Donnerstag, der 8. April

image Höhepunkte

1) Unglaublich, aber wahr: Schari hat von Herrn Kleinhardt nichts mehr zu befürchten! (Dooferweise gilt dasselbe leider nicht für Herrn Kleinhardt und Scharis Bruder, aber das Problem kriege ich auch noch in den Griff.)

2) Mumis Lover, der tolle Thorwald, ist definitiv kein Heiratsschwindler, sondern … (nachfolgend mehr!)

3) Hanna hat heute in der Schule versprochen, Schari und mich in Zukunft in Frieden zu lassen. Gelobt seien Sophie und der siebzigste Geburtstag ihrer Großmutter!!!

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image Tiefpunkte

1) Habe Ben heute in der Zehn-Minuten-Pause vor der Cafeteria getroffen und er hat »Hi!« gesagt. Gestern bestand unser einziger Dialog aus »Hey!« (= drei Buchstaben) und vorgestern aus »Hallo!« (= fünf Buchstaben). Was, wenn er mir morgen nur noch mit einem Hauchlaut zunickt?

2) Morgen Abend ist das Schulfest mit dem großen Bandwettbewerb. Habe beschlossen hinzugehen, obwohl ich tierische Angst davor habe, dass Ben das Lied, das er letztes Jahr für mich geschrieben hat, a) überhaupt nicht singt (was eventuell bedeuten könnte, dass es zwischen uns aus ist) oder b) mit »Linnie« statt »Julie« im Refrain singt (was definitiv bedeuten würde, dass es zwischen uns aus ist).

Heute haben Schari und ich Hanna in der großen Pause vor ihrer Klasse abgefangen und sie mit einem Trick in den Computerraum gelotst. Dort haben wir ihr dann auf den Kopf zugesagt, was sie getan hat, und sie hat geguckt wie ein Auto. Oh Mann! Allein das war es schon wert. Im Nachhinein verstehe ich überhaupt nicht mehr, warum ich kurz vorher noch Muffensausen bekommen habe, aber mein Schiss vor Auseinandersetzungen geht ja manchmal merkwürdige Wege. War wahrscheinlich ein Rückfall in alte Flaschengeist-Zeiten. Auf jeden Fall war’s supergut, dass ich mich letztlich doch überwunden habe und mitgegangen bin. (Fand Schari übrigens auch!)

Zuerst hat Hanna natürlich alles abgestritten (bestimmt hat sie gedacht, wir bluffen), aber dann haben wir ihr die DVD gezeigt und da hättest du sie mal sehen müssen! Ihre Augen sind immer kleiner geworden und ihre Lippen immer verkniffener und ihre Wangen immer röter, und als der Film zu Ende war, hat sie ausgesehen wie ein Frosch, der zu lange die Luft angehalten hat. Kurzzeitig habe ich gedacht, gleich platzt sie vor lauter Wut, aber dann hat sie komplett die Taktik gewechselt. Keine Ahnung, wie sie das so schnell hingekriegt hat, aber auf einmal wirkte sie so, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Sogar ihre Stimme hat richtig gezittert.

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»Oh Gott, es tut mir so leid. Julie, du Arme! Wie dieser Hubertus dich und mich für seine Zwecke benutzt hat, das ist wirklich abartig. Dieses, dieses … Tier!«

Habe Hanna perplex angeguckt, weil ich nicht begriffen habe, warum Hanna und ich auf einmal beide Opfer von Hubertus sein sollten, aber da hat Schari schon nachgehakt und zehn Sekunden später haben wir dann die Geschichte erfahren, allerdings aus Hannas Sicht, die sich – wie man sich ja denken kann – deutlich von Hubertus’ Sichtweise unterscheidet. Laut Hanna war nämlich Hubsi der große Böse, der sich das alles nur ausgedacht hat, um an ein Foto von mir heranzukommen, und Hanna das bemitleidenswerte Opfer, das von Hubertus quasi dazu genötigt worden ist, ihm dieses Foto zu beschaffen. Ich sag dir, wäre Hanna Pinocchio, hätte ihre Nase glatt die Hundert-Meter-Marke durchbrochen. Was für eine Story! War für eine Sekunde versucht, Hanna vor den Bug zu knallen, dass ich ihr kein Wort glaube und dass ich an ihrer Stelle wenigstens die Größe hätte, zu meiner eigenen Niedertracht zu stehen, aber gerade, als ich zum großen Tribunal ansetzen wollte, hat Schari mir zugeflüstert, dass es doch reichen würde, wenn wir wüssten, wer wen zu was angestiftet hat, und das hat mich dann komplett aus dem Konzept gebracht. Da bin ich gerade so schön in Fahrt und dann kommt so was! Habe kurzerhand beschlossen, Scharis Einwurf zu ignorieren, und Hanna stattdessen aufgefordert, zehnmal laut und deutlich den Satz »Ich bin eine fiese, miese, hinterlistige, dämliche, ekelhafte Schlange!« zu sagen, aber aus unerfindlichen Gründen hat Schari plötzlich gemeint, nun sei es aber mal genug.

