Am 17. August 1992 hielt Patrick J. Buchanan(2), ein ehemaliger Mitarbeiter der Präsidenten Richard Nixon(104) und Ronald Reagan(25), auf dem Nominierungsparteitag der Republikanischen Partei in Houston, Texas, eine Rede, in der er begründete, warum er nun den amtierenden Präsidenten George H. W. Bush(4) unterstützte, obwohl er ihn im Vorwahlkampf scharf angegriffen und ihm die Nominierung streitig zu machen versucht hatte. Erzkonservativen Nationalisten wie Buchanan galt Bush als zu internationalistisch und zu wenig prinzipienfest bei der Verteidigung »traditioneller Werte«. Der Redner ließ erkennen, dass seine neue Begeisterung für den Präsidenten vor allem in seiner Verachtung für dessen Herausforderer Bill Clinton(9) wurzelte, den er als Inkarnation der Radical Sixties anprangerte. Clinton und seine Ehefrau Hillary(3), warnte Buchanan, wollten die Abtreibung(10) uneingeschränkt legalisieren, Homosexuellen(5) dieselben Rechte geben wie Familien, Frauen zu den Kampftruppen der US-Streitkräfte zulassen und Gott vollends aus den Schulen verbannen. Deshalb gehe es bei den bevorstehenden Wahlen um mehr als um die Frage, wer welches Stück vom ökonomischen Kuchen bekomme[1]:
Es geht darum, wer wir sind. Es geht darum, was wir glauben und wofür wir als Amerikaner stehen. In unserem Land findet ein Religionskrieg statt, ein Kulturkrieg, der genau wie der Kalte Krieg darüber entscheiden wird, welche Art von Nation wir sein werden. Denn dies ist ein Krieg, der um die Seele Amerikas geführt wird. In diesem Kampf stehen Clinton(10) & Clinton(4) auf der anderen Seite und George Bush auf unserer. Deshalb kehren die Buchanan(3)-Brigaden nun in das Lager von Bush(5) zurück, um die Reihen zu schließen.
Pat Buchanan war nicht der Erste, der von culture war sprach. Der Soziologe James D. Hunter hatte den Begriff kurz zuvor in die akademische Debatte eingeführt und ebenfalls konstatiert, es gehe um die »fundamentalen Ideen, wer wir als Amerikaner sein wollen«. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tobten bereits Auseinandersetzungen um Schulgebet und Religionsfreiheit, Abtreibung(11) und sexuelle Selbstbestimmung, Geschlechterrollen und Familienwerte sowie Bildungsstandards und Geschichtsbilder, und sie hatten, darüber waren sich Konservative und Liberale einig, die USA in zwei zunehmend unversöhnliche Lager gespalten. Doch trotz aller Appelle an Toleranz und Respekt verschärften sich die culture wars weiter. Dreißig Jahre nach Buchanans(4) Rede erscheint ein Grundkonsens darüber, wer die Amerikaner sind und sein wollen, weiter entfernt denn je.[2]
Der Historiker Andrew Hartman hat die Kulturkriege als Konflikt zwischen dem »normativen Amerika« der Nachkriegsjahre und dem »neuen Amerika« interpretiert, das aus der Kulturrevolution der Sixties hervorgegangen ist. Das normative Lager hält demnach an einer verbindlichen Nationalkultur fest, die auf der Dominanz weißer heterosexueller Männer, einer individualistischen Pflichten- und Leistungsethik, traditionellen Familienwerten und einem christlich geprägten Nationalismus beruht. Demgegenüber repräsentiert das neue Amerika eine Kultur, die pluralistisch, multiethnisch, feministisch(11) und säkular geprägt ist. Auch das Etikett »liberal« änderte im späten 20. Jahrhundert erneut seine Bedeutung. Während im New-Deal-Liberalismus(35) ökonomische Verteilungsgerechtigkeit im Zentrum gestanden hatte, rückten nun individuelle Selbstverwirklichung sowie ethnische, kulturelle und sexuelle Identitäten und Emanzipationsbestrebungen in den Mittelpunkt. Dies entsprach, so sehen es viele Historiker, durchaus dem neoliberalen Zeitgeist, auch wenn die neue Identitätslinke dessen ökonomisches Programm vehement ablehnte.[3]
Konflikte über die Identität und den Charakter der Nation, über Sprache, Kultur, Religion und Moral haben die Geschichte der USA seit ihrer Gründung geprägt. Im Kern ging es dabei stets um den Modellcharakter der von weißen »angelsächsischen« Protestanten, den WASPS, geprägten Kultur. Im 19. Jahrhundert verteidigten Nativisten(5) die »protestantische Freiheit« Amerikas gegen den Zustrom irischer und deutscher Katholiken. In den 1920er-Jahren wollten protestantische Reformer den Sündenpfuhl der Großstädte mittels der Alkoholprohibition trockenlegen. Die culture wars der Gegenwart knüpfen an diese Antagonismen an. Es greift daher zu kurz, sie allein als Reaktion auf die Sixties oder als Ersatz für den Antikommunismus(20) zu sehen, weil die amerikanische Rechte nach dem Kalten Krieg ein neues Feindbild brauchte und sich nun auf die intellektuellen Eliten in Politik und Kultur stürzte. In einer Gesellschaft, die sich historisch primär über gemeinsame Werte und Wahrheiten definiert hat, ist die Frage danach, welche Werte das Zusammenleben und die nationale Identität bestimmen sollen, von zentraler Bedeutung. Auch eine liberale Intellektuelle wie die Historikerin Jill Lepore, die den alten patriotischen Geschichtserzählungen kritisch gegenübersteht, beklagt die Fragmentierung der Gesellschaft unter dem Banner der Identitätspolitik und betont die Notwendigkeit, immer wieder einen neuen Konsens über Amerikas »Wahrheiten« zu finden.[4]
Lange Zeit herrschte der Eindruck vor, die culture wars seien eine Angelegenheit von Eliten und Medien, die mit der Lebenswirklichkeit der meisten Amerikanerinnen und Amerikaner wenig zu tun habe.[5] Dies mochte zutreffen, wo es um die Feinheiten akademischer Theorien oder um avantgardistische Kunst ging, gilt aber nicht für die Kontroversen über die Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben, Frauenrechte, Geschlechterrollen und Sexualmoral. Auch der Streit über die Lehrpläne der Schulen und Universitäten sowie die Präsentation der amerikanischen Geschichte in Museen ist in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen worden. Heute bezweifelt niemand mehr, dass die Kulturkriege wesentlich zur Spaltung der amerikanischen Gesellschaft beigetragen haben. Umstritten bleibt allerdings, wer sie entfesselt hat. Konservative haben sie als Generalangriff kulturrelativistischer Eliten auf die Grundwerte nicht nur der USA, sondern der westlichen Zivilisation insgesamt gegeißelt.[6] Bei Linken und Liberalen dominiert dagegen die Auffassung, rechte Politstrategen und Intellektuelle hätten die Kulturkriege bewusst entfacht, um die Masse der Wählerinnen und Wähler mit Scheindebatten zu verwirren und in deren Windschatten ihre neoliberale Agenda voranzutreiben. »Du willst es diesen politisch korrekten Professoren mal so richtig stecken«, karikierte Thomas Frank in What’s the Matter with Kansas? das »falsche Bewusstsein« des konservativen Fußvolks, »was du kriegst, ist die Privatisierung der Stromversorgung«. Die These von den Kulturkriegen als Manipulationsstrategie ignoriert freilich, dass für viele Bürger in den USA religiöse und moralische Grundüberzeugungen wie die Ablehnung der Abtreibung(12) wichtiger als ökonomische Interessen sein können. Darüber hinaus wird häufig ausgeblendet, dass auch die identitätspolitische Linke die Kulturkriege mit ideologischem Feuereifer geführt hat. Die Kritik an »politischer Korrektheit« und der Fixierung auf ethnische, kulturelle und sexuelle Identitäten kam nicht allein aus dem konservativen Lager, sondern wurde auch von prominenten Stimmen auf der Linken wie dem Philosophen Richard Rorty(1) und dem Soziologen und ehemaligem Studentenführer Todd Gitlin(1) erhoben, die beklagten, die Identitätspolitik habe rechten Demagogen wie Buchanan(5) den Patriotismus, das Gemeinwohl und die Arbeiterklasse überlassen.[7]
Der Widerstand des normativen gegen das neue Amerika fiel auch deshalb so radikal und hartnäckig aus, weil die culture wars untrennbar mit den oben behandelten Konflikten über ökonomische Ungleichheit, den demografischen Wandel und die Kontinuitäten des Rassismus verknüpft waren. Aus der Sicht des normativen Amerika strichen die gebildeten Eliten der postindustriellen Wissensgesellschaft die Gewinne der Globalisierung ein, forderten offene Grenzen für billige Arbeitskräfte und predigten hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikanern, sie müssten endlich ihre »weißen Privilegien« aufgeben. Das historische Selbstbewusstsein, einer einzigartigen Nation anzugehören, und die einst selbstverständlichen Werte und Prinzipien von Religion, Moral und Patriotismus sollten auf dem Altar der Vielfalt geopfert werden, während die eigene Lebenswelt entwertet schien.[8]
Ein weiteres Charakteristikum der Kulturkriege besteht darin, dass sie zumeist als Kontroversen über Rechte – rights – ausgetragen werden. Der Historiker Daniel T. Rodgers diagnostizierte bereits Ende der 1980er-Jahre, dass die von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung angestoßene »Rights Revolution« zu einer »Lawine« neuer Rechte und Ansprüche geführt hatte. Der Berufung auf Rechte wohnt ein Absolutheitsanspruch inne. Im Unterschied zu materiellen Interessen sind Rechte nicht verhandelbar, denn ihre Verweigerung verletzt aus Sicht derer, die sie beanspruchen, eine höhere moralische Ordnung. Im Konfliktfall sollen Rechte Vorrang vor demokratischen Mehrheitsentscheidungen genießen. Liberale sehen in einklagbaren Rechten aus guten Gründen unverzichtbare Garantien der Freiheit, doch nach Auffassung seiner Kritiker hat der exzessive rights talk maßgeblich zur moralischen Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. »In Amerika«, polemisierte die Rechtsphilosophin Mary Ann Glendon bereits 1991, »lässt die Sprache der Rechte keine Kompromisse mehr zu. Der Sieger bekommt alles, und der Verlierer muss die Stadt verlassen.«[9]
