Höhepunkte
1) Nach drei Stunden Wachliegen und knapp viereinhalb Stunden Albträumen, in denen ich im Bikini vor Stefan Raab »Stups, der kleine Osterhase« singen musste, ist die Nacht endlich vorbei! Hosianna!
Tiefpunkte
1) Habe eben Scharina angerufen, um sie nach einer Idee zu fragen, wie man aus der Casting-Geschichte wieder rauskommen könnte. Scharina meinte, sie verstehe mich vollkommen. Sie hätte nach einem Blick auf Lineas Homepage (Was für eine Homepage??) auch die Panik gekriegt, aber leider hätten Hanna und Katja gestern zwanzig Euro darauf gewettet, dass ich mich nicht traue, am Dienstag dort anzutanzen, und insofern dürfte ich jetzt nicht kneifen. (Vermute, Schari hat zwanzig Euro dagegen gewettet, denn ihre Stimme bekam auf einmal etwas Dringliches.) War nach dem Telefonat schwer geschockt. Stehe plötzlich im Mittelpunkt einer Schulwette. Absolut grauenvoll!
2) Habe den Namen von dieser Linea eben im Internet gegoogelt und bin dabei auf fünfundsechzig (!!!) Einträge gestoßen. Anscheinend war die Schülerband, in der sie vorher mitgesungen hat, ziemlich erfolgreich. Außerdem war da noch ein Foto auf ihrer Homepage und ich muss sagen, SIE SIEHT WIRKLICH AUS WIE PINK! Nein, ehrlich gesagt, sogar noch besser. Und, ach ja, sie ist sechzehn, ein Jahr älter als Ben. Spüre ein merkwürdiges neues Gefühl in meinem Magen, wenn ich an das Vorsingen denke. Vermute, es ist nackte Angst. 3) Gleich kaufen wir einen BH.
9.25 Uhr.
Habe Mama, Papa und Otti eben »Rehab« vorgesungen. Diesen Song von Amy Winehouse mit dem »No, no, no …«. Bei dem ersten »No, no, no …« war noch alles in Ordnung, aber dann hat Otti angefangen zu schreien. Ich hab noch mal von vorn angefangen, weil ich gedacht habe, dass es vielleicht daran lag, dass Mama mitgesungen hat, aber beim zweiten Mal hat Otti sich die Hände über die Ohren gehalten und noch lauter geschrien. Irgendwann hat Mama sich Otti geschnappt und ist mit ihr im Flur Schnullersuchen gegangen und ich habe Papa gefragt, wie er es fand. Er hat eine Sekunde gezögert und mich dann gefragt, ob ich eine ehrliche oder eine höfliche Antwort will.
AHHH!!!!
Habe gekränkt erwidert, dass er sich bloß keinen Zwang antun soll, aber im selben Moment, als er den Mund aufmachen wollte, ist Mama in die Küche zurückgestürzt gekommen und hat gesagt, er müsse jetzt dringend Brötchen holen, sonst kämen wir nicht mehr rechtzeitig los zum Shoppen.
Habe ihr natürlich unterstellt, sie hätte das mit Absicht gemacht, um Papa freizukaufen, aber sie hat beteuert, es würde ihr ausschließlich um die Brötchen gehen und wir hätten einfach keine Zeit mehr, um Papas Antwort auf meine Frage zu hören.
Für wie blöd halten die mich eigentlich?????
Da niemand sonst da war, habe ich anschließend Mama nach ihrer Meinung gefragt. Sie fand, dass ich toll gesungen hätte, was aber a) alles heißen kann, schließlich sind Mütter bei so was einfach nicht objektiv – und b) reichlich geistesabwesend rüberkam, weil sie mich quasi im gleichen Atemzug gefragt hat, ob ich lieber einen BH mit oder einen ohne Bügel will. Als ob mir das nicht völlig piepegal wäre!!!! Und wer hängt seine BHs überhaupt auf Bügel? Legt man die nicht einfach in die Schublade? Oh Gott! Wenn ich an gleich denke, wird mir ganz schlecht. Warum können wir das Teil nicht einfach bei H&M kaufen, wo kein Mensch auf einen achtet? Muss es denn ausgerechnet ein Geschäft mit persönlicher Beratung sein? Haben andere Mütter auch diesen Tick? Ich hasse persönliche Beratung! Habe zwar seit über einem halben Jahr keine Platzangstattacke mehr gekriegt, aber wer weiß, was passiert, wenn ich allein in einer Umkleidekabine stehe und diese Teile anprobieren muss.
