Ostermontag, der 5. April (Tag)
Höhepunkte
1)War mir heute früh nicht sicher, ob die Sache mit Ben und Iwan dem Schrecklichen gestern Nacht wirklich passiert ist. Bin deshalb erst mal auf unsere Terrasse gelaufen, um nachzusehen, und was soll ich dir sagen? Die Gartenliege war tatsächlich kaputt! Das heißt, das Ganze war kein Traum: Ben und ich haben uns letzte Nacht (beinahe) geküsst. JA!!!!!!!!!!!!!!!!!
2)Bin fest entschlossen, heute herauszufinden, wen Ben gestern gemeint hat, als er von meinem vermeintlichen neuen Freund geredet hat. Habe eben schon versucht,Jette,Sophie und Franzi anzurufen, aber alle drei sind aus unerfindlichen Gründen nicht zu Hause. (Bei Schari ist seit gestern niemand mehr ans Telefon gegangen, aber gerade ist mir eingefallen, dass sie Kevin ja heute in seiner Jugendwohngruppe besuchen wollte, also ist sie wahrscheinlich da.)
3) Habe vorhin am Frühstückstisch abgewartet, bis Mama abgelenkt war, und Papa dann schnell gefragt, ob er von diesem Hausner Post bekommen hätte, und er hat genickt!!!! War erst total euphorisch, weil ich gedacht habe, dass wir damit vielleicht vor Gericht beweisen könnten, dass der Glatzkopf ein Erpresser ist, aber dann hat Papa gesagt …
Tiefpunkte
1) … dass er so angeekelt von den Briefen gewesen wäre, dass er beide gleich nach dem Öffnen weggeschmissen hätte.
Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhh!!
Kann noch immer nicht fassen, dass Papa die Erpresserschreiben einfach weggeworfen hat! Habe ihn gefragt, ob er nicht begreift, wie wichtig die sein könnten, aber er hat nur kopfschüttelnd erwidert, dass er nie im Leben geglaubt hätte, dass dieser Typ seine Drohung wahr machen würde. Verdammt! Habe die letzte halbe Stunde damit zugebracht, sämtliche Mülleimer unseres Hauses nach zusammengeknüllten Zetteln zu durchforsten, aber die Dinger sind wie vom Erdboden verschluckt. So eine Schei… Mist!39
Neben dem ganzen Ärger wegen der verschwundenen Erpresserbriefe mache ich mir noch immer Gedanken um Schari und ihren Krach mit Jannick. Habe ihr inzwischen drei SMS auf ihrem Handy hinterlassen, dass sie sich jederzeit bei mir melden kann für den Fall, dass Jannick wirklich mit ihr Schluss gemacht hat, aber bisher habe ich noch nichts gehört. Ob das ein gutes Zeichen ist? Keine Ahnung.
War gerade am Überlegen, ob ich nachher, wenn Schari von ihrem Bruder zurück ist, noch mal bei ihr vorbeischauen soll, da hat Mumi angerufen und uns für übermorgen Abend zum Essen eingeladen. Habe mich erst gefreut, weil Mumi toll kochen kann und statt Brigitte-Diät meistens irgendeinen superleckeren Braten macht, aber diesmal gibt es unfassbarerweise etwas, das sich »Buntes Bohnengemüse an Morcheln« nennt. Finde, allein schon der Name klingt grauenvoll. Morcheln. Wie Meuchelmord. Und das auch noch mit Bohnen.
Igitt!!!!!!!!!!!!!!!!
Habe Mumi gefragt, ob sie nicht lieber Roastbeef mit Bratkartoffeln machen will, aber sie meinte, das gäbe es nächstes Mal wieder, dieses Mal würde sie uns einen ganz besonderen Gast vorstellen wollen und der sei nun mal Vegetarier. Fast hätte ich erwidert: »Sag jetzt nicht, dieser Torwart kommt auch?«, aber das konnte ich mir im letzten Moment noch verkneifen. Nichtsdestotrotz hab ich natürlich ins Schwarze getroffen: Der tolle Thorwald soll uns morgen Abend hochnotoffiziell vorgestellt werden. Auweia!
Auch wenn es unfair ist, aber irgendwie nervt mich der Typ jetzt schon. Nicht, weil er Vegetarier ist, das finde ich total bewunderungswürdig, sondern mehr, weil Mumi sich, seitdem es ihn gibt, wie ein aufgeregter Teenie verhält. Und das ist einfach daneben. Schließlich hat sie mir jahrelang erzählt, wie wichtig es ist, sich als Frau nicht unterbuttern zu lassen, und nun kommt dieser Typ angedackelt und alles ist auf einmal ganz anders. Zumindest wenn man ihren Erzählungen glaubt.
Anscheinend ist der tolle Thorwald nicht nur ein fanatischer Gesundheitsapostel (Mumi hat uns gebeten, bloß nicht zu erwähnen, dass sie qualmt wie ein Schlot, das weiß er nämlich nicht), sondern neben seinem Job als Sozialpädagoge auch noch alleinerziehender Vater eines kleinen Jungen. Unglaublich, oder? Er hat einen kleinen Sohn! Ich mein, wie alt ist dieser Typ bitte schön? Vierzig? Fünfunddreißig? Oder noch jünger??