Diese Tendenzen wurden dadurch verschärft, dass Forderungen nach Rechten und Anerkennung häufig im Namen von Opfern historischen Unrechts erhoben werden. Ende der 1990er-Jahre wies der Historiker Peter Novick darauf hin, dass die Inkorporation der Holocaust-Erinnerung in die amerikanische Kultur zu einer völligen Umwertung des Opferstatus geführt habe. Opfer geworden zu sein, war nun kein Zeichen der Schwäche und Schande mehr, sondern verlieh moralische Autorität, mit der sich Ansprüche auf ideelle und materielle Wiedergutmachung begründen ließen. Nicht selten kam es dabei zu Opferkonkurrenzen und hitzigen Debatten über die Zulässigkeit historischer Analogien. So war es für viele Juden unerträglich, wenn schwarze Aktivisten im Zusammenhang mit Sklaverei und Lynchjustiz von »Black Holocaust« sprachen. Afroamerikaner wiederum empörten sich über den Slogan »gay is the new black« – schwul ist das neue Schwarz – mit dem die Gay-Rights-Bewegung die Diskriminierungserfahrungen von Homosexuellen(6) und Afroamerikanern parallelisierte. Im Zentrum der culture wars stand und steht freilich der massive Angriff auf die religiösen Werte, die Geschlechterordnung und das historische Selbstbild des »normativen Amerika«.[10]
Als Pat Buchanan(6) 1992 von einem »Religionskrieg« sprach, war dies nicht metaphorisch gemeint. Auseinandersetzungen über die öffentliche Rolle und Verbindlichkeit der Religion bilden bis heute den Kern der culture wars. Der erste Verfassungszusatz von 1791, der die Einrichtung einer Staatsreligion verbietet und das Recht auf freie Religionsausübung garantiert, wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem als Verpflichtung des Bundes zur konfessionellen Neutralität verstanden, die eine wohlwollende Förderung der christlichen Religion keineswegs ausschloss. Lange dominierte ein zivilreligiöses Selbstverständnis von Amerika als protestantischer Nation, doch um die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich ein überkonfessioneller Konsens über den »jüdisch-christlichen« Charakter der amerikanischen Kultur herausgebildet. Dieser hielt allerdings nur kurze Zeit, denn mit fortschreitender Individualisierung und Säkularisierung gewann die Vorstellung an Boden, die Verfassung errichte eine »Trennmauer zwischen Kirche und Staat«, wie Thomas Jefferson(2) dies bereits 1802 behauptet hatte. Unter Berufung auf dieses Prinzip untersagte der Oberste Gerichtshof(18) 1962 morgendliche Gebete an öffentlichen Schulen, selbst wenn diese überkonfessionell und freiwillig waren. Ihre Kinder, so argumentierten die Kläger, sollten nicht zu religiösen Aktivitäten gedrängt werden und keine religiöse Unterweisung erhalten, die den Überzeugungen der Eltern widersprach. Die Befürworter des Schulgebets dagegen betrachteten das Verbot als Einschränkung ihres Rechtes auf freie Religionsausübung. Besonders fromme Katholiken und evangelikale(10) Protestanten wanderten in konfessionelle Privatschulen ab. Für Fundamentalisten, die an die wörtliche Wahrheit der Bibel glauben, boten Privatschulen zudem die Möglichkeit, ihre Kinder vor der verhassten Evolutionstheorie zu schützen. Immer mehr Eltern machten auch vom Recht auf »Hausunterricht« Gebrauch.[11]
Der Kampf gegen die Verbannung der Religion aus der Schule war, wie oben ausgeführt, ein wichtiger Faktor für die Politisierung konservativer Christen und die Mobilisierung der Religiösen Rechten(9) in den 1970ern. Doch obwohl der Konservatismus politisch dominierte, blieb die Säkularisierung auf dem Vormarsch. Zwar bekannten weiterhin die allermeisten Amerikaner, sie glaubten an Gott, aber nur noch gut die Hälfte erklärte, Religion spiele in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Medien und Populärkultur hatten die Schamgrenzen vergangener Zeiten längst beiseitegeschoben und überschwemmten das Land mit Sex, Gewalt und vulgärer Unterhaltung. Die gezielte Verletzung religiöser Tabus war en vogue. Mit seinem Werk The Last Temptation of Christ (Die letzte Versuchung Christi) rief der Regisseur Martin Scorcese(1) 1988 Proteststürme unter konservativen Christen nicht nur in den USA hervor. Der Film stellt Jesus von Nazareth als Zweifelnden dar, der den Kreuzestod flieht, um mit Maria Magdalena eine Familie zu gründen. Während sich Die letzte Versuchung Christi als theologisch legitime Reflexion über die menschlich-göttliche Doppelnatur des christlichen Erlösers deuten ließ, musste es schwerfallen, die Installation Immersion (Piss Christ) des Fotografen Andres Serrano(1) als religiös inspiriertes Kunstwerk zu verstehen, wie es der Künstler und einige Rezensenten behaupteten. Serrano hatte ein Plastik-Kruzifix in einen Glasbehälter mit gelber Flüssigkeit getaucht, bei der es sich angeblich um seinen eigenen Urin handelte. Besonders empörte die Kritiker, dass die Ausstellung, bei der das Werk 1988 gezeigt wurde, mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes, des National Endowment for the Arts (NEA)(1), gefördert worden war. Christen finanzierten demnach mit ihren Steuern die Beleidigung ihrer religiösen Werte und Gefühle. Liberale verteidigten die Freiheit der Kunst und die staatliche Kulturförderung, aber konservative Politiker wollten der Stiftung die Mittel kürzen; 1990 band der Kongress die Förderung durch die NEA an die Auflage, dass Empfänger »Respekt vor der Vielfalt der Überzeugungen und Werte des amerikanischen Volkes« zeigten. Versuche der George-H.-W.-Bush-Administration(6), eine »Obszönitätsklausel« durchzusetzen, scheiterten am Einspruch des Supreme Courts(19). In ihrem Wahlprogramm von 1992 versprach die Republikanische Partei gleichwohl, die öffentliche Finanzierung von »Obszönität und Blasphemie, die sich als Kunst tarnt«, einzustellen.[12]
Alle Anstrengungen der Traditionalisten, Amerika wieder zu einer christlichen Nation zu machen, blieben freilich auch in den folgenden Jahrzehnten erfolglos. Zwar gelten die USA nicht zu Unrecht als Ausnahme vom allgemeinen Säkularisierungstrend westlicher Gesellschaften, und die Religiöse Rechte(10) bildet eine starke politische Kraft, für die es in Europa keine Entsprechung gibt. Doch gleichzeitig ist das Prinzip einer weitgehenden Trennung von Staat und Religion viel tiefer als in vielen Ländern Europas im Verfassungsdenken und in der politischen Kultur verankert, weil es in einer äußerst pluralistischen religiösen Landschaft schlechterdings unverzichtbar ist. Dies schließt große lokale und regionale Unterschiede nicht aus, die im amerikanischen Föderalismus angelegt sind und unter anderem dafür sorgen, dass im ländlichen Süden an Sonntagen vielerorts kein Alkohol verkauft werden darf.[13] Es bedeutet auch, dass sich in vielen religiösen Subkulturen traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen und Sexualmoral gehalten haben, die in scharfem Gegensatz zu den Emanzipationsidealen des liberalen Amerika stehen.
Dass Frauenrechte zum Katalysator der kulturellen Polarisierung wurden, war Anfang der 1970er-Jahre nicht absehbar. Der liberale, auf die Gleichberechtigung der Geschlechter zielende Feminismus(12) war, so schien es zumindest, auf dem Weg zum Mainstream. Seinen Siegeszug wollte er mit der Ratifizierung des sogenannten Equal Rights Amendment (ERA)(1) krönen, das die Verfassung der USA um folgende Bestimmung ergänzen sollte: »Die Gleichheit der Rechte vor dem Gesetz darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht aufgrund des Geschlechts versagt oder beschränkt werden.« Der Vorschlag ging in die 1920er-Jahre zurück und verfolgte damals das Ziel, den Neunzehnten Verfassungszusatz, der seit 1920 landesweit das Frauenwahlrecht vorschreibt, durch eine explizite Kodifizierung der Gleichheit der Geschlechter zu ergänzen; er fand aber keine ausreichende Unterstützung im Kongress. Die Bedenken kamen nicht zuletzt von Gewerkschaften(15) und Sozialreformerinnen, die befürchteten, eine schematische Gleichbehandlung werde besondere Schutzrechte für Frauen und Mütter unmöglich machen. Als die National Organization for Women (NOW)(3) das Projekt 1967 wiederbelebte, wirkten solche Einwände überholt. Frauen, so lautete die Botschaft der Feministinnen(13), gehörten keinem schutzbedürftigen, »schwachen Geschlecht« an; alles, was sie brauchten, waren gleiche Rechte und reale Chancengleichheit. Vor dem Hintergrund des emanzipatorischen Zeitgeistes erschien das ERA als politischer Selbstläufer. Da es in beiden großen Parteien kaum nennenswerte Opposition gab – strittig war vor allem, ob Frauen von der Wehrpflicht ausgenommen sein sollten –, stimmten beide Häuser des Kongresses dem Zusatzartikel mit Mehrheiten zu, die weit über das erforderliche Zweidrittelquorum hinausgingen. Nach der Annahme durch den Senat im März 1972 bekannte sich auch Präsident Richard Nixon(105) zum ERA und legte es den Bundesstaaten zur Ratifizierung vor. Innerhalb eines Jahres billigten die Legislaturen in dreißig Staaten die Verfassungsänderung; die zur Dreiviertelmehrheit fehlenden acht Stimmen schienen nur noch Formsache zu sein.[14]
Doch nun machten konservative Frauenorganisationen unter dem Slogan »Stop ERA« mobil. Die Führung übernahm Phyllis Schlafly(2), eine Aktivistin auf dem rechten Flügel der Republikanischen Partei, die 1964 Barry Goldwater(15) unterstützt und sich bis dahin vor allem als außenpolitischer Falke einen Namen gemacht hatte. Schlafly sang das Hohelied der traditionellen, gottgewollten Geschlechterrollen und pochte auf die »Privilegien« und Sicherheit, die Amerikas Frauen als Mütter, Ehefrauen und Hüterinnen der Familie angeblich genossen und die das ERA zerstören werde. Im Scheidungsfall hätten Ehemänner keine Unterhaltspflichten mehr, und Frauen verlören das Sorgerecht für ihre Kinder. Das Equal Rights Amendment, warnte Schlafly, sei eine Verschwörung, um Homosexualität(7) und die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren: »Das ERA verbietet es, ein Recht aufgrund des Geschlechts zu versagen oder zu beschränken. Wie kann man dann noch zwei Männern oder zwei Frauen den Trauschein verweigern?« Der geplante Verfassungszusatz werde der großen Mehrheit glücklicher Ehefrauen und Mütter die radikale Agenda einer elitären Minderheit aufzwingen, der es allein um ihre Selbstverwirklichung und »freien Sex« gehe.[15]
Phyllis Schlafly(3) war eine fromme Katholikin und sechsfache Mutter, entsprach ansonsten aber dem Bild der modernen »Karrierefrau«, die Familie, Beruf und politisches Engagement spielend miteinander zu vereinbaren wusste. Sie erwarb drei akademische Abschlüsse, gründete ihre eigene Lobbyorganisation und gab als scharfzüngiger Medienstar der konservativen Frauenbewegung Gesicht und Stimme. Wohl auch deshalb galt sie ihren Gegenspielerinnen als »Verräterin ihres Geschlechts«, wie ihr Betty Friedan(3), die erste Präsidentin von NOW, einmal bei einem Streitgespräch entgegenschleuderte und den Wunsch hinzufügte, Schlafly »auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen«. Eine andere Feministin(14) forderte öffentlich, ihr endlich mal »aufs Maul zu hauen«, und mindestens einmal wurde Schlafly(4) tätlich angegriffen.[16]
