Als du klein warst, hat man dir beigebracht, wie du dich über deine Instinkte hinwegsetzt.
Als du geboren wurdest, dachtest du, alles mit dir sei in Ordnung, und dann begannen die Leute dir beizubringen, du seist nicht okay. Natürlich geschah das nicht bewusst. Mit der Zeit hast du die Regeln und Erwartungen der anderen verinnerlicht. Du hast gesehen, was ihnen gefallen hat und was nicht, über wen man sich lustig gemacht hat und wer akzeptiert wurde.
Als Kind warst du fasziniert von dem, was du im Spiegel gesehen hast.
Du hast etwas aus dem Regal im Geschäft genommen und es getragen, weil du es schön fandest.
Du hattest Hunger und wolltest essen.
Du hattest eine Idee und hast sie ausgeführt.
Du warst auf mühelose Weise kreativ, verbunden und völlig du selbst.
Dann begannen die anderen, dich zu korrigieren, sagten dir, wie du dich anziehen, wie du dich verhalten und wie du sein solltest, und nach und nach hast du begriffen, dass deine grundlegenden Instinkte falsch waren. Du wurdest von deinem natürlichen Navigationssystem abgeschnitten. Es stellte sich heraus, dass du dir selbst nicht trauen konntest, wenn es darum ging, die Qualitäten deines eigenen Lebens zu bewerten.
Als erwachsene Person blickst du wahrscheinlich in den Spiegel, und dir gefällt nicht, was du siehst.
Im Laden suchst du etwas danach aus, ob es die Stellen verdeckt, die du an dir am meisten hasst.
Du fühlst einen Anflug von Hunger und hinterfragst ihn dann. Dann fragst du dich, was du essen möchtest, und dann fragst du dich, ob du überhaupt essen solltest.
Du weißt, was du liebst, aber du glaubst nicht, dass du es verdienst, dich hauptberuflich damit zu beschäftigen.
Du weißt, was du willst, fragst dich aber, was andere Leute denken würden – und dann versuchst du es nicht weiter, weil du glaubst, du könntest dich damit Demütigungen aussetzen.
All dies ist erlerntes Verhalten.
Wenn du wie die meisten Menschen bist, steht in deiner Standard-Betriebsvereinbarung mit dir selbst, dass deinen Urinstinkten nicht zu trauen ist. Du glaubst, die Vorstellungen anderer Menschen müssten ihnen übergeordnet werden.
Du denkst: Würde ich mir vertrauen, würde ich mein Leben ruinieren.
Du nimmst an, wenn du wirklich loslassen, wirklich deinem Herzen und deiner Wahrheit folgen würdest, dann würdest du dich auch deinen Emotionen entsprechend verhalten, und dein Leben fiele auseinander.
Doch würde es das? Würde dein ganz tiefes, wahres, erfülltes Selbst dies wirklich tun? Wahrscheinlich nicht. So verhalten wir uns, wenn wir nach extrem viel Unterdrückung und fehlender Verbundenheit einen Höhepunkt erreicht haben und uns nichts übrig bleibt, als wild um uns zu schlagen.
Dir wurde gesagt, dein natürlicher Instinkt sei falsch, und würdest du auf ihn hören, würdest du dich völlig gehen lassen. So funktioniert soziale Konditionierung. Sie basiert darauf, dich glauben zu machen, dein inneres Selbst sei voller Bosheit, und nur dein Selbsthass würde alles zusammenhalten.
Nach und nach verlernst du, deine Umgebung zu bewerten und deinen eigenen Einschätzungen und Meinungen zu vertrauen. So landest du am Ende bei einer der heimtückischsten und bösartigsten Formen von Selbstsabotage.
Wenn wir überkompensieren, versuchen wir das auszugleichen, was uns fehlt. Wenn wir überkorrigieren, versuchen wir zu reparieren, was kaputt ist – sogar wenn das gar nicht der Fall ist.
Überkompensation ist ein wenig einfacher zu verstehen. Wir können es in gewisser Weise ahnen, wenn jemand einen so großartigen Lebensstil hat, dass er irgendwo unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden muss.