Habe mir am Telefon nichts anmerken lassen, weil ich Mumi nicht kränken wollte, bin jetzt aber doch etwas durch den Wind. Sage mir die ganze Zeit, dass es auch Männer gibt, die erst mit sechzig oder siebzig Vater werden, aber sind das solche, auf die meine Oma stehen würde? Eigentlich nicht. Außerdem arbeitet der tolle Thorwald noch, das heißt, er ist definitiv nicht im Rentenalter, was irgendwie auch nichts Gutes verheißt. Immerhin ist Mumi fast sechzig! Was also, wenn sich meine Oma Hals über Kopf in einen Heiratsschwindler verknallt hat, der eigentlich nur hinter ihrem Erbe her ist?????? (Okay, soweit ich weiß, besteht das Erbe nur aus einem 24-teiligen Silberbesteck und einem nach Rauch stinkenden Kleinwagen, aber trotzdem …)
Habe Mama eben meine Bedenken bezüglich des tollen Thorwalds mitgeteilt, aber die meinte nur, manchmal sei ich wirklich päpstlicher als der Papst (was auch immer das heißen soll). Ach ja, und in ihren Augen soll ich Mumi einfach ihren Spaß gönnen. Spaß! Als ob man mit einem Mann, der »Buntes Bohnengemüse an Morcheln« liebt, überhaupt Spaß haben könnte! Aber was soll’s. Im Grunde genommen ist Mumi natürlich alt genug und vielleicht sollte ich mich wirklich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Apropos eigene Angelegenheiten – habe eben noch einmal versucht, Schari zu erreichen. Diesmal war ihre Mutter dran und die hat gesagt, dass Schari tatsächlich bei Kevin ist – und ich überlege jetzt, ob das gut oder schlecht ist. Ich mein, Kevin ist zwar der eitelste Typ, den ich kenne, und wenn man das Wort »Aller« aus seinem Wortschatz streichen würde, würde man ihn gar nicht mehr verstehen (O-Ton Kevin: »Ey, Aller, das’s echt geil, Aller, echt, Aller …«), aber er hat immerhin tierisch viel Selbstvertrauen, und das kann Schari zurzeit echt gut gebrauchen.
Warum haben eigentlich die nettesten Leute immer am wenigsten Selbstvertrauen, hm? Kann mir das einer mal erklären??? Typen wie Kevin gehen immer davon aus, dass sie die Größten sind, aber die, die so richtig klug und nett und mitfühlend sind, die denken garantiert, dass alle anderen toller sind als sie. Das ist doch bescheuert!!! Schari ist dafür echt ein gutes Beispiel. Letzte Nacht hab ich nämlich noch ziemlich lange wach gelegen und da ist mir erst so richtig bewusst geworden, dass Schari in der Sache mit dem Flaschengeist und dem Nicht-Klartext-reden-Können genau richtig lag. Das Ganze zwischen Ben und mir ist schließlich nur so eskaliert40, weil ich ihn ein paar Mal angelogen habe, und das werde ich nie wieder tun, das habe ich mir inzwischen geschworen.
Die ganzen Notlügen bringen mich wirklich ständig in die Bredouille. Aber damit ist jetzt Schluss! Nie wieder erfundene Wasserrohrbrüche und vorgeschobene Krankheiten!!! Mit dem Flaschengeist Julie, der es jedem immer nur recht machen will, ist es endgültig aus und vorbei!!!!!!! Von jetzt an sage ich die Wahrheit, und zwar immer!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Schließlich muss das ja nicht heißen, dass ich andere damit verletze. Das habe ich nämlich erst gedacht, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass ja der Ton die Musik bestimmt. Wenn Papa mich also das nächste Mal fragt, ob ich Lust habe, mit ihm Segeln zu gehen, dann antworte ich ihm, dass ich dazu schon Lust habe, aber nur, wenn das Wetter schön ist und das Ganze nicht länger als ein paar Stunden dauert. Und das sage ich auch nur, wenn ich wirklich Lust dazu habe. Sonst nicht. Und wenn Jette mich fragt, ob sie in ihren neuen lila Leggins dick aussieht, dann antworte ich ihr, dass sie damit nicht dick aussieht, aber dass ihr die schwarze Röhrenjeans einfach besser steht. Und wenn Hubsi mich mit seinen nach hinten gegelten Haaren und dem potthässlichen Siegelring am Finger und dem Seidenschal um den Hals das nächste Mal fragt, ob ich Lust habe, zu seiner Party zu kommen, dann sage ich … Dann sage ich … Hmm. Kann man den Satz »Ich kann zu deiner Party leider nicht kommen, weil ich dich völlig daneben finde und mir allein schon bei der Vorstellung, mit dir tanzen zu müssen, schlecht wird« positiv verpacken? Wird wahrscheinlich schwierig. Aber ich arbeite dran.
Apropos Hubertus, dabei fällt mir ein, der könnte es natürlich auch sein. Der, von dem Ben glaubt, dass er mein neuer Freund ist, meine ich. Schließlich ist Hubertus auch dunkelhaarig und eher klein. Laurenz allerdings auch. Und Cem, unser Super-Macho, der sowieso immer denkt, dass alle in ihn verliebt sind, erst recht. Hmm. Cem. Das würde schon Sinn machen, vor allem, wenn man an neulich denkt, als er sich in der großen Pause dafür entschuldigt hat, dass er meine Gefühle für ihn leider nicht erwidern würde. Dieser Schwachkopf!! Als ob ich je für einen Dreizehnjährigen Gefühle entwickeln könnte, der jeden Morgen seine Brusthaare zählt und das Ergebnis anschließend lautstark in der Klasse verkündet. (Letzte Woche waren’s, glaube ich, vierzehn.) Franzi hat ihm neulich gesteckt, dass Männer sich heutzutage ihre Brusthaare sogar abrasieren, weil Haare außerhalb des Kopfes mega-out sind, aber er hat natürlich gemeint, sie hätte keine Ahnung und was sie erzählen würde, wäre sowieso totaler Müll …
>>>>> MOMENT MAL! <<<<<
Müll!
Ja! Das ist es!!!!!
Ich hab ja noch überhaupt nicht vorne am Rondell nach den Erpresserbriefen gesucht! In der Gemeinschaftsmüllbox, meine ich. Dabei hat Mama in den letzten Tagen bestimmt mal den Müll rausgebracht, das heißt, die könnten durchaus da drin sein!! Ich schreib nachher weiter, okay? Wünsch mir Glück!!!!
