Ostermontag, der 5. April (Nacht)

image Höhepunkte

1) Keine.(Allerdings ist es 1.32 Uhr in der Nacht, insofern hatte der Tag auch noch nicht sonderlich viel Zeit für Höhepunkte.)

Tiefpunkte

image Die Vergangenheit.

image Die Gegenwart.

image Die Zukunft.

Bin vor anderthalb Stunden aufgewacht und kann seitdem nicht mehr einschlafen. War eben leise im Schlafzimmer meiner Eltern und habe geguckt, ob Papa inzwischen von der Polizei zurück ist. Ist er, zumindest, wenn man annimmt, dass der schnarchende Deckenhaufen neben Mama nicht der Bofrost-Mann, sondern Papa ist. Auf jeden Fall schlafen die beiden, Mama und der Bofrost-Mann (sprich Papa), tief und fest. Ganz im Gegensatz zu mir, die ich seit gefühlten zwanzig Stunden über die Sache mit dem Umzug nachdenke und dabei immer verzweifelter werde.

Was soll ich nur tun? Vielleicht Mumi um Geld anhauen? Aber die hat ja selber nicht viel. Und Papas Eltern haben ihr gesamtes Erspartes vor sechs Jahren in ihr selbst gebautes Segelboot gesteckt. Die fallen also auch flach. Am besten wäre, wenn ich Papa schleunigst wieder einen neuen Job besorge. Aber wie? Mama meint, Papas Chef stellt meinen Vater garantiert nicht wieder ein, auch nicht, wenn er den Prozess gewinnt und das Gericht ihn freispricht. Die Idee, Dr. Teubner auf Knien anzuflehen, Papa seinen Job zurückzugeben, kann ich mir also schenken. Hmm … Bei den anderen Werbeagenturen scheint es zurzeit auch nicht gerade rosig auszusehen. Zumindest hat Mama das gestern Abend gesagt, als sie noch mal in mein Zimmer gekommen ist, um sich zu entschuldigen. Papa hat sich schon ein paar Mal anderswo beworben, aber geklappt hat es bisher nie.

Oh Mist! Gerade ist mir bewusst geworden, was die Anzeige von diesem Hausner noch bedeutet. Wahrscheinlich steht vor Gericht Aussage gegen Aussage, und das wiederum bedeutet, es gibt eine real existierende Möglichkeit, dass Papa tatsächlich INS GEFÄNGNIS WANDERT!!!

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Oh – mein – Gott! Merke förmlich, wie sich die alte Platzangstgeschichte wieder bemerkbar macht. Die Decke hat sich eben eindeutig ein Stück auf mich runterbewegt! Shit!! Ob ich mich für ein paar Minuten draußen auf die Liege lege? Mumi meint doch immer, der gesündeste Schlaf sei der an der frischen Luft, und sonderlich kalt ist es im April auch nicht mehr. Okay, alles besser, als weiter über den ganzen Schrott nachzudenken und dabei endgültig panisch zu werden. Ich ziehe mir jetzt Bens altes Ärzte-T-Shirt über und wandere mit meiner Bettdecke auf die Terrasse.

1.51 Uhr nachts. Zwischen abgedeckten Gartenmöbeln draußen auf der Terrasse.

Boah, ist das kalt hier! Und außerdem ziemlich unheimlich. Hätte gerade schwören können, dass der merkwürdige Fleck hinter unserem Apfelbaum einer der Volturi, dieser fiesen Vampire aus Bis(s), ist, aber bei genauerem Hinsehen war es nur der Komposthaufen. Gott sei Dank!

3.17 Uhr. Noch immer nachts auf der Terrasse.

Bin eben davon aufgewacht, dass ich Musik gehört habe. Glaube, sie kam aus Bens Zimmer. Zumindest stand sein Fenster offen und hinter der Gardine sah man einen klitzekleinen Lichtschein. Habe leise »Ben!« gerufen und dann noch einmal lauter »Ben!«, aber im selben Moment ist das Licht ausgegangen und von der Musik war auch nichts mehr zu hören. Verflixt! Eine Sekunde später musste ich wieder an Papa und die Gerichtsverhandlung denken und da war’s dann endgültig um meine Fassung geschehen.

