Freitag, der 2. April (Karfreitag)
Höhepunkte
1) Bei Licht betrachtet erscheinen mir meine Ängste von gestern, was meine Eltern und ihre komische Kostenaufstellung anbelangt, doch ziemlich weit hergeholt. (Gott sei Dank!)
2) Papa ist eben in mein Zimmer gekommen und hat gesagt, dass wir nachher doch nicht losfahren können, weil ein Vulkan in Dänemark ausgebrochen sei, genau da, wo wir hinsegeln wollten. Wollte gerade mega-erleichtert meine Tasche auspacken, da …
Tiefpunkte
1) … hat Papa sich grinsend umgedreht und gemeint, die Vulkangeschichte sei nur ein verspäteter Aprilscherz gewesen. Denke, er darf sich nicht wundern, wenn er eines Tages Opfer eines frühen gewalttätigen Todes wird.
Habe eben beim Packen der Segelsachen aus dem Fenster geguckt und für eine Sekunde wieder den Glatzkopf mit dem Britney-Spears-Tattoo vor unserem Briefkasten gesehen. Zum Glück weiß ich ja inzwischen, dass er gar nicht wirklich da ist. Also habe ich die Augen geschlossen und langsam bis zehn gezählt, und als ich sie wieder aufgemacht habe, war da nur noch der Laternenpfahl. Hosianna! Wenn ich wegen gebrochenen Herzens später durchs Abi rassle, kann ich wenigstens Geld mit diesen Ratgeberbüchern verdienen, die Mama immer so gerne liest. Sehe die Titel schon vor mir: »Schluss mit Wahnvorstellungen in zehn Schritten« oder »Julies heiße Tipps: Wie man trotz Diarrhö27 und Liebeskummer seine Fantasie bezwingt«28.
Abgesehen von zeitweiligen Wahnvorstellungen habe ich im Moment ungeheure Wutgefühle auf mich selbst. Ben hat mit mir Schluss gemacht, das Thermometer draußen zeigt sieben Grad Celsius, es regnet in Strömen und ich werde Ostern seekrank auf einer schrottigen Nussschale irgendwo in der dänischen Südsee verbringen. Und ich kann noch nicht einmal jemanden dafür verantwortlich machen. Bin ja selbst schuld. Weil ich ein feiger Schisser bin.29
Warum habe ich Papa nicht längst gesagt, dass ich nicht nach Dänemark will? Wobei ich damit wahrscheinlich schon viel früher hätte anfangen müssen: zum Beispiel, als ich zehn war und ihm zuliebe den Jüngstenschein auf der Alster gemacht habe. Kein Wunder, wenn er noch immer denkt, ich fände Segeln genauso toll wie er, schließlich hab ich ihm damals schon nicht die Wahrheit gesagt, sondern so getan, als wäre ich genau der super Kumpel, für den er mich heute noch hält.
Mein Gott! Schari hat recht. Mit meinem Durchsetzungsvermögen ist es echt nicht weit her. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil ich einen Super-Horror davor habe, jemanden zu enttäuschen. Vor allem Papa. Bei Mama ist das anders. Mit Mama kann ich mich tierisch anzoffen, zum Beispiel, wenn es darum geht, mein Zimmer aufzuräumen. Aber anschließend ist die Sache gleich wieder gegessen. Zu Mama habe ich sogar neulich »Blöde Kuh!« gesagt und sie hat »Selber blöde!« geantwortet und da musste ich fast lachen. Aber so was wäre bei Papa undenkbar. Wenn ich mich mit Papa streite, dann ist das immer richtig fies, und deshalb versuche ich, das meistens zu vermeiden. Ob Jette und Sophie das auch so geht? Sophie bestimmt. Immerhin hat sie mir neulich berichtet, dass ihr Vater es toll findet, wenn Mädchen in Physik und Mathe gut sind, und dass sie deshalb extra viel für diese Fächer lernt, obwohl sie Deutsch und Englisch viel lieber mag. Schon strange, oder? SophiesVater erzählt ihr auch immer was von wegen, sie müsse besser sein als andere, wenn sie in der globalisierten Welt überleben will. Am letzten Girls’ Day hat er sie in seiner Firma sogar als zukünftige Bundeskanzlerin vorgestellt. »Und das hier ist meine Tochter Sophie, die vielleicht mal die nächste Angela Merkel wird. Na, aber erst mal studiert sie Physik oder Jura und dann gucken wir weiter …« Hat er wirklich gesagt. Ist ja schön, wenn Väter stolz auf ihre Töchter sind, aber Sophie meinte, sie sei vor lauter Scham fast gestorben. Schließlich arbeitet ihr Vater bei einer Firma, die Autoteile herstellt, und die ganzen Automechaniker haben wohl ziemlich belustigt geguckt, als ihr Vater mit der Bundeskanzler-Nummer ankam. Und außerdem will Sophie sowieso später Schauspielerin werden. Aber das hat sie ihrem Vater natürlich nicht gesagt.