15.34 Uhr. Während einer Pause neben den Müllcontainern. (Mit einer Bananenschale im Haar.)
Herr im Himmel, ist das eine Scheiß… Mistarbeit. Aber manchmal muss man einfach Prioritäten41 setzen. Immerhin liegt meine Zukunft (d.h.der Beweis für Papas Unschuld) vielleicht irgendwo hier draußen im Müll und gammelt vor sich hin! Wobei … Das ist echt eklig! Nicht zu glauben, was die Leute alles wegschmeißen! Unmengen von Lebensmittelresten, dazu massenhaft Zigarettenkippen und irgendwelche zusammengeklebten Haushaltstücher, von denen ich lieber nicht wissen will, was da drin ist. Und das ist noch nicht alles! Schröders aus Nummer 46 haben die gesamte Bildermappe ihrer sechsjährigen Tochter weggeworfen, obwohl Lilly neulich erst tierisch geheult hat, weil sie ihr Lieblingsbild nicht mehr wiedergefunden hat, und ihre Mutter ihr in meinem Beisein geschworen hat, das wäre bestimmt bei der Oma. Ohne Worte!
Herr und Frau Peters haben sich von unzähligen Exemplaren einer Zeitschrift getrennt, die »Mein Rottweiler – von A(ufzucht) bis Z(ahnhygiene)« heißt, und irgendjemand hat eine ganze Wagenladung voller benutzter Windeln weggeworfen, die absolut bestialisch stinken. (Oh, sehe gerade an der Tüte aus Mamas Buchladen, das waren wir. Muss Mama unbedingt sagen, dass wir in Anbetracht des Gestanklevels tütentechnisch lieber inkognito bleiben sollten.) Hm, denke, das Ganze hier dauert wahrscheinlich noch Stunden. Hinter den gelben Säcken liegen noch Unmengen durchsichtiger Tüten mit irgendwelchen Papierknäueln und …Augenblick!
Eine Minute später.
ICH HABE SIE!! Die Briefe von diesem Kahlkopf! Yeah!!!!!
Ich halte gerade den Beweis dafür in den Händen, dass Papas Ankläger ein ganz mieser Erpresser ist! Wenn der Richter das hier liest, ist es mit der Glaubwürdigkeit dieses Hausners garantiert für immer vorbei. Das muss man sich nur mal reinziehen:
Hallo Sackgesicht!
Hier komt deine Chanse! Wenn du keine Anzeige wilst, leg am Freitag
um 10.00 Uhr eine Tüte mit 5000,– Euro in deinen Brifkasten.
Wenn nicht, viel Spaß im Kitchen!
Was für ein Ekelpaket! Leider war der Typ nicht ganz so blöd, den Brief auch noch zu unterzeichnen, aber wofür gibt es so etwas wie Fingerabdruckscanner und DNA-Analysen und diesen ganzen Kram? Hauptsache, dieser Hausner hat keine Handschuhe angehabt, als er den Brief aus dem Drucker genommen hat, aber selbst wenn … Ich wette, die bei der Kripo haben so ihre Methoden, um herauszufinden, von wem das Schreiben stammt. Garantiert! Und dann geht es Mr Britney Spears an den Kragen! Aber gewaltig!
Hm. Sehe gerade etwas Komisches. Anscheinend sind Sophie, Jette und Franzi gerade bei Ben zu Besuch. Zumindest stehen ihre Fahrräder vor seinem Reihenhaus im Fahrradständer. Versteh ich nicht. Was wollen die bei Ben??? Wo doch sein Rad fehlt, was heißt, dass er gar nicht zu Hause ist! Das Auto seiner Eltern steht übrigens auch nicht im Carport. Hmm… Muss mal kurz nachsehen, was da drüben los ist. Bin gleich wieder da!
19.31 Uhr.
Habe einige wichtige Fragen:
1. Warum bin ich nicht schon siebzehn oder achtzehn oder wenigstens so alt, dass ich es endlich schaffe, cool und abgeklärt und endlich erwachsen zu sein und mir nichts mehr daraus zu machen, wenn mir was Ätzendes passiert?
2. Wieso gibt es diesen ganzen Liebesschrott überhaupt? Ist der nicht total sinnlos?
3. Weshalb kann die Welt nicht einmal, einmal, einmal nett zu mir sein? Ich bin doch auch nett zu ihr, oder?
Okay. Von vorn. Nachdem ich die Fahrräder von Jette, Sophie und Franzi vor Bens Haustür bemerkt hatte, habe ich bei ihm geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Also bin ich kurz zu uns rübergelaufen, um nachzugucken, ob Jette, Sophie und Franzi vielleicht da sind und ihre Räder nur aus unerklärlichen Gründen bei Ben geparkt haben – aber Fehlanzeige! Weil ich mich nach der Müll-Aktion echt eklig gefühlt habe, habe ich mir anschließend eine Badewanne einlaufen lassen, und dabei habe ich durch unser Badfenster so einen merkwürdigen Lichtreflex gesehen. Und was glaubst du, was ich entdeckt habe, nachdem ich mir unser Fernglas aus dem Arbeitszimmer geholt hatte? Jette, Franzi und Sophie, die drüben gerade Bens Zimmer durchwühlt haben! Ungelogen!!!
Für ein paar Sekunden war ich komplett baff, aber dann habe ich eins und eins zusammengezählt. Wenn Ben und seine Familie nicht da sind und meine Freundinnen trotzdem gegenüber gerade lustig die Matratzen hochkant stellen, dann ist die einzig plausible Erklärung dafür, dass SIE SOEBEN BEI BEN EINGEBROCHEN SIND.
Brauchte eine Sekunde, um den Schock zu verdauen, und bin dann wie der Blitz runter zu unserer Haustür gelaufen. (Vorher habe ich mir natürlich wieder was angezogen und das Wasser ausgestellt, ganz so dämlich bin ich ja auch nicht.) Unten bin ich in Hausschuhen um Bens Haus herumgepest (Bens Eltern haben ein Endreihenhaus, genau wie wir) und was hing da draußen auf der Rückseite am Balkongitter? Ein Seil! Genau neben Sophies Pferdeputzkasten und Franzis Schminktasche.
Ahh!!!!
Habe wutentbrannt »Sophie!« hochgerufen und bin dann, als keine Antwort kam, kurz entschlossen am Seil in den ersten Stock geklettert. Und oben im Flur habe ich sie dann entdeckt, die ganze Truppe: Sophie, Jette und Franzi – alle bis auf Scharina, die ihnen die ganze Aktion garantiert ausgeredet hätte, wenn sie nicht blöderweise bei Kevin gewesen wäre.