Habe inzwischen drei Packungen Taschentücher durchgeheult, die alle um mich herum verstreut liegen und ziemlich eklig aussehen, aber das kriegt ja zum Glück niemand mit. Muss morgen unbedingt mit Jette reden. Vielleicht weiß sie nach zweihundertdreißig Folgen Richterin Barbara Salesch, ob man bei schwerer Körperverletzung noch Bewährung bekommt oder nicht. Eine Bewährungsstrafe wäre natürlich gut,

dann müsste Papa nur ins Gefängnis, wenn er noch mal jemanden k. o. schlägt (was relativ unwahrscheinlich ist), aber vorbestraft ist man mit einer Bewährungsstrafe leider auch, darüber hat Jette neulich erst eine halbe Stunde beim Konfer doziert. Und welche Firma sucht schon einen vorbestraften Werbetexter, dessen letzte Hundefutter-Kampagne bereits nach zwei Monaten wieder eingestellt worden ist, weil niemand den Slogan »Doggy-dogs ist froggy-gut« verstanden hat?37 Wahrscheinlich keine einzige!

Oh, Shit! Sehe die Zukunft auf einmal glasklar vor mir: Mama, Otti und ich landen in einer dunklen, kargen Wohnung in Holm, Papa sitzt als verurteilter Schläger in Santa Fu38 und Ben …AHHH!!!

55 Minuten später.

Nach einem Beinahe-Kuss und einer nachfolgenden Hundeattacke wieder in meinem Bett.

Etwas Unglaubliches ist passiert! Ich wollte den Eintrag vorhin gar nicht so abrupt abbrechen, aber plötzlich hat sich jemand hinter mir geräuspert und da ist mir vor Schreck der Stift abgerutscht.

Ich mein – wer steht schon mitten in der Nacht hinter einem und räuspert sich!!! In tiefster Dunkelheit!!!!! Draußen im Garten!!!!

Natürlich bin ich zu Tode erschrocken herumgefahren, weil ich sofort gedacht habe, das ist jetzt endgültig ein Volturi, der mein Blut trinken will, aber stattdessen stand auf einmal Ben vor mir. Habe erst gedacht, ich träume, aber er war es wirklich! Barfuß in einer Pyjamahose, mit zerzausten Haaren und dunkel geränderten Augen, die so aussahen, als hätte er in den letzten Nächten nicht gerade gut geschlafen.

»Ben?? Was machst du denn hier??«

Ben hat mich im Licht seiner Taschenlampe schlaftrunken gemustert und dann gesagt, ich solle mir bloß keine Schwachheiten einbilden. Er sei nur davon aufgewacht, dass jemand erst seinen Namen gerufen und dann laut geschluchzt hätte, und da hätte er doch lieber nachgucken wollen, was los ist. »Alles okay bei dir?« Ben hat mich fragend angesehen und ich hab so unauffällig wie möglich die vom Heulen durchweichten Tempos unter meine Decke gezogen und dabei ziemlich cool erwidert, dass natürlich alles okay wäre, logisch, warum sollte es das auch nicht sein?!

»Also, ich hab nichts gehört. Und ich bin schon die ganze Zeit hier draußen.«

»Echt? Du bist die ganze Nacht hier draußen? Ist das nicht viel zu kalt?«

Ben hat mich irritiert gemustert und ich habe mir tapfer auf die Zähne gebissen, um das Zittern abzustellen, und dabei entschieden den Kopf geschüttelt.

»Überhaupt nicht. Eigentlich ist mir sogar eher heiß. Das ist auch der Grund, warum ich heute draußen schlafen wollte. Weil mir so warm war. In meinem Zimmer ist es zurzeit nämlich ziemlich stickig, wahrscheinlich wegen der neuen Fugen an den Fenstern und … Tja, diese Fugen sind wirklich …«

Leider ist mir partout nicht eingefallen, wie die Fugen wirklich sind, und während Ben mich noch so skeptisch betrachtet hat wie Mumi die Plakate der CDU kurz vor der Wahl, bin ich plötzlich richtig wütend geworden. Schließlich ist es ja wohl meine Sache, wo ich schlafe und wo nicht, und rechtfertigen muss ich mich dafür noch lange nicht. Also habe ich meinen Satz abgebrochen und Bens Blick kühl erwidert. »Ich wollte heute Nacht eben einfach mal draußen schlafen. Ist schließlich mein gutes Recht. Oder hast du damit irgendwelche Probleme?«

Ich hab Ben finster gemustert, und das muss ihn ziemlich aus dem Konzept gebracht haben – zumindest hat seine Stimme auf einmal viel zögerlicher geklungen als vorher.