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»Also, ich unterschreib euch das jetzt und dann lassen wir die Sache auf sich beruhen, okay? Ich mein, wir sind quitt, ja? Ihr zeigt das niemand und ich …«

»Grr!!«

Ich bin mit meinem Werwolf-Blick einen Schritt auf Hanna zugegangen, woraufhin sie instinktiv vor mir zurückgewichen ist.

»Gut, äh, dann sollte ich jetzt mal wieder in meine Klasse. Also, tut mir leid und …«

Einen Wimpernschlag später ist Hanna mit hektischen Flecken im Gesicht und einem zittrigen »Tschüss!« abgedampft und ich hab mich so gut gefühlt wie schon lange nicht mehr! Tja, wer hätte das gedacht? Ich, Julie Ahlberg, dreizehneinviertel, kann richtig wütend werden! Um nicht zu sagen ANGST EINJAGEND wütend! Ich bin kein Flaschengeist, ich bin der Julienator!YEAH!!

Nachdem ich Schari dreimal gefragt habe, ob sie gesehen hätte, wie Hanna vor mir zurückgezuckt ist, und sie dreimal erwidert hat, dass ich stellenweise ausgesehen hätte wie dieser durchgeknallte Killer aus dem James-Bond-Film, den wir vor ein paar Wochen bei Franzi geguckt haben, haben Schari und ich unseren Sieg in der Cafeteria erst mal mit einem Schokokuss-Brötchen, einem Kopenhagener und zwei Berlinern gefeiert. Und dabei habe ich Schari die großen Neuigkeiten von Jannicks Vater erzählt. Ich bin nämlich nicht nur der Julienator, sondern seit gestern Abend auch noch die Rächerin meiner und heute ist scheinbar das Auto dran. Mag gar nicht daran denken, was er macht, wenn alles bei uns im Haus komplett entmüllt, repariert und aufgeräumt ist. Fängt er dann bei den Nachbarn an? Wahrscheinlich. Sehe ihn förmlich schon vor Bens Tür den Rasen mähen oder bei Peters die Hundehütte von Iwan dem Schrecklichen sanieren. Papa sagt zwar, er macht das alles nur, um das Haus für die möglichen neuen Käufer in Schuss zu bringen, aber wenn du mich fragst, tut er es vor allem, um sich von seinem Kündigungsfrust abzulenken (Mama und er reden inzwischen ständig darüber, wenn sie denken, ich merke es nicht), aber allmählich nervt das Ganze doch. Na ja, egal. Wo war ich? Ach ja, bei Herrn Kleinhardt.

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Also, halt dich fest, Jannicks Vater ist nämlich nicht nur ein paranoider töpfernder Sachbereichsleiter für Kriminalstatistik, sondern auch …

– Da, da, da, dam! –

… Mumis neuer Lover! Da ist man sprachlos, was? Gestern Abend habe ich fast eine Herzattacke bekommen, als ich Mumis Wohnzimmer betreten habe und Jannicks Vaters dort in weißem Hemd und gebügelter (!) Jeans auf dem Sofa sitzen sah. Erst habe ich gedacht, er ist nur zufällig da, weil er gerade bei den Nachbarn für den Tierschutzverein oder die Polizeihundestaffel gesammelt hat, aber kurz darauf ist Mumi in einem indischen Walla-Walla-Kleid mit roten Wangen hereingesegelt und hat uns freudestrahlend vorgestellt.

»Also, das hier ist meine Tochter Geli und das sind meine Enkelkinder Julie und Evchen, die leider von Julie immer Otti genannt wird, obwohl Eva so ein schöner Name ist. Na, und das ist Thorwald, mein, mein … Freund.«

Mumi hat sich verlegen eine graue Haarsträhne hinters Ohr geschoben (wahrscheinlich weil sie uns gegenüber bisher immer nur von Thorwald als einem Bekannten geredet hat) und ich hab ungefähr so intelligent geguckt wie ein Schaf, dem man gerade Kermit den Frosch vorgestellt hat. Ich mein, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet! Jannicks Vater ist der tolle Torwart! Hatte ernsthafte Mühe, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten, aber ehe sie mir vollends entgleist sind, ist Jannicks Vater schon aufgesprungen und hat mir, mindestens genauso verdattert, die Hand geschüttelt.