So ein Leistungsfetischist30 wie Sophies Vater ist Papa zum Glück nicht, aber sonderlich viel merken tut er leider auch nicht. Zwischentöne zum Beispiel versteht er überhaupt nicht. Nicht weil er sie nicht verstehen will, sondern weil er sie nicht verstehen kann. Dafür fehlen ihm einfach die Antennen. Wenn Mama ihm zum Beispiel sagt, dass ich den Bergkäse von Aldi ganz, ganz lecker finde, dann passiert gar nichts. Wenn Mama ihm aber auf einen Zettel schreibt »Aldi – Bergkäse kaufen!«, dann tut er das. Mumi meint, so wie Papa seien die meisten Männer und Jungs. Man müsse ihnen immer ganz genau sagen, was man will und was nicht, weil sie sonst eh nichts kapieren und nur noch machen, was sie wollen. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Ben ist definitiv nicht so.
Ben versteht alles. Weil er nett ist. Und zuhört. Und toll erzählen kann und wunderschöne Musik macht und mega-gut aussieht und die längsten Wimpern hat, die ich je gesehen habe, und die wildesten blonden Locken, die ihm immer ins Gesicht fallen, wenn er lacht (wobei er dann dieses Grübchen kriegt), und weil er mich schon so lange kennt und mich schon im Kindergarten immer beschützt hat und … Oh Scheiße!!!!
Zehn Minuten später.
Habe mich nach dem Heulkrampf eben halbwegs wieder beruhigt. Denke, ich darf einfach nicht mehr an Ben denken, das ist das Einzige, was hilft. Ablenkung halt. Mama hat eine Postkarte neben ihrem Bett stehen, da steht drauf »Die Energie fließt dahin, wo die Aufmerksamkeit ist«. Wenn ich meine Aufmerksamkeit also ständig auf Ben und meinen Liebeskummer richte, dann wird der nur immer schlimmer. Insofern habe ich beschlossen, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass unsere Segeltour ganz toll wird. Dann wird sie ja vielleicht auch wirklich toll. (Wie sagt Herr Clausen immer, wenn er die Mathearbeiten austeilt: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«)
Habe eben noch einmal mit Sophie telefoniert und sie gefragt, ob sie schon etwas in Sachen »Was steckt hinter Bens merkwürdigem Leberfleck-Verdacht?« herausgekriegt hat, aber sie meinte, ihr Bruder wäre im Moment ziemlich schlecht drauf und insofern hätte sie noch nichts Vernünftiges erfahren. Anscheinend ist Fiete viel doller in diese Linea verknallt, als wir gedacht haben, und da Linea ihn ständig abblitzen lässt, macht Sophie sich allmählich richtige Sorgen um ihn. Was allerdings auch nichts bringt, weil Fiete sich natürlich keinen Deut von ihr trösten lässt. Ist ja klar. Jungs lassen sich nie von ihren jüngeren Schwestern trösten, das kenn ich schon von Scharina und ihrem Bruder Kevin.
Sophie hat nur herausbekommen, dass Lineas Vater der Band sein Wochenendhaus in Langenleesten zur Verfügung gestellt hat und Ben, Fiete, der bekloppte Marc, Steffen, der Keyboarder und Linea sich da einquartiert haben, um über Ostern zu proben. Habe Sophie gefragt, ob die Band da auch übernachtet, aber das wusste sie nicht so genau. Mist! Wenn ich mir vorstelle, dass Ben und Linea … Oh Shit! Papa ruft. Irgendwas von wegen, wir müssten los, weil der Wind sonst noch dreht. Wenn der Wind wüsste, wie egal er mir ist!!!!!!!!!!!!!!!
