson oder Jordan nicht repräsentativ, aber der Boom der 90er-Jahre ging auch an den Unterschichten keineswegs vorbei, wie dies oft unterstellt wurde. So fiel die afroamerikanische Armutsquote, die lange bei über dreißig Prozent verharrt hatte, bis zum Ende des Jahrzehnts um zehn Prozentpunkte. Dass sie immer noch doppelt so hoch wie die der weißen Amerikaner lag, ließ sich nicht allein mit strukturellem Rassismus erklären, sondern spiegelte auch das weiterhin geringere Bildungs- und Qualifikationsniveau der schwarzen Bevölkerung sowie die exorbitant hohe Zahl alleinerziehender Mütter wider, deren Armutsrisiko um ein Vielfaches höher ist als das von Familien mit beiden Elternteilen.[21]

In den 1990ern waren die sozialen Beziehungen zwischen Euroamerikanern und Afroamerikanern laut Orlando Patterson, »besser als je zuvor, wenngleich noch lange nicht ideal«. Abigail und Stephan Thernstrom präsentierten Umfragedaten, die zeigen sollten, dass die persönliche Nähe und Vertrautheit zwischen den Rassen seit den 1960er-Jahren signifikant zugenommen hatten. Die wohnräumliche Segregation war demnach keineswegs so rigide, wie Andrew Hacker und andere Pessimisten dies behaupteten. Freundschaften zwischen Schwarzen und Weißen gab es sehr viel häufiger, als dies gemeinhin angenommen wurde. Rund drei Viertel der Euro- und der Afroamerikaner erklärten, unter ihren »guten Freunden« seien Angehörige der anderen Rasse, und das einstige Tabu sexueller Beziehungen und Eheschließungen über die Rassenschranken hinweg fand immer geringere Akzeptanz. Wie die Thernstroms stolz vermerkten, waren die Amerikaner gegenüber Minderheiten sogar deutlich toleranter eingestellt als die Europäer. Nur noch 13 Prozent der weißen Amerikaner bekannten sich zu einer grundsätzlich schlechten Meinung über ihre schwarzen Landsleute. Demgegenüber hatten 45 Prozent der Westdeutschen eine negative Einstellung zu türkischen Einwanderern, und 42 Prozent der Franzosen sagten dasselbe über Nordafrikaner.[22]

Folgt man Orlando Patterson, den Thernstroms und anderen eher hoffnungsvollen Autoren, dann waren die Rassenbeziehungen in den USA weitaus besser als ihr Ruf, wurden jedoch von Radikalen, akademischen Berufspessimisten und dem Bürgerrechtsestablishment schlecht geredet. Während die große Mehrheit der schwarzen und weißen Amerikaner friedlich und ohne größere Probleme miteinander auskomme, erzielten Buchtitel hohe Auflagen, die vor einem baldigen »Rassenkrieg« warnten, die »Amerikanische Apartheid« anprangerten und das »tragische Scheitern der Integration« beklagten. Gleichzeitig forderten Aktivisten und Rechtsanwälte astronomische Summen als »Reparationen« für Jahrhunderte der Sklaverei und Rassentrennung. Rechtlich und politisch hatte die Reparationskampagne zwar keinerlei Erfolgschancen und fand außerhalb militanter Intellektuellenkreise auch nie breite Resonanz in der Black Community, bot aber die willkommene Gelegenheit zu rhetorischen Überbietungswettbewerben. Wer der Mehrheitsgesellschaft »Menschenrechtsverbrechen ohne Parallele in der modernen Geschichte« vorwarf und die von Afroamerikanern verübten Straftaten gegen »weißes Eigentum« als legitime Akte der Wiedergutmachung historischen Unrechts feierte, zielte auf Provokation und nicht auf einen Dialog über Amerikas historische Verantwortung gegenüber der schwarzen Minderheit. Dennoch lag es gewiss nicht allein an der vermeintlichen Diskurshoheit radikaler Intellektueller, dass Anfang der 1990er-Jahre um die achtzig Prozent der weißen wie der schwarzen Amerikaner glaubten, die Rassenbeziehungen seien »nicht gut« oder sogar »schlecht«.[23] Bei näherem Hinsehen findet sich eine Vielzahl von Kontroversen und Konflikten, bei denen sich ein breiter Graben zwischen Weißen und Schwarzen auftat. Immer wieder standen dabei Kriminalität, Polizeigewalt und Strafjustiz im Mittelpunkt.

