Montag, der 29. März

image Höhepunkte

1) Heute war der erste Schultag nach der BH-Katastrophe, und soweit ich gehört habe, hat niemand über meine ungleichen Brüste gelästert! Habe ehrlich gesagt keine Erklärung dafür. Sollte Hanna auf einmal Skrupel bekommen haben? Eigentlich kaum vorstellbar, oder?

2) Habe heute bei Scharina gegessen. Pfannkuchen mit Nuss-Nugat-Creme und anschließend Vanilleeis mit Schokosoße. Finde, eine Mutter, die mittags nicht da ist, weil sie arbeiten muss, erspart einem das vorzeitige Ausziehen von zu Hause.

image Tiefpunkte

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1) Ben hat heute früh einen alten Föhn vorbeigebracht. Für meine Mutter. Damit sie die nassen Bücher im Laden damit trocknen kann. Habe inzwischen ein wirklich schlechtes Gewissen wegen dieses nicht existenten Wasserrohrbruchs. Aber eine Lüge mehr oder weniger macht den Kohl jetzt auch nicht mehr fett. Erinnere mich daran, dass ich Mama unbedingt noch Bescheid sage, damit sie sich gegenüber Ben und seinen Eltern nicht verquatscht!!!

2) Morgen ist Dienstag. D-Day. Casting-Day. Auch wenn ich versuche, es die ganze Zeit zu verdrängen.

3) Habe festgestellt, dass das Wort Bullenschwein absolut unfair ist. Schließlich sind Schweine nette Tiere. Total sensibel und klug. Ganz im Gegensatz zu einem gewissen Bullen, der echt nicht mehr alle Tassen im Schrank hat!!!!!!!

Schari tut mir sooooooo leid!!!!! War eigentlich der festen Überzeugung, dass niemand zurzeit vom Schicksal so gebeutelt ist wie ich, aber als Schari mir vorhin gesteckt hat, was gestern zwischen ihr und Jannicks Vater vorgefallen ist, hat das meinen eigenen Kram doch in ein ziemlich anderes Licht gestellt. Ich mein, diese ganze Vorsing-Geschichte ist schon ein ziemlicher Horror, aber das, was Schari gestern erlebt hat, toppt meine Sorgen noch mal gewaltig. Oh Mann. Allmählich können Schari und ich uns den Titel »Master of Desaster« teilen. Aber am besten erzähl ich von Anfang an …

Nach dem Mittagessen hab ich Schari beim Treppewischen geholfen, was erstaunlicherweise richtig viel Spaß gemacht hat. Allein grusle ich mich in Scharinas Treppenhaus immer ziemlich, weil das Licht im Flur andauernd kaputt ist und die Graffiti im Halbdunkel so fies aussehen, aber wenn Schari dabei ist, sehe ich das wesentlich entspannter. (Na ja, außer letzte Woche, als Scharis betrunkene Nachbarin uns »miese Nutten« genannt hat, obwohl wir nur die Plastiktüten vor ihrer Tür kurz zum Wischen beiseitegestellt haben, aber Schari meinte, die würde immer so reden und da brauche man sich nichts bei zu denken.) Ist ja auch egal. Nachdem wir die Treppe geputzt hatten, sind wir auf alle Fälle wieder reingegangen und haben bei Schari in der Küche Mangas gezeichnet und dabei habe ich eine Horrorgeschichte erzählt, die Scharina voll cool fand. Im Manga-Zeichnen ist Scharina zehnmal besser als ich (ich krieg die Augen von Sakura und Naruto nie so richtig hin), aber das macht nichts, weil ich mich sowieso mehr auf die Geschichten konzentriere. Diesmal habe ich den rothaarigen Oliver und unseren frischgebackenen Siegelringträger Hubsi von Klewenhagen von feministischen Vampiren zu Hackfleisch verarbeiten lassen, und das war ziemlich lustig. (Hubertus war am Ende eine sprechende Frikadelle und Oliver hat Pickel bekommen, aus denen Würmer gekrochen sind – voll eklig!)

