13. Kapitel
Die Einwohner der Vereinigten Staaten von Amerika sind die am stärksten bewaffnete Zivilbevölkerung der Welt. Nach einer Schätzung von Small Arms Survey, einer in der Schweiz ansässigen Nichtregierungsorganisation, die auf der ganzen Welt Daten zu privatem Schusswaffenbesitz erhebt, besaßen US-Bürgerinnen und -Bürger 2017 annähernd 400 Millionen Handfeuerwaffen und Gewehre. Damit verfügten gut vier Prozent der Weltbevölkerung über stattliche 46 Prozent aller Schusswaffen, die sich weltweit in den Händen von Zivilisten befinden. Mit 120,5 Schusswaffen pro 100 Einwohnern stehen die USA im internationalen Vergleich mit weitem Abstand an der Spitze, gefolgt vom Bürgerkriegsland Jemen, wo sich statistisch zwei Einwohner eine Waffe teilen; in der Bundesrepublik Deutschland kommen immerhin noch knapp zwanzig private Schusswaffen auf hundert Einwohner, in Japan ist es weniger als eine. Allein zwischen 2006 und 2017 erwarben US-Bürger 122 Millionen Feuerwaffen, die sechzig Prozent des weltweiten Zuwachses in diesem Zeitraum ausmachten. Allerdings verteilen sich die Waffen keinesfalls gleichmäßig auf die Gesamtbevölkerung. Umfragen zufolge besitzt jeder dritte Amerikaner wenigstens eine Schusswaffe, doch rund zwei Drittel aller Waffenbesitzer geben an, mindestens zwei zu haben; ein Drittel hat sogar fünf oder mehr. Ein harter Kern hortet Dutzende Pistolen und Gewehre unterschiedlichster Machart und Leistungsfähigkeit, von der Jagdflinte bis hin zu halbautomatischen und automatischen Waffen, assault weapons genannt, die eigentlich für den Einsatz im Militär und bei den Polizeikräften bestimmt sind.[1]
Europäer irritiert der amerikanische Waffenkult, aber das Recht der US-Bürger, eine Waffe zu besitzen, ist fest in der historischen Identität und der Rechtskultur Amerikas verankert. Der Zweite Zusatzartikel, das Second Amendment(1), das 1791 als Teil der Bill of Rights der Bundesverfassung hinzugefügt wurde, bestimmt:
A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed. – Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.
Der verfassungsrechtlich verbürgte Zugang zu Schusswaffen hat allerdings einen hohen Preis. Im Jahr 2022 kamen in den USA mehr als 45 000 Menschen durch Schusswaffen ums Leben, davon rund 24 000 durch Selbstmord, während etwas mehr als 19 000 Opfer eines Tötungsdeliktes wurden. Mit 10,6 Toten pro 100 000 Einwohnern stehen die USA weit vor allen anderen westlichen Ländern; im benachbarten Kanada beträgt die Quote 2,1, in Deutschland 0,9. Und der Trend geht nach oben. Die Zahlen für 2022 liegen um 14 Prozent über denen des Vorjahres und sind die höchsten seit den frühen 1990er-Jahren, als die Mordquote einen historischen Spitzenwert erreichte. Auch die Zahl der sogenannten mass shootings(3) – Massaker in Schulen, Universitäten, Firmen oder Einkaufszentren – haben in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Beim bislang tödlichsten shooting ermordete 2017 ein einzelner Schütze nahe Las Vegas 58 Besucherinnen und Besucher eines Musikfestivals.[2]
Angesichts des erschreckenden Blutzolls, den Schusswaffen jedes Jahr fordern, führt die US-Öffentlichkeit seit Jahrzehnten eine leidenschaftliche Debatte darüber, welche Bedeutung der Zweite Verfassungszusatz ursprünglich hatte und ob er in einer modernen Gesellschaft nicht restriktiver ausgelegt werden muss. Garantiert das Second Amendment(2) ein individuelles Recht auf den Besitz von Waffen oder sollte es lediglich das republikanische Ideal des wehrhaften Bürgers bekräftigen und den Bundessstaaten das Recht zusichern, Miliztruppen zu unterhalten? Für die Anhänger uneingeschränkter gun rights ist der Zweite Zusatzartikel ein geradezu sakraler Text, der die Freiheit amerikanischer Bürger verbürgt. Die Befürworter von gun control sehen in ihm dagegen eine ideologische Waffe der gun lobby, die aus Profitstreben und politischem Kalkül buchstäblich über Leichen gehe. Die National Rifle Association (NRA)(1), die nach eigenen Angaben mehr als fünf Millionen Mitglieder vertritt, gilt als eine der mächtigsten Organisationen der USA und sperrt sich gegen jede Beschränkung des privaten Erwerbs und Besitzes von Schusswaffen.[3] Umgekehrt fordern jedoch selbst die schärfsten Kritiker der Waffenlobby kein Verbot des privaten Waffenbesitzes, das weder verfassungsrechtlich noch politisch durchsetzbar wäre, sondern wollen effektivere Kontrollen, die sicherstellen sollen, dass Kriminelle und Psychopathen sich legal keine Waffen beschaffen können. Ob das Argument, das Second Amendment(3) habe lediglich die Existenz der Milizen festschreiben sollen, im Kampf für ein schärferes Waffenrecht tauglich ist, muss allerdings bezweifelt werden. Denn gerade die Miliztradition, die sich auf das Widerstandsrecht des Volkes gegen eine tyrannische Regierung beruft, birgt ein hohes Radikalisierungs- und Gewaltpotenzial, das sich im polarisierten Klima des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts immer wieder aktualisiert hat.
Der akademische Streit über den Willen der Verfassungsgeber und den historischen Kontext des Zweiten Verfassungszusatzes muss hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Am Ende des 18. Jahrhunderts stellte niemand in Frage, dass freie weiße Männer ein Gewehr besitzen durften. Schwarze waren von diesem Recht weitgehend ausgeschlossen, weshalb die Historikerin Carol Anderson argumentiert, der eigentliche Sinn des Second Amendment(4) habe darin bestanden, die Bewaffnung und Wehrhaftigkeit der weißen Bevölkerung sicherzustellen, um Sklavenaufstände niederschlagen zu können. Vor allem aber spiegelte das im Zweiten Zusatzartikel proklamierte »Recht des Volkes, Waffen zu tragen« das tiefe Misstrauen der amerikanischen Revolutionäre gegen stehende Heere und ihre feste Überzeugung, dass nur ein bewaffnetes Volk ein wirksames Korrektiv gegen die Versuchung der Regierenden zur Tyrannei war. Bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatte Thomas Jefferson(4) ein Naturrecht auf bewaffneten Widerstand verkündet, wenn nämlich Regierungen die Freiheit und die Rechte des Volkes verletzten und alle übrigen Mittel erschöpft seien. Elf Jahre später rechtfertigte er eine lokale Rebellion verschuldeter Farmer in Massachusetts mit dem Diktum: »Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen begossen werden.« Das revolutionäre Ideal der bewaffneten Bürgerschaft, die ihre Freiheit gegen korrupte und despotische Regierungsmacht verteidigt, gehört zu den konstitutiven Elementen der politischen Kultur der USA und erklärt zu einem Gutteil die – im Vergleich zu Westeuropa – schwache Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols und das weitreichende Verständnis von legitimer Notwehr. Bewaffnete Selbstverteidigung, ob individuell oder kollektiv, gilt als unverzichtbares demokratisches Recht ebenso wie als Bürgertugend.[4]