21.25 Uhr. Sonderborg in Dänemark, Jachthafen.
Liege mit meiner Taschenlampe in der Hand unter der Persenning. (Das ist das Tuch, das man über dem Baum festmacht, damit sich oben drauf so eine Art Zelt bildet.) Papa schnarcht direkt neben mir und draußen hört man das Plätschern der Wellen und das leise Klappern der Fallen im Wind.31 Ob du’s glaubst oder nicht – bisher ist es gar nicht so schlimm. Ich mag es gar nicht schreiben, aber … eigentlich ist es sogar ziemlich schön. Vielleicht hat Papa doch recht und man muss den Dingen manchmal eine Chance geben. Zwanzig Minuten nachdem wir in Maasholm losgesegelt sind, hat es aufgehört zu regnen und die Sonne ist herausgekommen. Eine Möwe hat uns ein ganzes Stück begleitet, wir hatten genau richtigen Wind und mir ist fast gar nicht schlecht geworden (ein bisschen, aber Schari hat heute früh selbst gemachte Ingwer-Muffins vorbeigebracht, weil sie gelesen hat, dass Ingwer gegen Seekrankheit hilft, und als ich zwei davon gegessen hatte, ging’s mir wirklich besser. Schari ist echt die beste Beste Freundin der Welt!!).
Am Abend haben Papa und ich uns Nudeln mit Tomatensoße auf einem kleinen Campingkocher gemacht und dazu Jan Delay auf CD gehört. »Oh, Johnny …« Papa gibt sich tierisch viel Mühe und das ist irgendwie nett. Erst hat er mir ein paar Witze erzählt, die wirklich grottenhaft schlecht waren (aber das kenne ich schon von ihm, Witze erzählen ist einfach nicht seine Stärke), und dann habe ich ihn gefragt, wie er eigentlich so mit dreizehn war, und da hat er voll losgelegt. Wenn man Papa glaubt, war er ein richtiger Draufgänger. Mit vierzehn hat er sogar mal ein Mofa geklaut und musste dafür drei Wochenenden im Altersheim Laub harken. Wer hätte das gedacht?! Anscheinend waren Jugendliche früher viel stärker als heute in irgendwelche Gruppen aufgeteilt und es war unheimlich wichtig, in welcher Gruppe man war. Papa war früher Popper32, das heißt, er hat auf dem einen Auge kaum was gesehen, weil man als Popper einen überlangen Pony mit Seitenscheitel tragen musste, der einem ständig in den Augen hing. Wenn man besonders hip sein wollte, hat man den Kopf alle paar Minuten ruckartig zur Seite gedreht, sodass der Pony nach hinten geflogen ist, und das hat dann immer so ausgesehen, als hätte man nervöse Zuckungen. Papa hat erzählt, die meisten Mädchen hätten das früher cool gefunden, nur Mama nicht, die war nämlich eine Öko-Else, und das war früher in den 80er-Jahren das Allerletzte. Zumindest in den Augen der Popper. Für die Ökos hingegen waren die Popper das Allerletzte, weil die alle ständig nur über Geld und coole Klamotten geredet haben. Papa meinte, Markenklamotten zu haben, wäre früher für ihn ganz wichtig gewesen, und er fände es gut, dass das heute bei uns nicht mehr so sei, aber da konnte ich natürlich nur müde lächeln. Wie gesagt, manchmal kriegt er einfach nichts mit.
Als Mama und Papa sich damals ineinander verliebt haben, muss das laut Papas Erzählung so ähnlich gewesen sein wie bei Romeo und Julia. Ein Popper und eine Öko-Else, das ging gar nicht. Papas Freunde konnten überhaupt nicht verstehen, wie er sich in ein Mädchen verlieben konnte, das lila Atomkraftwerke auf alte Babywindeln batikte und sich diese dann auch noch um den Hals wickelte, aber Papa meinte, die Liebe oder die Hormone oder Mamas Apfelshampoo oder alles zusammen seien einfach stärker gewesen und so hätte er seine Popper-Freunde im Blankeneser Segelclub stehen gelassen und sei mit Mama auf eine politische Demo gegangen, von der er heute nicht mehr genau weiß, ob sie für Nicaragua oder El Salvador war, sondern nur noch, dass er Mama da das erste Mal geküsst hat.