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Anschließend haben Schari und ich Schoko-Muffins gebacken (Schari backt im Moment andauernd Muffins, echt praktisch) und alles war eigentlich wie immer. Außer dass Schari ein bisschen stiller war als sonst, aber das ist mir anfangs gar nicht aufgefallen. Dafür war ich wahrscheinlich von den neuesten Karriereplänen ihres Bruders viel zu fasziniert. Schließlich nennt Kevin sich, laut Scharina, neuerdings »Killa-Kevin« und arbeitet als Türsteher in einer Nobel-Disco auf dem Kiez. Das ist aber noch nicht alles. Nachdem sein Plan, als Gangsta-Rapper in die Musikgeschichte einzugehen, nicht geklappt hat (was ja kein Wunder ist, weil selbst Gangsta-Rapper einen höheren IQ als Kevin haben, meine Meinung, nicht die von Schari), will er jetzt eine Security-Firma für Personenschutz gründen. Was, wenn du mich fragst, nur ein anderes Wort für einen Schlägertrupp voller Hirnis ist. Aber okay, in Sachen Kevin bin ich auch nicht wirklich objektiv. Schari sieht das Ganze natürlich viel positiver, weil sie ihren Bruder noch immer liebt, obwohl er sie letztes Jahr ziemlich oft verprügelt hat, aber bevor wir uns deshalb wieder in die Haare gekriegt haben, habe ich lieber schnell das Thema gewechselt und ihr von meiner Hanna-Begegnung beim BH-Kauf erzählt. Und da waren wir dann wieder ganz einer Meinung.

In ihren Augen verfüge ich über eine schier unermessliche Selbstbeherrschung und ich muss sagen, langsam finde ich das auch. Im Nachhinein erscheint es mir ganz unvorstellbar, dass ich Hannas hämisches Lachen erduldet habe, ohne ihr an die Kehle zu springen. Vielleicht sollte ich mich später neben meiner Schriftstellerei und der Erforschung der Wirbeltierwelt auch noch beim diplomatischen Dienst bewerben. Für jemanden, der Hannas miese Sprüche erträgt, ohne auszurasten, ist die Erreichung des Weltfriedens wahrscheinlich nur ein Klacks. Was das Sängerinnen-Casting morgen anbelangt, ist meine Zuversicht allerdings weniger groß. Habe Schari berichtet, dass ich aufgrund des verpatzten Telefonats mit Ben nun doch beschlossen habe, am Dienstag aufzutreten, und deshalb gestern auch noch bei Gesa war. Sie wollte natürlich ganz genau wissen, was Gesa zu meiner Stimme gesagt hat (immerhin ist er dank seiner Gesangsausbildung in solchen Fragen quasi ein Profi), aber ich wusste nicht so richtig, was ich ihr darauf antworten sollte. Schließlich war das, was Gesa zu meinem »No, no, no …« gesagt hat, ziemlich kryptisch. Nach ein paar Minuten Geschwafel à la »in Teilbereichen durchaus ausbaufähig« habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, dass er meine Stimme schrecklich findet, aber er meinte, so könne man das nicht stehen lassen.

»Du singst wirklich nicht schlecht. Deine Stimme ist nur noch ein bisschen zart und natürlich noch sehr jung … also vielleicht solltest du weniger Amy Winehouse singen, sondern mehr … Volkslieder.«

»Volkslieder??«

Ich war kurz davor, ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen – ich mein, Volkslieder!!!, aber da ist er schon zurückgerudert und hat gemeint, wenn ich was gegen Volkslieder hätte, könnte ich es auch mit Deutsch-Pop versuchen.

»Irgendwas Softes. Also nichts, wozu man eine richtige Rockröhre braucht. Vielleicht Rosenstolz.«

»Aber du hast vorletzte Woche noch gesagt, Rosenstolz sei der totale Kitsch!«

»Wirklich? Na ja, vielleicht brauchst du einfach noch ein paar Jahre.«

Gesa hat mich seufzend betrachtet und mir dann vorgeschlagen, erst mal Gesangsstunden zu nehmen, aber der Tipp war in Anbetracht20 des morgigen Castings natürlich für die Tonne. Wo soll ich bis morgen auch Gesangsstunden herkriegen?