Rassismus und Strafjustiz: A New Jim Crow?

Im Präsidentschaftswahlkampf 1988 erregte die »Willie-Horton-Affäre« die Gemüter. Horton(1) war ein in Massachusetts wegen Raubmordes zu lebenslanger Haft verurteilter Afroamerikaner, der 1986 nicht von einem Freigang zurückkehrte. Bevor er schließlich erneut verhaftet wurde, vergewaltigte er mehrfach eine junge weiße Frau, nachdem er zuvor ihren Verlobten schwer misshandelt hatte. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Michael Dukakis(1), trug als Gouverneur von Massachusetts die politische Verantwortung für das Freigang-Programm. Während des Wahlkampfs lancierten Unterstützer von Vizepräsident George H. W. Bush(3), dem Kandidaten der Republikaner, einen Fernsehspot, in dem das Polizeifoto Hortons zu sehen war und Dukakis unterstellt wurde, die Öffentlichkeit nicht vor gefährlichen Straftätern schützen zu wollen. Kritiker, allen voran Jesse Jackson(3), beschuldigten die Republikaner daraufhin, mit dem historisch tief verwurzelten rassistischen Stereotyp vom kriminellen Schwarzen punkten zu wollen. Die Ausstrahlung des Spots wurde eingestellt, aber die Horton-Affäre blieb in den Medien. Welche Bedeutung sie für Bushs klaren Sieg hatte, ist allerdings umstritten. Zweifellos spielten die republikanischen Wahlstrategen gezielt die »Rassenkarte« aus, auch wenn man sorgsam vermied, Hortons(2) Hautfarbe zu erwähnen. Sobald der Rassismus-Vorwurf offen thematisiert wurde, scheint der Spot bei den meisten weißen Wählern aber eher auf Ablehnung gestoßen zu sein.[24]

Die Mehrheit der weißen Amerikaner mochte sich gegenüber allzu plumpen Appellen an die alten Instinkte reserviert zeigen, aber wenn es um den Kampf gegen Kriminelle mit schwarzer Hautfarbe ging, schloss man zuverlässig die Reihen. Polizisten, die der exzessiven Gewaltanwendung gegen Afroamerikaner beschuldigt wurden, konnten, sofern es überhaupt zu Anklagen kam, mit dem Verständnis der Geschworenen rechnen. Allerdings bestand auch stets die Gefahr, dass dann die Wut bei den Schwarzen überkochte. Willkürliche und straflose Polizeigewalt gegen Afroamerikaner war schon in den 1960ern der häufigste Auslöser von Rassenunruhen gewesen. Daran hatte sich in der Folgezeit wenig geändert, obwohl in vielen Großstädten die Polizei längst nicht mehr ausschließlich aus weißen Beamten bestand. Im Mai 1980 starben in Miami 18 Menschen, darunter acht Passanten, bei Ausschreitungen, nachdem ein Geschworenengericht vier weiße Polizisten freigesprochen hatte; sie hatten einen Schwarzen bei der Festnahme totgeprügelt.[25]

