Höhepunkte
1) Keine, das heißt eigentlich doch, wenigstens einer. Papa war heute früh bei der Polizei und hat die Erpresserbriefe als Beweismittel abgegeben. Hoffentlich hilft’s.
Tiefpunkte
1) Habe Ben heute Morgen in der Schule bei den Fahrradständern getroffen. Er hat »Hallo!« gesagt, ich habe auch »Hallo!« gesagt, und das war alles.
2) Habe in der Nacht kein Auge zugekriegt, weil ich immer wieder an gestern denken musste. Wie lange dauert so eine Beziehungspause eigentlich? Tage? Wochen?
Monate? Oder Jahre? Und was kommt danach??
11.45 Uhr. Große Pause. Auf der Fensterbank in unserem Klassenzimmer.
Heute ist der erste Schultag nach den Osterfeiertagen. Hab vor Unterrichtsbeginn bei Scharina geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Wusste nicht, was ich tun sollte. Bin dann erst mal in die Schule gefahren, aber da war sie auch nicht. Das gibt es doch gar nicht!!!! Verdammt!!! Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen!!!!!!! Was, zum Donnerwetter, hat Jannick mit ihr gemacht??
Wollte ihn gleich zur Rede stellen, aber er hat auch gefehlt, und Jette, Franzi und Sophie wussten sowieso von nichts.
Stattdessen haben sie mich gelöchert, was gestern Abend passiert ist, und ich hab mich für die Kurzform entschieden (die aber trotzdem noch lang genug war) und anschließend waren alle erst mal entsetzt. Natürlich vor allem über die Tatsache, dass ich erwischt worden bin, aber auch über die Info, dass Hanna hinter der gesamten Leberfleckgeschichte steckt. (Das mit Hubertus fanden sie auch eklig, aber das hat irgendwie niemanden erstaunt. Außerdem war Hubsi heute ohnehin wegen irgendeiner Familienangelegenheit in Lübeck.)
Was Hanna anbelangt, hat Franzi einige beeindruckende Schimpfwörter benutzt, die ich zum Teil noch gar nicht kannte,44 und Jette war so wütend, dass wir sie festhalten mussten, um zu verhindern, dass sie stante pede45 in die 7a läuft und Hanna mit einer Anzeige wegen Verunglimpfung und Rufmord droht.
Nachdem sich Jette wieder ein bisschen beruhigt hatte, haben wir darüber diskutiert, was ich am besten mit meinem Wissen anfangen soll, aber so richtig ist niemandem etwas eingefallen, außer Sophie, deren Augen bei dem Stichwort »Alsterhaus« plötzlich ganz merkwürdig geleuchtet haben.
»Und du bist dir ganz sicher, dass Hanna dieses Foto am Siebenundzwanzigsten gegen fünfzehn Uhr im Alsterhaus gemacht hat?«
»Ja, wieso?«
Ich habe Sophie fragend angeguckt, aber die hat schnell den Kopf geschüttelt.
»Ach, nichts. Mir kommt da nur gerade so eine Idee.«
»Oh, bitte nicht schon wieder!«
»Nein, keine Angst. Die hat diesmal nichts mit Wanzen zu tun. Aber ich sag euch erst Bescheid, wenn’s klappt. Sonst seid ihr nachher noch enttäuscht.«
Ich wollte noch einmal nachhaken, aber da hat Franzi mich schon gefragt, wie jetzt eigentlich der Stand zwischen Ben und Linea ist, und dabei ist mir erst bewusst geworden, dass die anderen ja noch gar nichts von dieser Pausensache wissen. Mist!!! Also hab ich den Rest auch noch erzählt, die ganze Geschichte von A bis Z, nicht mal die Sache mit der Liebeserklärung vor Linea und Bens Mutter hab ich ausgelassen, obwohl mir das inzwischen mindestens so peinlich wie Lille Okseo ist. Ich mein, rückblickend betrachtet ist das echt der Ober-GAU. Wie konnte ich nur??!!!