Allerdings steht im Second Amendment(5) nicht, dass Privatleute »Panzer und Haubitzen in ihre Garagen stellen und Maschinengewehre mit ins Einkaufszentrum bringen« dürfen, wie es ein prominenter Verfassungshistoriker einmal sarkastisch formulierte. Auch in der amerikanischen Verfassungskultur gelten Rechte nicht absolut. Ohnehin band der Zusatzartikel, wie die Bill of Rights insgesamt, ursprünglich nur den Bundesgesetzgeber. Die meisten Bundesstaaten verankerten zwar ein entsprechendes Recht in ihren Verfassungen, das aber im Interesse der Sicherheit und Ordnung eingeschränkt werden konnte, etwa durch das Verbot, Waffen in öffentliche Gebäude mitzubringen. Wie fast jedes Rechtsgebiet zeichnet sich auch das amerikanische Waffenrecht durch unzählige einzelstaatliche und lokale Besonderheiten aus. Da es auf der Bundesebene lange Zeit kaum Streitfälle gab, musste sich der Supreme Court(34) nur selten mit dem Second Amendment befassen. Die wichtigste einschlägige Entscheidung im 20. Jahrhundert datiert ins Jahr 1939 und bestätigte einerseits das Recht auf Waffenbesitz, schränkte jedoch andererseits ein, dieses Recht betreffe nur solche Waffen, die einen vernünftigen Bezug zum Dienst in der Miliz hätten. In jüngerer Zeit jedoch hat der Oberste Gerichtshof die Position der Verfechter umfassender gun rights deutlich gestärkt. So verkündete er 2008 erstmals explizit, die Verfassung garantiere ein individuelles Recht, das nicht an den Dienst in der Miliz gebunden sei. Zwar bekräftigte das Gericht, dass dieses Recht aus zwingenden Gründen beschränkt werden könne, erklärte aber zugleich ein Gesetz für den District of Columbia für verfassungswidrig, das es den Einwohnern der Bundeshauptstadt Washington untersagte, Handfeuerwaffen zuhause schussbereit aufzubewahren. Das Second Amendment(6), so die Mehrheit im Fall District of Columbia v. Heller, schütze das Recht gesetzestreuer Bürger, ihr Heim mit der Waffe zu verteidigen, das nicht durch unpraktikable Vorschriften zur Lagerung unterhöhlt werden dürfe. Zwei Jahre später weitete der Supreme Court(35) den Geltungsbereich des Zweiten Verfassungszusatzes auch auf Bundesstaaten, Städte und Gemeinden aus. Und 2022 erklärte er ein mehr als hundert Jahre altes Gesetz des Staates New York für verfassungswidrig, das für eine Erlaubnis, Schusswaffen verdeckt tragen zu dürfen, den Nachweis eines triftigen Grundes verlangt hatte.[5]
Kritiker werteten alle diese Entscheidungen als Rückschläge für die Sache der gun control, aber im Grunde sanktionierte der Supreme Court(36) nur, was fast überall in den USA gängige Lebens- und Rechtspraxis war. Wo Einschränkungen und Kontrollen beim Erwerb und Gebrauch von Feuerwaffen existierten, ließen diese sich allein deshalb schwer durchsetzen, weil viele Waffen privat verkauft wurden. Weder legale Käufer noch Kriminelle haben ernsthafte Schwierigkeiten, die Waffen ihrer Wahl zu bekommen. Auch das vom Obersten Gerichtshof im Heller-Urteil bekräftigte Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung wurde und wird überaus expansiv ausgelegt. Amerika ist das Land, in dem freie Bürger sich und ihr Eigentum mit der Waffe schützen dürfen. Bei Umfragen nennen Waffenbesitzer Selbstverteidigung mit Abstand als den wichtigsten Grund, warum sie eine Waffe haben. In den meisten Bundesstaaten sind Bürger, die sich angegriffen oder bedroht fühlen, auch außerhalb der eigenen vier Wände nicht verpflichtet, zunächst einer Konfrontation auszuweichen, bevor sie ihr Notwehrrecht ausüben dürfen. Die Befürworter dieser sogenannten »Stand Your Ground«-Gesetze, unter ihnen führend die NRA, bestehen darauf, dass amerikanischen Bürgern keine »Pflicht zum Zurückweichen« zugemutet werden könne. Skeptiker warnen dagegen, das »Stand Your Ground«-Prinzip verleite dazu, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, so wie dies 2007 ein Rentner in Texas tat, der im Nachbarhaus zwei mutmaßliche Einbrecher beobachtete. Obwohl er bereits die Polizei verständigt und diese ihn eindringlich zum Abwarten aufgefordert hatte, tötete der Mann die Verdächtigen mit gezielten Schüssen in den Rücken, als sie durch seinen Garten flüchteten. Eine aus Geschworenen bestehende Untersuchungskammer (grand jury) verzichtete jedoch auf eine Anklage, vermutlich weil das texanische Recht tödliche Gewalt straffrei stellt, wenn jemand fremdes Eigentum schützen will und sich vernünftigerweise bedroht fühlen muss. Der Umstand, dass es sich bei den Getöteten um dunkelhäutige illegale Einwanderer handelte, warf zudem die Frage auf, ob der Rentner wohl auch auf weiße Einbrecher gefeuert und ob die Untersuchungskammer einen nichtweißen Schützen ähnlich nachsichtig behandelt hätte. Tatsächlich wird Weißen, die eine schwarze Person töten, zehnmal so oft Notwehr zugebilligt, wie dies umgekehrt der Fall ist.[6]
Auch wenn die These, das Second Amendment(7) und das Notwehrrecht dienten vor allem der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung, überzogen erscheint, ist nicht zu übersehen, dass gun rights für weiße Amerikaner eine größere symbolische und politische Relevanz haben als für jede andere Bevölkerungsgruppe. Der Zweite Zusatzartikel hat für konservative weiße Männer eine ähnlich identitätsstiftende Bedeutung gewonnen wie das Recht auf Abtreibung(30) für den Feminismus(24). Fast jeder zweite weiße Amerikaner gibt an, eine Schusswaffe zu besitzen, während dies lediglich auf ein Viertel der nichtweißen Männer zutrifft. Hispanics und Afroamerikaner unterstützen außerdem signifikant häufiger gun control. Da die Anhängerschaft der Republikaner überwiegend weiß ist, überrascht es nicht, dass der Anteil der Waffenbesitzer unter bekennenden Republikanern mit 44 Prozent mehr als doppelt so hoch ist wie unter Demokraten. Über neunzig Prozent der republikanischen Waffenbesitzer betrachten das Recht auf Waffentragen als Grundpfeiler ihrer Freiheit und mehr als sechzig Prozent geben an, manchmal oder sogar meistens eine Schusswaffe bei sich zu tragen. Auch in der Einschätzung, ob Gewalt durch Feuerwaffen ein großes Problem darstellt, sowie bei Forderungen nach strengerer Überprüfung der Käufer oder einem Verbot von Sturmgewehren sind die Anhänger beider Parteien deutlich unterschiedlicher Meinung; Republikaner lehnen Einschränkungen mit großer Mehrheit ab, Demokraten befürworten sie. Und während über die Hälfte der Demokraten befürchtet, dass mehr Waffen in privater Hand auch mehr Verbrechen bedeuten, sind genauso viele Republikaner fest vom Gegenteil überzeugt.[7]
Selbstverständlich verlaufen die Fronten in den Auseinandersetzungen über das Second Amendment(8) nicht exakt gemäß rassisch-ethnischer Zugehörigkeit, Parteiidentifikation oder kulturellen Milieus. Auch viele Linke verteidigen das Recht auf Waffentragen als demokratisches Ideal und Ausdruck der Volkssouveränität. Homosexuelle(24) haben die Pink Pistols gegründet, um sich gegen schwulenfeindliche Gewalt zu verteidigen, und Gruppen wie die National African American Gun Association und Black Guns Matter knüpfen an die lange Tradition bewaffneter Selbstverteidigung in der Black Community an. Dennoch entsprechen die Konfliktlinien in der Waffenfrage grosso modo dem Muster der gesellschaftspolitischen Spaltung und der Kulturkriege. Für das traditionalistische Amerika ist das Recht auf Waffentragen eine kollektive Quelle von Bürgerstolz und Selbstbewusstsein. Das neue Amerika begegnet dem Kult um das Second Amendment(9) dagegen mit Unverständnis und Verachtung. Im Wahlkampf 2008 unterlief Barack Obama(18) ein verräterischer Schnitzer, als er beklagte, dass die Politik die weißen Arbeiter im Stich gelassen habe, dann aber mit unüberhörbarer Herablassung hinzufügte: »Es ist nicht überraschend, wenn sie sich aus Verbitterung an ihre Gewehre oder die Religion klammern […]« Nach seinem Wahlsieg schoss der Absatz von Schusswaffen in die Höhe, weil viele Konservative fürchteten, der neue Präsident wolle den Waffenbesitz verbieten. Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit ließ die Waffenindustrie zufrieden wissen, ihr Umsatz sei seit 2008 von 19 auf 49 Milliarden Dollar gewachsen, also um stattliche 158 Prozent.[8]
