Donnerstag, der 25. März

image Höhepunkte

1) Gestern Nacht ist mir noch eingefallen, dass Julias Beine bestimmt nicht so kalklattenweiß wie meine waren. Muss mir unbedingt eine Flasche Selbstbräuner kaufen! So kann ich definitiv auf keinem Balkon stehen!!!

imageTiefpunkte

1) Hubsi (du erinnerst dich, Hubertus Klewenhagen, der Neue aus Bayern) hat mich gestern in der Schule zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Die Einladung war auf Büttenpapier mit Goldrand gedruckt!!!! Kannst du dir das vorstellen? Wusste sofort, dass ich nicht hingehen werde, war aber ausredetechnisch aus unerfindlichen Gründen (Falsch verstandene Höflichkeit? Spontane Gehirndemenz?) völlig paralysiert11 und habe infolgedessen nur ein dämliches »Danke« rausgebracht. Insofern bleibt wohl nur noch eine kurzfristige Absage wegen Krankheit. Ahhh! Ich hasse das!

6.44 Uhr morgens.

Papa hat mich eben vorm Badezimmer abgefangen und gebeten, Mama nichts von der Sache mit dem Glatzenmann zu erzählen, weil sie sich sonst bestimmt nur wieder unnötig aufregen würde.12 Habe einen Blick in die Küche geworfen, wo Mama gerade einen hysterischen Anfall bekommen hat, weil Otti sich fast einen Geschirrspültab in den Mund gesteckt hätte, und Papa dann versprochen, dass das klargeht. Mama ist, was mögliche Gefahren anbelangt, auch so schon panisch genug. Hat man mal keine Hausschuhe an, wittert sie gleich eine Nierenbeckenentzündung. Mindestens. Und was sollte ich ihr auch erzählen? Dass Papa Ben und mich in eine Literaturverfilmung geschleppt hat, die sich leider als Pornofilm entpuppt hat, und ich dort einen stiernackigen Glatzkopf mit Popcorn beschmissen habe, der Papa daraufhin fast die Nase gebrochen hat? Das glaubt sie uns doch sowieso nie.

13.50 Uhr. Nach der Schule.

Jetzt weiß ich, warum Ben gestern auf Papas Frage, ob er sich auch schon auf Italien freut, so komisch reagiert hat. Scheiße, Scheiße, Scheiße!!! Hab ich gestern wirklich geschrieben, dass nichts nur doof ist und alles auch was Gutes hat? Wie blöd kann man sein! Das ist alles so unfai- Oh, das Telefon klingelt. Vielleicht Ben …

13.58 Uhr.

Mist. Das eben war nicht Ben, sondern Scharina, die Liebeskummer wegen Jannick hat. Oder besser gesagt wegen seines Vaters. Herr Kleinhardt (also Jannicks Vater) hat nämlich heute früh beim Fegen seines Balkons eine Zigarettenkippe mit Lippenstiftresten gefunden und nun glaubt er, dass Scharina heimlich bei ihm raucht. Ist das zu fassen? Anscheinend war Schari die Einzige, die außer Jannick und ihm und einer geheimnisvollen Frau, für die er die Hand ins Feuer legen würde, in letzter Zeit bei Kleinhardts zu Hause war und damit ist die Beweisführung für ihn abgeschlossen.

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Schari meinte, sie hätte überhaupt keine Chance gehabt zu sagen, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Zigarette in der Hand gehabt hat, weil Jannicks Vater am Telefon gleich losgebrüllt hätte. Von wegen, dass mit den Mathe-Nachhilfestunden, die Jannick ihr gäbe, jetzt endgültig Schluss sei, weil heimliches Rauchen nicht nur schädlich, sondern auch ein massiver Vertrauensbruch sei und er daher in ihr keinen geeigneten Umgang mehr für seinen Sohn sähe, und so weiter und so weiter.

Was für ein Riesenar… Blödmann!13 Schließlich gibt Scharina Jannick Mathe-Nachhilfe und nicht umgekehrt! Aber das verdrängt Jannicks Vater nur zu gerne. Wahrscheinlich passt Schari einfach nicht in sein Denkschema. Dass ein Mädchen mit einem polnischen Nachnamen, schwarz lackierten Fingernägeln und einer pinken Haarsträhne intelligenter sein könnte als sein wundervoller Sohn, ist in seinem Kopf anscheinend nicht vorgesehen. Dabei könnte sich Jannick ohne Schari in Mathe glatt einsargen lassen.