»Nein. Natürlich nicht. Ich versteh nur nicht, warum du nichts gehört hast. Gerade wenn du schon die ganze Zeit hier draußen bist …«

Ben hat verwirrt den Kopf geschüttelt, und weil ich befürchtet habe, dass er auf dem Thema wahrscheinlich noch länger herumreiten wird, habe ich kurz entschlossen die Taktik gewechselt.

»Dabei fällt mir gerade ein, vielleicht hab ich doch was gehört. Ich glaub, der Fernseher von euern Nachbarn war eine Zeit lang an. Der war sogar ziemlich laut. Jetzt haben sie ihn wohl ausgemacht, aber vorher, da …«

Ich habe mich seelisch darauf eingestellt, noch ein paar Minuten über Fernsehlautstärken zu dozieren, aber bei einem Blick in Bens Gesicht habe ich gemerkt, dass er kurz davor ist, die Geschichte zu schlucken. Eine Sekunde später hat er sich nämlich verlegen durch seine Locken gewuschelt und dabei gemeint, dass Peters – das sind die Nachbarn seiner Eltern – den Fernseher in der Tat manchmal ganz schön laut stellen würden.

»Der alte Peters ist inzwischen ziemlich schwerhörig. Neulich hat meine Mutter ihn um ein Stück Butter gebeten und da … Na, ist ja auch egal. Tut mir leid, wenn ich dich gestört hab. Okay, dann werd ich mal wieder rübergeh …«

Im selben Moment sind Bens Augen an meinem Oberteil hängen geblieben und auf einmal hat er ganz verwirrt ausgesehen. »He, das ist ja mein altes Ärzte-T-Shirt. Ich wusste gar nicht, dass du das noch hast.«

Ben hat auf mein T-Shirt gestarrt und ich hab innerlich einen Fluch unterdrückt. Da will man einmal cool sein und dann das! Ben hat ausgesehen, als ob es in seinem Kopf gerade gewaltig rattert, und ich habe schnell den Mund aufgemacht, um ihn gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

»Ich hab’s nur genommen, weil mir gerade kalt war. Also vorher, ehe mir heiß war, meine ich. Hier! Du kannst es gern wiederhaben …«

Ich hab Anstalten gemacht, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, aber zeitgleich ist Ben mir schon in den Arm gefallen.

»Blödsinn. Behalt es.«

»Wirklich?«

Ich hab Ben noch unsicher angeguckt, da hat er schon genickt.

»Wirklich. Dabei fällt mir ein …«

»Ja?«

Ich habe mich aufgerichtet und dabei sind die durchgeheulten Tempos, die ich mir unter die Bettdecke gestopft hatte, zu Boden gefallen.

»Oh Mist!«

Ich hab mich mit hochrotem Kopf hingehockt, um die feuchten Taschentücher schnell wieder einzusammeln. Ben hat kurz gezögert und sich dann ebenfalls hinuntergebeugt, um mir zu helfen, und dabei sind unsere Köpfe sich ziemlich nah gekommen. Und plötzlich hat die Luft um uns herum ganz merkwürdig zu flimmern begonnen.

»Julie?«

Aus unerfindlichen Gründen ist aus meiner Kehle nur ein Krächzen gekommen. »Ja?«

»Ich …«

Bens Stimme hat auf einmal genauso belegt geklungen wie meine, und obwohl ich mich nicht getraut habe, seinen Blick zu erwidern, hab ich doch gemerkt, dass er mich noch immer ziemlich verwirrt angeguckt hat.

»Ich versteh das alles nicht. Das mit uns, mein ich. Ich hab gedacht, du wärst in diesen dunkelhaarigen Typen aus deiner Klasse verknallt, aber …«

»In Jannick?«

Ich hab Ben angestarrt, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank, und Ben hat schnell den Kopf geschüttelt.