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das Recht auf Waffenbesitz in den USA kaum kontrovers, doch in den 1960er-Jahren geriet auch das Second Amendment(10) in den Sog der Politisierung und Polarisierung. Die tödlichen Attentate auf die Kennedy(40)(8)-Brüder und Martin Luther King Jr.(27) ließen den Ruf nach schärferen Waffengesetzen laut werden, der in einem Bundesgesetz resultierte, das den Kauf von Gewehren und Munition auf dem Versandwege erschwerte – das Gewehr, mit dem Lee Harvey Oswald(2) den Präsidenten tötete, war mit der Post gekommen. Gleichzeitig aber verunsicherte die Zunahme von Straßenraub und Gewaltkriminalität seit Mitte der 1960er-Jahre die Bevölkerung und trieb die Nachfrage nach Handfeuerwaffen in die Höhe. 1984 machte ein Zwischenfall in der New Yorker U-Bahn Schlagzeilen, als ein Fahrgast auf vier junge Schwarze feuerte, die ihn angeblich berauben wollten, und dabei einen von ihnen lebensgefährlich verletzte. Bernard Goetz(1), so der Name des Schützen, gab an, er sei bereits mehrfach überfallen worden und habe sich endlich wehren wollen. Goetz wurde zwar wegen Mordversuchs angeklagt, aber schließlich nur zu einer kurzen Haftstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt. Teile der liberalen Öffentlichkeit sahen in Goetz einen schießwütigen Rassisten, doch für viele Amerikaner war er ein Held. Mehrere gun-rights-Gruppen, darunter die National Rifle Association(3), sammelten Spenden für seine Anwalts- und Gerichtskosten.[9]
Die NRA, die lange als unpolitische Interessenvertretung von Jägern und Sportschützen gegolten hatte, war seit Ende der 1960er-Jahre immer mehr unter den Einfluss von Hardlinern geraten, die sich den Kampf gegen jede Einschränkung des Second Amendment(11) auf die Fahnen schrieben. Gleichzeitig erkannten die konservativen Republikaner, welch großes Mobilisierungspotenzial im Thema gun rights steckte. Ronald Reagan(34), der als Schauspieler in zahlreichen Westernfilmen mitgewirkt hatte, stand auch als Politiker für das Recht amerikanischer Bürger auf bewaffnete Selbstverteidigung. Im Wahlkampf 1980 erhielt er den offiziellen Segen der NRA, die zuvor noch nie eine Wahlempfehlung gegeben hatte. In der Folgezeit wurde die Verteidigung des Rechtes auf Waffenbesitz zum ideologischen Kernbestand der GOP, deren Kandidaten sich der Unterstützung der Waffenlobby gewiss sein durften, sofern sie auf der kompromisslosen Linie der NRA lagen.[10]
Die politischen Bemühungen um effektivere gun control blieben zwar nicht gänzlich ergebnislos, entfalteten aber wenig nachhaltige Wirkungen und provozierten gut organisierte Gegenkampagnen der Waffenlobby. So wurden die 1968 erlassenen Beschränkungen beim Versand von Waffen und Munition auf Druck der NRA wieder gelockert. Die größten Erfolge der gun-control-Bewegung fielen in die frühen 1990er-Jahre, als der Kongress zunächst das sogenannte Brady-Gesetz von 1993 verabschiedete – benannt nach Ronald Reagans(35) Pressesprecher James Brady(1), der 1981 bei einem Attentat auf den Präsidenten schwer verletzt worden war. Das Gesetz sah beim Kauf einer Schusswaffe bundesweite Überprüfungen und eine fünftägige Wartezeit vor und autorisierte die Einrichtung einer nationalen Datenbank, um Vorbestrafte, Drogensüchtige und psychisch Kranke ausschließen zu können. Da Kontrollen bei Privatverkäufen jedoch kaum durchsetzbar sind, gilt das Gesetz als wenig effektiv. Ein Jahr nach dem Brady-Gesetz erließ der Kongress außerdem ein nationales Verbot von Sturmgewehren sowie von Magazinen mit mehr als zehn Schuss Munition. Der Bann war jedoch auf zehn Jahre beschränkt und wurde 2004 nicht mehr verlängert. Stattdessen setzte die gun lobby durch, dass die Waffenindustrie gesetzlich vor Schadensersatzklagen wegen missbräuchlicher Verwendung ihrer Produkte geschützt wurde. Produkthaftung ist in den USA ein scharfes Schwert, das sich auch für politische Zwecke einsetzen lässt. Waffenhersteller haben daher in Vergleichsverfahren gelegentlich hohe Summen an die Opfer von mass shootings(4) bzw. deren Angehörige gezahlt, um Urteile mit Präzedenzwirkung abzuwenden.[11]
Seit der Präsidentschaft Ronald Reagans(36) profilierten sich die Republikaner als Partei des Second Amendment(12) und warnten Amerikas Waffenbesitzer, demokratische Präsidenten wollten ihnen die Pistolen und Gewehre wegnehmen. Kein anderer Demokrat geriet so sehr ins Fadenkreuz der gun lobby wie Barack Obama(19), der in der Tat keinen Hehl daraus machte, dass er das Waffenrecht der USA als großes gesellschaftliches Problem betrachtete. Gleichwohl wartete der Präsident bis nach seiner Wiederwahl 2012, bevor er dem Kongress entsprechende Gesetzesinitiativen vorlegte, darunter einen neuen assault weapons ban und effektivere Überprüfungen beim Erwerb von Schusswaffen. Doch alle Appelle an Vernunft und Überparteilichkeit fruchteten nichts, denn die Republikaner lehnten neue Gesetze strikt ab. Obama(20) bekannte später, kein anderes Politikfeld habe ihn derartig frustriert wie das Scheitern seiner gun-control-Vorschläge. Immerhin konnte Präsident Joseph Biden(2) 2022 einige republikanische Senatoren und Abgeordnete dazu bewegen, einem Gesetz zuzustimmen, das eine bessere Überprüfung von Waffenkäufern unter 21 Jahren ermöglichen soll – Achtzehnjährige dürfen in Amerika zwar nicht einmal eine Flasche Bier kaufen, dafür aber Schrotflinten, Gewehre und in einigen Staaten sogar Handfeuerwaffen.[12]
Ob schärfere Kontrollen und Verbote bestimmter Waffentypen einen messbaren Einfluss auf das Gewaltniveau in den USA hätten, ist unter Kriminologen umstritten, aber angesichts von 400 Millionen Schusswaffen in privater Hand im Grunde eine müßige Frage. Niemand kann ernsthaft glauben, Amerikas Waffenbesitzer ließen sich entwaffnen oder seien zur ideologischen Abrüstung bereit. Die Bundesgerichte und der Supreme Court(37) tendieren zu einer immer expansiveren Auslegung des Second Amendment(13) und lassen für schärfere Waffengesetze kaum noch Spielraum. Die Konservativen mögen die meisten Kulturkriege verloren haben, aber in der Auseinandersetzung zwischen gun rights und gun control haben sie politisch die Oberhand behalten, obwohl sich in vielen Umfragen Mehrheiten der Amerikanerinnen und Amerikaner für striktere Waffengesetze aussprechen. Das amerikanische Volk, so sehen es viele Liberale, ist zur Geisel der Waffenlobby geworden, deren Strategie darauf beruhe, dass Volksvertreter den Zorn der NRA mehr fürchten als den Mehrheitswillen. Doch wenn diese Kampagnen immer wieder Erfolg haben, liegt dies eben auch daran, dass Waffenbesitz für einen erheblichen Teil der Wählerschaft eine identitätsstiftende Norm darstellt. Diese Wähler interessieren sich nicht für Statistiken zum Zusammenhang zwischen der Zahl der Schusswaffen und der Häufigkeit von Tötungsdelikten, sondern glauben fest daran, mehr Waffen in der Hand gesetzestreuer Bürger bedeuteten auch mehr Sicherheit. Oder wie es der populäre Slogan der NRA ausdrückt: »The only thing that stops a bad guy with a gun, is a good guy with a gun« – einen bösen Kerl mit einem Gewehr kann nur ein guter Kerl mit einem Gewehr aufhalten![13]