Ist das nicht romantisch?? Papa meinte, die Polizei hätte sogar Wasserwerfer eingesetzt und alle hätten die Nummer von irgendeinem Anwalt auf dem Arm stehen gehabt für den Fall, dass sie verhaftet werden, und gerade als die ersten Steine geflogen seien, wäre Mama gestolpert und er hätte sie aufgefangen und dann hätten sie sich ganz lange in die Augen geguckt und – Bingo! Alles andere ist Geschichte. Nicht schlecht, oder?
Wünschte, Mama wäre eben dabei gewesen und hätte gehört, wie Papa von ihr geschwärmt hat, und das, obwohl sie früher Windeln und lila Latzhosen getragen hat, die unten am Bein mit Gummibändern zu Pumphosen zusammengebunden waren. Wenn du mich fragst, muss das echte Liebe gewesen sein, schließlich kann ich mir nicht vorstellen, dass Ben sich auch in mich verliebt hätte, wenn ich eine von Ottis Pampers um den Hals getragen hätte. Oder vielleicht doch. Immerhin hat Ben mich letztes Jahr auch geküsst, nachdem ich Scharinas halben Keller vollgespuckt hatte, also wer weiß.
Weil es eben mit Papa so schön war, habe ich kurzzeitig überlegt, ob ich ihm von Bens Schlussmachen erzählen soll, habe es dann aber doch lieber gelassen. Papa bekommt manchmal ganz unerwartete Anfälle von Beschützerinstinkt und ich will nicht, dass er sich Ben zu Hause vorknöpft und eine Riesenszene veranstaltet. Ich mein, wie peinlich wäre das denn!
Danach könnte ich Ben erst recht nie mehr unter dieAugen treten. Nee, da komme ich lieber alleine mit dem Ganzen klar.
Nach der ganzen Klönerei haben Papa und ich die Persenning fertig gebaut und dabei habe ich mir einen Ruck gegeben und Papa gefragt, über was er mit mir eigentlich auf der Reise reden wollte. Ich war tierisch angespannt, weil ich befürchtet hab, dass das mit Mama und ihm und der Demo nur so eine Art sentimentaler Auftakt für was ganz anderes war. (Franzi meinte, ihr Vater hätte sogar geheult, als er ihr erzählt hat, dass ihre Mutter und er sich trennen wollen.) Aber statt »Wir wussten nicht, wie wir es dir beibringen sollten, Julie, aber ich habe mich in meine Sekretärin verliebt …« hat Papa gesagt, er würde unser Gespräch lieber auf morgen vertagen, weil es schon so spät geworden sei.
Aaaaaaaaaaaaahhh!
Ich hasse so was! Jetzt mache ich mir garantiert wieder die halbe Nacht Sorgen, ob Papa und Mama sich nicht doch scheiden lassen wollen. Habe Papa gesagt, dass ich das Ganze lieber gleich erfahren würde, aber er hat nur den Kopf geschüttelt und irgendetwas von wegen »Wir müssen noch Zähne putzen …« gemurmelt. Typisch Erwachsene! Erst machen sie tagelang mysteriöse Andeutungen und im entscheidenden Moment kneifen sie. Na ja, jetzt weiß ich wenigstens, von wem ich das feige Schisser-Dasein geerbt habe!
27 Diarrhö = keine Ahnung, wie man’s ausspricht, heißt aber Durchfall auf Medizinisch
28 Könnte ein Bestseller werden. Befürchte nur, dass meine Zielgruppe recht klein ist. Wie viele Leute mit Wahnvorstellungen gibt es eigentlich? Hmm. Muss den Gedanken bei Gelegenheit mal vertiefen.
29 Mir fällt gerade auf, wahrscheinlich ist ein feiger Schisser so was wie ein weißer Schimmel oder ein viereckiges Quadrat, aber ich habe Schari versprochen, nicht mehr so oft rumzuklugscheißern, also lasse ich das jetzt einfach stehen.
30 Fetischisten sind Leute, die irgendetwas so toll finden, dass sie das geradezu verherrlichen. Ich bin zum Beispiel ein Schokoladen-Fetischist. Scharina ist eine Manga-Fetischistin, Franzi eine Schmink-Fetischistin und Jette eine Skilehrer- und Soko-Fetischistin.
31 Fallen sind so eine Art Stahlbänder zum Segelhochziehen.
32 Papa meinte, das Wort käme definitiv nicht von »poppen«, was mich doch erleichtert hat.