Ich hab Scharina gefragt, ob noch andere außer Hanna und Katja Wetten abgeschlossen hätten, wer gewinnt, und sie meinte, ich solle besser fragen, wer keine Wette abgeschlossen habe. So viel also zum Thema »Ich geh da morgen ganz entspannt in die Aula und singe etwas vor«. Oh Mann. Vielleicht sollte ich das mit dem Krankwerden doch noch durchziehen. Ich muss nur Sophie und die anderen verdonnern, dass sie ihre Klappe halten, und dann … Nee, ich glaube, das nimmt Ben mir nach unserem Telefonat nicht mehr ab. Hmmm. Eventuell passiert ja auch ein Wunder und es wird gar nicht so schlimm, wie ich befürchte. Wenn man sich etwas ganz schrecklich vorstellt, dann kann es in Wirklichkeit doch nicht so heftig kommen, oder? Vielleicht muss ich mir das Ganze einfach nur furchtbar genug ausmalen. Ich könnte zum Beispiel stolpern, mich im Mikrokabel verheddern und dann laut schreiend von der Bühne stürzen, wobei ich mir eine Platzwunde zuziehen würde, durch die das Blut mir in Strömen herunterlaufen würde, woraufhin Ben sich besorgt über mich beugen würde, und ich ihm – weil ich kein Blut sehen kann – quer übers T-Shirt kotzen würde, wonach …

AAAAAAAAAAAAARGH!

Okay, okay, ich hör ja schon auf. Ich mein, ich bringe es fertig und verheddere mich WIRKLICH im Kabel. Und stolpere dann laut schreiend von der …

JULIE! STOPP!

21.05 Uhr.

Habe mir das, was ich geschrieben habe, eben noch mal durchgelesen, und bin jetzt ziemlich geschockt von mir selbst. Weißt du, was mir dabei nämlich bewusst geworden ist? Ich hab die ganze Zeit nur von mir geschrieben, von MEINEN Sorgen und MEINEN Problemen. Dabei wollte ich doch eigentlich von Scharina schreiben!!! Habe bisher immer gedacht, ich sei ziemlich sensibel und einfühlsam, aber allmählich bin ich mir da nicht mehr so sicher. Gott, ich will keine schreckliche Exzentrikerin21 werden, die nur von sich selber redet!!! Muss Schari und die andern unbedingt demnächst fragen, ob ihnen das bei mir auch schon aufgefallen ist. Echt gruselig. Heute Nachmittag war es nämlich fast genauso. Den halben Nachmittag hat meine beste Freundin damit verbracht, mich aufzumuntern, und erst dann ist mir aufgefallen, dass sie immer stiller wurde und immer bemühter klang, selbst als wir über Hanna gelästert haben, wobei sie normalerweise dabei sonst immer in Höchstform ist. Und da erst ist mir klar geworden, dass ich die ganze Zeit gesabbelt hab und mich gar nicht nach ihr erkundigt hab. Na, und deshalb habe ich Schari dann gefragt, wie es eigentlich gestern mit Jannick war – und da kam alles heraus!!!!!

Jannicks Vater, der Bulle, ist nämlich früher nach Hause gekommen als geplant und … Na ja, um das Ganze richtig zu verstehen, muss man wissen, dass Jannicks Vater früher mal ein waschechter, richtiger Bulle war, der den ganzen Tag mit Dieben, Schlägern und Kiffern zu tun hatte. Aber dann hat er – laut Jannick – irgendwann festgestellt, dass er das nicht länger machen kann, weil er zu sensibel dafür ist (Ha! Da lachen ja die Hühner! Der und sensibel!!!), und deshalb hat er sich in eine andere Abteilung versetzen lassen. Na, und jetzt ist er eben Sachbereichsleiter für Kriminalstatistik und muss andauernd Vorträge über dieVerrohung der Jugend halten, die vor Horrorzahlen über die Straftaten Minderjähriger nur so strotzen, und deswegen glaubt Jannicks Vater inzwischen, dass in allen Jugendlichen per se22 ein schreckliches »Störer-Gen« schlummert. (Außer natürlich bei seinem Sohn.)