Franzi, Sophie und Jette haben einen Blick gewechselt, und während ich mich mit Hasstiraden auf mich selbst gegeißelt habe (darin bin ich echt gut), haben sie total süß reagiert.
Sophie hat gemeint, dass sie zwar niemand anderen kennen würde, der so etwas fertigbrächte, aber dass sie die Tatsache, dass ich sie nicht verraten hätte, viel wichtiger fände.
»Jeder andere hätte alles auf uns geschoben, aber du eben nicht«, hat sie gesagt und Franzi hat dazu genickt und ergänzt, dass sie mich genau wegen solcher Aktionen so gernhaben würden.
Ich hab die Überreste der Soko Leberfleck zweifelnd angeguckt und wollte ihnen gerade unterstellen, dass sie mich nur trösten wollen, da hat Jette schon entschieden den Kopf geschüttelt.
»Blödsinn. Du kannst es bloß nicht ab, wenn jemand dir mal was Nettes sagt. Dabei bist du, wenn’s drauf ankommt, mutiger als wir alle zusammen. Und selbst wenn diese Idee mit der Liebeserklärung vor Bens Mutter vielleicht nicht unbedingt deine beste war …«
»…wir finden dich trotzdem super!«
Franzi hat mich umarmt und Sophie und Jette haben genickt und für einen Moment war ich ganz gerührt, aber dann bin ich mir plötzlich so vorgekommen wie die grenzdebile Freundin, mit der man immer gern auf Partys geht, weil man daneben umso cooler rüberkommt. Aber da hat Sophie schon gesagt, so hätten sie das doch nicht gemeint; schließlich sei jedem von ihnen schon mal etwas abgründig Peinliches passiert.
»Ja, aber bestimmt nicht so oft wie mir.«
»Hast du eine Ahnung!«
Franzi hat ihre Stimme gesenkt und dabei gemurmelt, dass wir darüber schweigen müssten wie ein Grab, aber dass sie letzte Woche die Enthaarungscreme ihrer Mutter mit dem Schaumfestiger verwechselt hätte und seitdem eine kahle Stelle auf dem Scheitel hätte, die sie jeden Morgen mit braunem Edding übermalen würde.
»Im Ernst? Zeig mal!!«
Franzi hat uns vor die Tür gezogen und tatsächlich – da war diese kahle Stelle, und anschließend hat Jette von dem Liebesbrief berichtet, den sie Sepp, ihrem Skilehrer-Schwarm, letzte Woche geschrieben hätte und auf den ihre Mutter aus Versehen eine Biene-Maja-Briefmarke geklebt hätte. Danach wollte Sophie gerade etwas vollkommen Absurdes über ein aufgeblasenes Kondom erzählen, das sie für einen Luftballon gehalten hat, aber im selben Augenblick ist unsere Physiklehrerin mit einem Berg Arbeitszetteln unter dem Arm an uns vorbeigerauscht und wir mussten zurück in die Klasse.
Als wir wieder im Unterricht saßen, hatte ich dann einen richtigen Liebesanfall, was meine Freundinnen anbelangt. Ich bin so froh, dass ich sie habe! Auch wenn Jettes Kommissar-Tick manchmal nervt und Sophie überall Pferdeköpfe hinmalt und Franzi ohne ihre Shopping-Orgien nicht leben kann – die drei sind einfach klasse! Vor allem in der geballten Ladung, so wie eben. Wobei Schari nach wie vor meine liebste ist. Keine Ahnung, warum, aber bei ihr habe ich irgendwie immer das Gefühl, dass das zwischen uns was ganz Besonderes ist. Neulich haben wir beide uns mal drüber unterhalten, wie wir leben wollen, wenn wir erwachsen sind, und da haben wir beschlossen, unsere Männer zu überzeugen, später ein Doppelhaus zu bauen, in dem wir alle zusammen wohnen können und …
Oh, Shit. Mir kommt da gerade ein ganz schrecklicher Gedanke. Diese Art Gedanken, bei dem einem ganz kalt wird und man plötzlich keine Luft mehr bekommt. Scharina wird sich doch nichts angetan haben, oder? O D E R ???? Oh Gott, daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht! Ich Idiot!!! Da schreib ich hier irgendwelchen unwichtigen Schwachsinn und Schari steht vielleicht gerade jetzt mit Liebeskummer auf irgendeiner Brücke und überlegt herunterzuspringen. Und alles wegen Jannick und seinem bescheuerten Vater! Verdammt! Ich muss unbedingt zu ihr. SOFORT! Gleich haben wir Mathe, aber das hier ist eindeutig wichtiger!!!