Überkorrekturen sind jedoch heimtückisch, denn sie können sich hinter einer Maske von Bescheidenheit und Selbstoptimierung verbergen. Tatsächlich wird dir dadurch langsam dein Leben gestohlen; du verharrst in der Überzeugung, du würdest immer noch nicht genügen.
Wenn wir überkorrigieren, nehmen wir zunächst an, dass alles in unserem Leben grundsätzlich fehlerhaft sei. Wir glauben, unser Leben könne nicht beginnen, bis wir alles, was uns nur möglich ist, verbessert haben.
Statt gesunde Lebensgewohnheiten aufzubauen, strapazieren wir unseren Tagesablauf bis an die äußersten Grenzen unserer Toleranz und unserer Gesundheit – in dem Bemühen, so produktiv zu sein wie nur menschenmöglich.
Statt unser Erscheinungsbild anzupassen, versuchen wir uns völlig neu zu erfinden, und wir verzichten auf das Leben, bis wir dieses Ziel erreicht haben.
Statt unsere Beziehungen zu entwickeln, sind wir besessen davon, wer uns liebt und wer nicht und wie viele Freunde wir haben; oder von der äußeren Darstellung unserer Verbindungen – im Gegensatz zu den Verbindungen selbst.
Überkorrektur entsteht, weil wir keine Vorstellung davon haben, was »genügen« für uns bedeutet.
Wenn uns jemand sagt, wir sollten etwas in unserem Leben verbessern, glauben wir ihm.
Man kann uns das so leicht verkaufen, dass ganze Industriezweige um das Kreieren eines vermeintlichen Problems oder eines Defekts in uns selbst aufgebaut werden, die dann ein Produkt verkaufen – um das Problem zu lösen, das sie selbst geschaffen haben.
Wir sind leicht zu manipulieren, weil wir über keinen natürlichen Instinkt mehr verfügen, der uns sagt, was sich in unserem Leben wirklich gut anfühlen würde. Also glauben wir, dass wir weitersuchen müssen, weiter verbessern und in Ordnung, bis alles perfekt ist.
Doch das Problem ist nicht, dass unser Leben nach außen hin nicht gut genug wäre, das Problem ist unsere fehlende Verbindung zu unserer Wahrnehmung dessen, was im Innern genügen würde. Also verschwenden wir Zeit und Geld, Energie und Mühe auf uns selbst und hoffen, dieses Gefühl von »genügen« komme irgendwie zu uns zurück.
Viele Menschen müssen wirklich ihr Leben ändern. Doch wenn du ein Problem hast, könnte eine aktive Handlung es schließlich lösen. So kannst du den Unterschied erkennen: Überkorrigieren ist ein ewiger Kampf, der tatsächlich kein Ende hat. Wirkliche Problemlösungen haben einen Endpunkt.
So können wir wissen, dass wir überkorrigieren:
Überkorrigieren kann auch zu Abhängigkeitsverhalten oder anderen Formen eines schädlichen Umgangs mit sich selbst führen, die entweder helfen, zu vermeiden und abzulenken, oder die das Problem möglicherweise »lösen« könnten (man denke an Shopping oder die ständige Suche nach »neuen Gelegenheiten«, ohne jemals wirklich anzukommen).
Wenn wir überkorrigieren wollen, setzen wir uns Standards, die wir unmöglich erfüllen können, weil sie für uns grundlegend ungesund sind.
Das ist so, weil wir uns in der Vergangenheit so verhalten haben, wie man es von uns wollte – und wenn dies nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte, erfuhren wir, dass nichts jemals genügt. Nach und nach gelangten wir zu der Überzeugung, dass die einzige Möglichkeit zu überleben heißt, uns ständig vor uns selbst zu beweisen.
Wir begannen mit der Überkorrektur, weil wir überkorrigiert wurden.
Es ist ein erlerntes Verhalten.