Andererseits – hoffentlich bin ich alleine da! Muss Mama unbedingt noch sagen, dass ich sie umbringe, wenn sie wieder so abrupt den Vorhang beiseitezieht wie beim letzten Mal, als wir einen Bikini kaufen waren. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen! Vor allem, weil der Verkäufer nur ein paar Meter entfernt stand! Und ich hatte lediglich einen Slip an! Aber so was merkt Mama ja nie. Sehe mich schon von wildfremden fünfzigjährigen Frauen mit umhängenden Lesebrillen umgeben, die meinen Busen wie ein Stück Schnitzel taxieren. Oh, Gott! Ich will nicht!!!!
17.34 Uhr.
Warum? Warum passiert so was immer nur mir?? Ich kapier das einfach nicht!!
Was steht noch auf diesem bestickten Leinentuch vom Flohmarkt, das bei Mumi in der Küche hängt? »Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.« Dumm nur, dass mein Licht am Ende des Tunnels garantiert ein direkt auf mich zu rasender Intercityexpress ist!!! Was glaubst du, wer eben neben mir stand, als die Wäscheverkäuferin meiner Mutter erklärt hat, dass mein linker Busen größer sei als mein rechter?
Meine Intimfeindin Hanna aus der 7a! Ahhhhhhhhhh!!!! Ich fass es nicht! Das ist mal wieder sooooooooooooo typisch. Warum in Hundekacke treten, wenn man auch darin baden kann? Dabei hatte alles so gut angefangen!
Normalerweise macht Mama mich beim Shoppen immer wahnsinnig, aber diesmal hat sie sich für ihre Verhältnisse wirklich zusammengerissen. Zuerst waren wir in der obersten Etage vom Alsterhaus Eis essen und dann habe ich mir drei Stockwerke tiefer einen ziemlich coolen Jeansrock ausgesucht und zwei schwarze T-Shirts und Mama hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Und das, obwohl ich weiß, dass sie es hasst, wenn ich mir alles in Schwarz kaufe, weil etwas Helles in ihren Augen einfach frischer aussieht. (Bei einem Shoppingtrip mit ihr kommt man sich immer vor wie ein Joghurt.) Als wir an der Kasse waren, hatte ich fast gute Laune. Ehrlich gesagt auch, weil ich ein klitzekleines bisschen gehofft hatte, dass sie die BH-Geschichte vielleicht vergessen hätte, aber von wegen. Auf der Rolltreppe hat sie gesagt: »Und jetzt fehlt nur noch der BH«, und da wusste ich, dass ich keine Chance hab.
Je näher wir der Wäscheabteilung gekommen sind, umso verzückter hat Mama geguckt, und das muss die Verkäuferin geradezu gerochen haben, denn kaum waren wir um die erste Säule herum, ist sie wie ein Pfeil auf uns zugeschossen.
»Kann ich Ihnen und Ihrer Tochter vielleicht behilflich sein?«
Mama hat genickt und dann gemeint, sie sei auf der Suche nach einem allerersten BH für ihre Tochter und da habe ich schon gemerkt, wie sich meine Nackenhaare aufgestellt haben. Als ob es nicht gereicht hätte, ganz normal nach einem BH zu fragen. Nein, sie muss natürlich gleich rausposaunen, dass es der allererste BH ist. Echt krank!
Die Verkäuferin, die vorher eher gelangweilt gewirkt hat, hat auf einmal genauso verzückt gelächelt wie Mama und dann hat sie durch die ganze Abteilung »Gerda, kommst du mal? Hier sucht jemand seinen allerersten BH!« gerufen.