17.43 Uhr. Nach dem Besuch bei Schari wieder zu Hause.
Oh Mann! Als ich vorhin bei Scharina geklingelt habe, hat ihre Mutter mir die Tür aufgemacht, und als sie gesagt hat, dass Schari nur deshalb nicht in der Schule war, weil sie erkältet ist, bin ich vor Erleichterung fast in Ohnmacht gefallen! Gott, war ich froh!!! Inzwischen hatte ich mich dermaßen in die Sache reingesteigert, dass ich sie schon irgendwo als Wasserleiche in der Elbe herumschwimmen gesehen hab. (Im Sich-in-etwas-Hineinsteigern bin ich schließlich fast noch besser als im Sich-selber-Geißeln.)
Nachdem mir ihre Mutter das mit dem Kranksein erzählt hatte, bin ich gleich in Scharinas Zimmer gestürzt und hab sie wie eine Ertrinkende an mich gedrückt. Und dann hab ich sie wieder losgelassen und war erst mal geschockt. Ich sag dir, die sah vielleicht fertig aus!
Scharis schwarze lange Haare hingen wie dunkle Spaghetti an ihrem Kopf herunter und ihre Haut war so blass, dass sie in jeder Untoten-Saga hätte mitspielen können. Und noch etwas war seltsam an ihr, aber was das war, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht aufgefallen.
Ich hab erst mal gefragt, warum sie denn nicht an ihr Handy gegangen ist, und danach hab ich gemerkt, dass ihre Augen ganz rot verheult waren. Und da hab ich angefangen, mich tierisch über Jannick aufzuregen, der aus lauter Schiss vor seinem Vater einfach mit ihr Schluss gemacht hat. Dieser elende Warmduscher! Einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, ich würde mich schon genau wie Mumi anhören (ich glaub, das war an der Stelle, als ich vorgeschlagen habe, Jannick und seinen Vater an Armen und Beinen gefesselt in den Keller unserer Schule zu sperren), aber im selben Augenblick ist mir plötzlich bewusst geworden, dass Scharina mich die ganze Zeit gemustert hat, als würde ich chinesisch reden, und deshalb hab ich abrupt innegehalten.
»Äh, Schari, alles in Ordnung, oder …?«
Schari hat mich angeguckt wie eine arme Irre und dann hat sie seufzend den Kopf geschüttelt und mich gefragt, wie ich in drei Teufels Namen auf die absolut meschuggene Idee käme, Jannick hätte mit ihr Schluss gemacht.
»Oh. Äh … Hat er nicht?«
Ich hab Schari verdattert angestarrt. Und dann hab ich begonnen, mir ziemlich einen abzustottern. Von wegen, dass ihre Mutter doch neulich am Telefon erwähnt hätte, dass Jannick und sie sich gestritten hätten, und dass ich da halt eins und eins zusammengezählt hätte, aber Schari hat nur seufzend den Kopf geschüttelt und gemeint, die Sache läge ganz anders.