Wenn Eltern oder andere Bezugspersonen überkorrigieren, tun sie dies in dem Bemühen, den Kontakt mit einer authentischen Version von dir zu vermeiden, denn diese verursacht bei ihnen Unbehagen (höchstwahrscheinlich, weil ihre eigenen Eltern auf sie ähnlich reagierten). So wird das Problem auf dich verlagert.
Du versuchst nicht, dich zu verbessern, um wirklich besser zu sein.
Du versuchst dich zu verbessern, um anderen zu beweisen, dass du ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe oder ihre Zeit verdienst.
Deshalb entsteht aus Überkorrigieren solch ein Teufelskreis: Dein Wert wird von der abstrakten Vorstellung davon bestimmt, wie dich andere Menschen sehen. Das ist eine Metawahrnehmung. Du kannst nicht wissen, was Menschen wirklich denken, daher gehst du von dem Schlimmsten aus.
Dann lernst du erhöhte Wachsamkeit. Mit der Zeit konditionierst du dich selbst so stark mit dem Fokus auf das Negative, dass du etwas anderes nicht mehr siehst.
Du nimmst selbst das Verhalten an, das dich verletzt hat, sodass es nicht mehr gegen dich verwendet werden kann.
Damit glaubst du, den anderen zuvorzukommen. Jeden möglichen Mangel, den man bei dir finden könnte, identifizierst du, listest du auf und versuchst du zu kritisieren, damit man dich nicht enttäuschen, abweisen oder verletzen kann. Du ziehst eine Eight Mile [1] ab, deine Schwächen liegen auf dem Tisch.
Nur dass es so nicht funktioniert, nicht mal ein bisschen.
Man hat dir beigebracht, deine Schwächen seien der Grund dafür, dass man dich nicht einbezieht. Im Erwachsenenalter interpretierst du das als Grund dafür, dass du dein Leben nicht beginnen kannst.
Du weißt entweder nicht, wie du Verbindungen zu anderen eingehst, oder du traust diesen Verbindungen nicht.
Dein Leben verläuft weiter im Pausenmodus, und du reißt dir ein Bein aus, um ein Problem zu lösen, das niemals wirklich ein Problem war – was heißt, dass du niemals das Ergebnis bekommen wirst, das du dir eigentlich wünschst. Du wirst nur immer frustriert sein, und du wirst weiter warten.
Die Wurzel des Überkorrigierens liegt im Gefühl, nicht zu genügen. Du brauchst dich nicht dazu zu zwingen, das überkorrigierende Verhalten zu beenden – du brauchst dir nur beizubringen, dass du genügst.
Das klingt hart, und ist doch eigentlich ganz einfach. Hier folgt, was du tun kannst:
1 Trete wieder mit deiner ehrlichen Meinung in Verbindung.
Wenn es dir zu schwer fällt, herauszufinden, wie du dich eigentlich fühlst, beginne im Kleinen. Probier etwas Neues zu essen und schaue, ob es dir schmeckt. Hör dir eine neue Spotify-Playlist an und entscheide, ob sie dir gefällt. Sieh dir einen Film an und bewerte ihn ehrlich. Denk nicht daran, ob er jemand anderem gefällt oder nicht, konzentrier dich einfach auf das Gefühl in deinem Körper, deinem Herzen und deinem Kopf.
Wenn du beginnst, dich im Kleinen wieder mit deinen wahren Einschätzungen zu verbinden, wirst du deine Intuition wiedererlangen.
2 Achte auf deine grundlegendsten Instinkte.
Achte darauf, wann du Hunger oder Durst hast und wann du müde bist.
Das ist alles.
Registriere einfach, ob etwas von den drei Dingen zutrifft, und sorge, wenn möglich, für Wasser, Essen oder eine Ruhepause.
Diese drei Überlebensinstinkte werden leider im Prozess des Überkorrigierens abgeschaltet. Wie viele Menschen kennst du, die fast immer dehydriert sind, hungrig und erschöpft? Wahrscheinlich viele.
Lerne, die Instinkte zu schätzen, die du wahrnehmen kannst, und reagiere dann auf sie entsprechend.