Weil alle mir den Rücken zugedreht haben, hab ich ganz laut »Buh!« gerufen, aber das hat sich leider als Schwachsinnsidee herausgestellt. Franzi hat nämlich vor lauter Schreck einen Satz nach vorn gemacht und ist dabei voll gegen die Bodenvase von Bens Mutter geknallt und eine Sekunde später hat sich das ganze Blumenwasser über die weiße Auslegeware von Bens Eltern ergossen und ich hab nur noch »Oh, nein, nicht das auch noch!« gedacht.
Anschließend ist dann das totale Chaos ausgebrochen. Sophie ist nach unten in die Küche gelaufen, um ein Tuch zu holen, und Jette hat mich entgeistert gefragt, was ich hier mache, woraufhin ich ihr finster geantwortet habe, das müsse ich ja wohl eher sie fragen, schließlich wäre Einbruch kein Kavaliersdelikt, was sie eigentlich wissen sollte, wenn sie später wirklich einmal Kommissarin werden will.
Darauf herrschte dann erst mal Schweigen und kurz danach ist Sophie mit Panik im Blick wieder die Treppe hochgekommen und Franzi hat sich ihr schmerzendes Knie gerieben und dabei gemeint, sie hätte ja gleich gesagt, dass das mit den Wanzen eine Schnapsidee sei, und in dem Moment habe ich erst begriffen, was die drei eigentlich bei Ben wollten. Sie wollten in seinem Zimmer Wanzen verstecken!!!
»Habt ihr sie noch alle? Habe ich euch nicht gesagt, dass das überhaupt nicht infrage kommt??«
Habe Jette fassungslos von oben bis unten gemustert, aber im selben Augenblick hat Sophie sich schon vor Jette gestellt und mit zitternder Stimme gemeint, das Ganze wäre eigentlich ihre Idee gewesen und Jette könne gar nichts dafür.
»Ich versteh ja, dass du sauer bist, aber wir haben das hier im Grunde genommen gar nicht deinetwegen gemacht. Zumindest nicht in erster Linie.«
»Und weswegen habt ihr es dann gemacht?«
Ich habe Sophie verwirrt angesehen, aber die hat nur unglücklich auf den ruinierten Teppichboden gestarrt und deshalb ist Franzi für sie in die Bresche gesprungen.
»Na ja, eigentlich wegen Fiete. Sophie hat gestern nämlich ein Telefonat belauscht, in dem Fiete Marc erzählt hat, dass sein Leben keinen Sinn mehr hätte, wenn Linea und Ben ein Paar werden, und seitdem hat sie Schiss, dass er sich was antut. Na ja, und weil sie weiß, dass Ben und Linea sich später hier treffen wollen, haben wir halt gedacht, wenn wir wüssten, was los ist, dann …«
»Psst! Seid mal still!«
Alle haben sich irritiert zu Franzi umgedreht, die mit dem Zeigefinger auf den Lippen in Richtung Treppe gelauscht hat, und auf einmal haben wir es auch gehört. Das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels. Verflixt!
Jettes Augen haben sich ungläubig geweitet, mir ist schlagartig schlecht geworden, und während Sophie, die immer noch den Wischlappen aus der Küche in der Hand gehalten hat, einen fassungslosen Blick auf ihre Uhr geworfen hat, war aus Richtung Haustür ganz deutlich Lineas Stimme zu hören.
»… und darum willst du den Song nicht mehr singen? Das ist doch nicht dein Ernst!«
Mein Magen hat zu einer spontanen Achterbahnfahrt angesetzt und Sophie hat ausgesehen, als ob sie gleich in Ohnmacht fällt, aber ehe wir noch reagieren konnten, war von unten schon Bens Stimme zu hören und dann – wieder klarer – die von Linea.
»Ja, geschenkt. Aber der Song ist echt gut, also warum machst du’s nicht, wie Steffen gesagt hat, und tauschst einfach nur den Namen aus? Statt Julie nimmst du einfach Baby oder …«
Der Rest des Satzes ist im Blubbern der Kaffeemaschine untergegangen, die Ben unten in der Küche wohl gerade angestellt haben muss. Eine Sekunde später habe ich mich erschrocken zu den anderen umgedreht und dabei festgestellt, dass die gar nicht mehr neben mir standen. Shit!
»He, wartet auf mich!«
In Bens Zimmer war Jette schon draußen auf dem Balkon, während Sophie und Franzi drinnen noch versucht haben, Bens Ikea-Stehlampe wieder in ihre Ausgangsposition zu bringen.
»Braucht ihr Hilfe?«
»Nee, geht schon! Schwing dich lieber aufs Seil!«
Franzi hat die Stehlampe losgelassen und ist hinter Sophie zum Balkon gestürzt und ich wollte den beiden gerade folgen, da ist mein Blick auf einen zusammengefalteten Zettel gefallen, der bei der Wanzenaktion unter den Tisch gefallen sein muss. Auf dem Zettel stand ganz groß Julie drauf, in Bens Handschrift, und da hab ich mich noch rasch gebückt, um unter den Schreibtisch zu krabbeln.
Während Sophie mit einem »Ich warte unten!« über die Balkonbrüstung geklettert ist, hat Franzi entnervt aufgestöhnt. »Jetzt komm schon! Beeil dich!«
»Gleich!«
Franzi hat sich aufs Seil geschwungen und ich wollte gerade nach dem Zettel greifen, da hat sich Bens Türklinke plötzlich bewegt und ich bin vor lauter Schreck mit dem Kopf nach oben geschnellt und dabei voll gegen die Tischplatte geknallt. Wumms!
Das tat vielleicht weh!
Im selben Augenblick, in dem ich mir stöhnend den Kopf gehalten habe, waren vor der Tür auf einmal die Stimmen von Ben und Linea zu hören, die sich über den nassen Fleck im Flur gewundert haben, und eine Sekunde später hat sich Bens Zimmertür geöffnet und Linea und Ben sind mit ihren Kaffeebechern in der Hand hereinspaziert. Oh Mann! Du glaubst gar nicht, wie mein Herz geklopft hat. Ich hab echt geglaubt, die beiden könnten es hören!