Auch die mass shootings(6), die Amerika regelmäßig erschüttern, lassen sich nach Auffassung der gun-rights-Advokaten am besten dadurch stoppen, dass Bürger ihre Pistolen jederzeit verdeckt mit sich führen, um im Notfall rasch eingreifen zu können. Fast alle US-Bundesstaaten haben solche conceal carry laws, sie unterscheiden sich lediglich darin, ob eine besondere Erlaubnis beantragt werden muss und welche Örtlichkeiten ausgenommen sind. Nur gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Nothilfe durch bewaffnete Zivilisten zur Eindämmung von Schusswaffengewalt beiträgt. Die Bewaffnung von Lehrkräften, die bei school shootings ihre Schüler schützen sollen, sehen Lehrerverbände und Experten skeptisch, sie ist aber in zahlreichen Bundesstaaten grundsätzlich erlaubt.[14]
In der Öffentlichkeit ist nicht nur umstritten, wie man mass shootings(7) stoppt, sondern auch, was unter dem Begriff überhaupt zu verstehen ist. Fasst man, wie das waffenkritische Gun Violence Archive, darunter jede Schießerei, bei der mindestens vier Personen verletzt oder getötet werden, kommt man auf viele Hundert Fälle pro Jahr, doch zählen dann auch Bandenkriege und Raubüberfälle mit. Um das spezifische Phänomen der öffentlich inszenierten Massaker zu erfassen, legen amtliche Kriminalstatistiken deshalb einen engeren Begriff zugrunde. So definieren die Autoren des von der US-Regierung finanzierten Violence Project mass shootings als vorsätzliche Morde, bei denen mindestens vier Menschen – der Täter ausgeschlossen – in einem zeitlichen Zusammenhang und an öffentlichen Orten durch Schusswaffen getötet werden, ohne dass der Tat ein gewöhnliches kriminelles Motiv zugrunde liegt. Gemäß dieser restriktiven Definition registrierten sie von 1966 bis Anfang 2023 insgesamt 187 Ereignisse mit 1346 Todesopfern; in knapp sechzig Prozent aller Fälle starben auch die Täter am Tatort, entweder durch Selbstmord oder durch Polizeikugeln. Ungefähr die Hälfte aller Schützen hatte die Waffen legal erworben, und ein Drittel war mit einem halbautomatischen Gewehr ausgerüstet.[15]
Obwohl sie nur 0,2 Prozent aller Todesopfer verursachen, sind mass shootings(8) die spektakulärste Erscheinungsform von Schusswaffengewalt in den USA. Massaker wie das an der Sandy-Hook-Grundschule in Newton, Connecticut, wo am 14. Dezember 2012 ein zwanzigjähriger Mann zwanzig Schulkinder und sechs Lehrer abschlachtete, machen auch deshalb fassungslos, weil sie zu keinerlei nennenswerten politischen Konsequenzen geführt haben. Nach Sandy Hook, so das bittere Fazit eines Journalisten, habe er begriffen, dass Amerika für das Recht auf Waffentragen den Massenmord an Kindern billigend in Kauf nehme. Der leichte Zugang zu Schusswaffen ist gewiss ein wichtiger Grund dafür, dass die USA die weltweite Rangliste der mass shootings mit großem Abstand anführen. Rund ein Drittel aller seit 1966 gezählten einschlägigen Taten ereigneten sich in Amerika. Mass shootings(9) kommen zwar auch in anderen westlichen Gesellschaften vor – 2011 starben in Norwegen 77 Jugendliche bei einer Attacke auf ein Ferienlager der Sozialdemokraten, 2019 ermordete ein Schütze in Neuseeland 51 Muslime, und 2020 erschoss ein Mann im hessischen Hanau zehn Menschen mit Migrationshintergrund –, doch ist sich die Forschung einig, dass die Häufigkeit, mit der solche Massaker in den USA passieren, neben der leichten Verfügbarkeit effizienter Mordinstrumente, auch auf Besonderheiten der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft zurückgeführt werden muss.[16]
Dass mass shooters(10) in den US-Medien üblicherweise als psychisch gestörte Einzelgänger dargestellt werden, ist insofern verständlich, als rund siebzig Prozent der Täter tatsächlich unter psychischen Problemen litten und ein Drittel sogar unter Psychosen. Nach den Erkenntnissen des Violence Project handelte jedoch nur jeder zehnte Schütze unmittelbar unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen. Auch das Bild vom rasenden Amokläufer führt in die Irre, denn die meisten Täter handeln planvoll und mit ostentativer Kaltblütigkeit. Stephen Paddock, der am 1. Oktober 2017 nahe Las Vegas 58 Besucher eines Country Music Festivals tötete und über 400 verletzte, hatte bereits Tage zuvor mehrere Hotelzimmer mit freiem Schussfeld auf das Veranstaltungsgelände gemietet und ein Arsenal von rund 25 Gewehren angelegt. Die legal erworbenen Waffen waren teilweise mit Schnellfeuermechanik und großen Magazinen bestückt und erlaubten es dem Schützen, innerhalb von zehn Minuten mehr als tausend Schuss abzufeuern, bevor er sich selbst tötete.[17]
Paddock, ein spiel- und alkoholsüchtiger Waffennarr, war mit 64 Jahren ungewöhnlich alt für einen mass shooter(11); überwiegend handelt es sich um junge bzw. jüngere Männer. Auch sein konkretes Motiv blieb im Unklaren, denn es bestand kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen seiner Biografie und dem Ort oder den Opfern. Viele Schützen kehren dorthin zurück, wo sie reale oder eingebildete Demütigungen erlitten haben – an den Arbeitsplatz, in die Universität oder in die Schule, so wie Eric Harris und Dylan Klebold, die beiden Schüler der Columbine High School in Colorado, die am 20. April 1999 zwölf Mitschüler, einen Lehrer und schließlich sich selbst erschossen, mutmaßlich, weil sie in der Schule gemobbt worden waren. Das Massaker popularisierte den Begriff mass shooting(12), und der Filmemacher Michael Moore(1) drehte eine vielbeachtete Dokumentation, in der er die Waffenlobby für die Tat verantwortlich machte. Viele Konservative deuteten die Morde dagegen als Folge des religiösen und moralischen Werteverfalls, weil die Täter offenbar Anhänger der Gothic-Subkultur gewesen waren, und verlangten als Gegenmittel die Wiederzulassung verpflichtender Schulgebete.[18]
Mass shootings(13) werden in den Medien oft als Tragödien bezeichnet, weil Täter wie die halbwüchsigen Mörder von Columbine selbst als Opfer persönlicher Umstände erscheinen, die sie zu ihren vermeintlich sinnlosen Gewalt- und Racheexzessen treiben. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese Umstände eng mit dem sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel der amerikanischen Gesellschaft seit den 1960er-Jahren zusammenhängen. Zwar finden sich auch vorher schon Belege für mass shootings, aber die Forschung datiert den Beginn der Welle öffentlich exekutierter Massenmorde meist auf das Jahr 1966, als ein Veteran der Marineinfanterie auf dem Campus der University of Texas in Austin 15 Menschen erschoss und damit gleich mehrere Nachahmungstaten inspirierte. Auch die Columbine-Täter wollten eine »Kettenreaktion« auslösen, und tatsächlich starben 1999 noch weitere 35 Menschen bei shootings. Männer, die sich an der Gesellschaft rächen wollen, gibt es in Amerika mehr als genug.[19]