3 Gewähre anderen Menschen deine Zustimmung.
Das erscheint wahrscheinlich eher falsch herum, aber um dich als »genügend« wahrzunehmen, musst du beginnen, andere Menschen zuerst anzuerkennen.
Wenn du andere beurteilst (und das tun wir alle), stellst du im Wesentlichen Regeln für dich selbst auf. Wenn du jemanden siehst, der erfolgreich ist, Neid entwickelst und dir dann sagst, na ja, so toll ist der doch gar nicht, hast du den Standard festgelegt, den du übertreffen musst, um gut genug zu sein.
Mit der Zeit ist diese Messlatte so hoch, dass du sie womöglich gar nicht mehr erreichen kannst.
Du willst im Grunde besser sein als diese Leute, weil du immer noch glaubst, bei Werten und Verbundenheit gehe es um einen Wettbewerb, ein Spiel, bei dem du gewinnen kannst.
Und tatsächlich, wenn du die Menschen unterstützt, wertschätzt und anerkennst für das, was sie sind, wie sie aussehen und was sie tun, wird sich diese besondere Freundlichkeit natürlich auf dein eigenes Leben auswirken.
4 Nimm nicht mehr alles persönlich.
Das nämlich ist in erster Linie passiert, als du mit dem Überkorrigieren begonnen hast.
Die Menschen in deinem Umfeld haben Probleme, die sie mit sich selbst hatten, auf dich projiziert, und du hast sie dann als deine eigenen übernommen.
Jemand sagte: »Das würde ich nie tragen«, und du hast es als »ich sollte das auch nicht tun« aufgefasst.
Du hast eine Situation auf dich bezogen, die nicht auf dich zu beziehen war. Das hast du so oft getan, dass du schließlich dein Leben durch eine Reihe von Regeln und Erwartungen hast bestimmen lassen, die nicht deine sind und auch nie deine waren.
Halte dir vor Augen, dass die Bewertungen, die andere Menschen vornehmen, eine Projektion eines Problems sind, das sie mit sich selbst haben – genauso wie deine negativsten Bewertungen anderer Menschen Projektionen deiner eigenen Probleme mit dir selbst sind.
Auf diese Weise kannst du die Ursprünge deiner Probleme weniger als persönliche Angriffe gegen dich verstehen und mehr als etwas, was einfach nur mit den Verletzungen anderer zu tun hat.
Du kannst mit dem Überkorrigieren deines Lebens nicht aufhören, weil du nichts reparieren kannst, was gar nicht kaputt ist.
Wenn sich wirklich etwas in deinem Leben verändern muss, wirst du es wissen.
Du wirst wissen, ob du ein echtes Problem hast, und du wirst es wahrscheinlich merken, wenn du überkorrigierst. Du wirst es merken, weil die sanfte Stimme in deinem Innern, die du vor so vielen Jahren ausgeschlossen hast, noch da ist und dir immer noch diese Wahrheit sagt.
Auch wirst du nicht die Energie aufbringen, einen Kampf zu führen, von dem du weißt, dass er es eigentlich nicht wert ist. Stattdessen wirst du in einem Stresszustand verharren und fürchten, dass andere mit dir nicht darüber gleicher Meinung sind, was akzeptabel ist.
Und du hast recht, einige werden es nicht sein.
Aber viele werden es.
Wenn wir uns so akzeptieren, wie wir sind, geschieht etwas ziemlich Magisches: Wir verwandeln uns in alles, was wir potenziell sein könnten.
Wir können zu einem Leben, das wir lieben, nicht durch Hass gelangen.
Die Beurteilungen loszulassen und zu entscheiden, was es für uns selbst bedeutet zu genügen, ist der erste und wichtigste Schritt, um unser Leben zurückzugewinnen.
Und wenn du doch etwas reparieren willst? Tue es aus einer Position des Selbstrespekts, nicht in Hinblick auf die Frage, ob es dir gelingen wird, die Menschen in deinem Umfeld zu überzeugen, dass du für dein eigenes Leben gut genug bist.