Ich habe in Windeseile nach dem Zettel gegriffen, ihn in meine Hosentasche geschoben und mich dann in meinem Versteck unter dem Schreibtisch wie ein aus dem Nest gefallener Vogel ganz nach hinten an die Heizung gedrückt, aber zum Glück haben die beiden nicht in meine Richtung geguckt. Ben hat sich rittlings auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt, sodass ich von ihm nur die Rückseite seiner Beine sehen konnte, und Linea hat sich ihm gegenüber seufzend auf das Bett gefläzt und ihn gefragt, worüber er jetzt so unbedingt mit ihr sprechen wollte.
»Ich nehme mal an, es geht nicht um dieses Julie-Lied, obwohl mir da gerade was einfällt …Was hältst du von ›Linnie, my love for you is bigger than a house, bigger than a street, bigger than a town, Linnie …‹«
Während Linea angefangen hat zu singen, haben sich meine Augen unter dem Schreibtisch schlagartig mit Tränen gefüllt. Schließlich hat Ben dieses Lied letztes Jahr für mich geschrieben, aber zum Glück hat Linea im selben Moment aufgehört und seufzend die Schultern gezuckt.
»Hey, jetzt guck nicht so! War doch nur Spaß. Okay – wahrscheinlich geht’s wieder um Fiete, was?« Linea hat Ben entnervt angeguckt, aber Ben hat ihr Stöhnen einfach ignoriert.
»Natürlich geht’s um Fiete, was denkst du denn? Fiete ist mein bester Freund und du behandelst ihn wie den letzten Fußabtreter!«
»Tu ich nicht!«
»Tust du doch! Wie war das denn gerade erst vorhin in der Aula, hm? Erst sagst du, dir ist kalt, und nachdem Fiete dann extra zu dir nach Hause gepest ist, um deine Jacke zu holen, erzählst du ihm, das sei die falsche und er müsse noch mal los.«
»Aber es war die falsche! Ich hab ganz deutlich gesagt, er soll die blaue Jacke mit dem silbernen Reißverschluss holen, aber er hat die grüne von Esprit geholt, also …«
»Das war doch reine Schikane!«
»War’s nicht. Ich wollte eben nur die blaue und nicht die grüne,
ganz einfach. Mädchen sind so, das verstehst du nur nicht.«
»Nee, zum Glück nicht.«
Während Ben aufgestöhnt hat, hat Linea auf dem Bett trotzig den Kopf geschüttelt.
»Ich hab wirklich nichts gegen Fiete.
Eigentlich mag ich ihn sogar ganz gern.«
»Ach ja?«
»Ja. Sogar sehr. Eifersüchtig?«
Linea hat Ben mit einem aufreizenden Lächeln gemustert und ich hab meine Fäuste unter dem Tisch so sehr geballt, dass es wehgetan hat. Diese doofe Nuss! Zum Glück muss Ben den Kopf geschüttelt haben, denn Linea hat sich kurz darauf mit einem enttäuschten Seufzer nach hinten fallen lassen.
»Schade. Wie ist das jetzt eigentlich zwischen Julie und dir? Ist da noch was?«
Von meinem Lauschposten unter dem Schreibtisch hab ich gesehen, wie Ben sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert hat, und dann hat er gemeint, das wisse er selber nicht so genau. Ich hab vor lauter Aufregung den Atem angehalten, aber da ist Linea schon zu ihm rübergekommen und hat sich mit einer lässigen Bewegung auf seinen Schoß gesetzt.
»Und das heißt?«
»Lass das, okay?«
Ben hat Linea sanft von sich geschoben und ich habe langsam wieder ausgeatmet, aber Bens nächster Satz hat mich gleich wieder in Alarmbereitschaft versetzt.
»Ehrlich gesagt kommt mir diese ganze Geschichte mit dem Foto immer komischer vor. Allein schon, dass es ausgerechnet diese Zimtzicke Hanna war, die Fiete die Sache mit dem Typen aus Julies Klasse gesteckt hat. Das ist schon ein bisschen merkwürdig …«
HANNA?? Wäre vor lauter Verblüffung fast umgefallen, aber zum Glück war unter dem Schreibtisch dafür zu wenig Platz. Was zum Donnerwetter hat Hanna mit der ganzen Sache zu tun? Und was für ein Foto??
»Aber du hast dieses Leberfleck-Foto doch selbst gesehen! Von wem sollte dieser Typ es denn sonst haben, wenn nicht von Julie selbst? Oder meinst du, der ist so krank, dass er extra ein Loch in die Duschwand bohrt, damit er an so was rankommt?« Das war natürlich wieder Linea. Habe ihre Rockstar-Schlangenlederstiefel zehn Zentimeter vor mir gesehen und für eine Sekunde ernsthaft überlegt, ob es sehr schlimm wäre, wenn ich ihr einmal kräftig in die Waden beiße, aber dann hat Bens Antwort mich doch davon abgehalten.
»Nein, außerdem war das auf dem Foto keine Duschkabine. Im Hintergrund war irgendein dunklerVorhang, aber … Ach, keine Ahnung.«
Ben ist kopfschüttelnd von seinem Stuhl aufgestanden und ich bin in meinem Versteck einen halben Meter unter ihm fast kollabiert. Ein Typ aus meiner Klasse hat ein Foto, auf dem mein Leberfleck zu sehen ist?? Das heißt, irgendeiner meiner Mitschüler hat ein Foto von meiner linken Brust! Vor einem Vorhang! Oh – mein – Gott!!! Habe wie eine Wahnsinnige überlegt, bei welcher Gelegenheit irgendjemand die Chance gehabt haben könnte, mich oben ohne zu fotografieren, aber mir ist nicht das Geringste eingefallen. Schließlich haben wir seit der Fünften keinen Schwimmunterricht mehr und sonst gibt es einfach nichts, wo man sich so komplett aus- MOMENT!
Irgendetwas in meinen Gehirnwindungen hat sich geregt und ich hab ein paar Sekunden gebraucht, um zu begreifen, was es war, aber dann ist es mir wieder eingefallen.