Habe eben mit Scharina verabredet, dass ich gleich bei ihr vorbeikomme. Um Schokoladenkuchen zu backen. Einen mit Abführmittel für Jannicks Vater und einen ohne für uns – zum Frustessen. Das haben wir beide nämlich dringend nötig. Ich allerdings nicht wegen Jannicks Vater, sondern wegen etwas anderem.

Genauer gesagt, wegen etwas ganz SCHRECKLICHEM, das ich immer noch nicht richtig fassen kann!

Heute hatten wir zur Zweiten, das heißt, ich hab Ben auf dem Schulweg nicht gesehen. In Mathe habe ich mich dann wieder daran erinnert, dass Ben gestern ja noch irgendetwas wegen der Italienreise mit mir besprechen wollte. Also bin ich in der großen Pause zu unserem Geheimplatz hinter der Turnhalle gelaufen und da war er dann auch. Hockte auf der Bank und hat unglücklich an den Ginsterbüschen herumgezupft.

»Hi! Alles in Ordnung?«

»Klar. Na ja, nicht ganz …«

Ich hab ihn fragend angeguckt, aber statt einer Antwort hat Ben mich zu sich herangezogen und so geküsst, als gäbe es kein Morgen. Nach zehn Sekunden haben sich meine Beine angefühlt, als wären sie aus Schokoladenpudding, nach zwanzig Sekunden hat sich mein Gehirn in eine undefinierbare Masse verwandelt und nach einer Minute wusste ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Unglaublich! Denke, Ben könnte gut bei dieser Zaubershow auftreten, in der sie Uri Gellers Nachfolger suchen. Nach dem Motto »Und nun werde ich dieses Mädchen, das in ihrer letzten Bio-Arbeit immerhin eine Eins minus geschrieben hat, mit einem einzigen Kuss in ein waberndes Intelligenzvakuum verwandeln!«

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Nach fünf Minuten Dauerküssen war echt nicht mehr viel von mir übrig, aber irgendwann musste ich aus Luftmangel eine Pause einlegen und da ist mir dann wieder eingefallen, was ich ihn eigentlich fragen wollte.

»Äh, Ben, wolltest du nicht noch was mit mir besprechen? Wegen Italien?«

Ich hab ihn ein Stück von mir weggeschoben, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, denn bei dem Wort »Italien« ist Ben schon von ganz allein von mir abgerückt.

»Ja, ich weiß …«

Ich hab mich gewundert, warum er plötzlich so verlegen ausgesehen hat, aber ehe ich noch mal nachhaken konnte, hat er sich schon geräuspert.

»Tja, also wegen Italien … Ich hab da noch mal drüber nachgedacht. Zeitlich gibt’s da eventuell ein Problem. Weil wir doch gleich am Freitag nach Ostern bei diesem Schülerband-Wettbewerb mitmachen und dafür noch ziemlich viel proben müssen und …«

»Und?«

Ben hat sich am Kopf gekratzt und ich war etwas irritiert, weil ich nicht begriffen hab, worauf er hinauswollte. Aber dann hat er mich unsicher angeguckt und gemeint, dass er Ostern doch besser hierbleiben würde.

»Ich weiß, das ist für dich echt ätzend, aber ich kann Fiete, Steffen und Marc nicht so einfach hängen lassen! Wo die sowieso schon so genervt davon sind, dass ich dauernd mit dir zusammen bin und deswegen nicht mehr so viel Zeit für die Band habe …«

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»Moment. Nur damit ich das richtig verstehe, du willst lieber hierbleiben, als mit mir nach Italien zu fahren???«

Ich hab Ben fassungslos angestarrt und auf einmal hat er genauso unglücklich ausgesehen wie ich.