Das liberale Lager war zunächst siegesgewiss. Was sollte schon passieren, wenn der republikanische Präsident Gerald Ford(18) und First Lady Betty Ford(1) das ERA unterstützten und sogar Frauenzeitschriften wie Good Housekeeping für die Ratifizierung eintraten? Doch die Befürworter des ERA verkannten, dass Schlafly(5) und ihre Mitstreiterinnen keine Randfiguren waren, sondern in der langen Tradition eines konservativen weiblichen Aktivismus standen. Weiße Frauen der Mittelklasse hatten immer schon eine tragende Rolle gespielt, wenn es darum ging, Heim, Herd, Familie, Gott und Vaterland gegen den Kommunismus(21), die Rassenintegration und andere »unamerikanische« Umtriebe zu verteidigen, und sich dabei auf ihre Verantwortung als Mütter berufen. Es gab eben nicht nur eine feministische(15) Frauenbewegung, die für sich reklamierte, die Interessen aller Frauen zu vertreten, sondern auch eine konservative, die sich dagegen verwahrte. Im November 1977 kam es anlässlich der Nationalen Frauenkonferenz in Houston, Texas, zu einer Heerschau. Zu der Veranstaltung erschienen zusätzlich zu den 1000 Delegierten weitere 10 000 Unterstützerinnen. Die Konferenz verabschiedete, neben dem Aufruf zur raschen Ratifizierung des Equal Rights Amendment(6), eine umfassende Frauenrechtsagenda, die ein Recht auf Abtreibung(13) ebenso einschloss wie die Anerkennung der Rechte lesbischer Frauen. Doch parallel zur Nationalen Frauenkonferenz organisierten konservative Frauengruppen eine »Pro-Family«-Demonstration, bei der rund 20 000 Teilnehmerinnen Phyllis Schlafly(6) begeistert feierten, als sie deklamierte: »Die amerikanischen Frauen wollen kein ERA, keine Abtreibung, keine Rechte für Lesbierinnen und keine staatliche Kinderbetreuung.« Für Schlafly markierte Houston in der Rückschau den Wendepunkt im Kampf gegen das ERA, denn mit dem Bekenntnis zu »Abtreibung und Lesbianismus« hätten die women libbers ihr eigenes Schicksal besiegelt.[17]
Ende 1977 fehlten für die Annahme des neuen Zusatzartikels noch drei Bundesstaaten. Aber obwohl der US-Kongress die Ratifizierungsfrist noch einmal bis zum 30. Juni 1982 verlängerte, kam das Dreiviertelquorum nicht mehr zusammen, weil die Stop-ERA-Kampagne in den Südstaaten, von denen sich die meisten noch verweigerten, die Stellung hielt. Eine führende Feministin(16) räumte zähneknirschend ein, das Amendment sei nicht von »männlichen chauvinistischen Schweinen«, sondern von Frauen, denen die Werte des Feminismus als »elitär und vom Leben normaler Menschen abgehoben« erschienen, zu Fall gebracht worden.[18] Ob die Gegnerinnen des ERA gegen ihre eigenen Interessen handelten, ist ebenso umstritten wie die Frage, welchen Schaden dessen Scheitern der Sache der Gleichberechtigung zufügte. Immerhin erfasst die im Vierzehnten Verfassungszusatz garantierte Gleichheit vor dem Gesetz auch Geschlechterdiskriminierung, deren Verbot seit dem Civil Rights Act(13) von 1964 zudem in zahlreichen Bundesgesetzen festgeschrieben wurde. Dennoch hätte eine explizite Klausel zur Gleichberechtigung der Geschlechter hohen Symbolwert und vermutlich auch spürbaren Einfluss auf die Rechtsprechung gehabt. Wie fragil Rechte sind, die nicht explizit in der Verfassung stehen, sollte sich am »Recht auf Abtreibung(14)« zeigen.
Dass die Forderung nach einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen erhebliches Konfliktpotenzial birgt, kann nicht überraschen. Eine Abtreibung(15) beendet potenzielles menschliches Leben und wirft damit ethische und juristische Grundsatzfragen auf: Soll ein Fötus personale Rechte genießen und, wenn ja, ab welchem Stadium der Schwangerschaft? Soll das Recht von Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, im Konfliktfall Vorrang vor den Rechten des Fötus haben? Hat der Staat eine zwingende Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Lebens oder wenigstens ein legitimes Interesse daran, und welche strafrechtlichen Folgen ergeben sich daraus? Die amerikanische Gesellschaft steht mit diesen Fragen nicht allein, sie werden in allen westlichen Gesellschaften intensiv diskutiert und unterschiedlich beantwortet. So hat das deutsche Bundesverfassungsgericht niemals ein Recht auf Abtreibung anerkannt und unter Berufung auf die Schutzpflicht des Staates an deren Rechtswidrigkeit festgehalten, aber mit weitreichenden »Indikationen« in Verbindung mit einer Beratungspflicht eine Praxis sanktioniert, die auf eine straffreie Tolerierung von Abbrüchen innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen hinausläuft. Aus feministischer(17) Sicht mag dieser Kompromiss unbefriedigend erscheinen, doch spricht einiges dafür, dass er zur gesellschaftlichen Befriedung beigetragen hat.[19]
In den USA dagegen eskalierte die Abtreibungsfrage(16) zu einem hoch emotionalisierten Kulturkrieg, der nicht nur mit Worten ausgetragen wurde. Mit den Schlachtrufen »Pro-Choice« und »Pro-Life« verband sich ein Rechteabsolutismus, der wenig Raum für Kompromisse ließ. Für die radikalen Stimmen auf beiden Seiten war Abtreibung entweder Inbegriff weiblicher Selbstbestimmung, die keinerlei Einschränkung duldete, oder eine Todsünde und ein »Holocaust« an schutzlosen, ungeborenen Kindern, gegen den auch tödliche Gewalt gerechtfertigt war. »Wenn hundert Ärzte sterben, um eine Million Babys zu retten«, befand ein katholischer Priester, »ist das fair.« Die Meinungsumfragen zur Abtreibung(17) seit den 1970er-Jahren zeigen aber, dass eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner eher pragmatische Positionen eingenommen hat. Zwischen fünfzig und sechzig Prozent der Befragten billigten legale Schwangerschaftsabbrüche bei Gefahr für das Leben der Mutter, schweren Missbildungen des Fötus, Vergewaltigung und Inzest. Zwischen einem Viertel und einem Drittel wollte sie ohne Beschränkungen erlauben, während 15 bis zwanzig Prozent sich für ein striktes Verbot aussprachen. Eine klare Mehrheit von über sechzig Prozent befürwortete eine generelle Freigabe in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten, während eine ebenso große Mehrheit für ein grundsätzliches Verbot nach dem dritten Monat plädierte. Ein Kompromiss hätte sich demnach wohl auf breite Zustimmung stützen können, doch tatsächlich wurde der Konflikt zwischen dem »Recht auf freie Entscheidung« und dem »Recht auf Leben« zum Paradebeispiel dafür, wie sich die Kombattanten der Kulturkriege in moralischen Parallelwelten einrichteten.[20]
Das Urteil in Roe v. Wade vom 22. Januar 1973, mit dem der Oberste Gerichtshof(20) das Recht auf Abtreibung(18) verfassungsrechtlich etablierte, stellte den Versuch dar, einen tragfähigen Konsens zu formulieren. Das Gericht machte gleich mehrfach klar, dass das Recht auf Abtreibung(19) nicht absolut gilt, sondern gegen die legitimen Interessen des Staates am Schutz der Gesundheit der Frauen und des vorgeburtlichen Lebens abgewogen werden muss. Erst wenn der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sei, kämen ihm Persönlichkeitsrechte zu, und erst von diesem Zeitpunkt an dürfe der Staat die Abtreibung grundsätzlich verbieten. In den ersten drei Schwangerschaftsmonaten habe die Frau das alleinige Entscheidungsrecht, im zweiten Trimester erstrecke sich die staatliche Regulierungskompetenz lediglich auf die medizinischen Standards der Prozedur. Aber woher nahm die Mehrheit von sieben Richtern das Recht auf Abtreibung(20), über die der Verfassungstext gar nichts sagt? Das Gericht argumentierte, die Verfassung als Ganze und insbesondere die im Vierzehnten Verfassungszusatz von 1868 niedergelegten Garantien der persönlichen Freiheit schützten eine unantastbare Privatsphäre, ein implizites right to privacy, »das weit genug reicht, um die Entscheidung einer Frau einzuschließen, ob sie ihre Schwangerschaft abbricht oder nicht«.[21]
Tatsächlich war das right to privacy gar kein neues Konzept. Der Oberste Gerichtshof(21) hatte es bereits mehrfach angeführt, um das Individuum gegen die staatliche Reglementierung der persönlichen Lebensführung zu stärken, so 1965 in einer Entscheidung zur Legalisierung von Verhütungsmitteln. Doch in Roe machte sich die Mehrheit kaum die Mühe zu begründen, warum aus der Verfassung ein Schutz der Privatsphäre folgt und warum darunter auch ein Recht auf Abtreibung(21) fällt. Dass der Supreme Court willkürlich ein neues Recht in die Verfassung hineingelesen habe, geißelte Richter Byron White(1) in seinem abweichenden Votum daher als »Ausübung roher richterlicher Gewalt«. Amerikas konservativen Verfassungsjuristen galt Roe v. Wade fortan als Inbegriff einer aktivistischen Judikative, die sich an die Stelle des demokratisch gewählten Gesetzgebers setzte. Abtreibungsgegner verglichen das Urteil mit der berüchtigten Dred-Scott-Entscheidung aus dem Jahre 1857, als der Oberste Gerichtshof(22) freien Schwarzen grundsätzlich die Bürger- und Persönlichkeitsrechte verweigert hatte, und prophezeiten, die Nation werde für das erneute Fehlurteil einen schrecklichen Preis zahlen – Dred Scott ging als Brandbeschleuniger des Bürgerkrieges in die Geschichte ein.[22]