Neulich hat er bei uns an der Schule einen Vortrag über Jugendkriminalität gehalten und sich da so reingesteigert, dass man den Eindruck hatte, es würde schon an ein Wunder grenzen, dass bei uns in der Klasse noch niemand umgebracht worden ist. Ehrlich! Wenn es nach Jannicks Vater geht, dann handeln die meisten Teenager mit Drogen oder sie sind Neonazis oder sie planen einen Amoklauf oder alles gleichzeitig. In meinen Augen müsste der Mann mal dringend durchgekitzelt werden, damit er das Lachen nicht völlig verlernt, aber laut Jannick vergräbt er sich seit seiner Scheidung die meiste Zeit in seinem Schrebergarten, wo er hässliche Teetassen töpfert und dabei den Sonnengruß übt, und insofern ist das mit der Kitzelei nicht sonderlich realistisch.

Neben seiner Paranoia vor Zigarettenrauch und kriminellen Jugendlichen, die es auf seinen Sohn angesehen haben könnten, ist das Nervigste an Jannicks Vater, dass er Scharina immer so ansieht, als wäre sie eine Al-Qaida-Terroristin mit Fußpilz. Dachte erst, er hätte vielleicht was gegen sie, weil ihre Familie aus Polen kommt und er ein bescheuerter Rassist ist, aber Jannick meinte, sein Vater käme ursprünglich selber aus Danzig, was ja bekanntermaßen in Polen liegt, und deshalb kann es das schon mal nicht sein. Schari glaubt, dass Herr Kleinhardt so super besorgt um seinen Sohn ist, weil er Angst hat, dass seine Frau ihm das Sorgerecht streitig machen könnte, wenn in seiner Erziehung irgendetwas schiefläuft, und vielleicht hat sie damit ja recht. Wäre wenigstens eine Erklärung dafür, dass Jannicks Vater jeden, der bei ihm zu Hause auftaucht, so übertrieben unter die Lupe nimmt.

Wie auch immer, auf jeden Fall ist Herr Kleinhardt gestern Nachmittag, als Scharina bei Jannick war, ausgerechnet in dem Moment in Jannicks Zimmer geplatzt, als die beiden sich geküsst haben, und danach war wohl erst mal die Hölle los. Jannicks Vater ist komplett ausgerastet! Erst hat er Jannick angebrüllt, wenn er sich noch einmal mit Scharina treffen würde, hätte er acht Wochen Hausarrest, und dann hat er zu Schari gesagt, sie solle sofort sein Haus verlassen, ehe sie seinem Sohn noch ein Kind anhängt. Im Ernst! Schari meint, das waren genau seine Worte! Schari hat nur noch geheult und Jannick hat seinen Vater angebrüllt, aber Herr Kleinhardt hat ihm nicht zugehört, sondern nur zurückgeschrien, dass er solche verwahrlosten Mädchen zur Genüge aus seinen Statistiken kennen würde und dass man sich Schari mit ihren gefärbten Haaren und ihrer kaputten Tasche ja nur ansehen müsse, um zu wissen, aus was für einem Stall sie kommt.

Stall!!!!!Hat er wirklich gesagt. Als wenn Scharina ein Kaninchen wäre. Nicht zu fassen, oder? Der Typ hat echt den Schuss nicht gehört! Als ob man aufgrund einer pinken Haarsträhne und schwarz lackierter Fingernägel darauf schließen könnte, was für ein Mensch Scharina ist! Und dann die Sache mit dem Kindandrehen! Das ist so was von lächerlich! Wo Scharina und Jannick beide erst dreizehn sind und gerade einmal Händchen halten!

Anschließend musste Scharina ganz allein mit Herrn Kleinhardt die Treppe runtergehen. Und unten vor der Tür hat er ihr dann gesagt, dass er nicht zulassen würde, dass sie seinen Sohn erst zum Rauchen anstifte und anschließend auch noch sexuell belästige und dass sie deswegen Hausverbot bei ihm hätte.

Geht’s noch?????????????????

Ich meine, dass Scharina Jannick nicht sexuell belästigt, müsste selbst Herrn Kleinhardt klar sein, und dass sie nicht raucht, weiß auch jeder! Keine Ahnung, wer diese Zigarette mit dem dunkelroten Lippenstift auf Herrn Kleinhardts Balkon ausgedrückt hat – Schari war’s auf jeden Fall nicht!