Dasselbe Muster löste Ende April 1992 in Los Angeles, wo die Polizei für ihr rabiates Vorgehen gegen Minderheiten berüchtigt war, die schwersten race riots seit über dreißig Jahren aus. Gut ein Jahr zuvor hatte dort eine aus weißen und hispanischen Beamten bestehende Polizeistreife den 26-jährigen Afroamerikaner Rodney King(1) nach einer Verfolgungsjagd gestellt, weil dieser sich einer Verkehrskontrolle entzogen hatte. Ein Augenzeuge filmte die Polizisten dabei, wie sie nach der Festnahme minutenlang brutal auf den wehrlosen King einschlugen. Das Video mit den Prügelszenen wurde immer wieder im Fernsehen ausgestrahlt und entfachte landesweit einen Sturm der Empörung. Dennoch sprach ein Jahr später eine überwiegend aus Weißen bestehende Jury die Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung frei. Die Verteidigung hatte argumentiert, der angetrunkene King sei nur durch massive Gewalt zu bändigen gewesen. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Urteils brachen in South Central Los Angeles, wo vor allem Afroamerikaner und Hispanics lebten, schwere Krawalle aus, die sich über mehrere Tage hinzogen und nur durch den Einsatz des Militärs beendet werden konnten. Die Appelle Tom Bradleys(1), des schwarzen Bürgermeisters von Los Angeles, Ruhe zu bewahren, verhallten ungehört. Über fünfzig Menschen kamen ums Leben, Tausende erlitten Verletzungen, und mehr als tausend Häuser brannten nieder; der Sachschaden überstieg eine Milliarde Dollar.[26]

Der »Rassenkrieg«, der sich nach Ansicht mancher Kommentatoren in Los Angeles abspielte, spiegelte freilich nicht mehr einfach das alte Schwarz-Weiß-Schema, sondern auch die Antagonismen im neuen multiethnischen Amerika. Da die Polizei und die Nationalgarde die weißen Wohngegenden abschirmten, wurden Weiße eher zufällig Opfer der Mobgewalt. Aus einem Helikopter filmte ein Fernsehteam, wie ein LKW-Fahrer von schwarzen Randalierern aus seinem Fahrzeug gezerrt und schwer misshandelt wurde. Die Zerstörungswut richtete sich jedoch besonders gegen Geschäfte, die koreanische Einwanderer in den von Schwarzen und Hispanics bewohnten Vierteln betrieben. Die asiatischen Ladenbesitzer waren unter schwarzen Ghettobewohnern als angebliche Ausbeuter verhasst, während sich die Koreaner von schwarzen Ladendieben und Räubern bedroht sahen. Die Läden von Hispanics wurden ebenfalls massenhaft geplündert und verwüstet, doch auch unter den Plünderern fanden sich zahlreiche Hispanics. Wie bereits in den 1960er-Jahren gingen die Meinungen darüber auseinander, ob es sich bei den LA riots um Anarchie, den Ausdruck sozialer Nöte oder eine im Kern politische Rebellion gegen die rassistischen Strukturen der US-Gesellschaft handelte. Immerhin hatten viele, die gegen den Freispruch der Polizisten protestierten, »no justice, no peace« skandiert – ohne Gerechtigkeit kein Frieden![27]

Zwar gaben die Unruhen in Los Angeles nicht den Startschuss für eine neue Welle von race riots, doch der Rassismus in Polizei und Justizapparaten sorgte weiterhin für gesellschaftliche Spannungen. Die Mordanklage gegen die schwarze Football-Legende Orenthal James, genannt »O. J.«, Simpson(1) bescherte den USA 1994/95 einen »Jahrhundertprozess«, der die sexuellen Tabus und historischen Traumata des Rassenkonfliktes wie in einem Brennglas bündelte. Wieder war Los Angeles der Schauplatz. Am 12. Juni 1994 wurden Simpsons weiße Ex-Frau Nicole Brown-Simpson und ihr Bekannter Ronald Goldman erstochen vor Brown-Simpsons Wohnung in LA aufgefunden. Die Ermittler fanden Spuren, die auf O. J. Simpson als Täter hinwiesen, der sich in einer spektakulären Verfolgungsjagd zunächst der Festnahme entzog. Starke Indizien, darunter blutverschmierte Kleidung und Simpsons DNA am Tatort, erhärteten den Verdacht, dass der frühere Football-Star, der während der Ehe mit Nicole Brown immer wieder gewalttätig geworden war und sie auch nach der Scheidung weiter belästigte, seine Ex-Frau und den wohl nur zufällig anwesenden Goldman in einem Eifersuchtsanfall getötet hatte. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, und bereits Ende Juli begann der Mordprozess, der wegen des riesigen Medieninteresses live im Fernsehen übertragen wurde. Über mehr als ein Jahr verfolgten Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner beinahe täglich ein »court room drama«, das weniger der Wahrheitsfindung als der Massenunterhaltung zu dienen schien.[28]