»Ich hab Jannick gesagt, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn wir Schluss machen, verstehst du? Weil ich nicht wollte, dass er sich meinetwegen noch mehr mit seinem Vater verkracht. Er hat doch sonst niemand, seit seine Mutter weg ist, und eigentlich ist der Bulle auch gar nicht so übel. Neulich hat er Jannick ein kleines Schwein für seinen Schreibtisch getöpfert und in seiner Freizeit, da kümmert er sich ganz viel um den Tierschutz und …«
»Um den Tierschutz?? Äh, Moment mal, verteidigst du ihn etwa gerade??«
Habe Schari angesehen, als sei sie auf dem besten Wege, verrückt zu werden, aber sie hat nur genickt.
»Ja, vielleicht, aber so schlimm ist er wirklich nicht. Das Meiste, was er mir an den Kopf geschmissen hat, hat er bestimmt nur gesagt, weil er gedacht hat, dass ich Jannick zum Rauchen überrede. Wegen dieser blöden Kippe, die mir gar nicht gehört hat. Aber ich schwör dir, das hätte sich schon wieder eingerenkt, wenn ich nur gestern meine Klappe gehalten hätte. Aber nein, ich blöde Kuh, muss mich ja ausgerechnet bei Kevin ausheulen!« Schari hat wieder zu schluchzen angefangen und ich habe ratlos den Kopf geschüttelt.
»Langsam verstehe ich gar nichts mehr. Was hat dein Bruder denn jetzt mit der ganzen Sache zu tun?«
Schari hat mit ihrer Faust so heftig gegen ihren Bettrahmen gehauen, dass das allein schon beim Zusehen wehgetan hat. Also habe ich mich kurz entschlossen neben sie gesetzt und ihre Hand festgehalten.
»Hey, Schari, jetzt sag schon! Du warst gestern bei Kevin und …?«
Ich habe Scharina abwartend angesehen und sie hat unglücklich geseufzt.
»Na, Kevin hat mich halt gefragt, warum ich so spießige Klamotten anhab, und da …«
»Warum du so spießige Klamotten anhast?«
Ich habe Schari verdattert angeguckt, weil ich ihre Ankündigung von letzter Woche, von wegen Outfit ändern und so, schon wieder ganz vergessen hatte. Und dann ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen, was mich vorhin so irritiert hat!!!
In ihren Haaren war nichts Pinkes mehr zu sehen! Eine Sekunde später ist mein Blick auf einen dunkelblauen Faltenrock und eine langweilige weiße Bluse gefallen, die an ihrem Schrank hingen, und da habe ich dann endgültig geschnallt, wovon sie redet.
»Ach so, die Geschichte. Ist ja klar, dass Kevin sich gewundert hat. Wenn du das da anhattest …«
Ich habe den dunkelblauen Faltenrock ungläubig gemustert, aber Schari hat im selben Moment schon geantwortet, die Sachen hätte Jette ihr geliehen und sie würde die nur tragen, weil man für die Liebe nun mal Opfer bringen müsse.
»Das hab ich Kevin auch gesagt, aber er hat gemeint, ich hätte ja wohl den Schuss nicht gehört. Und da …«
»Und da?«
»Na ja und da …«
Schari hat noch einmal die Nase hochgezogen und sich dann schniefend in meine Arme geworfen.»Ach, Julie, wie konnte ich nur so dämlich sein? Eigentlich weiß ich ja, dass man Kevin nichts erzählen darf, aber er war auf einmal so nett und hat mir richtig zugehört und da … da hab ich ihm halt von Herrn Kleinhardt erzählt. Dass ich jetzt Hausverbot hab, weil man mir ja schon ansehen würde, aus welchem Stall ich komme und so, und Kevin hat die ganze Zeit nichts gesagt und ich hab echt gedacht, er versteht mich, aber dann ist er auf einmal aufgesprungen und hat gebrüllt, dass niemand seine kleine Schwester wie eine Schlampe behandeln dürfte, niemand und erst recht kein Bulle, und da hab ich erst begriffen, was ich getan hab, vor allem, weil er mich anschließend noch gefragt hat, wo Jannicks Vater wohnt und …«
»Oh, Shit! Das hast du ihm doch nicht gesagt, oder?«
Ich hab Schari entgeistert angesehen und sie hat schnell den Kopf geschüttelt.