Der BH-Kauf mit Mama! Wie war das noch, als wir Hanna und ihre Mutter getroffen haben? Habe ich da nicht so ein merkwürdiges Klicken gehört, als Hanna neben mir ihren Badeanzug anprobiert hat?? Und hat sie nicht gerade erst nach den Weihnachtsferien auf dem Schulhof mit ihrem neuen Fotohandy angegeben, das angeblich so tolle Schnappschüsse macht? Oh, mein Gott! Diese fiese Ziege! Diese fiese, miese, hinterlistige, dämliche, ekelhafte … Im selben Moment habe ich gemerkt, dass Linea Ben etwas gefragt haben muss, was ich nicht mitbekommen habe, denn auf einmal ist er gereizt aufgesprungen.
»Nein, ich rede mir nichts ein, weil ich noch immer in sie verknallt bin! Wenn Julie vorher nicht diese ganzen Lügen vom Stapel gelassen hätte, dann hätte ich diesem Ruprecht oder Hubert oder wie der Typ heißt diesen ganzen Foto-Quatsch sowieso nicht abgenommen, aber …«
Hubert?? Hubert wie Hubertus??? Also doch! Dieser fiese, miese, hinterlistige, dämliche, ekelhafte … War kurz davor, einen speziell auf Hanna und Hubertus gemünzten Amoklauf in Erwägung zu ziehen, doch im selben Augenblick hat Linea Ben schon beruhigend durchs Haar gewuschelt und da hat sich meine ganze Wut wieder auf sie konzentriert.
»Hey, Ben, nicht aufregen!«
Linea hat Ben an der Hand genommen und aus meinem Blickfeld gezogen und plötzlich haben in mir alle Alarmglocken zu läuten begonnen. Irgendwo im Raum hat Ben leise »Lass!« gemurmelt und einen Augenblick später hat Linea zärtlich »Na, geht doch …« geflüstert und im selben Moment ist eine unheimliche Metamorphose42 mit mir passiert. Eben noch war ich ein kleiner Schisshase, der sich nichts zutraut und immer nur von allen gemocht werden will, und kurz darauf habe ich mich in Julie, die düstere Verfechterin der Wahrheit und Rächerin der unglücklich Liebenden, verwandelt. In meinem Kopf hat es angefangen zu rumoren wie kurz vor einer Explosion und dann hat irgendjemand plötzlich mit gruseliger Stimme »LASS IHN LOS!« gesagt, ganz laut, und erst als Linea und Ben sich erschrocken umgedreht haben, habe ich gemerkt, dass das wohl ich gewesen sein muss. SHIT!
»Hast du das auch gehört?«
Linea hat sich erschrocken umgesehen, und während Ben sich den schweren Locher als eine Art Waffe geschnappt hat und damit vor dem Schreibtisch in die Knie gegangen ist, habe ich mich stumm wie ein Plattfisch an die Heizungsrohre in meinem Rücken gedrückt und mit geschlossenen Augen zu beten angefangen. »Bitte, lieber Gott, lass Ben mich nicht entdecken. Lass Ben mich bitte, bitte nicht …« Eine Sekunde später war direkt vor mir Bens Stimme zu hören.
»Das glaub ich jetzt nicht!«
Linea hat von hinten »Hast du ihn?« gerufen und Ben hat grimmig geantwortet.
»Und ob ich ihn habe. Oder besser gesagt, sie …«
»Sie??«
Mist! Ich hab dieAugen noch immer ganz fest zugekniffen, weil ich gehofft habe, dass Gott vielleicht einfach noch einen Moment braucht, bis er mich in Luft aufgelöst hat, aber anscheinend hatte Gott ausgerechnet heute einen schlechten Tag. Kopfweh vermutlich, Burn-out oder was auch immer. Auf jeden Fall war Bens Gesicht, als ich meine Augen geöffnet habe, noch immer direkt vor mir und es sah nicht im Mindesten verständnisvoll aus. Eher im Gegenteil. »Ben? Alles in Ordnung da unten?«
Eine Sekunde später ist Linea neben Ben ebenfalls auf die Knie gegangen, und als ich ihre weit aufgerissenen Augen vor mir gesehen habe, bin ich dann doch lieber aus meinem Versteck herausgekrabbelt.
»Hi, äh … Tja, also, es ist nicht so, wie es scheint, es ist eigentlich …«
Hätte beinahe gesagt »… noch schlimmer!«, habe den Satz dann aber doch lieber unvollendet im Raum stehen lassen.
Ben hat mich gemustert wie ein sprechendes UFO, und während ich noch immer fieberhaft nach einer halbwegs einleuchtenden Erklärung für meine Anwesenheit gesucht habe, ist Linea auf einmal in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
»Haha … Oh, nee, huhu … Oh, mein Gott! Ben, du hast eine Stalkerin43! Uhuhu, wer hätte das gedacht …«
Ben und ich haben sie entgeistert angesehen, aber sie hat gar nicht mehr aufgehört zu lachen, und wer weiß, wie das Ganze noch geendet hätte, wenn Ben nicht im selben Moment losgebrüllt hätte, dass sie gefälligst damit aufhören soll. Linea hat verdattert innegehalten und Ben hat den Augenblick der Ruhe dafür genutzt, um sich mit eisiger Miene zu mir umzudrehen.
»Okay, Julie, ehe das Ganze jetzt noch peinlicher wird, als es ohnehin schon ist: Was um Himmels willen tust du hier?«
Die Ader an Bens Schläfe hat wie wild gepocht und ich musste auf einmal wieder an meinen Schwur denken und daran, dass ich Ben nie wieder anlügen wollte. Und dann habe ich eine Entscheidung getroffen. Wennschon, dennschon. Ich würde Ben die Wahrheit sagen. Natürlich ohne Jette und die anderen reinzureißen, die würde ich eben einfach nicht erwähnen, aber beim Rest würde ich mich knallhart an die Fakten halten.
Während Linea mich neugierig gemustert hat, habe ich also berichtet, wie ich von unserem Badezimmerfenster aus etwas Merkwürdiges beobachtet hätte und deshalb rübergekommen wäre und die Eindringlinge dabei fast in flagranti erwischt hätte, aber eben nur fast.