Dass so gut wie alle mass shootings(14) von Männern verübt werden, ist nicht allein damit zu erklären, dass diese auch sonst sehr viel häufiger Gewalttaten begehen als Frauen, sondern muss als extremes Symptom der vielbeschworenen Krise der Männlichkeit betrachtet werden. Die Täter, so formuliert es die Autorin mehrerer einschlägiger Fallstudien, »folgen einem kulturellen Skript, das auf einen Rambo-Moment zuläuft, in dem sie ihren Status als echte Männer dadurch zementieren, dass sie in einem spektakulären Kugelhagel untergehen und damit ewigen Ruhm erlangen«. Der heroische Tod und die letzte Gewissheit, als berüchtigter Massenmörder in die Geschichte einzugehen, sollen für die Demütigungen des wirklichen Lebens entschädigen. Der Kriminologe Adam Lankford sieht zudem einen Bezug zur Leistungsethik des American Dream. Die »zerbrochenen Träume« von Erfolg und Anerkennung führten bei einer kleinen, psychisch anfälligen Minderheit amerikanischer Männer zu dem Wunsch, ihr Selbstbild in finalen Gewaltexzessen wiederherzustellen. Für manche linken Kritiker ist der wahre Schuldige deshalb der »Hyperkapitalismus«, der massenhaft zu prekären Arbeits- und Einkommensverhältnissen geführt und die Rolle des männlichen Ernährers untergraben habe.[20]
Auch wenn die Motive und Obsessionen der mass shooters(15) sich im Einzelfall unterscheiden, ist nicht zu übersehen, dass die Häufigkeit solcher Taten und die Zahl der Opfer in den vergangenen zwei Jahrzehnten geradezu epidemische Ausmaße erreicht haben. Nach den Erhebungen des Violence Project starben zwischen 1966 und 2003 insgesamt 515 Menschen bei 86 shootings, von 2004 bis Ende 2023 waren es 879 Todesopfer bei 103 Massenmorden. Über die Hälfte der schlimmsten Massaker in der US-Geschichte ereigneten sich seit 2013. Die Jahre 2016 bis 2019 markieren mit insgesamt 315 Toten einen blutigen Höhepunkt der Mordwelle, die 2020 durch die pandemiebedingten(3) Lockdowns nur kurz abebbte, denn in den drei Folgejahren zählte das Violence Project bereits wieder zusammen 175 Todesopfer.[21] Die naheliegende Vermutung, es könnte einen Zusammenhang zwischen dem dramatischen Anstieg der mass shootings(16) und der verschärften politischen Polarisierung geben, wird von der historischen Kriminologie gestützt, die eine Wechselbeziehung zwischen dem Gewaltniveau von Gesellschaften einerseits und dem Vertrauen in die Regierung und die Legitimität der politischen und sozialen Ordnung andererseits annimmt. Je größer das Misstrauen in Staat und Gesellschaft ist, desto höher liegt die Zahl der Gewaltverbrechen. Der steile Anstieg der Gewaltkriminalität in den 1960er- und 1970er-Jahren war demnach auch ein Spiegel der politischen Legitimitätskrise der Vietnam(71)-Watergate(34)-Ära. In Anbetracht der oben skizzierten Vertrauenskrise der US-Politik im frühen 21. Jahrhundert erscheint der Anstieg der mass shootings(17) daher plausibel, zumal zahlreiche Täter mutmaßlich aus Hass auf soziale Institutionen wie etwa Schulen morden.[22]
Über diesen allgemeinen Konnex hinaus stellt sich die Frage, ob es sich bei vielen der suizidalen Gewaltorgien nicht in Wirklichkeit um politisch motivierte Anschläge auf verhasste Minderheiten handelt. Die erwähnten Anschläge in Westeuropa und Neuseeland hatten eindeutig solche politischen bzw. rassistischen Hintergründe, und auch bei einigen der jüngsten mass shootings(18) in den USA ist dieses Motiv direkt nachweisbar. Dylann Roof, der junge weiße Südstaatler, der 2015 in Charleston, South Carolina, neun schwarze Kirchgänger tötete, schmückte sich mit den Insignien der Konföderation und wollte mit seiner Tat einen »Rassenkrieg« entfachen. Im Juni 2016 verübte ein US-Bürger afghanischer Abstammung, in Orlando, Florida, das bis dahin blutigste shooting der amerikanischen Geschichte, als er in einem von homosexuellen(25) Männern besuchten Club 49 Personen erschoss und über fünfzig weitere verletzte. Ob der Täter aus Schwulenhass handelte oder sich als islamistischer Terrorist verstand, konnte nie geklärt werden. Bei Stephen Paddock, dem Schützen in Las Vegas, ergab die Untersuchung kein erkennbares politisches Motiv, aber Robert Bowers, der Ende Oktober 2018 bei einem Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania, elf Menschen ermordete, bekannte sich offen zu seiner antisemitischen Gesinnung und machte die Juden für die Masseneinwanderung in die USA verantwortlich. Auch der achtzehnjährige Payton Gendron, der im Mai 2022 zehn Afroamerikaner in einem Supermarkt in Buffalo, New York, ermordete, berief sich auf die Verschwörungstheorie vom großen Bevölkerungsaustausch und stellte sich in eine Reihe mit den Mördern aus Charleston und Pittsburgh sowie mit den Rechtsextremisten, die in Norwegen und Neuseeland gemordet hatten. Aber obwohl sich Roof und Gendron gewiss als Teil einer Bewegung weißer Rassisten fühlten, gehörten sie keiner organisierten Gruppierung an, sondern hatten sich anscheinend im Internet radikalisiert. Nur bei etwa 13 Prozent der vom Violence Project erfassten mass shooters(19) bestanden Verbindungen zu sogenannten hate groups, und nur bei zwanzig Prozent ließen sich Motive wie Rassismus, Homophobie, Frauenhass oder Feindschaft gegen bestimmte Religionsgemeinschaften nachweisen. Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung werden Massenmorde auch nicht überproportional von weißen Männern verübt.[23]
Selbst wenn sich nur ein kleiner Teil der shootings(20) direkt mit politischen Motiven in Verbindung bringen lässt, müssen sie dennoch als Symptom der Polarisierung gewertet werden. Demokraten und Republikaner ziehen aus diesen Ereignissen gänzlich unterschiedliche Schlüsse. Während eine große Mehrheit der Demokraten bereit ist, den Zugang zu Waffen zu erschweren und den Verkauf halbautomatischer Waffen und großkalibriger Munition zu verbieten, lehnen immer mehr Republikaner solche Einschränkungen ab. Nach shootings steigt der Absatz von Gewehren und Munition regelmäßig steil an, weil Waffenbesitzer sich vorsorglich eindecken wollen, und ebenso verlässlich kursieren Verschwörungstheorien, dass die Regierung die Massaker nur vortäusche, um den Waffenbesitz einschränken zu können. Die Opfer dieser Schießereien(21), schreibt die Journalistin Michelle Goldberg, seien längst zu »Kollateralschäden im Kalten Bürgerkrieg« der USA geworden.[24]
Auch der Boom bei den Waffenverkäufen seit der Jahrhundertwende muss im Kontext der Polarisierung gesehen werden, denn er ging einher mit einer mentalen Normalisierung politischer Gewalt. Umfragen zufolge betrachteten immer mehr Amerikaner das Recht auf Waffentragen vor allem als Garantie, sich gegen Tyrannei wehren und ihren traditionellen way of life notfalls auch mit Gewalt verteidigen zu können. Als Donald Trump(34) die politische Bühne betrat, zeigte er wenig Skrupel, mit dem Feuer zu spielen. Im Wahlkampf 2016 ließ er durchblicken, dass die »Freunde des Second Amendment(14)« einer möglichen Präsidentin Hillary Clinton(9) in den Arm fallen sollten, und vier Jahre später rief er die rassistische Kampfgruppe Proud Boys(1) auf: »Haltet Euch zurück, aber haltet Euch bereit! Jemand muss etwas gegen die Antifa und die Linke tun.« Auch der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 führte bei der inzwischen stark radikalisierten GOP nicht zum Innehalten, sondern verstärkte die Militanz vieler ihrer Kandidaten weiter. »Der Zweite Verfassungszusatz«, warb ein Republikaner 2022 in Arizona um Stimmen, »hat nichts mit Entenjagd zu tun. Er dient dem Schutz eurer Familien und eures Landes.« Und ein Parteifreund aus Florida warnte Präsident Biden(3): »Versuch uns unsere Waffen abzunehmen, und Du wirst sehen, warum das Second Amendment(15) geschrieben wurde!«[25]