»Nein, aber … Dass ich ihm überhaupt was erzählt hab, das war so dämlich von mir! So scheiße dämlich!!!«
Schari hat wieder angefangen, ihre Faust gegen das Bettgestell zu schlagen, und ich hab versucht, sie zurückzuhalten.
»He, Schari, hör auf. Vielleicht kommt’s ja doch nicht so schlimm. Vielleicht …«
»Von wegen. Du kennst doch Kevin!«
Schari hat sich verzweifelt eine Träne aus dem Gesicht gewischt und dabei leise geschluchzt.
»Zuerst hab ich gedacht, ich krieg das wieder hingebogen, weil Kevin mir versprochen hat, dass er Herrn Kleinhardt in Ruhe lässt, wenn ich das unbedingt will, aber gestern Abend hat er noch mal bei Mama angerufen und sich erkundigt, ob Jannicks Vater auf unser Schulfest kommen würde, und Mama hat gesagt, sie würde das stark annehmen, weil er ja Elternvertreter ist und viel für die Schule macht, und Kevin hat gemeint, dann würde er wohl auch kommen und noch ein paar Freunde mitbringen.«
»Oh nein!«
»Verdammt, ja, ich weiß, dass das ätzend ist! Aber ich kann’s doch jetzt nicht mehr ändern! Ich hab schon versucht, Jannick anzurufen, damit er seinen Vater warnt, aber da geht niemand ans Telefon. Das heißt, ich muss noch bis morgen warten, ehe ich ihm das erzählen kann, und …«
»He, wenn du jetzt wieder zu heulen anfängst, stehe ich auf und geh, verstanden?«
»Tust du ja doch nicht.«
»Und ob ich das tu!«
Ich bin drohend aufgestanden, aber Schari hat so verloren ausgesehen, dass ich mich gleich wieder hingesetzt habe.
»Ach, komm her, du doofe Nuss!«
Ich habe Schari in den Arm genommen und an mich gedrückt und anschließend habe ich ganz schnell alles Mögliche vom Stapel gelassen. Dass die meisten Dinge nicht so heiß gegessen werden, wie sie gekocht werden, und dass mir bis übermorgen schon etwas einfallen wird, um zu verhindern, dass Kevin sich Herrn Kleinhardt auf dem Schulfest vorknöpft, und so weiter. Zum Schluss war ich fast selber überzeugt davon, aber jetzt, wo ich wieder zu Hause bin, schwindet meine Zuversicht leider wie Eis unter der Höhensonne. Schließlich ist mit Scharis achtzehnjährigem Bruder wirklich nicht zu spaßen, und das, was Schari über seine Freunde erzählt hat, klang auch nicht gerade ermutigend. Laut Schari bestehen Kevins Kumpels aus tausend Stunden Bräunungsbank garniert mit dem IQ einer Raufasertapete und der Muskelmasse eines Yetis und dummerweise fehlt mir zurzeit jede Idee, wie ich die gehirnamputierte Yeti-Masse auf dem Schulfest von Herrn Kleinhardt fernhalten soll. Am liebsten würde ich mit Ben darüber reden, aber das geht ja nicht wegen der bekloppten Pau- Mist, Mama ruft. Es gibt Abendessen. Schreibe später weiter.
19.15 Uhr.
Habe eben beim Abendbrot (es gab Sauerkrautsuppe und dazu einen Brotfruchtsaft, echt eklig) einen Entschluss gefasst und ihn auch gleich in die Tat umgesetzt. Kann immer noch nicht glauben, dass ich das getan habe, aber YES – I DID IT! Und es hat funktioniert.