»So, du bist also Inges Julie. Das ist ja eine Überraschung. Frau Ahlberg …«

»Kennt ihr euch??«

»Tja, das kann man wohl sagen.«

Jannicks Vater hat meine Mutter begrüßt und die beiden haben sich kurz über den letzten Elternabend unterhalten und Mumi hat irritiert von einem zum anderen geguckt, aber zum Glück hat Otti sich im selben Moment am Sessel zum Stehen hochgezogen und ist dabei prompt mit der Stirn gegen die Couchtischkante geknallt, sodass Mumi und Mama erst mal abgelenkt waren.

»Uäääähhh!!!«

»Oh, mein Gott, Evchen!!!«

»Ach, Mäuschen, was machst du denn?? Lass mal, Mama. Ich nehm sie schon. Hast du irgendwo ein Kühlkissen?«

Mama hat Otti seufzend auf den Arm genommen und ihr beruhigend über den Kopf gestrichen, Otti hat gebrüllt wie ein Stier, Mumi ist hektisch in die Küche gerast, um nach einem Kühlkissen zu gucken, und ich habe die Zeit genutzt, um Jannicks Vater in dem allgemeinen Chaos erst mal zur Rede zu stellen.

»Aber ich dachte, der tolle … äh, ich dachte, Mumis Thorwald wäre Sozialarbeiter. Und sie sind doch bei der Poli…

»Öhö,öhö …«

Herr Kleinhardt hat hektisch gehustet und ich habe ihn irritiert angeguckt.

»Hmh?«

»Wir sprechen gleich darüber, okay?«

Im selben Moment, in dem Herr Kleinhardt sich nervös in Richtung Tür umgedreht hat, ist Mumi mit ein paar Eiswürfeln in der Hand wieder ins Zimmer zurückgekommen.

»Hier, Geli, was anderes habe ich leider nicht.«

Mumi hat Mama die Eiswürfel in die Hand gedrückt und Herr Kleinhardt hat ihr kurz zugewinkt. »Entschuldigst du uns einen Moment, Inge? Julie und ich sind mal kurz in der Küche!«

Mumi hat uns verdutzt hinterhergeguckt und einen Augenblick später habe ich mich mit Jannicks Vater allein in der Küche wiedergefunden, wo er hinter uns so konspirativ47 die Tür geschlossen hat, als wäre er M. und ich der Geheimagent ihrer Majestät 007.

»Julie, es tut mir leid, aber könntest du das mit meinem Beruf noch ein paar Tage für dich behalten? Wenigstens so lange, bis ich mit Inge darüber geredet habe?«

»Hä?«

Habe Herrn Kleinhardt verwirrt gemustert, aber der ist auf meine qualifizierte Zwischenbemerkung nicht weiter eingegangen, sondern hat einfach weitergeredet.

»Weißt du, ich hätte es Inge ja schon längst gesagt, aber dann hab ich mitgekriegt, dass sie nicht sonderlich viel von meinem Berufsstand zu halten scheint, und, na ja, so lange sind wir ja noch nicht zusammen und da habe ich halt gedacht …«

» … dass Sie ihr stattdessen lieber erzählen, dass Sie Sozialarbeiter sind??«

Ich habe staunend den Kopf geschüttelt und Herr Kleinhardt hat sich geräuspert und dann verlegen gemeint, dass er das so genau eigentlich nie gesagt hätte.

»Auf die Idee ist sie sozusagen von allein gekommen. Wobei ich natürlich zugeben muss, dass ich das Missverständnis auch nicht gleich aufgeklärt habe. Also, ich wollte es eigentlich richtigstellen, aber …«

»Aber?«

Ich habe den unglücklich an seinem Hemdkragen herumnestelnden Herrn Kleinhardt skeptisch gemustert und das muss seine Nervosität noch gesteigert haben, denn seine Hautfarbe, die eh schon ziemlich rot war, ist allmählich ins Lila-Bläuliche tendiert.

»Herrgott, ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich bin kein Lügner. Wenigstens normalerweise nicht. Im Nachhinein hab ich keine Ahnung mehr, wie es dazu gekommen ist. Ich schätze deine Großmutter nämlich wirklich sehr. Du solltest sie mal beim Yoga sehen, unsere ganze Gruppe schwärmt von ihr und die paar Jahre Altersunterschied sind mir vollkommen egal, ihr übrigens auch, sind ja eh nur sieben und …«

»Julie, Thorwald, seid ihr hier?«

Just in diesem Moment hat Mumi ihren Kopf durch die Küchentür gesteckt und Herr Kleinhardt ist mitten im Satz erstarrt.