Der Widerstand gegen Roe ging anfangs von der katholischen Kirche aus, während die Evangelikalen(11) sich noch zurückhielten. Doch bis Ende der 1970er-Jahre formierte sich eine breite überkonfessionelle Massenbewegung. Die größte Dachorganisation, das National Right to Life Committee, hatte mehrere Millionen Mitglieder und Ortsgruppen in allen fünfzig Bundesstaaten. Wie im Kampf gegen das ERA bildeten religiöse Frauen das organisatorische Rückgrat, doch beschränkte sich die Bewegung nicht auf die weiße Mittelklasse. Neben der allgegenwärtigen Phyllis Schlafly(7) spielte die afroamerikanische Ärztin Dr. Mildred Jefferson(1) – die erste schwarze Frau, die ein Medizinstudium in Harvard absolviert hatte – eine führende Rolle. Jefferson hielt Schwangerschaftsabbrüche für unvereinbar mit dem hippokratischen Eid, und sie befürchtete, dass Abtreibungen(22), ähnlich wie die in vielen US-Bundesstaaten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts praktizierten Zwangssterilisationen, gezielt eingesetzt werden könnten, um die afroamerikanische Bevölkerung zu dezimieren. Auch liberale Katholikinnen und Protestantinnen engagierten sich gegen die Abtreibung, verbanden damit aber die Forderung nach besserer sozialer und medizinischer Unterstützung für schwangere Frauen.[23] Seit Mitte der 70er-Jahre wurde der kompromisslose Kampf gegen die Abtreibung zum zugkräftigsten Schlachtruf der Religiösen Rechten(11). Teile der Pro-Life-Bewegung radikalisierten sich und erklärten der »Kindermordindustrie« den Krieg. Morddrohungen und Psychoterror gegen Klinikpersonal und Ärzte waren bald an der Tagesordnung, und Worten folgten Taten. Zwischen 1978 und 2015 kamen bei Mordanschlägen auf medizinisches Personal in Abtreibungskliniken mindestens elf Menschen ums Leben. Die Behörden registrierten weitere 26 Mordversuche, weit über 200 Brand- und Sprengstoffanschläge sowie mehr als 1500 größere Sachbeschädigungen. Feministinnen(18) verlangten, die Täter als Terroristen einzustufen, aber viele Gerichte ließen Milde walten, solange niemand getötet oder verletzt wurde. Erst als die Clinton(11)-Administration die Strafverfolgung durch das FBI verschärfte, kam es zu mehr Verurteilungen und härteren Strafen. In Florida wurde 2003 ein Attentäter, der einen Arzt und dessen Leibwächter ermordet hatte, hingerichtet.[24]
Die Mehrheit der Pro-Life-Bewegung distanzierte sich von den Gewalttaten und setzte auf politische Strategien. Versuche vieler Einzelstaaten, das Roe-Urteil durch neue Gesetze zu umgehen, wurden allerdings zunächst von den Bundesgerichten kassiert. Initiativen, die Abtreibung(23) durch einen Verfassungszusatz zu verbieten, der das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis an unter den Schutz des Staates stellen sollte, hatten aufgrund der hohen Hürden für eine Verfassungsänderung nie realistische Erfolgschancen. Daher konzentrierte sich die Bewegung auf zwei Ziele. Erstens sollten Gesetze in den Einzelstaaten Abtreibungen so weit wie möglich erschweren, etwa durch verpflichtende Wartezeiten sowie Einverständniserklärungen der betroffenen Ehemänner bzw. bei Minderjährigen der Eltern. Der Supreme Court(23) ließ diese Bestimmungen zwar teilweise passieren, bestätigte aber in einem Grundsatzurteil von 1992 ausdrücklich das Entscheidungsrecht der Frau, dem der Gesetzgeber keine übermäßigen Hindernisse in den Weg legen dürfe. Dieses Prinzip hatte, auch wenn es nachfolgende Urteile immer enger fassten, bis 2022 Bestand.[25]
Zweitens richteten sich die Anstrengungen darauf, durch die Ernennung konservativer Richterinnen und Richter eine Mehrheit am Obersten Gerichtshof(24) herzustellen, die das verhasste Urteil in Roe v. Wade revidieren sollte. Der Supreme Court war mit seinen Entscheidungen zur Desegregation der Schulen, zum Verbot des morgendlichen Gebets in öffentlichen Schulen und zur Legalisierung von Pornografie(3) längst zum Feindbild vieler Konservativer geworden, die Front dagegen machten, dass liberale Richter immer mehr Rechte in der Verfassung entdeckten, die weder im Text standen noch vom Verfassungsgeber jemals intendiert waren. Mit Roe erhielt die Politisierung des Verfassungsgerichts jedoch eine neue Qualität. Seit Ronald Reagan(26) versprachen republikanische Präsidentschaftskandidaten, Pro-Life-Juristen zu nominieren, und bei fast jeder Anhörung von Kandidatinnen oder Kandidaten vor dem Senat wurde die Haltung in der Abtreibungsfrage(24) zum Lackmustest. Allerdings stellte sich auch heraus, dass die Richterinnen und Richter keine willfährigen Werkzeuge der Präsidenten waren, denen sie ihre Ernennung verdankten. Sandra Day O’Connor(1), die von Ronald Reagan nominierte erste Frau am Supreme Court(25), votierte ebenso für die Beibehaltung von Roe wie David Souter(1), den George H. W. Bush(7) vorgeschlagen hatte. Bis 2017 stand die knappe Mehrheit, doch dann erhielt Donald Trump(16) die Gelegenheit, gleich drei neue Richterstellen neu zu besetzen. Im Juni 2022 erklärte das Gericht im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization mit einer Mehrheit von sechs zu drei Stimmen das Urteil von 1973 schließlich für ungültig. Richter Samuel Alito(1), der Autor der Urteilsbegründung, bezeichnete Roe als »von Anfang an empörend falsch«, weil das angebliche Recht auf Abtreibung weder in der Verfassung noch in der amerikanischen Rechtstradition verwurzelt sei. Daher liege es im Ermessen der Gesetzgeber in den Einzelstaaten, ob sie Abtreibungen(25) verbieten und unter Strafe stellen wollen. Damit ist die Rechtslage, die vor 1973 herrschte, wiederhergestellt.[26]
Dobbs löste erwartungsgemäß eine Protestwelle des Pro-Choice-Lagers aus, aber tatsächlich war das Recht auf Abtreibung schon lange zuvor unterhöhlt worden. Zwischen 1973 und 1980 hatte sich die Zahl der legalen Abtreibungen von 750 000 auf 1,5 Millionen pro Jahr verdoppelt, doch in den folgenden Jahrzehnten sank sie trotz wachsender Bevölkerung wieder auf rund eine Million. Der Rückgang war nur zum Teil verbesserter Sexualaufklärung und leichterem Zugang zu Verhütungsmitteln zu verdanken, er spiegelte auch die drastische Einschränkung des Angebots. Bereits zwei Jahre nach Roe gab es in allen Bundesstaaten Kliniken, die Abtreibungen vornahmen, doch 35 Jahre später fanden sich nur noch in dreizehn Prozent aller Countys der USA Arztpraxen oder Kliniken, die dazu bereit waren. Ein Drittel aller legalen Abtreibungen entfiel auf Kalifornien und New York, während Frauen in ländlichen Bundesstaaten und Regionen kaum noch Zugang zu professionell durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen hatten. Für die massenhafte Schließung von Kliniken waren neben gesetzlichen Einschränkungen auch die permanenten Drohungen verantwortlich, denen sich das medizinische Personal ausgesetzt sah. Ein spektakulärer Fall ereignete sich 2009 in Wichita, Kansas, wo der Arzt Dr. George Tiller, der bereits 1993 ein Attentat überlebt hatte, in seiner Kirche erschossen wurde, dem einzigen Ort, wo er sich noch sicher gefühlt hatte.[27]
Dass die Republikaner den Kampf gegen Roe v. Wade zu ihrem politisch-ideologischen Projekt machten, war nicht von vorneherein ausgemacht. Der libertäre Parteiflügel um Barry Goldwater(16) befürwortete ein Recht auf Abtreibung(26) ebenso wie die Liberalen um Vizepräsident Nelson Rockefeller(4) und First Lady Betty Ford(2). Doch als Ronald Reagan(27) 1976 das Bündnis mit der Religiösen Rechten(12) einging, schwenkte auch Präsident Gerald Ford(19) auf die Pro-Life-Linie ein, die in den kommenden Jahrzehnten zum programmatischen Kernbestand der GOP wurde. Bei den Demokraten wiederum stieß Roe insbesondere bei der katholischen Anhängerschaft auf Kritik. Aber je mehr Einfluss der Feminismus(19) in der Partei gewann, umso mehr wuchs der Druck auf ihre führenden Repräsentanten, sich Pro-Choice zu positionieren. Der katholische Senator Edward Kennedy(3) aus Massachusetts wechselte 1975 die Seiten, und der wiedergeborene Evangelikale(12) Jimmy Carter(26) bekannte im Wahlkampf 1976 zwar seine persönliche Ablehnung der Abtreibung, sprach sich aber gegen einen Verfassungszusatz zum Schutz des ungeborenen Lebens aus. Spätestens mit Beginn der Reagan(28)-Ära erhielt die Haltung zur Abtreibung(27) eine klare parteipolitische Etikettierung. Die Demokraten als Partei des liberalen Individualismus und der Frauenrechte standen von nun an gegen die Republikaner als Partei der traditionellen christlichen Familienwerte.[28]
Dass die Pro-Life-Bewegung über Jahrzehnte hinweg eine starke politische Kraft blieb und schließlich ihr Hauptziel, die Revision von Roe v. Wade, erreichte, ist aus liberaler Perspektive auch deshalb so schwer zu akzeptieren, weil dieser Triumph allen gesellschaftlichen Trends zu widersprechen scheint. Spätestens um die Wende zum 21. Jahrhundert war der liberale Feminismus(20) zum Mainstream geworden, mit dem sich eine Mehrheit der amerikanischen Frauen identifizierte. Mehr noch, seit den späten 1980er-Jahren sprachen sich bei Meinungsumfragen konstant um die sechzig Prozent der Befragten für die Beibehaltung von Roe aus. Die Kritiker des Supreme Courts(26) sehen die Dobbs-Entscheidung daher als Teil einer konservativen Kampagne, die gesellschaftspolitischen Uhren zurückzudrehen und der Mehrheit die Moralvorstellungen einer Minderheit aufzuzwingen. Die Klagen über den Machtmissbrauch des Gerichts sind freilich nicht ganz aufrichtig, denn solange am Obersten Gerichtshof(27) eine liberale Jurisprudenz dominierte, konnte er dem progressiven Lager gar nicht mächtig genug sein. Im feministischen(21) Diskurs erhielt Roe einen quasi-sakralen Status, der die offensichtlichen verfassungsrechtlichen Schwächen und Grenzen der Entscheidung kaschierte. Denn niemandem konnte verborgen bleiben, auf welch schwankendem Grund ein Recht steht, dessen Geltung von wenigen Richterstimmen abhängt.[29]
In seiner Urteilsbegründung zu Dobbs betonte Richter Alito(2) ausdrücklich, die Entscheidung tangiere nicht andere Urteile, in denen sich das Gericht ebenfalls auf das right to privacy gestützt hatte. Sein Kollege Clarence Thomas(1) verlangte dagegen in seinem zustimmenden Votum, das Gericht müsse nun auch die verfassungsrechtliche Legalisierung von homosexuellen(8) Handlungen (2003) und gleichgeschlechtlichen Eheschließungen (2015) rückgängig machen, weil die Verfassung überhaupt kein Recht auf Privatsphäre kenne. Analog zur Rechtslage nach Dobbs würde dies bedeuten, dass die Einzelstaaten wieder darüber entscheiden dürfen, ob sie Homosexualität kriminalisieren und Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern verbieten. Wie im Falle der Abtreibung(28) würde eine solche Entwicklung eine Kehrtwende einleiten, die konträr zum gesellschaftlichen Mentalitätswandel der vergangenen Jahrzehnte läge und die USA in einen rechtspolitischen Flickenteppich verwandeln würde.