»Nicht in Jannick. In diesen anderen, der immer mit diesem Oliver zusammenhängt.«

»In Cem?«

»Keine Ahnung, wie er heißt. Ist auch egal. Ich verstehe nur nicht, warum du dann mein T-Shirt anhast, und na ja …«

Ben hat auf die durchnässten Taschentücher gestarrt, die noch immer auf dem Boden lagen, und ich habe kurzzeitig nicht gewusst, was ich sagen soll.

»Tja, ich hab zurzeit echt ziemlich doll Heuschnupfen und die Pollen hier draußen …«

»Julie?«

»Ja?«

Ben hat mich mit seinen sanften meerblauen Augen angesehen und in meinem Bauch haben hundert Schmetterlinge zu flattern angefangen.

»Ich glaub dir kein Wort.«

»Oh.«

Ich hab gestockt, weil ich plötzlich gemerkt habe, dass ich gleich losheule. Meine Kehle war ganz zugeschnürt und Ben hat mich noch immer angeguckt und da hab ich all meine Ängste und Zweifel über Bord geschmissen und mich einfach an seine Brust geworfen. Kurzzeitig hab ich befürchtet, er lässt mich an sich abprallen wie an einer Betonwand, aber im selben Augenblick hat er schon leise »Ach, Julie!« gemurmelt und mich dann ganz fest umarmt. Und einen Moment lang war alles gut.

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Ich hab mich in Bens Arme gekuschelt und er hat mir übers Haar gestrichen, genau wie früher, und dabei hab ich ihm alles erzählt. Dass wir vielleicht wegziehen müssen, weil der Typ aus dem Kino Papa angezeigt hat und Papa deswegen seinen Job verloren hat, und meine Eltern sich schon eine Wohnung in Holm angeguckt haben und dass ich das alles scheiße finde und grässlich und dass ich am liebsten nicht mehr leben will, weil im Moment alles nur schiefläuft. Beim Erzählen habe ich wie ein Schlosshund geweint, so doll, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte, obwohl ich aus der BRAVO weiß, dass Jungs weinende Mädchen nicht ausstehen können und man dabei auch ziemlich doof aussieht, aber das war mir in dem Moment alles egal.

Ich habe immer weitergeschluchzt und irgendwann hab ich gedacht, jetzt ist eh schon alles wurscht, dann kann ich Ben gleich auch noch sagen, dass ich ihn noch immer lieb habe, auch wenn er inzwischen mit Linea knutscht, aber ehe ich dazu ansetzen konnte, hat Ben mich schon losgelassen und fassungslos gemeint, wie unglaublich es sei, dass er von alldem nichts gewusst hätte.

»Ich hätte der Polizei doch schon längst gesagt, dass es definitiv Notwehr war! Mit dir und mir hätte dein Vater dann immerhin zwei Zeugen und dieser Glatzkopf hätte keinen und …«

»Hat er doch! Den Kinokartenverkäufer.«

Ich habe unglücklich die Schultern gezuckt und Ben berichtet, was mir Mama erzählt hat. Dass der Kinokartenverkäufer gesehen hat, wie Papa mit der Bierflasche, also der Tatwaffe, in der Hand hektisch aus dem Kino gelaufen ist, ohne sich um den Verletzten zu kümmern.

»Na, und anschließend hat er dann die Polizei gerufen, der Kinokartenverkäufer, und als die da war, hat er den Beamten erzählt, dass Papa unbedingt mit uns in diesen japanischen Erotikfilm wollte, obwohl er ihn extra noch darauf hingewiesen hat, dass der Film für uns alterstechnisch gar nicht geeignet ist.«

»Aber dein Vater hat doch gedacht, das sei eine preisgekrönte Jugendbuchverfilmung!«

»Erklär das mal der Polizei. Mama meint, die denken jetzt garantiert, dass Papa so ein komischer Typ ist, der es gut findet, mit Minderjährigen in solche Filme zu gehen, und das macht ihn nicht unbedingt glaubwürdiger.«

Ich hab frustriert aufgeseufzt und Ben hat so ausgesehen, als kapiere er zum ersten Mal, dass das Ganze ein echtes Problem und nicht nur ein skurriles Missverständnis ist.

»Verdammt!«

Ich hab mir auf die Lippen gebissen und im selben Moment hat Ben auf einmal den Kopf gehoben und mich nachdenklich angeschaut. »Weißt du, was mir gerade einfällt? Ich hab diesen Typen aus dem Kino neulich noch mal bei euch gesehen. Da hat er irgendwas in euern Briefkasten gesteckt.«

»Im Ernst?«

Ben hat genickt.