»Stör ich?«

Mumi hat uns irritiert angesehen und Jannicks Vater und ich haben gleichzeitig den Kopf geschüttelt.

»Nein, natürlich nicht. Wie könntest du je stören?«

Herr Kleinhardt hat Mumi den Arm um die Schulter gelegt und sie hat ihm lächelnd zugezwinkert und dabei wieder an ihren Haaren rumgezwirbelt.

»Na, dann bin ich ja froh. Also, wenn ihr wollt, könnt ihr mir gleich beim Tischdecken helfen. Teller und Besteck sind schon im Esszimmer. Die Gläser sind dahinten und die Servietten sind …«

» … gleich neben den Aschenbechern, ich weiß.«

Ich wollte gerade aus dem Einbauschrank neben Herrn Kleinhardts Kopf die Servietten holen, da hab ich an Mumis zu Tode erschrockener Miene gemerkt, dass ich irgendetwas Falsches gesagt haben muss. Und eine Sekunde später wusste ich auch, was es war.

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»Den Aschenbechern? Aber du rauchst doch gar nicht …« Jannicks Vater hat sich verwirrt zu Mumi umgedreht und ich habe vor lauter schlechtem Gewissen das Nächstbeste gesagt, was mir eingefallen ist.

»Sie raucht auch nicht. Sie … Sie sammelt die nur.«

»Du sammelst Aschenbecher? Als Nichtraucherin??«

Mumi hat mir hinter Herrn Kleinhardts Rücken einen Vogel gezeigt, aber Gott sei Dank hat Jannicks Vater nicht so schnell geschaltet, und das hat Mumi Zeit gegeben, ihm hastig zu erzählen, dass ihre Sammelleidenschaft schon längst der Vergangenheit angehören würde.

»Im Grunde habe ich die nur noch für Gäste. Wobei selbst das eigentlich überflüssig ist, nicht wahr? Wer raucht denn heute schon noch? Doch höchstens ein paar unbelehrbare Alt-Hippies, die den Zeitpunkt verpasst haben abzuspringen …«

»Ach, wirklich?«

Habe Mumi einen spitzen Blick zugeworfen (Ich mein, wer qualmt hier täglich zwanzig Zigaretten und verkauft das Ganze auch noch als einen Akt freier Willensentscheidung?), aber im selben Moment hat Jannicks Vater Mumi schon liebevoll an sich gezogen.

»Weißt du, Julie, genau deswegen mag ich deine Großmutter so. Weil sie immer ehrlich sagt, wie es ist, ohne langes Drumherumgerede. Schließlich sind wir uns in Sachen Tabak und Alkoholkonsum absolut einig. Letztlich ist es einfach nur traurig, wenn man sieht, wie sich Menschen mit Alkohol und Zigaretten berauschen, um ihrer eigenen inneren Leere zu entfliehen. Nicht wahr, Inge?«

»Hm, hm.«

Mumi ist wie ein junges Mädchen errötet, Jannicks Vater hat sich seufzend zum Gehen umgedreht, und während Mumi im Hinausgehen noch schnell die leeren Piccolosektflaschen für den Altglascontainer mit einem Fußtritt unter den Schrank befördert hat, habe ich innerlich die Augen verdreht.

So viel also zum Thema »Lügen sind voll die Liebeskiller«. Von wegen! War eine Sekunde lang versucht, mein ganzes Nie-wieder-lügen-Projekt in die Elbe zu schmeißen, aber dann habe ich mich wieder daran erinnert, wie erleichtert ich war, nachdem ich allen endlich die Wahrheit gesagt hatte, und habe fürs Erste doch beschlossen, bei meinem neuen Entschluss zu bleiben. Schließlich bin ich ich und Mumi ist Mumi. Und wenn Jannicks Vater und meine Oma das so durchziehen wollen, ist das ja ihre Sache und nicht meine. Gott sei Dank.

Okay, und das war’s dann gestern Abend im Grunde auch schon. Bis auf den kleinen, aber wichtigen Umstand, dass ich mir Jannicks Vater im Anschluss an das Meuchelmord-Essen (was erstaunlicherweise besser geschmeckt hat als gedacht, aber wahrscheinlich hatte ich einfach nur Hunger) noch einmal alleine vorgeknöpft habe. Während Mumi und Mama Otti gemeinsam gewickelt haben,48 habe ich ihm draußen auf dem Balkon ein für alle Mal klargemacht, dass Scharina Punkt a) nie geraucht hat, Punkt b) Jannicks Mathe-Nachhilfe-Lehrerin war und nicht umgekehrt und Punkt c) er sich Scharina gegenüber in meinen Augen hundsgemein verhalten hat.