Mit ihrer unverhohlenen Bürgerkriegsrhetorik knüpften die Trump(35)-Republikaner an Traditionsbestände an, die in großen Teilen der US-Öffentlichkeit positiv besetzt sind. Die Überzeugung, dass Amerikaner ihre Freiheit und ihre Rechte mit der Waffe gegen eine tyrannische Regierung verteidigen müssen, wurzelt, wie oben dargelegt, in der republikanischen Ideologie der Revolutionszeit. Wenn sich paramilitärische Bürgerwehren Patriots oder Minutemen nennen, reklamieren sie die historische Legitimität der revolutionären Entstehungsgeschichte der USA für sich. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren historischen Bezugsrahmen, der vor allem unter konservativen weißen Südstaatlern omnipräsent ist: die als Reconstruction bezeichnete Wiedereingliederung der ehemaligen Konföderation in die USA, als der berüchtigte Ku-Klux-Klan(4) und andere paramilitärische Gruppierungen bewaffneten Widerstand gegen Yankee-Besatzung und »Negerherrschaft« leisteten. Die wachsende Militanz und Radikalisierung am rechten Rand, die seit Jahrzehnten zu beobachten sind, speisen sich aus beiden historisch-ideologischen Quellen: dem radikal-libertären Misstrauen gegen den Staat und dem Kampf für die weiße Vorherrschaft, der im späten 20. Jahrhundert durch die demografische Panik neue Schubkraft erhielt.[26]
Die USA haben eine lange Tradition des Vigilantismus, wie in Amerika die Selbstorganisation von Bürgern genannt wird, die glauben, Recht und Ordnung verteidigen zu müssen, weil die Staatsgewalt dazu entweder nicht bereit oder in der Lage ist. In der modernen Konsensdemokratie, als die sich die USA um die Mitte des 20. Jahrhunderts verstanden, erschienen Selbstjustiz und Vigilantentum freilich als anachronistische Relikte einer vergangenen Frontiergesellschaft. Der rassistische Terror, den der Klan und weiße Mobs gegen die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1950er- und 1960er-Jahren verübten, stieß in der Öffentlichkeit auf breite Missbilligung und trug wesentlich dazu bei, das System der Rassentrennung zu diskreditieren. Dass es weiterhin einen gewaltbereiten Rechtsextremismus gab, geriet in den Radical Sixties auch deshalb leicht in Vergessenheit, weil politische Gewalt eher aus dem linksradikalen Milieu und der militanten Black-Power-Bewegung(27) zu drohen schien.[27] In Wirklichkeit jedoch vollzog sich seit Ende der 1960er-Jahre auf dem rechten Rand eine Radikalisierung, die sich fast unbemerkt zu einer manifesten terroristischen Gefahr entwickelte.
Eine wesentliche Triebfeder des neuen militanten Rechtsextremismus war der Vietnamkrieg(72). Weiße Vietnamveteranen, die sich von ihrer Regierung verraten und nach dem Krieg im Stich gelassen fühlten, stellten den aktivistischen Kern bewaffneter Zellen und Netzwerke, deren ideologische Klammern der Hass auf den Staat und ein fanatischer, oft religiös überhöhter Glaube an die weiße Vorherrschaft bildeten. So erfreut sich in diesem Milieu die sogenannte Christliche Identitätslehre großer Beliebtheit, der zufolge die »arischen Rassen« die wahren Abkömmlinge der biblischen Israeliten und damit das auserwählte Volk Gottes seien, während Juden als Werkzeuge Satans gelten. Die sogenannte White-Power(1)-Bewegung umfasst ein breites und schillerndes organisatorisches und ideologisches Spektrum, das traditionelle Gruppen wie den Ku-Klux-Klan(5), bekennende Neonazis, die identitären Aryan Nations(1) oder das 1971 entstandene Posse Comitatus(1) einschließt, das sich nach der lateinischen Bezeichnung für die im englischen common law verankerte Bürgerpflicht, die Obrigkeit bei der Gefahrenabwehr zu unterstützen, benannte. Während das historische Posse jedoch ein Werkzeug der Staatsgewalt war, vertrat das Posse Comitatus, neben rabiatem Rassismus und Antisemitismus, eine radikal staatsfeindliche Ideologie, weil der amerikanische Staat angeblich die Verfassung verraten habe und deshalb keinen Rechtsgehorsam beanspruchen könne. Der Gründer William Potter Gale, ein ehemaliger Oberstleutnant der US-Armee, forderte in Radioansprachen zur Lynchjustiz an Bürokraten und Richtern auf, die angeblich das Recht beugten; das Gesetz des Posse Comitatus(2) gebe dem Volk das Recht dazu.[28]
Solche Weltbilder und Verschwörungserzählungen mögen von außen betrachtet grotesk erscheinen, doch waren viele ideologische Versatzstücke von White Power(2) in Teilen der US-Gesellschaft anschlussfähig. Dies gilt für Rassismus und Antisemitismus ebenso wie für den paranoiden Antikommunismus(22) des Kalten Krieges. Die apokalyptische Vorstellung, das weiße christliche Amerika werde von finsteren Mächten im Innern zersetzt und von außen bedroht und müsse sich in einem Endkampf dem Bösen entgegenstellen, ist tief in der protestantisch-evangelikalen(13) Kultur verankert. Und die Behauptung von Posse Comitatus(3), die Bürger hätten jederzeit das Recht und die Pflicht, sich mit Waffengewalt gegen eine tyrannische Regierung zu wehren, ist die zugespitzte Version radikaldemokratischer Ideen von Volkssouveränität, die nicht nur auf der Rechten Anklang finden.[29] Trotz zahlreicher ideologischer Schnittstellen trifft der plakative Begriff des Faschismus nicht den besonderen Charakter des amerikanischen Rechtsextremismus, der keinen zentralistischen Führerstaat anstrebt, sondern ein anarchisch-staatsfeindliches Weltbild pflegt. Auch entwickelte die White-Power(3)-Bewegung keine straffe Organisationsstruktur, sondern bestand aus einer Vielzahl kleiner Gruppen ohne sichtbare Führer. Die gewaltbereiten Zellen folgten dem Prinzip des »führungslosen Widerstands« und operierten eigenständig, um Infiltration und Strafverfolgung zu erschweren. Diese Strategie war insofern erfolgreich, als zahlreiche Gewaltverbrechen, darunter Morde an politischen Gegnern und »Verrätern« sowie Banküberfälle zur Geldbeschaffung, in der Öffentlichkeit kaum als rechtsterroristische Akte wahrgenommen wurden. Immerhin gelang es dem FBI, eine Terrorgruppe zu zerschlagen, die sich selbst als »Der Orden« bezeichnete und Ende 1984 der Bundesregierung »offiziell« den Krieg erklärte. Der Gründer starb bei einem Feuergefecht mit der Polizei, und 1985 wurden mehrere Mitglieder der Gruppe zu Haftstrafen zwischen vierzig und 150 Jahren verurteilt.[30]
Wie stark die White-Power(4)-Bewegung war, lässt sich schwer abschätzen. Die einschlägige Forschung geht für die 1980er-Jahre von einem harten Kern von ca. 25 000 Aktivisten aus, um die sich etwa 200 000 Unterstützer und vielleicht noch einmal so viele Sympathisanten gruppierten.[31] Das war der lunatic fringe, aber Anfang der 1990er-Jahre zeigte sich, dass sowohl das quantitative Potenzial des militanten Rechtsextremismus als auch seine Gewaltbereitschaft weit größer waren, als dies der Öffentlichkeit und den Strafverfolgungsbehörden bewusst war. Mehrere Ereignisse, bei denen die Polizeikräfte des Bundes keine gute Figur abgaben, bestärkten Sympathisanten in ihrer Überzeugung, dass die Bundesregierung einen Plan zur Unterjochung des Volkes verfolgte und dabei über Leichen ging.