Alle haben sich zu Mama und mir umgedreht und ich hab mir nur noch gewünscht, dass sich der Boden auftun und ich mit einem Plumps ins Stockwerk darunter katapultiert werden möge (vorzugsweise in eine Abteilung, die vollkommen harmlos ist – vielleicht zu den Schals oder den Rucksäcken), aber das ist natürlich nicht passiert. Stattdessen hat mich ein dicker Mann, der mit seiner genauso dicken Frau bei den Nachthemden stand, ganz lüstern angestarrt und ich hab Mama zugeflüstert, dass ich mich umdrehe und gehe, wenn sie nicht auf der Stelle dafür sorgt, dass die Verkäuferin leiser ist. Zu Mamas Ehrenrettung muss ich sagen, dass sie wirklich den Mund aufgemacht hat, aber im selben Moment, wo diese komische Gerda »Wie viel Busen hat sie denn? Reicht Cup A?« zurückgerufen hat (Ohne Worte!), habe ich Hanna und ihre Mutter bei den Bademoden entdeckt. Ich war so erschrocken, dass mein Herzschlag für eine Sekunde ausgesetzt hat, und dann ist mir schwarz vor Augen geworden.
Als ich wieder klar denken konnte, bin ich hektisch hinter den nächsten Ständer verschwunden, aber da war es schon zu spät. Die schreckliche Verkäuferin hat mit einem »Na, man nicht so schüchtern …« nach ihrem Maßband gegriffen und es mir um die Brust gewickelt und im selben Augenblick hat Hannas Mutter hochgeblickt und mich erkannt.
»Oh, sieh mal, Hanna, ist das nicht Julia?«
Ich hab so doll die Fäuste geballt, dass sich meine Fingernägel in die Handinnenflächen gedrückt haben. Die Verkäuferin ist mit ihrem Maßband irgendwo zwischen den Büstenhaltern verschwunden und Mama hat mir bei dem Anblick von Hannas Mutter einen mitfühlenden Blick zugeworfen (schließlich weiß sie, dass Hanna und ich seit der Sylt-Geschichte im letzten Jahr ein absolutes No Go sind), aber Hannas Mutter hat die Einschläge mal wieder nicht gehört und ist direkt auf uns zugekommen.
»Frau Ahlberg, wie schön, dass wir uns treffen. Ich sage meinem Mann immer, wie schade ich es finde, dass sich die beiden Mädchen durch die Intrigen dieser kleinen Polin so auseinandergelebt haben.«
»Scharina ist keine Polin. Nur ihre Eltern kommen aus Polen und …«
»Natürlich. Julie, du musst sie nicht verteidigen. Wir haben nichts gegen Ausländer. Hanna, Julia ist hier.« Hannas Mutter hat ihrer Tochter einen auffordernden Blick zugeworfen und Hanna hat mich genervt angesehen und dann gesagt, das wäre ja nicht zu überhören gewesen.
»Meinst du echt, die haben hier was in deiner Größe?«
»Hanna, bitte! Ach, diese Kinder!«
Hannas Mutter hat in gespielter Verzweiflung aufgestöhnt und dann noch einmal vorgeschlagen, dass Hanna und ich uns doch bald wieder verabreden sollten, aber ehe meine Mutter etwas darauf antworten konnte, habe ich schon gesagt, dass wir jetzt leider dringend losmüssten.
»Du weißt doch, Mama, wir müssen noch unbedingt meine … meine Uhr abholen …«
»Deine Uhr? Was für eine …? Ach ja, deine Uhr!«
Mama hat für ihre Verhältnisse erstaunlich schnell geschaltet, aber leider ist die zweite Verkäuferin im selben Moment mit drei BHs in der Hand auf uns zumarschiert und da war an Flucht nicht mehr zu denken.