Inzwischen ist Scharina so verzweifelt über Herrn Kleinhardts Verbot, Jannick weiter zu treffen, dass sie sogar ernsthaft darüber nachdenkt, ihr gesamtes Outfit zu ändern. Echt wahr! Samt ihrer pinken Haarsträhne, der Schultasche aus alten Autoreifen und ihrer selbst bemalten Manga-T-Shirts. Die tausend Mal, die Hanna und Katja Schari »Assi-Schlampe« genannt haben, hat sie locker weggesteckt, aber eben hat sie so geweint, wie ich es noch nie erlebt habe, noch nicht mal bei der Sache mit Kevin.

Dass Erwachsene so fies sein können! Und dabei ist er Polizist! Von wegen, die Polizei, dein Freund und Helfer! Herr Kleinhardt hat echt Glück, wenn er mir in nächster Zeit nicht unterkommt.

Ich habe Scharina gesagt, dass sich in meinen Augen nicht sie ändern muss, sondern Herr Kleinhardt, aber sie hat nur »Das verstehst du nicht« geschluchzt und etwas von wegen, dass Herr Kleinhardt nur das ausgesprochen hätte, was viele denken. Dass nämlich Leute wie sie und ihre Mutter, die zwei Jobs machen muss und in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung lebt, in der die kleinen Kinder in den Fahrstuhl kacken, Abschaum sind.

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»Schwachsinn! Das denkt doch niemand!«

»Von wegen. Herr Kleinhardt denkt das wohl.«

Scharis Unterlippe hat gezittert und ich hab gemerkt, wie ich langsam wütend geworden bin, wütend auf Jannicks bekloppten Vater und wütend auf den Chef von Scharis Mutter, der ihr so wenig zahlt, dass sie nebenbei noch putzen gehen muss, und wütend auf den Hausverwalter, der diese beschissenen Flurlampen nicht repariert, und wütend auf mich selbst, dass ich sie den ganzen Nachmittag mit meinem blöden Casting vollgequatscht habe, während sie doch viel größere Sorgen hat.

»Aber das zeigt doch nur, wie beschränkt dieser Typ ist!«

Ich hab richtig gebrüllt vor Wut.

»Aber das denkt nicht nur Herr Kleinhardt! Das denken alle. Alle! Das denk ja sogar ich …«

Schari hat den Kopf in den Händen vergraben und ich hab kaum Luft bekommen, so einen Kloß hatte ich auf einmal im Hals.

»Aber, das stimmt doch nicht!!!! Du bist kein Abschaum!!!!!! Wie kannst du so was auch nur denken??? Du kannst irre toll Mangas zeichnen und Muffins backen und deine Mutter ist eine super Kosmetikerin und …«

Schari hat sich vor Schluchzern geschüttelt und ich hab wie vom Donner gerührt dagestanden und für einen Moment nicht gewusst, was ich noch sagen soll, aber im selben Augenblick hat Schari das Kissen von ihrem Bett schon mit aller Wucht gegen die Wand gedonnert.

»Ach, ja? Und was ist, wenn ich Jannicks Vater sogar verstehen kann?? Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich vielleicht ja auch nicht wollen, dass der mit einer zusammen ist, die nie jemanden zu sich nach Hause einladen mag, weil es hier so scheiße klein ist, und das nur, weil ihr Vater keinen Unterhalt zahlt und ihr Bruder ständig Mist baut und ihre Mutter andauernd irgendwelche Scheiß-Schwindelanfälle hat …« Schari hat sich schluchzend aufs Kissen geschmissen und ich wollte eigentlich was sagen, aber es ist einfach nichts rausgekommen. Und dann musste ich plötzlich auch weinen. Das war total furchtbar!

Einen Moment lang haben wir beide geheult und dann hat Schari auf einmal aufgehört und sich verwirrt zu mir umgedreht.

»Julie? Warum heulst du denn jetzt??«

»Keine Ahnung …«

Ich hab schluchzend die Schultern gezuckt und bin mir völlig dämlich vorgekommen, aber im selben Moment ist mir plötzlich bewusst geworden, warum, und da hab ich mir fluchend die Tränen aus dem Gesicht gewischt und sie mit brennenden Augen angestarrt.