Ende August 1992 kam es in Ruby Ridge, im äußersten Norden des Staates Idaho, zu einer tödlichen Konfrontation, als US-Marshals versuchten, Randy Weaver(1), einen Sympathisanten der Aryan Nations(2), wegen des illegalen Verkaufs einer Schusswaffe festzunehmen. Weaver hatte sich mit seiner Familie in die entlegene Gegend zurückgezogen, um unbehelligt vom Staat zu leben. Bei einem Feuergefecht wurden ein Sohn Weavers und ein Beamter getötet, und während der folgenden mehrtätigen Belagerung des Anwesens erschossen Polizisten auch Weavers Ehefrau. Als die Bundesanwaltschaft Weaver im April 1993 anklagte, stellte sich heraus, dass dieser wegen seiner rechtsextremen Kontakte seit Jahren im Visier der Bundespolizei gestanden hatte und dass ihn das Bureau of Alcohol, Tobacco, and Firearms (BATF)(1) als Informanten anwerben wollte. Der illegale Waffendeal war Teil einer verdeckten Operation, um ihn gefügig zu machen. Den Geschworenen erschien Randy Weaver(2) daher nicht als gewaltbereiter Rechtsextremist, sondern als Opfer staatlicher Willkür, und sie sprachen ihn vom Vorwurf des Mordes frei; er musste lediglich eine kurze Haftstrafe wegen illegalen Waffenbesitzes antreten. Seinerseits verklagte Weaver das US-Justizministerium auf 200 Millionen Dollar Schadenersatz. Um einen Prozess zu vermeiden, zahlte die Bundesregierung freiwillig über drei Millionen Dollar, ohne allerdings ein Fehlverhalten der Beamten einzugestehen. In der Öffentlichkeit wurde das Vorgehen der Bundespolizei weithin als exzessiv und rücksichtslos kritisiert. Weaver(3), so die New York Times(7), sei zwar ein Rassist, der schwerbewaffnet in einer Hütte in den Bergen von Idaho gelebt habe, aber nichts davon sei in den USA illegal.[32]
Ein halbes Jahr nach Ruby Ridge folgte in Waco, Texas, die Belagerung der sogenannten Branch Davidians, einer obskuren Sekte, die an die unmittelbar bevorstehende Apokalypse und Wiederkehr Jesu Christi glaubte. Ihr Anführer, David Koresh(1), beanspruchte ein sexuelles Monopol auf alle weiblichen Mitglieder des Kults, den er zur »Armee Gottes« erklärte; das Hauptquartier nahe Waco in Ost-Texas ließ er wie eine Festung sichern. Das BATF erhielt Informationen, Koresh horte und verkaufe große Mengen kriegstauglicher Schusswaffen und lasse außerdem synthetische Drogen herstellen. Als Ende Februar 1993 texanische Zeitungen über angeblichen Kindesmissbrauch bei den Davidianern berichteten, schien schnelles Handeln geboten. Doch der Versuch des BATF, Haft- und Durchsuchungsbefehle zu vollstrecken, provozierte einen Schusswechsel, bei dem vier Beamte und sechs Mitglieder des Kults ums Leben kamen. Daraufhin riegelten starke Polizeikräfte unter Führung des FBI den Gebäudekomplex ab. Es folgte eine Belagerung, die 51 Tage lang die amerikanische Öffentlichkeit in Atem hielt. Da sich unter den Belagerten mehrere Dutzend Kinder befanden, setzte die Polizei zunächst auf Verhandlungen und versuchte dann, die Davidianer durch Lärmbeschallung und Unterbrechung der Strom- und Wasserversorgung zur Aufgabe zu zwingen. Mitte April spitzte sich die Lage zu, denn Koresh(2) schien immer mehr auf einen apokalyptischen Untergang zuzusteuern, möglicherweise durch Massenselbstmord. Zudem kamen Gerüchte auf, unter den zahlreichen Schaulustigen, die nach Waco gekommen waren, befänden sich Sympathisanten, die einen gewaltsamen Entsatz planten. Am 19. April gab Justizministerin Janet Reno mit Billigung von Präsident Bill Clinton(15) Anweisung, die Belagerung mit Gewalt zu beenden. Der Plan, die Davidianer, die sich in einem Bunker verschanzt hatten, mit Tränengasgranaten außer Gefecht zu setzen, endete jedoch in einer Katastrophe. Während des Einsatzes brach ein Feuer aus, das, so befand ein Sonderermittler Jahre später, die Davidianer selbst entzündet hatten. Mindestens 76 Mitglieder des Kults, darunter 21 Kinder, verloren ihr Leben; Koresh beging vermutlich Selbstmord. Die Aktion war ein Desaster für die Bundesregierung und die Sicherheitskräfte, deren Taktik und Lagebeurteilung in den Medien scharf kritisiert wurden. Hinzu kam, dass im Nachhinein einige der Vorwürfe gegen Koresh(3) und die Davidianer nicht aufrechterhalten werden konnten.[33]
Für das rechte Milieu bewies das Vorgehen der Bundesregierung einmal mehr, dass der Staat Krieg gegen das amerikanische Volk führte und dabei auch Frauen und Kinder nicht schonte. Ruby Ridge und Waco bewirkten einen Radikalisierungsschub, der sich vor allem im Aufschwung der sogenannten Milizbewegung manifestierte. Bei diesen militias handelte es sich nicht um die im Second Amendment(16) gemeinten Formationen, die der öffentlichen Gewalt unterstehen, sondern um paramilitärische Vereinigungen von Privatleuten, die den Anspruch erhoben, als wahre Patrioten Amerika gegen seine inneren und äußeren Feinde zu verteidigen. Die Bildung von Privatarmeen, die das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen, ist durch keine Interpretation der US-Verfassung gedeckt, wurde aber von den Einzelstaaten und der Bundesgewalt mehr oder weniger toleriert. In den Medien kursierten Bilder, die den Eindruck erweckten, die militias seien ein Zeitvertreib für übergewichtige Männer mittleren Alters mit versponnenen politischen Ideen, die gerne mal Soldat spielen wollten. In Wirklichkeit gehörten den Milizen zahlreiche Veteranen der US-Streitkräfte an, die zum Teil über Kampferfahrung aus dem Golfkrieg von 1990/91 verfügten und die sich, wie die Vorgängergeneration der Vietnamkämpfer, vom Staat und von der Armee verraten fühlten. Viele Milizionäre besaßen militärtaugliche Waffen, und unter den Mitgliedern kursierten Handbücher mit Instruktionen für Terroranschläge. Da die Milizen lokal organisiert waren und es keine klaren Führungsstrukturen gab, ist unklar, wie stark der aktive, gewaltbereite Kern und die Unterstützer- und Sympathisantenszene tatsächlich waren. Mitte der 1990er-Jahre existierten im ganzen Land rund 450 Gruppen; die bekanntesten waren die Militia of Montana und die Michigan Militia(1). Die Gesamtzahl der aktiven Mitglieder dürfte mindestens 50 000 betragen haben, die Zahl derjenigen, die für die ideologischen Botschaften empfänglich waren, wird auf fünf bis zehn Millionen geschätzt. Unbestreitbar handelte es sich um eine authentische rechtsextreme Graswurzelbewegung.[34]
Politisch einte die militias, dass sie sich als Widerstandsbewegung gegen die »Neue Weltordnung« betrachteten, die Präsident George H. W. Bush(8) im September 1990 ausgerufen hatte. Die amerikanische Rechte verstand darunter nicht den Durchbruch einer auf das Recht gegründeten liberal-demokratischen Welt, sondern eine Verschwörung »globalistischer Eliten«, die Amerikas Souveränität und Traditionen zerstören wollten. So verschrieb sich die Michigan Militia(2) dem Kampf gegen »Tyrannei, Globalismus, moralischem Relativismus, Humanismus und die Neue Weltordnung, die diese Vereinigten Staaten zu unterminieren droht«. In der rechten Dämonologie trat nach Ende des Kalten Krieges der Globalismus als Feindbild an die Stelle des Kommunismus. So bereiteten die Vereinten Nationen angeblich mit Hilfe und Wissen der US-Regierung eine Invasion der USA vor. Milizangehörige wollten überall geheimnisvolle schwarze Hubschrauber gesichtet haben und behaupteten, die Regierung betreibe heimlich den Bau von Konzentrationslagern, um amerikanische Patrioten einzukerkern. Viele Kommentatoren machten sich über die kruden Weltbilder der selbsternannten Patrioten lustig, übersahen dabei aber meist, wie populär die Polemik gegen die New World Order weit über das Milizmilieu hinaus war. Auch der republikanische Rechtsaußen Pat Buchanan(8), der Radio-Demagoge Rush Limbaugh(4) und der Reverend Pat Robertson, ein Protagonist der Religiösen Rechten(17), beschworen unermüdlich die globalistische Gefahr und schlugen dabei mehr oder weniger offen antisemitische Töne an.[35]