»Ich hab mich noch gewundert, was der hier macht. Aber dann hat mich diese andere Geschichte irgendwie abgelenkt.«

»Welche andere …?«

Ich wollte gerade nachfragen, da ist mir wieder eingefallen, welche Geschichte er wahrscheinlich meint, und da hab ich lieber meine Klappe gehalten. Ben muss gemerkt haben, dass ich mich gerade auf gefährliches Terrain begeben habe, denn er hat meine Nachfrage einfach ignoriert.

»Weißt du, wer bei euch in den letzten Tagen den Briefkasten geleert hat?«

»Mein Vater. Wieso?«

»Keine Ahnung. Aber irgendwie habe ich bei diesem Hausner ein merkwürdiges Gefühl. In meinen Augen sah der nicht so aus, als ob er sich darum reißt, mit der Polizei zu tun zu haben. Wenn der also trotzdem so eine große Welle veranstaltet, dann steckt da bestimmt mehr dahinter. Das würde auch dazu passen, dass er nach der Anzeige noch mal Kontakt zu euch aufgenommen hat.«

»Du meinst …?«

Ich hab Ben mit großen Augen angeguckt und er hat langsam genickt. »Vielleicht wollte er von euch Geld erpressen. So nach dem Motto ›Wenn ihr mir was zahlt, ziehe ich meine Anzeige zurück‹. Frag deinen Vater doch morgen früh mal, ob er von diesem Typen Post bekommen hat.«

»Du meinst heute früh.«

Ben hat gegrinst, und als ich sein Lächeln erwidert habe, hat er mir einen Nasenstüber verpasst.

»Ja, klar, heute früh.«

»Hey!« Ich hab ihm den Nasenstüber zurückgegeben und eine Sekunde später hat Ben sich mit einem wölfischen Grinsen auf mich gestürzt.

»Na warte …« Er hat meine Arme auf die Liege gedrückt, aber ich habe mich wie eine Löwin gewehrt und für ein paar Sekunden waren wir nur noch ein kichernder Haufen wild durcheinanderwirbelnder Beine und Arme.

»Hey, lass mich los!«

»Nur wenn du aufhörst!«

Ben hat mich mit seinen Beinen eingeklemmt und dabei von Kopf bis Fuß durchgekitzelt, aber irgendwann hat er mitten in der Bewegung innegehalten.

»Frieden?«

Wir haben beide nach Luft gerungen und ich hab seine blauen Augen im Halbdunkel der Straßenlaterne über mir funkeln sehen.

»Niemals!«

Ich hab versucht, mich aufzurichten, aber er hat mich plötzlich mit einem ganz sonderbaren Blick angesehen. In meinem Bauch haben die Schmetterlinge angefangen, Tango zu tanzen, und dann hat Ben sich langsam zu mir heruntergebeugt und mein Kinn mit seinem Zeigefinger ganz sanft zu sich hochgehoben. Meine Lippen haben sich wie von selbst geöffnet und eine Sekunde später …

… ist die Gartenliege mit einem gewaltigen Krachen unter uns zusammengebrochen. Krrkkk!

»Ahhh!!!«

»Au!«

»Shit. Hast du dir wehgetan?«

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Ben ist aufgesprungen und hat versucht, mir hochzuhelfen, aber die Liege ist so blöd durchgebrochen, dass ich wie ein auf dem Rücken liegender Käfer mit den Beinen gestrampelt habe.

»Mist!«

»Warte, nimm meine Hand!«

»Ah …«

Im selben Moment, wo ich mich endlich fluchend aufgerappelt hatte, ist über uns das Licht angegangen und ich habe Papas verschlafene Stimme von oben gehört.

»Hallo? Ist da jemand??«

Ben hat mich schreckensstarr angesehen und ich habe wilde Zeichen in Richtung Gartenpforte gemacht.

»Schnell! Hau ab!«

»Aber …«

»Los!«

Ben hat mich noch einmal zögernd angesehen und ist dann mit ein paar Schritten in der Dunkelheit verschwunden.