»Die Eindringlinge? Du meinst, in unserem Haus waren Einbrecher?«
Ben hat mich verdattert angeguckt und ich hab verlegen die Schultern gezuckt.
»Na ja, ich glaub nicht, dass es richtige Einbrecher waren …«
»Sondern?«
Linea hat mich misstrauisch gemustert und ich hab für einen Moment geschwiegen, weil mir nicht eingefallen ist, was ich ihr antworten könnte, ohne zu lügen, aber da hat Ben schon wieder zweifelnd den Kopf geschüttelt.
»Und warum versteckst du dich dann unter dem Tisch? Dass wir keine Einbrecher sind, müsstest du doch inzwischen mitbekommen haben.«
»Klar. Natürlich. Ich war nur so erschrocken und …«
»Die lügt doch!«
Linea hat sich zu Ben umgedreht und ich hab gemerkt, wie eine Woge der Empörung in mir hochgekocht ist.
»Ich lüge nicht, verstanden?? Ich habe gestern erst beschlossen, von jetzt an nur noch die Wahrheit zu sagen, weil Lügen nämlich ätzend sind und man sich auch mal was trauen muss, egal, ob die anderen dann sauer auf einen sind oder nicht, und …«
»Oh, mein Gott, was quatscht sie denn da? Ist die jetzt völlig durchgeknallt?«
Das war wieder Linea, aber ich habe sie ignoriert und kurzerhand weitergesprochen.
»Was das Lügen anbelangt, hattest du nämlich total recht,Ben! Ich hab dich angelogen, und das war vollkommen daneben. Das mit dem Wasserrohrbruch war einfach blöd, da war ich nur zu stolz, um zuzugeben, dass ich traurig über deine Italien-Absage war und enttäuscht, und bei der Dänemark-Sache hab ich mich nur nicht getraut, meinem Vater gleich zu erzählen, dass ich über Ostern schon was vorhab, weil er sich so über seine Segelüberraschung gefreut hat, aber krank war ich wirklich, da kannst du Dr. Brandt fragen, der kann dir so ein Dings, ein Attest, ausstellen, obwohl die Krankenkassen das sicher nicht mehr zahlen, und mit dieser Fotosache hab ich auch nichts zu tun, ganz im Gegenteil, Hubsi ist nämlich ein totaler Lackaffe und das Foto hat Hanna wahrscheinlich gemacht, als sie neben mir im Kaufhaus einen Badeanzug anprobiert hat, und wenn ich schon dabei bin, dann kann ich dir gleich auch noch sagen, dass ich dich noch immer …«
Im selben Augenblick hat Bens Mutter die Tür aufgerissen und alle Köpfe sind ruckartig zu ihr herumgefahren.
»Ben, würdest du mir bitte sofort erklären, was mit meiner Vase …? Oh, hallo Julie! Linea …«
Bens Mutter hat Linea und mich verdattert angestarrt, aber ich hab gedacht, wenn ich es jetzt nicht sage, dann sage ich’s nie. Also hab ich meinen Satz einfach zu Ende gebracht. »… na ja, dass ich dich eben noch immer lieb habe. Und dass sich das in den nächsten hundert Jahren wohl auch nicht ändern wird. Das mit der Liebe, mein ich.«
Ich habe betreten zu Boden geblickt, weil ich von meinem eigenen Mumm ganz erschlagen war, aber dann habe ich doch ganz kurz hochgeguckt und da habe ich gemerkt, dass Ben mich inzwischen angesehen hat wie ein UFO, aus dessen Dach gerade gepunktete Teetassenhenkel wachsen, und das hat mich doch ein bisschen verunsichert.
Für einen Moment herrschte absolute Stille und dann hat Bens Mutter mit einem verlegenen »Na, das mit der Vase können wir ja später klären …« die Tür hinter sich geschlossen. Und Linea hat sich stöhnend zu mir umgedreht und gemeint, in ihren Augen sei die Sache klar.
»Du bist hier eingebrochen, um uns zu bespitzeln, und erzählst Ben jetzt irgendeine Story!«
»Nein! Ich hab doch gesagt, das war ich nicht!«
»Wer’s glaubt, wird selig!«
»Könnt ihr mal aufhören, euch zu streiten?«
Ben hat Linea und mich entnervt angefunkelt und dann hat er gesagt, im Moment würde er überhaupt nicht mehr peilen, was hier eigentlich abginge, und insofern würde er jetzt gern einen Moment alleine sein.
»Heißt das, du willst, dass ich gehe, obwohl sie hier den Mist gebaut hat?«
Linea hat Ben perplex gemustert und der hat noch einen Augenblick gezögert und dann genickt.
»Ja, ich denke, genau das heißt es.«
»Na, wunderbar! Da hat sie ja ihr Ziel erreicht!«
Linea ist gereizt aufgestanden und hat sich mit einem gezischten »Kommst du oder willst du hier Wurzeln schlagen?« zu mir umgedreht und ich wollte ihr gerade folgen, da hat Ben mich am Handgelenk zurückgehalten.
»Julie, warte!«
»Ja?«
Ben hat mich angesehen und dabei geschluckt (das hat man richtig gesehen!) und im selben Moment hat Linea schon wütend aufgeschnaubt.
»Das glaube ich jetzt nicht!! Sie bleibt hier, oder was?«
Linea hat Ben einen tödlichen Blick zugeworfen, aber Ben hat, anstatt meine Hand loszulassen, nur langsam genickt.
»Ja.«
»Oh Mann! Wie konnte ich nur so blöde sein!« Eine Sekunde später hat Linea mit funkelnden Augen die Tür zugeknallt – Wumms!!! –, und ich hab mich zögernd zu Ben umgedreht, der mich noch immer festgehalten hat.
»Okay, also nur noch mal wegen eben …«
Ben hat auf einmal etwas verunsichert ausgesehen, aber dann hat er mir direkt in die Augen geblickt.