»Hier bitte. Meine Kollegin meinte, die rechte Brust sei etwas stärker als die linke, aber das ist bei diesem Modell kein Problem.«
Ich hab fassungslos auf die BHs gestarrt und dabei gehofft, dass sie das eben nicht wirklich gesagt hat, aber im selben Moment hab ich aus den Augenwinkeln gesehen, wie sich ein fieses Grinsen auf Hannas Gesicht ausgebreitet hat.
»Oh, Julie, du Arme! Unterschiedlich große Brüste. Das ist ja schrecklich!«
Hanna hat mit gespieltem Mitleid den Kopf geschüttelt und ich hab gedacht, gleich knalle ich ihr eine, völlig egal, ob ihre Mutter danebensteht oder nicht, aber da hat Mama mich schon warnend am Ellenbogen gefasst.
»Zieh sie doch schnell mal an, Julie, und dann verschwinden wir auch sofort.«
»Ja, mach doch, Julie. Ich probier auch zwei Badeanzüge an.«
Während Hanna mit einem falschen Lächeln im Gesicht und ihren zwei Badeanzügen in der Hand in der Kabine neben meiner verschwunden ist, war ich einen Augenblick kurz davor, einfach abzuhauen, aber dann ist mir klar geworden, dass ich damit alles nur noch schlimmer machen würde. Also hab ich mit starrem Gesichtsausdruck genickt und bin mit den drei BHs ab in die Kabine.
Draußen hat Hannas Mutter meiner Mutter lauthals erzählt, dass die meisten jungen Mädchen ungleiche Brüste hätten und sie sich deshalb keine Gedanken machen bräuchte, und drinnen hab ich Hanna in der Kabine nebenan kichern hören, aber ich hab nicht geheult, sondern nur daran gedacht, dass ich Hanna auf keinen Fall den Triumph lassen darf. Also habe ich die Zähne zusammengebissen und die drei BHs mit tödlicher Entschlossenheit durchprobiert. Wirklich unglaublich, welche Selbstbeherrschung man aufbringen kann, wenn man es muss. Den ersten, der halbwegs saß, habe ich beiseitegelegt und dann hab ich mich so schnell wie möglich wieder angezogen und mir die ganze Zeit eingeredet, dass Hanna nicht durch den Vorhang gucken kann. Für einen Moment war mein Verfolgungswahn sogar so groß, dass ich mir ernsthaft eingebildet habe, das Geräusch einer klickenden Kamera zu hören, aber Gott sei Dank hat mein gesunder Menschenverstand dann doch noch über meine Paranoia gesiegt.
Sobald ich wieder draußen war, habe ich mir Mama geschnappt und bin mit einem »Jetzt müssen wir aber wirklich los!« in Richtung Kasse gerast. Oh Mann. Zum Glück hat Hanna mit ihren Badeanzügen noch länger gebraucht und insofern haben wir sie anschließend nicht mehr gesehen. Mama hat sich auf dem Rückweg noch entschuldigt, dass unsere Shopping-Tour so enden musste, aber ich war einfach nicht in der Stimmung, ihr Absolution16 zu erteilen. Allein die Vorstellung, was Hanna mit ihrem Wissen über meinen ungleichen Busen anfängt! Ich wette, morgen weiß es die halbe Schule! Oh, guckt mal! Da kommt Julie! Wusstest ihr schon, dass sie zwei unterschiedlich große Brüste hat? Verdammt, ich bin geliefert! Ich bin so was von geliefert!
16 Absolution ist so eine Art Vergebung, die man vom Priester bekommt, wenn man katholisch ist. Wir sind zwar nicht katholisch, aber aus unerfindlichen Gründen benutzen Mama und Papa das Wort trotzdem ziemlich oft. Hmm. Eigentlich merkwürdig. Werde das bei Gelegenheit mal recherchieren. Vielleicht ist ja einer von beiden heimlich doch katholisch. Oder jüdisch. Das fände ich noch spannender. Dann könnte ich später nach Israel auswandern. Aber bei meinem Pech sind wir garantiert alle nur langweilig evangelisch.