»Da ist doch wer! Hallo??!«

»Papa? Ich bin’s nur. Julie.«

»Julie??«

Für einen Moment herrschte Stille, dann war erneut Papas Stimme zu hören. »Herrgott, Julie, es ist mitten in der Nacht! Was machst du denn da draußen??«

Im Fensterrahmen ist hinter Papas Kopf auch noch der von Mama aufgetaucht. Gleichzeitig hat ein Hund wie wild zu bellen angefangen, und während das Licht im Nebenhaus angegangen ist, habe ich die zitternde Stimme des alten Herrn Peters von gegenüber gehört.

»Herr Ahlberg? Brauchen Sie Hilfe?«

Ich hab innerlich die Augen verdreht, aber im selben Moment ist Herr Peters mitsamt seinem Rottweiler Iwan dem Schrecklichen schon am Gartenzaun aufgetaucht.

»Ist etwas passiert? Soll ich Ihnen Iwan rüberschicken?«

»Nein!!«

Iwan hat ein furchterregendes Knurren von sich gegeben und ich habe wild mit den Armen gerudert (schließlich habe ich vor Iwan dem Schrecklichen schon Angst, seitdem ich denken kann), aber im selben Moment hat mein Vater zum Glück schon den Kopf geschüttelt.

»Ist gut, Herr Peters. Gehen Sie ruhig wieder rein! Das ist kein Einbrecher!«

»Wie bitte?? Ich kann Sie nicht verstehen!«

»Das – ist – kein – Einbrecher!«

Wollte gerade erleichtert aufatmen, da hab ich im Halbdunkel gesehen, wie Herr Peters sich zu seiner Frau umgedreht hat und eine Sekunde später ist mir das Blut in den Adern gefroren.

»Erna, hast du gehört? Da ist ein Einbrecher! Iwan, fass!«

»Nein!!!«

Mit dem aufgeregten Kläffen von Iwan dem Schrecklichen im Ohr habe ich mich panisch in Richtung Terrassentür umgedreht und bin dabei voll gegen die kaputte Gartenliege gelaufen, die noch immer mitten im Weg lag. Wummmmmmmms!

»Ah!!!«

Eine Sekunde später habe ich mich eine Etage tiefer auf den kalten Terrassenfliesen wiedergefunden, zwanzig Zentimeter von einem zähnefletschenden Rottweilergebiss entfernt.

»Wuff, wuff, wuff, wuff!«

»Geh weg! Nein! Papa!! Hilfe!!!«

»Iwan, aus! Aus!!«

Als ich meine Augen zwei Sekunden später wieder aufgemacht habe, war Papa schon über mir und hat Iwan von meinem Kopf weggezogen, aber ich war inzwischen so fertig mit den Nerven, dass ich am ganzen Körper wie Wackelpudding gezittert habe. Mama hat versucht, den alten Herrn Peters zu beruhigen, der andauernd »Das ist ja gar kein Einbrecher! Das ist ja Ihre Tochter!« gestammelt hat, Papa hat mich besorgt angesehen und ich habe bitter »Blitzmerker!« gemurmelt und bin dann mit einem vollkommen uncoolen Schluchzen an Mama vorbei ins Haus gestürmt.

Oh Mann! Was für eine Nacht! Erst erfahre ich, dass Papa wahrscheinlich von einem gewalttätigen Britney-Spears-Fan erpresst wird, dann knutsche ich fast mit Ben, obwohl wir eigentlich gar nicht mehr zusammen sind, und zum Schluss werde ich von Iwan dem Schrecklichen beinahe noch zu Fischfutter verarbeitet.

Denke inzwischen, dass der ganz normale, langweilige Alltag entschieden etwas für sich hat. Ein Leben ohne Umzüge, Trennungen,Arbeitslosigkeit und Geldsorgen – dafür aber mit ganz viel Liebe, Zeit für meine Freundinnen, kalorienfreier Vollmilchschokolade, Fernsehen, Vampirbüchern, Vier-Käse-Pizza und kleinen, netten (!) Hunden. Herrgott, das kann doch nicht so schwer sein!

37 Papa hat Mama und mir erklärt, »froggy« sei eine Anspielung auf den Inhaber der Hundefutterfirma, der mit Nachnamen »Frosch« (= engl. frog) heißt, aber den Bezug kapiert natürlich kein Schwein

38»Santa Fu« = das Gefängnis hier in Hamburg-Fuhlsbüttel