»Hast du das wirklich ernst gemeint? Das mit dem Nicht-mehr-Lügen und dem … na, du weißt schon?«
»Mit dem, dass ich dich noch immer …?«
Ich habe verlegen abgebrochen und Ben hat sich nervös hinter dem Ohr gekratzt.
»Ja, genau, das meinte ich.«
»Ach, das. Also das …«
Ich hab angeregt meine Fingernägel betrachtet und dabei geschluckt.
»Ich denk … also …«, hab ich gestammelt, aber dann hab ich mich zusammengerissen und seinen Blick erwidert.
»Ja. Hab ich.«
»Aha.«
Ben hat langsam genickt und seine Hände kurzzeitig genauso angeregt betrachtet wie ich meine.
»Okay …«
Für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, als hätte Ben erleichtert ausgeatmet, aber dann hat er sich wieder zu mir umgedreht und gemeint, dass er noch etwas Zeit bräuchte, um sich darüber klar zu werden, was er eigentlich will.
»Das war alles ein bisschen viel in den letzten Tagen, verstehst du? Ich möchte dir ja glauben, aber …Vielleicht sollten wir erst mal so eine Art Pause machen. Um uns über alles klar zu werden. Oder was meinst du?«
»Kein Problem.« Ich habe schnell genickt, obwohl ich innerlich gedacht habe: »Herrgott, warum das denn?«, aber irgendwie war selbst mir klar, dass es im Moment nicht ratsam wäre, Bens Bitte abzulehnen. Also habe ich nur geantwortet, dass ich dafür natürlich Verständnis hätte.
»Dann geh ich mal wieder rüber, was?«
»Ja, ist vielleicht das Beste.«
»Okay.«
Ich habe noch einen Moment gezögert, aber dann hab ich leise die Tür hinter mir zugezogen und bin gegangen. Im Flur habe ich noch kurz gehofft, dass Ben gleich hinter mir hergelaufen kommt, um mir zu sagen, dass das mit der Pause Quatsch war und er mich natürlich noch immer liebt, auch wenn ich ein sprechendes UFO mit gepunkteten Kaffeetassenhenkeln bin, aber leider ist niemand hinter mir hergelaufen, absolut niemand.
Na, und das war’s dann. Sitze seit einer halben Stunde wieder in meinem Zimmer und starre auf den zerknüllten Zettel, den ich in meiner Hosentasche gefunden habe – den Zettel, wegen dem ich überhaupt erst unter diesen verdammten Schreibtisch gekrochen bin.
Und da steht nicht etwa drauf »Julie, ich liebe dich, alles wird wieder gut«, sondern einfach nur mein Name und darum herum sind ganz viele Fragezeichen gezeichnet. Super, oder? Wie sagt Papa noch immer, wenn er etwas sieht, was er nicht versteht? Was will mir diese Werbesendung sagen???
Rede mir die ganze Zeit ein, dass es für eine angehende Schriftstellerin ganz toll ist, so etwas zu erleben, weil man damit reichlich Stoff für spätere literarische Meisterwerke hat. Funktioniert nur leider nicht sonderlich gut. In was für einem literarischen Meisterwerk kauert die Heldin schon unter dem Schreibtisch ihres Liebsten und erzählt ihm vor den Augen seiner Mutter, dass sie ihn liebt, woraufhin er ihr vorschlägt, erst mal eine Pause einzulegen? Garantiert in keinem, das ich später schreiben will!
Okay, ich denke, es hilft nichts. Ich muss den Tatsachen wohl oder übel insAuge sehen! Ben möchte eine Pause, Papa hat keinen Job, Mama will nach Holm ziehen, Schari hat Liebeskummer und ich würde mich am liebsten von einer Brücke stürzen, was ich aber nicht tue, weil ich – zumindest theoretisch – entschieden gegen Selbstmord bin. Oh Mann! Zurzeit geht’s mir so mies, dass ich noch nicht mal über mich selber lachen kann. Und das ist, befürchte ich, ein wirklich schlechtes Zeichen.
PS: Hab Schari noch immer nicht erreicht! Jetzt schon die siebte SMS geschrieben.
39 Versuche gerade verstärkt, mir das Sch…-Wort abzutrainieren, Mama hat die Strafgebühr für »Scheiße« heute früh nämlich um fünfzig Cent erhöht. Das bedeutet ein Euro für jedes Mal Scheißesagen! Finde, das ist absoluter Wucher! Habe Mama erzählt, dass ich das total ungerecht finde, wo Papa doch jetzt arbeitslos ist und sich das mit dem Scheißesagen nicht mehr leisten kann, wobei er es doch bestimmt gerade jetzt nötig hätte, ab und zu mal Scheiße zu sagen, und weißt du, was ihre Reaktion darauf war? Sie hat die Hand aufgehalten und zwei Euro von mir gefordert, weil verstecktes Scheißesagen genauso teuer wäre wie direktes! Ungeheuerlich, oder? Habe ihr einen Vogel gezeigt und geantwortet, sie hätte sie ja wohl nicht mehr alle, aber ich glaube nicht, dass das hilft. Befürchte, sie knöpft mir das Geld so oder so noch ab.
40 Oder äskaliert? Ich lern das nie!
41 Prioritäten setzen = den Stellenwert einer Rangfolge ermitteln, also quasi entscheiden, was das Wichtigste ist. Papa meint immer, meine Mutter könne keine Prioritäten setzen und deshalb sei sie auch immer so gestresst – was natürlich Quatsch ist. Mamas Prioritäten (z. B. ein Shopping-Bummel bis Ladenschluss) sind nur andere als Papas (z. B. ein leckeres Abendbrot, wenn er nach Hause kommt).
42 Metamorphose = Verwandlung; Franzi und Jette meinten neulich, meine Faszination für Vampire gekoppelt mit meinem Fremdwörterfetischismus würde langsam etwas ausufern, aber ich finde, da müssen sie durch.
43 Eine Stalkerin ist ein weiblicher Fan, der sein Idol krankhaft verfolgt. Habe ich inzwischen im Wörterbuch nachgesehen, weil ich das Wort nicht kannte. Finde Linea, seitdem ich weiß, was das heißt, noch unsympathischer als vorher.