»Vielleicht, weil du den ganzen Mist, den Jannicks Vater dir erzählt hat, glaubst! Dabei ist das doch kompletter Käse! Als ob es irgendeine Rolle spielt, wo man wohnt oder was für Eltern und Geschwister man hat! Das ist doch scheißegal!! Das Einzige, was zählt, ist man selbst!!! Und du bist klasse! Ohne dich wäre ich total aufgeschmissen. Weil du nämlich die Einzige bist, die immer den Weg kennt, wenn ich mich in der Schule verlaufe, und die Einzige, die immer genau das Richtige sagt, wenn’s mir schlecht geht, und die Einzige, die ganz genau weiß, was richtig und was falsch ist, ich mein nicht nur in Mathe, sondern überhaupt. Und wenn du mich fragst, dann wirst du später bestimmt eine tierisch berühmte Manga-Zeichnerin und heiratest Jannick und …«

An der Stelle ist mir die Puste ausgegangen und ich hab Schluckauf bekommen, und während ich verzweifelt versucht habe, zehnmal tief durchzuatmen und dabei lautlos »Möbelwägelchen« zu sagen (was laut Mumi die beste Methode gegen Schluckauf ist), hat sich auf Scharinas Gesicht ein Lächeln ausgebreitet.

»Du meinst wirklich, ich heirate später mal Jannick?« Scharina hat verlegen den Kopf geschüttelt und ich hab hicksend genickt.

»Garantiert. Okay, du wirst dich damit abfinden müssen, dass deine Kinder alle wie kleine Hobbits aussehen, aber dafür kriegst du immerhin die beste Babysitterin der Welt!«

»Damit meinst du doch nicht dich, oder?«

Schari hat mich mit verheulten Augen angelächelt und ich habe mit genauso verheulten Augen genickt.

»Klar.«

»Okay, gebongt. Aber vorher hörst du mit diesem bekloppten Rumgehickse auf!« Schari hat mir einen Nasenstüber verpasst und ich hab ihr vorgeschlagen, sich das Gesicht zu waschen und Jannick auf dem Handy anzurufen, um noch einmal über alles zu reden.

Und das hat sie auch getan und dann haben sie sich auf den Bänken hinter dem Sportplatz verabredet und ich bin nach Hause gefahren.

Nicht zu glauben, was die Liebe aus einem macht, oder? Ich lasse mich morgen in der Aula öffentlich demütigen, nur um vielleicht den Hauch einer Chance zu haben, Ostern mit Ben zu verbringen, und Scharina überlegt, die Haarsträhne, wegen der sie sich wochenlang mit ihrer Mutter gefetzt hat, zu überfärben, weil sie hofft, dass Kotzbrocken-Kleinhardt ihr dann vielleicht wieder erlaubt, sich mit Jannick zu treffen. Dabei finde ich es nach wie vor ein Unding, dass der Typ sich überhaupt eine Meinung über Schari anmaßt! Wünschte, der würde mal Mumi kennenlernen, die würde ihm schon Bescheid stoßen, wie man sich gegenüber Mädchen und Frauen benimmt!!!! Aber vorerst sollte ich mich vielleicht selbst um die Sache kümmern. Auch wenn ich zurzeit noch nicht die geringste Ahnung habe, wie ich Schari helfen kann. Aber irgendetwas fällt mir da bestimmt noch ein. Wie sagt Mumi noch immer, wenn sie mich davon überzeugen will, eine Girlpower-AG an unserer Schule zu gründen? »Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

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20 Super Formulierung, oder? »In Anbetracht dessen …« Muss ich unbedingt öfter verwenden!

21 Oder heißt das Egozentrikerin?

22 per se = an sich. Ha, finde Latein zwar unterirdisch, aber wenigstens eignet es sich hervorragend zur Anhäufung überflüssigen Wissens. Seitdem weiß ich zum Beispiel, dass die Automarke Audi einst einem Herrn Horch gehört hat, der sie nur deshalb »Audi« nannte, weil das auf Deutsch »Höre!« oder »Horch!« bedeutet.