»Nein. Eigentlich würde ich ja gerne fahren, aber … Wenn ich den anderen die Chance bei dem Wettbewerb versaue, wäre das echt fies. Da gibt’s immerhin fünfhundert Euro Preisgeld. Davon könnten wir uns neue Verstärker kaufen. Und außerdem stand auf dem Flyer, dass da auch ein echter Musikproduzent in der Jury sitzt, und na ja, das wäre schon eine große Chance …«

Ben hat schluckend abgebrochen und vor meinem inneren Auge habe ich einen kopfschüttelnden Dieter Bohlen gesehen, der den Fans gerade bedauernd mitteilt, dass die Band, die den Preis am meisten verdient hätte, nicht auftreten kann, weil die Freundin des Bandleaders unbedingt nach Italien wollte. Na, vielen Dank auch!!!

»Tja. Dann hast du dich also quasi schon entschieden …« Ich hab versucht, so cool wie möglich zu klingen, aber so richtig hab ich das anscheinend nicht geschafft, denn Ben hat mich mit seinen großen blauen Augen ganz verzweifelt angeguckt.

»Kannst du das nicht verstehen? Das ist echt wichtig für mich.«

Ehrlich gesagt, hätte ich ihm am liebsten entgegengeschleudert »Nein, das kann ich ganz und gar nicht verstehen!«, aber da ich erwiesenermaßen unter einer Art zwangsneurotischer Harmoniesucht leide (O-Ton Mumi), habe ich nur ein vernuscheltes »Doch, klar …« herausgepresst.

Anschließend habe ich gemerkt, dass Ben mich noch immer abwartend angeguckt hat, so als ob mein »Doch, klar …« nicht gereicht hätte. Also hab ich ein knappes »Wenn das dir so wichtig ist, dann musst du eben hierbleiben!« hinterhergeschoben. Allerdings muss mein Tonfall dabei etwas gereizt geklungen haben, denn statt einer Antwort hat Ben nur geseufzt.

»Okay, ich hab’s verbockt. Und jetzt bist du sauer auf mich.«

Innerlich hab ich gedacht, sauer ist gar kein Ausdruck, aber

nach außen hab ich versucht, cool zu bleiben. Schließlich will ich nicht der Typ Freundin sein, der herumheult, nur weil ihr Freund sich für seine Band entscheidet und nicht für sie. »Bin ich nicht! Sauer meine ich. Und außerdem …«

Ich hab fieberhaft nach einer Ausrede gesucht, um meine Würde zu wahren, ein bisschen Stolz hab ich schließlich auch noch, aber mir ist partout keine eingefallen. Ben hat schon ganz komisch geguckt, also hab ich einfach meinen Mund aufgemacht und gehofft, dass da schon irgendetwas halbwegs Vernünftiges rauskommen wird.

» … und außerdem wollte ich dir gerade dasselbe sagen. Mit Italien, mein ich.«

»Wolltest du?« Das verdutzte Gesicht, das Ben gemacht hat, war es wert!

»Ja. Ich kann nämlich auch nicht mitkommen. Wegen meiner Eltern.«

»Wieso? Was ist denn mit denen?«

Gute Frage! Wenn mir darauf nur irgendeine Antwort eingefallen wäre.

Ben hat mich verwirrt angeguckt und ich hab (in Anbetracht der Umstände ziemlich lässig, wie ich fand) die Schultern gezuckt.

»Tja, die können nicht. Aus beruflichen Gründen. Ist natürlich schade. Aber was soll man machen.«

Während ich mich selbst über meine spontanen Schauspielkünste gewundert habe, hat Ben mich noch immer ungläubig angestarrt.

»Aber deine Mutter hat meine Mutter doch gestern Abend noch gefragt, ob’s in dem Haus in der Toskana ein Babybett für deine Schwester gibt.«

»Wirklich? Na ja, gestern Abend wusste sie ja auch noch nicht, dass …«

»Dass?«

Ben hat mich verwirrt angeguckt und mir ist nicht das Geringste eingefallen, was ich darauf erwidern könnte. Schließlich hat sich Mama für Otti wirklich schon um ein Babybett gekümmert, aber ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als Ben das zu sagen. Also hab ich meiner Fantasie einfach freien Lauf gelassen.