Simpson(2) beteuerte standhaft seine Unschuld, während seine Verteidiger alles daransetzten, ihn als Opfer einer rassistischen Polizeiverschwörung darzustellen, die Beweismittel gefälscht hatte, um, wie in den Zeiten der Jim-Crow-Justiz(11), einem schwarzen Mann den Mord an einer weißen Frau anhängen zu können. Umfragen belegten, dass eine Mehrheit der Afroamerikaner diese Version für plausibel hielt, während vier von fünf Weißen keinen Zweifel an Simpsons(3) Schuld hegten. Als der Prozess schließlich am 3. Oktober 1995 mit einem Freispruch endete, kam es im ganzen Land zu Freudenkundgebungen in Schwarzenvierteln. Kritiker sprachen dagegen von Rechtsbeugung durch die Jury, der eine weiße und acht schwarze Frauen sowie jeweils ein afroamerikanischer, ein hispanischer und ein asiatischer Mann angehörten. So wie sich früher weiße Geschworene oft geweigert hatten, weiße Angeklagte für Verbrechen an Schwarzen schuldig zu sprechen, folgten nun schwarze Geschworene dem Appell an die rassische Solidarität. In der Tat argumentierten radikale afroamerikanische Intellektuelle schon länger, schwarze Geschworene hätten die Pflicht, die Rassenjustiz der USA durch Freisprüche für afroamerikanische Angeklagte zu sabotieren. Da ein Urteil einstimmig sein muss, hatten im Simpson-Fall allerdings auch die drei nichtschwarzen Geschworenen für einen Freispruch gestimmt. Ob alle Schwarzen, die das Urteil begrüßten, an Simpsons(4) Unschuld glaubten, ist fraglich. Immer wieder war bei Straßeninterviews der Tenor zu hören, es sei an der Zeit, endlich einmal den Spieß umzudrehen.[29]

Dass ausgerechnet der reiche und prominente Simpson(5), der nach seiner sportlichen Karriere auch als Filmschauspieler reüssierte, zur Symbolfigur historischer Gerechtigkeit verklärt wurde, leuchtete nicht jedem ein. Der Mann, der sich die besten Strafverteidiger der USA leisten konnte, war selbst nie als Anwalt für Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit in Erscheinung getreten und stand im Ruf, sich der weißen Elite angedient zu haben. Nach seinem Freispruch sank sein Stern schnell. In einem Zivilprozess, in dem niedrigere Beweislasten gelten, verurteilte ihn ein überwiegend weißes Geschworenengericht zu 33 Millionen Dollar Schadenersatz an die Familie von Ronald Goldman, weil die Jury es für hinreichend erwiesen hielt, dass Simpson Goldman getötet hatte. 2007 beging der inzwischen verarmte Simpson einen bewaffneten Raubüberfall, für den er bis 2017 in Haft saß. Als Projektionsfläche für den Protest gegen eine rassistische Justiz taugte O. J. schon lange nicht mehr.