Auch nach der sexuellen Revolution der Sixties und dem Aufkommen einer kämpferischen Gay-Rights-Bewegung blieb Homosexualität(9) noch lange Zeit ein Tabu. Zwar entstanden in Metropolen wie New York City, Washington, D. C., und San Francisco lebendige Subkulturen, doch offen gelebte Homosexualität barg weiterhin das Risiko sozialer Stigmatisierung, beruflicher Diskriminierung und Viktimisierung durch schwulenfeindliche Gewalt. Immer wieder geschahen Hassverbrechen gegen Homosexuelle wie 1998 in Wyoming, wo Schwulenhasser einen jungen Mann zu Tode folterten. In vielen Bundesstaaten galten weiterhin offiziell Gesetze, die konsensuale homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen mit Gefängnisstrafen bedrohten, auch wenn diese sogenannten sodomy laws nur selten angewandt wurden. Noch 1986 entschied der Oberste Gerichtshof(28) mit knapper Mehrheit, dass die Verfassung »kein fundamentales Recht auf homosexuelle Sodomie« kenne und die einzelstaatlichen Gesetzgeber diese daher verbieten dürften. Die moralische Missbilligung der Homosexualität, die in der Entscheidung anklang, entsprach durchaus der Haltung der amerikanischen Bevölkerung, die sich zu diesem Zeitpunkt noch mit deutlicher Mehrheit gegen eine Legalisierung der Homosexualität aussprach.[30]
Politische Maßnahmen, die Diskriminierung homosexueller(10) Männer und Frauen zu beenden, blieben ein Reizthema. Die Religiöse Rechte(13) geißelte Homosexualität als Sünde und Perversion, vor der Amerikas Kinder geschützt werden müssten. Als die Clinton(12)-Administration 1993 ein Wahlversprechen einlösen und den Ausschluss von Homosexuellen aus dem Militär beenden wollte, stieß sie auf massiven Widerstand seitens der Militärführung, des Kongresses und der Öffentlichkeit. Am Ende einigte man sich auf einen faulen »don’t ask – don’t tell«– Kompromiss, der es dem Militär untersagte, nach der sexuellen Orientierung von Soldatinnen und Soldaten zu fragen, solange diese nicht darüber redeten und keine homosexuellen Handlungen begingen. Grundsätzlich galten Homosexuelle(11) jedoch weiterhin als Bedrohung für Moral und Disziplin der Truppe und konnten aus dem Dienst entfernt werden. Bis Präsident Obama(10) 2011 die Praxis beendete, waren rund 13 000 Soldatinnen und Soldaten aus diesem Grund entlassen worden.[31]
Solange noch nicht einmal die Entkriminalisierung homosexueller(12) Handlungen erreicht war, hielt sich die Gay-Rights-Bewegung mit der Forderung nach einem Recht auf gesetzlich anerkannte Eheschließung zurück. Doch in den 1990er-Jahren mehrten sich einschlägige Stimmen, sodass die Republikaner 1996 ein »Gesetz zum Schutz der Ehe« in den Kongress einbrachten, das die Ehe als »Bund zwischen einem Mann und einer Frau« definierte und die Bundesstaaten von der Verpflichtung dispensierte, gleichgeschlechtliche Ehen anzuerkennen – eine solche in Kalifornien geschlossene Ehe hätte demnach in Alabama keine Geltung. Das Gesetz passierte den Kongress mit breiter überparteilicher Mehrheit, und Präsident Clinton(13) unterzeichnete es, obwohl er es für unnötig hielt. Tatsächlich lehnten 1996 noch gut zwei Drittel aller Amerikanerinnen und Amerikaner die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen ab, und eine relative Mehrheit von knapp fünfzig Prozent votierte weiterhin gegen die Legalisierung homosexueller Beziehungen. Dass sich sowohl das Meinungsklima als auch die Rechtslage nach der Jahrhundertwende völlig umkehren würden, hätten wohl selbst die Optimisten in der Gay(13)-Rights-Bewegung kaum erwartet.[32]
Paradoxerweise trug die AIDS-Epidemie, die sich seit Mitte der 1980er-Jahre rasant unter homosexuellen(14) Männern verbreitete, zu diesem Umschwung bei. Die Religiöse Rechte(14) wütete, AIDS sei die Strafe Gottes für das sündhafte Leben der Schwulen, und anfangs wurden Forderungen nach umfassenden Quarantänemaßnahmen laut. Umgekehrt weigerten sich viele Gay-Rights-Aktivisten zunächst, den Zusammenhang zwischen riskanten Sexualpraktiken und der Übertragung des Virus anzuerkennen, und beschuldigten die Reagan(29)-Regierung, den Kampf gegen AIDS bewusst zu sabotieren. Doch bald riefen auch Schwulenorganisationen zu verantwortlichem Sex auf und organisierten große öffentlichkeitswirksame Aktionen wie den AIDS-Quilt zur Erinnerung an die Opfer der Epidemie, der im Oktober 1996 auf der National Mall in Washington ausgestellt wurde und weit über eine Million Besucher anzog. Bereits 1993 hatte Hollywood mit dem Film Streets of Philadelphia das Leiden und Sterben eines aidskranken homosexuellen(15) Mannes und seinen verzweifelten Kampf um Liebe und Anerkennung in Szene gesetzt. Dass Hunderttausende an der Immunschwächekrankheit litten und starben, darunter Freunde, Nachbarn und Familienangehörige, weckte auf breiter Front Empathie und führte zur Liberalisierung der Einstellungen gegenüber Homosexualität.[33]
Auch der Supreme Court(29) revidierte seine Rechtsprechung und entschied 2003, dass die verfassungsrechtlich geschützte Privatsphäre das Recht auf einvernehmliche homosexuelle(16) Beziehungen einschließe. Zehn bzw. zwölf Jahre später folgten die Urteile, die den Defense of Marriage Act von 1996 sowie zahlreiche einzelstaatliche Gesetze gegen same-sex-marriage für verfassungswidrig erklärten. Das Gericht berief sich dabei auf ein fundamentales Recht auf Eheschließung, das es bereits 1967 anerkannt hatte, als es Heiratsverbote zwischen Schwarzen und Weißen zum Verstoß gegen die Verfassung erklärt hatte. Das Recht auf einen stabilen, vom Staat geschützten Bund dürfe gleichgeschlechtlichen Eheleuten nicht verweigert werden. Dieser Auffassung war inzwischen auch eine Mehrheit der US-Bevölkerung, und nachdem der Supreme Court(30) seinen Segen gegeben hatte, stieg die Zustimmung kontinuierlich auf über siebzig Prozent; mehr als achtzig Prozent der Befragten hatten auch keine Bedenken gegen Schwule und Lesben in den Streitkräften. Seit 2009 fällt schwulenfeindliche Gewalt unter das Bundesstatut gegen Hassverbrechen, und inzwischen verbieten zahlreiche Gesetze auf Bundes- und Einzelstaatsebene Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.[34]
Die radikal veränderten Einstellungen gegenüber Homosexuellen(17) und Homosexualität spiegeln nicht nur den Generationenwechsel, sondern auch einen Sinneswandel bei Millionen Menschen wider; 2013 bekannten 36 Prozent der Befragten, sie seien persönlich toleranter geworden. Je mehr Prominente aus Medien, Sport und Politik sich »outeten«, umso weiter schritt die »Normalisierung« fort. Nun akzeptierte auch die große Mehrheit der Amerikaner, dass in ihrem persönlichen Umfeld homosexuelle Personen lebten, während dies in den 80er-Jahren noch nicht einmal ein Viertel wahrhaben wollte. Die Akzeptanz der Homosexualität ist Teil des individualistischen amerikanischen Freiheitsverständnisses geworden, das die Gleichheit der Rechte und Chancen nun auch auf eine lange stigmatisierte Minderheit ausgedehnt hat. Dazu trug ganz wesentlich bei, dass die Gay Community den Kampf um die gleichgeschlechtliche Ehe im Namen traditioneller Familienwerte führte. Homosexuelle Paare, so die Botschaft, wollten dasselbe wie heterosexuelle Paare, von denen sie sich nur durch ihre sexuelle Orientierung unterschieden. Dieser Diskurs war so überzeugend, dass inzwischen drei Viertel der Amerikaner keine Einwände mehr dagegen haben, wenn gleichgeschlechtliche(18) Paare Kinder adoptieren, so wie dies 2021 US-Verkehrsminister Pete Buttigieg(1) und sein Ehemann taten. Buttigieg, ein Veteran der US-Navy und praktizierender Christ, galt im Vorwahlkampf 2019/20 zeitweilig sogar als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Demokraten.[35]
Viele Historiker werten die in den vergangenen Jahrzehnten erreichte rechtliche Gleichstellung und soziale Akzeptanz von Homosexuellen(19) als revolutionäre Fortschritte. Dieser Kulturkrieg, so ließe sich resümieren, ist mit einem klaren Sieg des »neuen Amerika« zu Ende gegangen.[36] Doch so wenig die Abschaffung der Rassentrennung den Rassismus beendete, so wenig sind Homophobie und schwulenfeindliche Gewalt aus dem amerikanischen Alltag verschwunden. Nach wie vor gibt es ein konservatives religiöses Milieu, das Homosexualität(20) als Sünde wider das göttliche Gebot verurteilt und ihre Anerkennung politisch bekämpft. Und seit der Dobbs-Entscheidung zur Abtreibung(29) wächst die Befürchtung, dass der Supreme Court(31) die Rechte wieder kassieren könnte, die er zuvor gewährt hatte.