Dass sich hinter dem lunatic fringe der Milizen eine reale terroristische Bedrohung verbarg, wurde weithin ignoriert. Das böse Erwachen kam am 19. April 1995, als bei einem Bombenanschlag auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City 168 Menschen getötet und fast 700 verletzt wurden. Das Datum, der zweite Jahrestag des Infernos von Waco, war kein Zufall. Timothy McVeigh(1), der Attentäter, gehörte zu den Sympathisanten, die im April 1993 die Belagerung der Davidianer vor Ort verfolgt hatten. Der Anschlag auf eine Einrichtung der Bundesregierung muss daher auch als Racheakt für Waco gedeutet werden, wobei es den Täter nicht interessierte, dass die Opfer im Murrah Building normale Amerikanerinnen und Amerikaner waren. McVeigh hatte auch keinerlei Skrupel, den mit hochexplosivem Ammoniumnitrat beladenen Kleinlaster direkt unter dem Kindergarten zu parken, bevor er die Bombe zündete. Und er war keineswegs der »einsame Wolf«, als der er in der Öffentlichkeit zunächst dargestellt wurde. Der Veteran des Golfkrieges handelte zwar nach den Vorgaben des »führungslosen Widerstandes« und hatte bei der unmittelbaren Ausführung der Tat nur die Unterstützung seines Ex-Kameraden Terry Nichols(1), war aber gut mit den Milizen und der White-Power(5)-Bewegung vernetzt und hielt sich vor dem Attentat länger in einem Camp militanter Rassisten auf. Er hatte sich über Jahre hinweg radikalisiert und war ein eifriger Leser der Turner Diaries, einer seit Mitte der 1970er-Jahre publizierten und unter Rechtsextremisten überaus beliebten Romanserie, die eine genozidale weiße Revolution imaginiert, um Amerika von allen Nichtweißen zu befreien. Der Plan für den Anschlag folgte möglicherweise sogar einem Skript aus den Büchern.[36]
Dass McVeigh(2) bereits anderthalb Stunden nach der Explosion verhaftet wurde, weil er bei einer Verkehrskontrolle Verdacht erregte, war purer Zufall, denn die Bundespolizei hatte ihn zuvor nicht auf dem Schirm gehabt. Auch die amerikanische Öffentlichkeit, die gerne an einen Anschlag ausländischer Terroristen geglaubt hätte, musste nun erkennen, dass die USA ein massives Problem mit hausgemachtem Rechtsextremismus hatte. Die Milizbewegung distanzierte sich zwar schleunigst von McVeigh, doch von Mäßigung oder Besinnung konnte keine Rede sein. Bei Anhörungen im US-Senat im Juni 1995 nannte eine Sympathisantin das Bombenattentat den »Reichstagsbrand der Clinton(16)-Administration« und insinuierte damit, was für weite Teile der Bewegung ohnehin ausgemacht war: Die Bundesregierung hatte den Anschlag selbst inszeniert, um einen Vorwand zu haben, dem Volk die Waffen wegzunehmen. Sprecher der militias beharrten darauf, gesetzestreue Bürger hätten das Recht, sich zu bewaffneten Selbstschutzkompanien zusammenzuschließen. Die Überzeugungskraft dieser Position hatte freilich gelitten, denn nach dem Anschlag von Oklahoma City verboten alle Bundesstaaten entweder die Bildung privater Milizen oder paramilitärische Aktivitäten. Dreiviertel der Amerikaner fanden, die Bundesregierung solle die militias unter scharfe Beobachtung stellen. Aber ein Vorschlag der Clinton(17)-Administration, sie per Bundesgesetz zu verbieten, scheiterte im Kongress am Widerstand aus beiden Fraktionen. Auch die Verbote auf einzelstaatlicher Ebene wurden nicht konsequent durchgesetzt, weil die Staatsanwaltschaften keine weiteren tödlichen Konfrontationen wie in Ruby Ridge und Waco riskieren wollten. 1996 verhandelte das FBI 81 Tage lang, bis die Montana Freemen, die sich von der US-Regierung losgesagt und auf einer Ranch in Montana verschanzt hatten, freiwillig die Waffen niederlegten.[37]
Der Anschlag in Oklahoma City war der schwerste, aber nicht der letzte rechtsextremistisch motivierte Terrorakt der Dekade. Auch der Bombenleger, der 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta, Georgia, einen Menschen tötete und elf weitere verletzte und bis zu seiner Verhaftung 2003 noch mehrere Attentate verübte, stand dem Milieu der White-Power(6)-Bewegung nahe und erklärte, aus Hass auf die Regierung und den globalen Sozialismus gehandelt zu haben. Allerdings erlebte die Milizbewegung einen temporären Niedergang, und manche Beobachter sahen mit McVeighs(3) Hinrichtung am 11. Juni 2001 sogar ihr Ende gekommen.[38] Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 richtete sich alle Aufmerksamkeit auf den islamistischen Terror, gegen den die Staatsgewalt mit beispielloser Härte vorging. Doch weder der militante Rechtsextremismus noch der Vigilantismus hatten ihre Attraktivität eingebüßt. Mitte der 2000er-Jahre machten in Arizona selbsternannte Grenzschützer von sich reden, die entlang der Grenze zu Mexiko patrouillierten, weil die Regierung zu wenig gegen illegale Einwanderer unternehme. Die Gruppe, die sich nach den Freiwilligenverbänden aus der Amerikanischen Revolution Minutemen nannte, bekannte sich zwar zur Gewaltlosigkeit, doch erschienen viele der Vigilanten bewaffnet zu den Patrouillen. Präsident George W. Bush(5) kritisierte die Aktionen, stockte aber die Finanzmittel und das Personal für den Grenzschutz weiter auf.[39]
Spätestens mit der Großen Rezession und dem Einzug Barack Obamas(21) ins Weiße Haus entwickelte sich eine zweite Welle der Milizbewegung, deren bekannteste Gruppen sich Three Percenters(1) oder Oath Keepers(1) nannten. Ideologisch unterscheiden sie sich nicht von den Milizen der 90er-Jahre. Sie bestreiten die Legitimität und das Gewaltmonopol des Staates, sehen die Politik als Verschwörung globalistischer Eliten und sich selbst als Revolutionäre in der Tradition der Patrioten von 1776, und sie wünschen sich ein Amerika, in dem weiße Männer die politische, soziale und kulturelle Vorherrschaft haben. Geändert hat sich vor allem das politische Umfeld, denn mit fortschreitender Polarisierung wurde der »irre Rand« immer breiter und dehnte sich bis weit in eine radikalisierte Republikanische Partei aus. 2016 war die GOP bereit für einen Präsidentschaftskandidaten, der kaum Berührungsängste gegenüber dem Rechtsextremismus zeigte und nicht zögerte, seine Anhänger zu Gewalt und Rebellion aufzustacheln. Der Putschversuch vom 6. Januar 2021, an dem sich zahlreiche Aktivisten der Proud Boys(2) und der Oath Keepers(2) in der Erwartung, ein neues »1776« zu erleben, beteiligten, scheiterte zwar, aber nach dem Sturm auf das Kapitol erschien immer mehr politischen Beobachtern und Historikern ein Bürgerkrieg als reale Gefahr. Dass die Amerikaner ernsthaft über diese Möglichkeit diskutieren müssen, liegt nicht zuletzt an einer politischen Kultur, in der die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in Teilen der Bevölkerung als Angriff auf die Rechte und die Souveränität der Bürger betrachtet wird. Ein Bürgerkrieg bleibt den USA und der Welt hoffentlich erspart, doch sollte es jemals dazu kommen, so wird es weder an Waffen fehlen noch an Männern, die bereit sind, sie zu gebrauchen.[40]