Simpsons(6) überraschender Freispruch im Jahre 1995 war freilich eine seltene Ausnahme und belegte gewiss nicht, dass schwarze Angeklagte vor US-Gerichten neuerdings mit Milde rechnen durften. Im Gegenteil, im Zuge einer drakonischen Verschärfung der Strafgesetze im Allgemeinen und des sogenannten »Krieges gegen die Drogen« im Besonderen stieg die Inhaftierungsquote in den USA rasant an. In den frühen 1970er-Jahren waren statistisch rund hundert Personen pro 100 000 Einwohner im Gefängnis oder auf Bewährung entlassen, zwanzig Jahre später hatte sich die Quote mehr als vervierfacht. Der Anteil von Afroamerikanern an der Gefängnispopulation stieg im selben Zeitraum von 35 auf beinahe fünfzig Prozent, und ihre Inhaftierungsquote lag rund sechsmal so hoch wie die der weißen und mehr als doppelt so hoch wie die der hispanischen Bevölkerung. Mitte der 90er-Jahre war ein Viertel aller schwarzen Männer zwischen 20 und 29 Jahren entweder in Haft oder auf Bewährung entlassen. Ein Kriminologe sprach vom »harschesten Strafregime, das jemals einer gesellschaftlichen Gruppe in einem demokratischen Rechtsstaat auferlegt worden ist«.[30]

Über die Entstehung des, wie Kritiker ihn nennen, amerikanischen »Gefängnisstaates« wird seit Jahrzehnten eine heftige Debatte geführt. Stand hinter der massenhaften Inhaftierung schwarzer Männer die gezielte Strategie, ein neues Jim-Crow-System(12) zu schaffen, oder spiegelte sie lediglich die signifikant höheren Kriminalitätsraten der schwarzen Bevölkerung wider? Im Zentrum vieler Kontroversen stand der »Krieg gegen die Drogen«, den die Nixon(103)-Administration zu Beginn der 1970er-Jahre ausrief und der sukzessive zu einer drastischen Verschärfung der Strafen für Drogendelikte führte. Noch 1980 saßen lediglich 42 000 Personen aus diesem Grund im Gefängnis, Anfang der 2000er-Jahre waren es bereits eine halbe Million; ein Drittel von ihnen waren Afroamerikaner. Immer wieder ist daher argumentiert worden, der war on drugs sei in Wirklichkeit rassistisch motiviert, um möglichst viele Schwarze hinter Gitter bringen zu können. Als schlagender Beleg für diese These gilt ein Bundesgesetz aus dem Jahre 1986, das für den Besitz von fünfzig Gramm der Ghettodroge Crack eine Mindeststrafe von zehn Jahren vorsah, während dieses Strafmaß bei Pulverkokain, der Lifestyle-Droge der weißen Mittelklasse, erst bei fünf Kilogramm erreicht wurde. Da mehr als neunzig Prozent der im Zusammenhang mit Crack Verurteilten schwarz waren, prangerten Bürgerrechtler die Diskrepanz als Rassenjustiz an. Doch kam der Ruf nach harten Strafen für den Handel mit Crack auch von afroamerikanischen Kongressabgeordneten, die der Strafjustiz vorwarfen, sie nehme das Crackproblem in der Black Community nicht ernst genug. Tatsächlich richtete Crack nicht allein schwere gesundheitliche Schäden und soziale Zerrüttung an, sondern wurde zum Brandbeschleuniger der Banden- und Gewaltkriminalität. Mehr als sechzig Prozent aller afroamerikanischen Mordopfer zwischen 1980 und 2008 starben im Zusammenhang mit Drogenkriegen.[31]