Dass von einer Befriedung der Geschlechterkriege keine Rede sein kann, liegt freilich nicht allein an den Rückzugsgefechten der Religiösen Rechten(15), sondern auch an der Dynamik der Rights Revolution, die immer neue Ansprüche auf symbolische Anerkennung und kodifizierte Rechte erzeugt. In dieser Logik erscheint es folgerichtig, dass auch sogenannte Transgender(1)-Personen, also Menschen, deren empfundene Geschlechtsidentität nicht ihren biologischen Geschlechtsmerkmalen entspricht, die rechtliche und soziale Anerkennung ihrer besonderen Interessen und Bedürfnisse einfordern. Transsexuelle bzw. Transgender-Personen sind historisch Opfer von Diskriminierung und teilweise grausamer medizinischer Disziplinierung geworden, und sie werden häufig Opfer gewalttätiger Übergriffe. Neuere Meinungsumfragen in den USA zeigen eine ganz überwiegende Bereitschaft zur gesellschaftlichen Anerkennung, auch wenn eine knappe Mehrheit Vorbehalte gegen Geschlechtsumwandlungen hegt.[37]
Daher mag es verwundern, dass das Thema Transgender(2) zum Schlachtfeld eines neuen, erbitterten Kulturkrieges werden konnte, denn Studien zufolge bekennen sich gerade einmal 0,6 Prozent der US-Bevölkerung zu einer »nicht-binären« Geschlechtsidentität. Doch bei näherem Hinsehen spiegeln auch diese Auseinandersetzungen die soziokulturellen Konfliktlinien des frühen 21. Jahrhunderts. Während die Bewegung für Transgender-Rechte sich als konsequente Fortführung des Kampfes gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie(21) versteht, handelt es sich aus Sicht ihrer Kritiker um den Versuch einer kleinen, lautstarken Minderheit, der Mehrheit abstruse »Gendertheorien« mit weitreichenden Konsequenzen aufzuzwingen, inklusive einer künstlichen, angeblich diskriminierungsfreien Sprache. Biologische Geschlechtsmerkmale und Fortpflanzungsfähigkeit sollen plötzlich irrelevant oder zumindest sekundär gegenüber dem »sozialen Geschlecht« bzw. der subjektiven individuellen Geschlechtsidentität sein, und das Festhalten am Konzept zweier biologischer Geschlechter wird als Äquivalent zum Rassismus scharf attackiert.[38]
Die Gendertheorie war in der Tat zunächst das Projekt einer kleinen intellektuellen Elite. Sie wurzelt im Sozialkonstruktivismus, der sich in den vergangenen Jahrzehnten auf breiter Front in den Sozial- und Kulturwissenschaften durchgesetzt und das Bewusstsein dafür geschärft hat, dass die aus den vermeintlich natürlichen Kategorien Geschlecht und Rasse abgeleiteten Rollenbilder und Stereotypen historisch und kulturell variabel sind. Das Gender-Paradigma, dem zufolge Geschlechteridentitäten, genauso wie sexuelle Orientierungen, fluide sind und sich nicht auf die »Binarität« von männlich und weiblich reduzieren lassen, soll die »heteronormative« Geschlechterordnung und ihre Unterdrückungsmechanismen diskreditieren und überwinden. Judith Butler(1), die wohl prominenteste Gendertheoretikerin der Gegenwart, argumentierte, es gebe überhaupt keine Geschlechter außerhalb »performativer Akte« und die »Konstruktion der Kategorie Frau« reproduziere lediglich patriarchalische Normen.[39]
Dass dieses Programm weithin als Frontalangriff auf traditionelle Wertvorstellungen empfunden wird, liegt auf der Hand. Doch Widerstand kommt nicht nur von religiösen Gegnern und den Kirchen, die darauf beharren, Gott habe den Menschen als Mann und Frau erschaffen. Auch Liberale argwöhnen, es handele sich, aller Rhetorik von Gleichberechtigung und Vielfalt zum Trotz, um ein ideologisches Umerziehungsprogramm der identitätspolitischen Linken. Feministinnen(22) wiederum fürchten, dass Frauenrechte in Gefahr geraten, wenn es keine objektiven Kriterien mehr gibt, wer überhaupt eine Frau ist, und Männer sich beliebig zu Frauen erklären können.[40]
Umso bemerkenswerter ist es, wie schnell sich eine anfangs randständige akademische Theorie durchsetzen konnte. An den Universitäten ist die Gendertheorie binnen kurzem zur neuen Orthodoxie geworden und gilt als Ausweis fortschrittlicher, aufgeklärter Gesinnung. Aber auch den Rest der Gesellschaft stellt sie vor konfliktträchtige Herausforderungen: Welche rechtlichen Konsequenzen soll der Wechsel der Geschlechtsidentität haben? Dürfen Transgender-Personen(3) nach Geschlecht getrennte öffentliche Einrichtungen, z. B. Toiletten oder Umkleideräumen, gemäß ihrer empfundenen Identität benutzen? Dürfen sie an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen, wenn ihnen ihr Identitätswechsel einen eindeutigen Vorteil verschafft? Soll die Gendertheorie in der Schule gelehrt werden, um Toleranz zu fördern, oder handelt es sich dabei um Indoktrination, die bei jungen Menschen einen Nachahmungseffekt auslöst? Ab welchem Alter darf Heranwachsenden eine medizinische Behandlung mit dem Zweck der Geschlechtsumwandlung gewährt werden? Über diese und andere einschlägige Fragen wird (nicht nur) in den USA seit rund eineinhalb Jahrzehnten erbittert gestritten. Und wie im amerikanischen Föderalismus üblich, haben die Antworten zu einem rechtspolitischen Labyrinth geführt. So verzichten die meisten Bundesstaaten inzwischen auf die zuvor geforderte chirurgische Geschlechtsumwandlung als Voraussetzung für eine Änderung amtlicher Dokumente wie Geburtsurkunden und Führerscheine, während andere sich beharrlich weigern, den Wechsel der Geschlechtsidentität überhaupt rechtlich anzuerkennen. Die Bundesbehörden wiederum erlauben für Reisepässe seit 2021 ein »X« für divers. Ein Jahr zuvor hatte der Oberste Gerichtshof(32) festgestellt, dass das gesetzliche und verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes auch Transgender-Personen(4) schützt. Dass sich konservative Bundesstaten mit zahlreichen Gesetzesinitiativen weiterhin gegen besondere Schutzbestimmungen wehren, veranlasst liberale Staaten zu Gegenmaßnahmen. So verbietet Kalifornien Dienstreisen in 23 andere Staaten, wo Gesetze gelten, die der kalifornische Gesetzgeber als Diskriminierung gegen die LGTB-Community betrachtet.[41]
Wie sehr das Thema zum symbolpolitischen Spielball geworden ist, zeigt sich daran, dass Präsident Donald Trump(17) kurz nach seinem Amtsantritt die Direktive seines Vorgängers, die Transgender-Personen(5) uneingeschränkt den Dienst im US-Militär gestattet hatte, rückgängig machte. Trumps Nachfolger Joseph Biden(1) wartete wiederum keine Woche damit, Trumps(18) Dekrete aufzuheben. Warum sich die Republikanische Partei als Sammelbecken des normativen Amerikas gegen Gendertheorie und Transgender-Rechte stemmt, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Doch dass die Demokraten sich einer Sache verschrieben haben, von der sie bis vor kurzen befürchten mussten, sie werde Wähler der Mitte verprellen, erstaunt. Wie konnte es einer zwar gut organisierten, doch marginalen Minderheit gelingen, auf der Basis einer kontroversen akademischen Theorie so große Diskursmacht zu erringen, dass ihre Forderungen und Interessen Teil des politischen und kulturellen Mainstreams wurden? Wie die soziale Akzeptanz der Homosexualität(22) liegt auch die Anerkennung der Transgender-Rechte(6) in der Konsequenz der fortschreitenden Individualisierung. Eine liberale Gesellschaft, die von der Norm individueller Selbstbestimmung und Selbstoptimierung geleitet ist, kann und will niemandem mehr verweigern, die eigenen subjektiven Lebensentwürfe auch dann zu verwirklichen, wenn diese einen radikalen Bruch mit herrschenden Wertvorstellungen darstellen. Als einziger normativer Maßstab verbleiben potenzielle Konflikte mit den Rechten Dritter, und wo die Grenzen verlaufen, muss jeweils austariert werden.
Die Gendertheorie ist Teil einer radikalen Kritik der westlichen Moderne und ihrer Konzepte von Rationalität und Wissenschaft, für die sich die Bezeichnung »postmodern« eingebürgert hat und die seit dem späten 20. Jahrhundert das intellektuelle Klima in der akademischen Welt Nordamerikas und Westeuropas maßgeblich prägt. Wahrheitsansprüche sind demnach Machtansprüche, die es zu dekonstruieren gilt. Bei vermeintlich stabilen biologischen Kategorien wie Rasse und Geschlecht handelt es sich um soziokulturelle Konstruktionen. Die »Meistererzählungen« von Freiheit, Fortschritt und Demokratie verschleiern eine Geschichte der Unterdrückung, in Wirklichkeit gründet sich die westliche Moderne auf Kapitalismus, Kolonialismus, Rassismus und das Patriarchat. Statt die Taten und Ideen »toter weißer Männer« zu kanonisieren, müsse eine kritische Wissenschaft den Erfahrungen und Perspektiven der »Subalternen« eine Stimme geben. Im Unterschied zur alten marxistischen(11) Orthodoxie, die den weißen, männlichen Proletarier privilegiert hatte, stellte die postmoderne Kritik Minderheiten und Frauen ins Zentrum. Daraus, dass sie ihre spezifischen Identitäten akzeptierten, sollten die Unterdrückten Kraft und Selbstermächtigung im Kampf gegen ihre Marginalisierung ziehen.[42]
Aus Sicht von Traditionalisten stellten diese Entwicklungen einen Frontalangriff auf die Werte und den Kanon der westlichen Kultur dar. In seinem vielbeachteten Buch The Closing of the American Mind (dt. Der Niedergang des amerikanischen Geistes) attackierte der Philosoph Allan D. Bloom(1) 1987 den angeblichen Kulturrelativismus und die Verwässerung intellektueller Standards in den modernen Universitäten. Blooms Antagonisten kanzelten das Buch als Lamento eines Kulturpessimisten ab, der nicht wahrhaben wolle, dass es sich in Wirklichkeit um eine »Öffnung des amerikanischen Geistes« handelte, wie der Kulturhistoriker Lawrence Levine seine Replik betitelte – eine Öffnung für neue Ideen, Perspektiven und Fragestellungen ebenso wie für Minderheiten und Frauen. Bloom, so Levines Verdacht, wolle vor allem die intellektuellen und sozialen Hierarchien der Vergangenheit konservieren.[43] In der Tat wirkte die Privilegierung der westlichen Zivilisation aus der Zeit gefallen, aber der Gegenseite ging es nicht nur um eine Erweiterung des kulturellen Kanons, sondern auch um die Legitimität gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen. Das betraf nicht zuletzt die Universitäten selbst, wo Konservative sich in den Geistes- und Kulturwissenschaften zunehmend isoliert fühlten und Zuflucht in der »Gegenakademie« von Denkfabriken wie der Heritage Foundation(2) und dem American Enterprise Institute(1) suchten.[44]
Die Öffnung der Universitäten beschränkte sich nicht auf die Diversifizierung des Lehrkörpers und der Studentenschaft, sondern führte darüber hinaus zur Einrichtung neuer Studiengänge und Abteilungen für die Geschichte und Kultur von Minderheiten sowie für Gender-Studien. Diese bereicherten das Curriculum und machten die Universitäten inklusiver, entwickelten aber auch eine Tendenz zum Separatismus, der nur Angehörigen der untersuchten Gruppen das Recht zugestehen wollte, über ihre eigene Kultur zu urteilen und zu forschen. Kritik an diesen Entwicklungen kam keineswegs nur von Konservativen wie Bloom(2). Dem sogenannten Afrozentrismus, der Afrika ins Zentrum der Weltgeschichte zu stellen versuchte, attestierten auch afroamerikanische Historiker, er imitiere lediglich den Eurozentrismus unter umgekehrten Vorzeichen. Der liberale Historiker Arthur Schlesinger Jr.(7) verspottete, was er »kompensatorische Geschichte« nannte, die primär darauf abziele, das Selbstbewusstsein von Minderheiten zu stärken, damit aber zur Zersplitterung der Gesellschaft beitrage. Und viele Linke fürchteten, die Fixierung auf die ungesühnten Untaten der Vergangenheit untergrabe die Basis solidarischen Handelns über ethnische und kulturelle Grenzen hinweg.[45]
Auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden und das akademische Klima insgesamt veränderten sich. Je mehr Angehörige von Minderheiten an die Universitäten strömten, umso drängender stellte sich die Frage, wie diese mit Rassismus und Sexismus innerhalb der eigenen Mauern umgehen sollten. Dies betraf nicht allein den Schutz vor gewaltsamen Übergriffen und die Schlichtung von Konflikten, sondern bald auch sogenannte »Hassrede«, versteckte Aggression und Lehrinhalte, die von Studierenden als verletzend und traumatisierend empfunden werden könnten. Die Kollision mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem akademischen Prinzip der offenen Debatte war unausweichlich. Konservative wie Liberale beklagten, die neue identitätspolitische Linke verfolge unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes eine illiberale Agenda der Zensur und der »politischen Korrektheit«. Die Linke wiederum konterte, Begriffe wie »politische Korrektheit« und – später – »Cancel Culture« seien rechte Kampfparolen, mit denen eine moralische Panik geschürt werden solle, um die Öffnung der Universitäten und den Vormarsch emanzipatorischer Ideen zu stoppen, der eben hier und da zu Übertreibungen führe. Dem steht entgegen, dass das theoretische Fundament der Identitätspolitik erklärtermaßen auf der Prämisse basiert, das gesellschaftliche Bewusstsein müsse über die Sprache verändert werden. Zudem waren und sind die Versuche, die Sprache zu regulieren, so zahlreich, dass sie nicht als Anekdoten abgetan werden können.[46]
Weit über 300 Universitäten führten seit den späten 1980er-Jahren sogenannte speech codes ein, die rassistischen Beleidigungen und obszöner Sprache Einhalt gebieten sollten. Dass offizielle Sprachregelungen regelmäßig vor Gericht scheiterten, hielt Aktivisten nicht davon ab, immer neue Forderungen zu stellen. Seit einiger Zeit hat der Kampf gegen die »Mikroaggression« Konjunktur, die dem »Aggressor«, im Unterschied zur offenen Hassrede, meist selbst gar nicht bewusst ist. Wer etwa eine nichtweiße Person nach ihrer Herkunft fragt, unterstellt möglicherweise, sie gehöre nicht nach Amerika. Wer allerdings das ethnokulturelle Erbe dieser Person ignoriert, begeht ebenfalls eine Mikroaggression. Erst recht verpönt ist die »kulturelle Appropriation«, die darin besteht, dass sich Angehörige der Mehrheitskultur Musik, Kleidung, Haartrachten und Speisen von Minderheiten »aneignen« oder deren Kultur und Geschichte künstlerisch ausbeuten. Dass Kulturen vom beständigen Austausch und der Vermischung leben, ist in diesem Weltbild nicht vorgesehen.[47]
Auch die Forderung nach trigger warnings hat immer mehr an Boden gewonnen. Lehrende sollen Studierende warnen, dass im Unterricht behandelte Texte oder Bilder rassistische oder sexistische Inhalte enthalten, die bei Angehörigen historischer Opfergruppen eine »Retraumatisierung« auslösen könnten. Das Oberlin College in Ohio wollte den Lehrkörper auf Warnungen vor »Rassismus, Sexismus, besonders Heterosexismus und Cissexismus, sowie Behindertenfeindlichkeit [ableism] und Klassismus« verpflichten, doch verweigerten sich die meisten Dozentinnen und Dozenten. Ein entnervter Professor ließ wissen: »In der wirklichen Welt gibt es auch keine trigger warnings«, und die Vereinigung amerikanischer Universitätslehrer befand, derartige Warnhinweise infantilisierten das Publikum. Gleichwohl fordern Studierende auch die Einrichtung von »sicheren Räumen« – safe spaces –, in die sich Frauen, Nichtweiße, Homosexuelle(23) oder Transgender-Personen(7) zurückziehen können. Die safe spaces zielen nicht allein auf physische Sicherheit, sondern auch auf den Schutz vor einer als bedrohlich empfundenen intellektuellen Atmosphäre – ein Argument, das auch dazu dient, Auftritte von »kontroversen« Rednern zu verhindern. So proklamierte eine Studentengruppe in aller Unschuld: »Wir stehen für Inklusion und Vielfalt. Wenn ein Redner bei jemandem Gefühle von Unsicherheit oder Unwohlsein hervorruft, dann sollte er nicht auf den Campus kommen.« Umfragen unter Studierenden haben ergeben, dass mehr als zwei Drittel disziplinarische Maßnahmen gegen Universitätsangehörige befürworten, wenn diese Sprache benutzen, »die als rassistisch, sexistisch, homophob oder anderweitig beleidigend« gilt.[48]
Wie dehnbar solche Begriffe sind und wie leicht sie in der Praxis auf Zensur hinauslaufen können, zeigt der Fall einer Professorin an der Northwestern University in Illinois, die 2015 in einem Aufsatz im Chronicle of Higher Education vor einer »sexuellen Paranoia« auf dem Campus gewarnt hatte. Ihr Argument, unter dem Deckmantel des Feminismus(23) würden einvernehmliche Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen verboten und Frauen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung beschnitten, nahmen zwei Studentinnen zum Anlass für eine Beschwerde, die Professorin habe durch ihre Publikation ein »feindseliges Lernumfeld« geschaffen und damit Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde hatte zwar keinen Erfolg, doch die Beschuldigte musste eine monatelange Untersuchung über sich ergehen lassen. An einem College in Kalifornien erhielt ein Professor einen offiziellen Tadel, weil er in einem Kurs die Aufgabe gestellt hatte, »Pornografie(4)« zu definieren. Kritiker sehen in der Erwartung, jederzeit vor unangenehmen Erfahrungen, Meinungen und Begegnungen geschützt zu sein, weniger politischen Radikalismus als eine Konsummentalität, die Universitäten mit Ferienressorts verwechselt. Der ständige Verweis auf die »Verletzbarkeit« der Studierenden schüre zudem eine Opfermentalität gerade bei denjenigen, die eher zu den Privilegierten gehören.[49]
Wie illiberal das Klima an den US-Universitäten tatsächlich ist, bleibt umstritten. Empirische Untersuchungen zu den politischen Einstellungen des Lehrkörpers und der Studentenschaft ergeben, dass die Lehrenden zwar überwiegend linksliberal denken, aber keineswegs in toto zum radikalen Lager zählen, während die Studierenden mehrheitlich sogar recht unpolitisch sind. Das konservative Zerrbild einer linken Kaderschmiede mag übertrieben sein, aber daraus den Schluss zu ziehen, radikale Identitätspolitik sei ein Randproblem, führt ebenfalls in die Irre. Dass auch kleine Minderheiten Diskurshoheit erringen können, ist gerade an Universitäten häufig zu beobachten, weil dort kämpferischer Idealismus erfahrungsgemäß auf Sympathien und Solidarisierungseffekte rechnen darf. Das Phänomen der white guilt, also des Schuldgefühls der weißen Mehrheitsgesellschaft, ist in keiner anderen Institution so ausgeprägt wie an Amerikas Universitäten. Dort hat der radikale Antirassismus teilweise Züge einer politischen Religion angenommen, deren Adepten sich als »Erwählte« (woke) empfinden und von den Sündern Buße und Umkehr verlangen (white privilege). Immer mehr liberale Intellektuelle beklagen, der berechtigte Kampf gegen Rassismus und Sexismus eskaliere zu moralischen Kreuzzügen und Hexenjagden, die, wie einstmals der McCarthyismus(6), in die Vernichtung von Existenzen und ein Klima der Angst und des vorauseilenden Gehorsams münden könnten. Dahinter steht nicht, wie die Historikerin Anne Applebaum zu Recht anmerkt, ein totalitäres Zwangsregime, sondern eine Tradition des moralischen Rigorismus und die Furcht vor dem öffentlichen Pranger, die in Zeiten der »sozialen Medien« eine völlig neue Dimension angenommen hat.[50]
Auch in Amerikas Campus-Kriegen zeigt sich die Dynamik der Rights Revolution. Einerseits basiert die amerikanische Rechtskultur auf einem expansiven Verständnis der Rede- und Meinungsfreiheit, das im Extremfall sogar die Leugnung des Holocaust schützt. Andererseits werden unter Berufung auf die Rechte von Minderheiten immer stärkere Einschränkungen der Redefreiheit verlangt, sodass der Maßstab für »Hassrede« letztlich nur noch darin bestehen soll, ob sich Angehörige unterprivilegierter Gruppen beleidigt fühlen. Ihre moralische Autorität beziehen diese Forderungen vor allem aus dem historischen Opferstatus, den die Wortführer geltend machen. Ausgehend von einer neuen Geschichtsschreibung seit den 1960er-Jahren, die sich dezidiert als Teil der Emanzipationsbewegungen der Zeit verstand, hat sich das historische Selbstbild großer Teile der amerikanischen Gesellschaft grundlegend gewandelt. Die »New American History« hat die Mythen vom amerikanischen Exzeptionalismus und von der Geschichte Amerikas als Triumphzug von Freiheit, Fortschritt und Demokratie, bei dem Sklaverei und Rassismus nur bedauerliche Abweichungen waren, nachhaltig erschüttert. Doch trennt ein tiefer Graben die akademische Geschichtswissenschaft vom Geschichtsbild konservativer Amerikanerinnen und Amerikaner, die den »Geschichtsrevisionismus« der Historiker schlichtweg für unpatriotisch halten. Darüber, wie die Geschichte der USA öffentlich erzählt und in den Schulen vermittelt werden soll, entbrannten folglich ebenfalls heftige Kulturkämpfe.[51]
Das wohl augenfälligste Beispiel für diesen Konflikt ist die Erinnerung, die in den Südstaaten an den Bürgerkrieg und die Konföderation gepflegt wird. Der Süden ist mit Statuen konföderierter Kriegshelden übersät, und weite Teil der weißen Bevölkerung klammern sich unbeirrbar an den Mythos vom Lost Cause. In ihrer Sicht kämpften ihre Vorfahren nicht für die Erhaltung der Sklaverei, wie es die akademischen Historiker behaupten, sondern für eine ehrenhafte Sache, nämlich für die Freiheit des Südens von der Tyrannei der Bundesregierung. Die allgegenwärtige konföderierte Kriegsflagge – die Stars and Bars – symbolisiert nach dieser Deutung »heritage, not hate« – ein stolzes Erbe und keinen Rassenhass. Afroamerikaner sehen dies verständlicherweise völlig anders, für sie repräsentieren die Rebellenflagge und Denkmäler für Generäle wie Robert E. Lee(1) oder Thomas »Stonewall« Jackson(1) Unterdrückung und weiße Vorherrschaft. Daran, dass die Konföderiertenflagge diese Botschaft aussendet, gibt es keinen vernünftigen Zweifel. So hatte sich der junge weiße Mann, der 2015 in Columbia, South Carolina, neun Menschen in einer schwarzen Kirche ermordete, um einen »Rassenkrieg« zu provozieren, zuvor mit konföderierten Paraphernalien gefilmt. Nach den Morden beschloss die Staatsversammlung von South Carolina, die Flagge vom Parlamentsgebäude des Staates einzuholen. In New Orleans ordnete der weiße Bürgermeister 2017 die Entfernung prominenter konföderierter Statuen von öffentlichen Plätzen an und hielt eine mutige Rede, in der er erklärte, die Monumente seien Zeugnisse eines historischen Selbstbetrugs, denn in Wahrheit habe die Konföderation auf der falschen Seite der Geschichte gestanden. Erwartungsgemäß riefen die Denkmalstürze wütende Proteste und Drohungen vonseiten südstaatlicher Identitätshüter hervor, während antirassistische Aktivisten vielerorts dazu übergingen, den Abbruch konföderierter Standbilder in die eigenen Hände zu nehmen.[52]