Puh! Vermute, dass es einige Zeit her ist, seit ihn jemand so auf den Pott gesetzt hat, denn sein Gesicht ist während meiner Rede immer finsterer und finsterer geworden. Innerlich habe ich mich schon auf einen gewaltigen Wutausbruch gefasst gemacht, aber denkste. Anstatt darauf zu beharren, dass Scharina ein asoziales rauchendes Wesen ist, das es nur darauf abgesehen hat, seinen armen unschuldigen Sohn zu verführen, hat Jannicks Vater nämlich zugegeben, dass er in Sachen Scharina vielleicht überreagiert haben könnte. Ha! Unfassbar, oder? Für so einsichtig hätte ich ihn gar nicht gehalten. Aber anscheinend hatte Jannick an dieser Erkenntnis auch einen entscheidenden Anteil. Laut Herrn Kleinhardt hat sein Sohn ihm nach Scharis Rausschmiss nämlich vor den Latz geballert, dass er seit seiner Scheidung ein verknöcherter alter Spießer geworden sei, der von Liebe keine Ahnung hätte, und das hat ihm wohl doch zu denken gegeben. (Nicht Jannick, sondern seinem Vater.) Hm. Muss zugeben, das hätte ich dem Hobbit gar nicht zugetraut. Vielleicht ist er bei Licht betrachtet doch nicht so ein Weichei, wie ich immer gedacht habe.

Wie auch immer, auf jeden Fall redet Jannick seit Scharis Rauswurf kein Wort mehr mit seinem Vater, und weil Herr Kleinhardt sich im Moment auch nicht traut, seinem Sohn seine neue Flamme (sprich Mumi) vorzustellen, ist das Verhältnis zwischen den beiden derzeit so desolat49, dass ich mit meiner Verteidigungsrede auf Schari wohl genau den richtigen Zeitpunkt erwischt habe. Yeah! (Noch besser wäre es natürlich gewesen, ich hätte Mumi dazu gekriegt, ihrem neuen Lover zu gestehen, dass der Zigarettenstummel auf seinem Balkon von ihr stammt, aber als ich sie nach dem Essen, als wir allein in der Küche waren, darum gebeten habe, hat sie mich so entgeistert angeguckt, als hätte ich gerade von ihr verlangt, einen Frosch zu küssen. Da sieht man’s mal wieder, Feigheit scheint bei uns in der Familie zu liegen!)

Nun gut, von Mumis Beichtverweigerung einmal abgesehen, finde ich, dass ich mich als Liebesengel Amor eigentlich ganz gut gemacht habe. Zumindest in Sachen Schari und Jannick. Wäre vielleicht noch eine fünfte Berufsidee für später, neben Schriftstellerin, Wirbeltierforscherin, Diplomatin und Revolutionsführerin. Heiratsvermittlerin. Oder Eheberaterin. Oder Paartherapeutin. (Falls das nicht eh alles dasselbe ist.) Allerdings sollte ich vorher vielleicht erst mal mein eigenes Liebesleben auf die Reihe kriegen. Oh Gott, ich darf gar nicht daran denken! Ob Bens Band morgen bei dem Bandcontest wirklich meinen Song vorspielt? Den, den Ben letztes Jahr für mich geschrieben hat? »Julie, my love for you is bigger than a house, bigger than a street, bigger than a town …«

Ich glaube, wenn er es mit Lineas Namen im Refrain singt, sterbe ich. Wie die kleine Schlüsselblume in diesem Gedicht, das wir neulich in Deutsch gelesen haben. Ich knick einfach um und bin tot.

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47 Konspirativ = verschwörerisch. Das Wort hab ich von Jette, die es zurzeit in jedem zweiten Satz verwurstet, weil sie es so Kommissarinnen-like findet.

48 Das mit dem gemeinsamen Wickeln machen sie fast immer, keine Ahnung, warum. Papa meint, das hängt wahrscheinlich mit dem Umstand zusammen, dass Mädchen und Frauen auch so oft zusammen aufs Klo gehen, aber ich glaube, das ist irgendetwas anderes.

49 Cooles Wort, oder? Muss ich demnächst unbedingt benutzen. Heißt so viel wie trostlos und passt damit zurzeit voll in mein Leben. Meine Lateinkenntnisse sind desolat, Papas Aufräumwut, unser Kontostand, laut Aussage meiner Eltern die Situation auf dem Arbeitsmarkt und last, not least mein Liebesleben. Das ist sozusagen die Spitze des Desolaten.