Auch die Todesstrafe, die nach einem zehnjährigen Moratorium seit 1977 vor allem in den Staaten des Südens wieder exekutiert wurde, stand und steht nach Auffassung vieler ihrer Gegner in der Kontinuität zur Rassen- und Lynchjustiz der Jim-Crow-Ära(13). Seit 1977 waren 35 Prozent aller zum Tode Verurteilten Schwarze, obwohl Afroamerikaner nur etwa zwölf bis 13 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen. Allerdings begehen Afroamerikaner statistisch gesehen auch sehr viel häufiger einen Mord als Weiße. Die Thernstroms argumentierten, dass weiße Mordangeklagte sogar ein höheres Risiko hätten, zum Tode verurteilt zu werden, als schwarze. Auch der Umstand, dass afroamerikanische Täter sehr viel häufiger für den Mord an einem weißen Opfer zum Tode verurteilt wurden als für den Mord an einem schwarzen, beruhe nicht auf Rassendiskriminierung, sondern auf den typischen Tatumständen. Tötungsdelikte innerhalb einer ethnisch-rassischen Gruppe seien sehr viel häufiger Affekttaten, für die mildernde Umstände in Betracht kommen, während die Todesstrafe nur bei besonders brutalen Taten verhängt werde, wie sie etwa für Raub- oder Polizistenmorde typisch seien. Die Frage, ob die Popularität der Todesstrafe etwas mit der Geschichte des Rassismus zu tun haben könnte, blendeten die Apologeten einer farbenblinden Justiz jedoch weitgehend aus.[32]

Die Verschärfung der Strafgesetze und der Anstieg der Inhaftierungsquote lassen sich als Folge der Kriminalitätswelle deuten, die seit den 60er-Jahren die US-Gesellschaft verunsicherte. Doch auch als Mitte der 1990er-Jahre die Kriminalität spürbar zurückging, stieg die Zahl der Gefängnisinsassen weiter. Der Gefängnisstaat hatte offenkundig eine politische Eigendynamik gewonnen. Die Versuchung, an die Angst vor dem Verbrechen zu appellieren, war für viele Politiker unwiderstehlich geworden. Doch waren es keineswegs nur Konservative, die sich als »tough on crime« anpriesen. Der Demokrat Bill Clinton(8) zeichnete für eine Strafrechtsreform verantwortlich, die an drakonischer Strenge kaum zu überbieten war. So sah die berüchtigte »three-strikes-and-you’re-out«-Regel nach der dritten Verurteilung für eine schwere Straftat zwingende Mindeststrafen bis hin zu lebenslänglich vor, auch wenn es sich nicht um eine Gewalttat handelte. Die Befürworter der harten Linie argumentierten, der Rückgang der Kriminalität sei darauf zurückzuführen, dass man die Kerngruppe der Schwerkriminellen weggesperrt habe. Statistisch ließ sich diese These zwar nicht belegen, aber auch führende Kriminologen räumten ein, dass keine gesellschaftliche Gruppe mehr vom Rückgang der Eigentums- und Gewaltkriminalität profitiert habe als die Bewohner der schwarzen Ghettos. Zwischen 1990 und 2000 halbierte sich die Mordrate unter Afroamerikanern.[33]

Unter Experten ist zudem umstritten, ob Rassismus die entscheidende politische Triebkraft des Kerkerstaates war. Dass die Law-and-Order-Botschaften von Politikern mehr oder weniger offen an rassistische Ressentiments appellierten, ist unbestreitbar. Studien ergaben, dass bei vielen Weißen die Präferenz für hartes Durchgreifen gegen Kriminelle mit einer negativen Einstellung gegenüber Schwarzen zusammenhing. Aber harte Strafen für Gewalttäter und Drogenhändler waren in der Black Community genauso populär. Afroamerikanische Dissidenten wie der Harvard-Jurist Randall Kennedy beklagten, nicht Polizeigewalt sei das Hauptproblem der Ghettos, sondern die unzureichende Kriminalitätsbekämpfung. Auch schwarze Politiker und Bürgermeister schrieben sich den Kampf gegen das Verbrechen auf die Fahnen, weil sowohl weiße als auch schwarze Wähler dies verlangten.[34]