» … dass sie Karfreitag arbeiten muss. In der Buchhandlung. Und Ostersonntag auch.«

»Karfreitag UND Ostersonntag? Welche Buchhandlung hat denn an den Feiertagen offen?«

Ben hat mich noch verwirrter als eben schon angesehen und im selben Moment ist mir Mamas Kollegin mit ihrem Wasserrohrbruch zu Hause eingefallen. Und dann hab ich Ben erzählt, dass sie bei Groth heute früh einen Wasserrohrbruch gehabt hätten und nun müssten meine Mutter und ihre Kolleginnen über Ostern antanzen, um den Schaden aufzunehmen und die neuen Bestellungen vorzubereiten und so weiter.

»Oh, Shit. Das ist ja ätzend.«

Ben hat mich mitfühlend angesehen und ich hab geseufzt.

»Und ob. Morgen muss Mama erst mal alle möglichen Föhne besorgen, damit sie die Bücher trocken föhnen können …« Kurzzeitig habe ich befürchtet, dass das mit dem Föhnen vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragen war, aber zum Glück hat Ben nicht weiter nachgebohrt, sondern nur gemeint, dass sie bei seinem Vater in der Firma neulich auch einen Wasserrohrbruch gehabt hätten.

»Ist ziemlich nervig, so was. Aber wenigstens hat das Ganze auch was Gutes. Wenn du sowieso nicht fährst, muss ich kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil ich hierbleibe! Oh, Mann!! Wenn ich das den Jungs sage, springen die bestimmt vor Freude in die Luft.«

»Mhm. Wahrscheinlich …«

Ben hat ziemlich erleichtert ausgesehen, aber ich hatte einen ganz bitteren Geschmack im Mund, was bei mir immer das erste Anzeichen dafür ist, dass ich gleich in Tränen ausbreche. Und deswegen hab ich Ben gesagt, dass ich jetzt schleunigst wieder in meine Klasse muss, weil der Clausen immer einen Schreikrampf kriegt, wenn man auch nur eine Sekunde zu spät kommt. Und dann bin ich aufgestanden und gegangen.

Nach Schulschluss hab ich nur noch gesehen, wie Steffen, Marc und Fiete Ben bei den Fahrradständern abgeklatscht haben. Tja, so viel also zum Thema Band oder Julie. Bens Entscheidung war da ziemlich eindeutig, würde ich sagen. Kann’s noch immer nicht fassen. Habe eben anderthalb Stunden lang die CD gehört, die Ben mir mit seinen Lieblingssongs gebrannt hat, und fühle mich noch immer wie geschreddert.

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Schari hat eben noch mal angerufen und gefragt, ob ich eine Tafel Schokolade mehr mitbringen kann (in ihrem Rezept für Schokokuchen sind vier Tafeln Vollmilch vorgesehen und nicht drei, wie wir gedacht haben), aber als sie gemerkt hat, wie schlecht ich gerade drauf bin, hat sie vorgeschlagen, dass wir uns das mit dem Backen schenken und lieber gleich zur Schokolade übergehen. Ist sie nicht toll?? Schari ist wirklich meine aller-, allerbeste Freundin!!!!!!!!!!!!

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11 Paralysiert = gelähmt, eines meiner Lieblingswörter. Scharina meint, ich würde es ständig benutzen, aber ich merke das immer gar nicht.

12 Das Missverständnis mit dem Film gestern hat sich übrigens aufgeklärt. Papa dachte, es handele sich um den Herrn der Diebe, eine preisgekrönte deutsche Jugendbuchverfilmung über eine Bande jugendlicher Diebe in Venedig. In Wahrheit handelte es sich bei dem Herrn der Liebe aber um eine preisgekrönte japanische Erotiktragödie über einen schwulen Japaner in Tokio. (Lebensweisheit Nr. 4: Merke, Chinesen und Japaner sehen sich erstaunlich ähnlich.)

13 Versuche im Moment, nicht mehr ganz so oft Scheiße und Co. zu sagen, weil Mama am Wochenende eine neue Regel eingeführt hat. Seit Samstag muss jeder, der ein Schimpfwort sagt, fünfzig Cent in die Urlaubskasse einzahlen. Zurzeit befinden sich in der Urlaubskasse bereits zwei Euro fünfzig. Natürlich ausschließlich von mir. Wenn das so weitergeht, kann ich das mit dem Laptop, auf den ich spare, endgültig vergessen.