Obwohl der Kult des Lost Cause im Grunde Rebellion und Landesverrat glorifizierte, wurde er außerhalb des Südens lange als Preis für die nationale Aussöhnung hingenommen. Doch auch der Rest der USA musste sich der Frage stellen, wie das bislang von weißen Männern dominierte Geschichtsbild modernisiert werden sollte. Ende der 1980er-Jahre beauftragte die Nationale Stiftung für das Geistesleben, das National Endowment for the Humanities (NEH)(1), eine Expertenkommission mit der Erarbeitung nationaler Standards für den Geschichtsunterricht an öffentlichen Schulen. Die Kommission war politisch ausgewogen zusammengesetzt und einigte sich nach langen Beratungen mit großer Mehrheit darauf, dass die Standards die »Vielfalt der Nation, insbesondere im Hinblick auf Rasse, Ethnizität, sozialen Status, Geschlecht und religiöse Zugehörigkeit« reflektieren und dabei zugleich »die gemeinsame staatsbürgerliche Identität und die geteilten Werte« betonen sollten. Obschon es sich lediglich um Empfehlungen handelte, löste die Veröffentlichung des Berichts 1994 einen Sturm der Entrüstung bei konservativen Kommentatoren aus. Die Republikanerin Lynne Cheney(1), die als NEH-Direktorin(2) die Standards in Auftrag gegeben hatte, attackierte den Report als düsteres Zerrbild der amerikanischen Geschichte. Zahlreiche Kommentatoren stimmten ein, linke Revisionisten würden versuchen, Amerikas Kinder zu indoktrinieren und zum Hass auf ihr eigenes Land zu erziehen. Bald kursierten Behauptungen, George Washington(1) und andere Heroen der US-Geschichte kämen in den Empfehlungen gar nicht mehr vor, es gehe nur noch darum, die Rolle von Minderheiten zu feiern. Der US-Senat distanzierte sich in einer einstimmigen Resolution von den Standards, und die Clinton(14)-Administration ließ das ganze Projekt wie eine heiße Kartoffel fallen.[53]
Der laute Aufschrei gegen die Standards für den Geschichtsunterricht erklärt sich auch damit, dass die Veröffentlichung mit dem patriotischen Erinnerungsmarathon zusammenfiel, mit dem Amerika in den frühen 1990er- Jahren der fünfzigsten Wiederkehr des Zweiten Weltkriegs gedachte. Das Land feierte den Sieg in einem Krieg, in dem es unbestreitbar auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hatte, sowie die »Greatest Generation«, die diesen Sieg erfochten hatte. Als Teil des öffentlichen Gedenkens plante das Nationale Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington, D. C., auch die Enola Gay(1) erstmals öffentlich auszustellen, das Flugzeug, das am 6. August 1945 die Atombombe nach Hiroshima befördert hatte. Allerdings sollte der Bomber um weitere Ausstellungsstücke ergänzt werden, die das Leiden der japanischen Zivilbevölkerung illustrierten, und auf Texttafeln wollten die Ausstellungsmacher die unter Historikern strittige Frage thematisieren, ob der Einsatz der Atombombe notwendig und gerechtfertigt war. Als die Pläne öffentlich bekannt wurden, kam es zu wütenden Protesten von Veteranenverbänden, die darin eine Beleidigung der US-Soldaten sahen, die für ihr Land gekämpft und ihr Leben gelassen hatten. Die Kritiker erzürnte vor allem, dass die Japaner als Opfer gezeigt werden sollten und eine Entscheidung, die mutmaßlich vielen amerikanischen GIs das Leben rettete, moralisch in Zweifel gezogen wurde. Die Museumsleitung musste nachgeben und begnügte sich damit, das Flugzeug dem Publikum mehr oder weniger kommentarlos zu präsentieren.[54]
In den Kontroversen über die nationalen Geschichtsstandards und die Enola-Gay(2)-Ausstellung setzten sich Traditionalisten durch, die patriotische Geschichtserzählungen als unverzichtbare Grundlagen der nationalen Identität betrachten. Dies schließt nicht aus, auch Minderheiten zu inkorporieren, wenn sich diese, wie zum Beispiel Martin Luther King Jr.(25), als Märtyrer für amerikanische Ideale vereinnahmen lassen. Auch Präsident Obama(11) erzählte die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung bevorzugt als die eines gemeinsamen Kampfes schwarzer und weißer Amerikaner, der nicht zuletzt den weißen Süden von seinen Obsessionen befreit und damit zum Sieger der Geschichte gemacht habe.[55]
Für radikale Antirassisten ist jedoch auch ein »integriertes« Geschichtsbild inakzeptabel, weil es nicht zwischen Opfern und Tätern unterscheidet und keinen konsequenten Bruch mit der Geschichte der Sklaverei und des Rassismus vollzieht. Aber wie tief soll dieser Bruch gehen? Im Juni 2020 verkündete die Universität Princeton, dass sie mehrere Gebäude und wissenschaftliche Einrichtungen, die bis dahin den Namen des früheren US-Präsidenten Woodrow Wilson(1) trugen, umbenennen werde. Die Entscheidung fiel nach einer mehrjährigen Kampagne afroamerikanischer Studenten, die sich daran störten, dass während Wilsons Präsidentschaft (1913–1921) die Rassentrennung auch in den Bundesbehörden flächendeckend eingeführt worden war. Obwohl Wilson(2) zu den bedeutendsten Präsidenten der US-Geschichte gehört und vor seiner politischen Laufbahn als Präsident der Universität Princeton den Grundstein für deren akademischen Weltruhm legte, erklärte die Universitätsleitung, dieser könne kein »geeigneter Namensgeber« für eine Universität mehr sein, die sich dem »Kampf gegen den Rassismus in all seinen Formen« verpflichtet sehe; von schwarzen Studierenden dürfe nicht verlangt werden, sich mit »dem Namen eines rassistischen Präsidenten« zu identifizieren. Den Einwand, Wilson habe lediglich den Mainstream-Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts verkörpert und seine historische Rolle dürfe nicht auf diesen Aspekt reduziert werden, wollten die Aktivisten nicht gelten lassen. Solange Wilson in Princeton geehrt werde, könnten sich schwarze Studenten dort nicht willkommen fühlen. Im Übrigen ließen sie wissen, die Umbenennungen seien nur ein Anfang. In der Tat: Wenn Woodrow Wilson(3) der damnatio memoriae verfallen muss, wie können dann die Gründerväter George Washington(2), Thomas Jefferson(3) oder James Madison(1), die allesamt Sklavenhalter waren, noch als »geeignete Namensgeber« gelten?[56]
In Amerikas history wars geht es längst nicht mehr um inklusive Erzählungen, in denen möglichst alle vorkommen sollen, sondern um polarisierte und unvereinbare Geschichtsbilder, für die symbolisch die Jahreszahlen 1619 und 1776 stehen: das Jahr der Ankunft der ersten afrikanischen Sklaven in Britisch-Nordamerika und das Jahr der Unabhängigkeitserklärung. Das 2019 vom New York Times(6) Magazine initiierte 1619 Project bekennt sich ausdrücklich zu der Prämisse, »dass aus der Sklaverei – und dem Rassismus, den sie hervorbrachte – beinahe all das hervorgegangen ist, was Amerika wirklich einzigartig macht«. Als Reaktion versuchte die Trump(19)-Administration unter dem Banner des Unabhängigkeitsjahres 1776 die alten patriotischen Geschichtsmythen wiederzubeleben. In der Folge erließen Bundesstaaten wie Texas Gesetze, die Lehrern vorschreiben, im Geschichtsunterricht Sklaverei und Rassismus ausschließlich als »Abweichungen von und Verrat an den authentischen Gründungsprinzipien der Vereinigten Staaten, nämlich Freiheit und Gleichheit« zu behandeln. Zwischen der Sicht auf die Geschichte Amerikas als fortgesetztem moralischen Skandal auf der einen Seite und als göttlich inspiriertem Triumphzug der Freiheit auf der anderen gibt es keinen Kompromiss. Nötig für einen historischen Minimalkonsens wäre, wie der Historiker Matthew Karp bemerkt, zunächst einmal die Einsicht, dass die Geschichte zwar die Ursprünge einer Nation erklärt, nicht aber ihre Zukunft determiniert.[57]
Als Patrick Buchanan(7) 1992 den Kulturkrieg ausrief, sahen viele Beobachter darin eher ein letztes Gefecht der Ewiggestrigen, das den unvermeidlichen Sieg des neuen Amerikas nicht verhindern werde. Die Religiöse Rechte(16) wurde von peinlichen Sex- und Korruptionsaffären erschüttert und schien ihren Zenit überschritten zu haben. Hinzu kam die Erwartung, dass sich der Backlash aufgrund des unaufhaltsamen Generationenwechsels und Wertewandels von selbst erledigen werde.[58] Konservative mochten sich darauf berufen, dass sie mit ihren Warnungen vor der Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen, der gleichgeschlechtlichen Ehe und der fortschreitenden Säkularisierung Recht behalten hätten, aufhalten konnten sie diese Trends nicht. Doch längst nicht alle Linken und Liberalen verfielen angesichts der Siege in den Kulturkriegen in Triumphgeschrei. Todd Gitlin(2) mahnte, auf den Schlachtfeldern der Kulturkriege gebe es nicht viel zu gewinnen, weil die tatsächliche Macht woanders liege. Während die Linke den akademischen Elfenbeinturm gestürmt habe, so sein vielzitiertes Bonmot, sei die Rechte ins Weiße Haus eingezogen. Für den Historiker Andrew Hartman ist der eigentliche Sieger der culture wars der neoliberale Kapitalismus, der das Befreiungsversprechen der Sixties gekapert und mit seinem schrankenlosen Individualismus zum Totengräber des normativen Amerika geworden sei.[59]
Die Klagen, dass die identitätspolitische Wende der amerikanischen Linken den sozialdemokratischen Konsens unterminiert und dem Neoliberalismus in die Karten gespielt habe, übersehen freilich, dass diese Wende in mehrfacher Hinsicht sehr erfolgreich war. Selbst die schärfsten Kritiker der Identitätspolitik räumen ein, dass die rechtliche und öffentliche Ächtung des Rassismus und der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes und der sexuellen Orientierung epochale gesellschaftliche Fortschritte darstellen, die für viele Millionen Menschen mehr Freiheit und Selbstverwirklichung brachten. Ob mehr Rücksicht auf die kulturellen Empfindlichkeiten des normativen Amerika progressiver Umverteilungspolitik tatsächlich eine breitere Basis verschaffen kann, ist dagegen fraglich. Zudem genoss die alte antikapitalistische Linke niemals eine ähnliche Diskursmacht wie die heutige Identitätslinke. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk erklärt deren Siegeszug mit den Multiplikatoreneffekten, die vom Internet und von den Eliteuniversitäten ausgegangen seien. Seit den 2010ern hätten woke Aktivisten einen »kurzen Marsch durch die Institutionen« angetreten und die Identitätspolitik in öffentlichen Organisationen wie in privaten Unternehmen durchgesetzt. Corporate America versucht, sich durch strikte Antidiskriminierungsvorschriften ein zeitgemäßes Image zu geben und gegen Schadensersatzklagen zu wappnen.[60] Es ließe sich hinzufügen, dass Bekenntnisse zu ethnischer und kultureller Vielfalt vermutlich billiger sind als höhere Löhne und Sozialleistungen.
Gleichwohl handelt es sich bei den Kulturkriegen um Frauenrechte, Geschlechterrollen und Sexualmoral, um Religions- und Redefreiheit sowie um das historische Selbstbild der Amerikaner nicht um akademische Glasperlenspiele oder ideologische Ablenkungsmanöver, sondern um eine Grundfrage, die jedes Gemeinwesen beantworten muss: »Who Are We?« – Wer sind wir und was wollen wir sein? Dass die Auseinandersetzungen über diese Frage eine solche Schärfe und Unversöhnlichkeit annahmen, lag auch daran, dass sie in einer sich rasant verändernden medialen Umwelt ausgetragen wurden, in der nicht nur die gemeinsame Wertebasis, sondern der gemeinsame Kommunikationsraum zerbrach. Im Zeitalter der digitalen Revolution eskalierten Kulturkriege und politische Polarisierung zum Krieg über die Wirklichkeit.