Angefangen hat alles damit, dass Mama und Papa wieder ganz schrecklich rumgedruckst haben und dann meinten, sie müssten noch einmal mit mir über Papas Arbeitslosigkeit reden und dass sie ja verstehen würden, dass mir der Gedanke an einen Umzug schwerfallen würde, aber ich doch sonst auch immer so ein vernünftiges Mädchen gewesen sei, und da hatte ich plötzlich eine Erkenntnis. Und die lautete:
Ich will kein vernünftiges Mädchen mehr sein!
Schließlich bedeutet »vernünftig sein« für Mama und Papa im Grunde nur, dass man tut, was sie für richtig halten, und darauf hab ich einfach keine Lust mehr! Weil das nämlich nur eine Umschreibung für mein bisheriges Schisser-Dasein ist! Aber damit ist jetzt Schluss!
Und deshalb hab ich den Brotfruchtsaft in den Ausguss gekippt und meinen Eltern gesagt, dass mir die Sache mit Papas Job echt leidtut, aber dass ich nicht nach Holm ziehen werde, definitiv nicht, um keinen Preis der Welt. Weil ich nämlich nicht mehr der brave Flaschengeist bin, der immer macht, was die anderen wollen, sondern Julie Ahlberg, dreizehneinviertel, und damit fast schon erwachsen. Zumindest so erwachsen, dass ich inzwischen kapiert habe, dass es nur Bauchweh macht, wenn man sich andauernd für die Ehe der Eltern und die Harmonie in der Familie und den Weltfrieden verantwortlich fühlt und es jedem recht machen will und keinen enttäuschen möchte und dabei ganz vergisst, was man selber eigentlich will.
Boh, ich sag dir. Papa hat ziemlich verdattert geguckt und Mama hat sich gleich auf die Sache mit Holm gestürzt, von wegen, wo wir hinziehen, das bestimmen noch immer wir, deine Eltern, aber als ich gesagt habe, dass ich dann bei Mumi oder Schari einziehen werde und dass Scharis Mutter bestimmt nichts dagegen hätte, weil ich ihr ja in dem Fall regelmäßig bei ihren Putzjobs helfen könnte, waren sie doch etwas geschockt. Geschieht ihnen recht!
Papa hat gesagt: »Hey, hey, immer langsam mit den wilden Pferden«, und Mama hat gemeint, so weit seien sie ja auch noch gar nicht mit ihrer Planung, und da hab ich gewusst, dass ich eine Chance habe. Yeah!
Bin selber ganz erstaunt, aber anscheinend schlummert in mir durchaus so etwas wie eine Kämpfernatur. Vielleicht werde ich ja doch keine Schriftstellerin, Wirbeltierforscherin oder Diplomatin, sondern Revolutionsführerin in irgendeinem Land, in dem vorher die totale Diktatur geherrscht hat. Oder vielleicht kann man das Ganze kombinieren? Erst befreie ich alle unterdrückten Teenager dieser Welt von der Diktatur der Erwachsenen, dann sorge ich für Weltfrieden und anschließend schreibe ich einen Bestseller, in dem blendend aussehende weibliche Wirbeltier-Vampire alle fiesen Werbeagenturchefs zu Labskaus mit Spiegelei verarbeiten, und bekomme dafür den Jugendliteraturpreis. Ha! Wie lautet noch der Spruch, den Mumi auf einem ihrer Uralt-T-Shirts stehen hat: »Friede den Hütten und Krieg den Palästen!« In diesem Sinne – bis morgen!
44 Sie sagt, die Mädchen in diesem FBS-Schminkkurs kennen noch ganz andere. Denke, ich sollte da vielleicht auch mal hingehen…
45 Stante pede ist lateinisch und heißt so viel wie stehenden Fußes. Sollen Mama und Papa noch einmal sagen, die Lateinklasse würde ich noch bereuen, weil sie mir nichts bringen würde!