Freilich wurde auch immer deutlicher, dass der Gefängnisstaat zum Problem der gesamten Gesellschaft geworden war. Um 2010 saßen bereits mehr als zwei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner im Gefängnis. Mit einer Inhaftierungsquote von 700 Gefängnisinsassen pro 100 000 Einwohnern bilden die USA – laut dem Text ihrer Nationalhymne »das Land der Freien« – die einsame Weltspitze. Die Politikwissenschaftlerin Marie Gottschalk argumentiert deshalb, die New-Jim-Crow-Debatte(14) verdecke, dass die Masseninhaftierung auch andere Minderheiten sowie arme weiße Männer und zunehmend auch Frauen treffe. Selbst wenn Schwarze statistisch nicht häufiger als Weiße inhaftiert würden und selbst wenn man alle Verurteilungen wegen Drogendelikten herausrechne, so Gottschalks These, wäre die Inhaftierungsquote um das Vierfache gestiegen. Wer allein die Rassendiskriminierung anprangere, riskiere zudem, dass die Befürworter des Gefängnisstaates einfach mehr Weiße einsperrten. Immerhin wurden auch im konservativen Lager Stimmen laut, die auf die fiskalischen und sozialen Kosten der Masseninhaftierung hinwiesen und ein Umdenken forderten. Doch stößt jede Liberalisierung der Strafgesetze in den USA auf den Widerstand der »Gefängnisindustrie« und einer populistischen Strafrechtstradition, in der es sich für Politiker unverändert auszahlt, »tough on crime« zu sein.[35]

Dass nach der Jahrhundertwende die Inhaftierungsquoten auch für Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner wieder fielen – für schwarze Männer von 3500 pro 100 000 auf 2200 im Jahre 2019, für Frauen sogar von 210 auf 83 – änderte wenig an den gravierenden Folgen des harschen Strafregimes für die Black Community insgesamt. Der Zusammenhang von Masseninhaftierung und Armut sowie sozialer Marginalisierung ist evident. Weil Afroamerikaner im Durchschnitt signifikant ärmer sind als Weiße, benötigen sie vor Gericht häufiger Pflichtverteidiger, denen Zeit, Motivation und Erfahrung fehlen. Ihre Mandanten werden daher öfter verurteilt und erhalten höhere Strafen als Angeklagte, die sich erfahrene Anwälte leisten können. Wenn aber ein erheblicher Teil der Männer im heiratsfähigen Alter im Gefängnis sitzt, fallen sie als potenzielle Ehemänner aus und verdienen kein Geld, um Familien zu unterstützen. Nach ihrer Entlassung haben sie es als Vorbestrafte schwerer, einen Job zu finden, und verbleiben oft im Bannkreis der Kriminalität. Da zudem viele US-Bundesstaaten Vorbestraften dauerhaft das Wahlrecht entziehen, können schätzungsweise gut sechs Prozent der erwachsenen Afroamerikaner ihre politischen Interessen nicht geltend machen.[36]

Strafverfolgung, Strafjustiz und Strafvollzug waren und sind die öffentlichen Institutionen, an denen sich am stärksten die historischen Kontinuitäten rassistischer Strukturen und Mentalitäten festmachen lassen und die in den Jahrzehnten nach der Bürgerrechtsära wohl am meisten zur Polarisierung der Rassenbeziehungen beigetragen haben. Dies änderte sich auch nicht, als Barack Obama(9) als erster afroamerikanischer Präsident ins Weiße Haus einzog und zahlreiche konservative wie liberale Kommentatoren den Beginn eines neuen, postrassischen Zeitalters heraufziehen sahen. Obamas Wahlsieg war freilich nur der sichtbarste Ausdruck des politisch-kulturellen Wandels, den die amerikanische Gesellschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten erlebt und der zu heftigen Kontroversen darüber geführt hatte, welche Wertvorstellungen überhaupt noch allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen konnten.