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Die Freiheit von der Verantwortung hatte Farben, und sie hatte auch einen Geruch. Im Hof des Hauses, in dem wir bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten, standen zwei große, weit ausgreifende Fliederbüsche, einer weiß und der andere violett. Obwohl sie im Schatten eines gewaltigen Kastanienbaumes standen, entwickelten sie sich prächtig und nahmen schließlich den größten Teil des Hofes ein. Im Mai und Juni, wenn sie in voller Blüte standen, öffnete ich oft das Fenster und schlief berauscht von dem Fliederduft ein. Fünfzig Jahre sind seither vergangen. Ich bin wieder dort gewesen. Ich sah das Haus, vom Alter gezeichnet, vernachlässigt wie ein alter Mann, für den niemand mehr sorgt. Ich sah die Fenster meines Zimmers, an rostigen und verbogenen Scharnieren halbgeöffnet in der Luft hängend. Ich sah den Stumpf des Kastanienbaumes, den jemand gefällt hatte. Die Büsche waren aus der Erde gerissen worden und verdorrt. Trotzdem ist nichts verlorengegangen: Wann immer ich das süßliche Aroma eines Fliederbusches rieche, tauchen aus der Tiefe des Vergessens verlorene Szenen aus der Vergangenheit auf.

Ich weiß nicht, warum meine Eltern sich dazu entschlossen, sich ausgerechnet in Bielsko, zu deutsch Bielitz, niederzulassen, einer Stadt im südlichen Schlesien, die vor allem von der Textilindustrie lebte. Es war eine Gegend, in der die polnische und die deutsche Kultur aufeinandertrafen, ja aufeinanderprallten.

Umweltbelastung war damals noch kein Thema, aber da die Spinnereien und Färbereien außerhalb der Vororte angesiedelt waren, kannte die Stadt auch den Fluch der Luftverschmutzung noch nicht. Bielitz lag am Fuße der Beskiden, eines Gebirges, das nicht wie die Tatra mit scharfen Granitspitzen den Himmel zerschnitt, sondern mit weichen Hängen leicht ins Tal wehte, grün im Sommer und weiß im Winter. Es war nur natürlich zu glauben, dass diese Schönheit und dieser Frieden nie Schaden nehmen würden. Dort wurde ich geboren und verbrachte den Anfang meines Lebens in einer Umgebung, die für eine glückliche Kindheit ihresgleichen sucht.

Unser Haus unterschied sich nicht von den anderen in der Nachbarschaft. Die wohlhabende Bourgeoisie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hatte Bielitz eine Art österreichischen Sezessionsstil beschert, reich an Dekorationen und arm an architektonischen Ideen. Die Gebäude sollten den Wohlstand der Periode zeigen, nicht ihren geistigen Inhalt. Sie waren wie die Stadt selbst, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Fürstentum Bielsko von Alexander Józef Sułkowski, einem Günstling des polnischen Königs August III., erworben wurde, der so der langen Liste seiner Titel eine Prinzenkrone hinzufügte. Ihre Blütezeit erreichte die Stadt jedoch später, als sie zum Zentrum der Wollindustrie wurde. Der Zustrom deutscher und jüdischer Gelder beschleunigte ihre Entwicklung, bis sie eine der reichsten Städte Polens wurde.

Die Prinzenfamilie hingegen, die der Residenz in der Provinz das mondäne Leben vorzog und ihr Kapital in Paris und in den Kurorten an der französischen Riviera verprasste, büßte allmählich ihren Reichtum ein. Wie die meisten Adligen hatte sie Schwierigkeiten, sich der neuen, industriellen Welt anzupassen. Als die Verbindung von Bielitz zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich schließlich gekappt wurde, blieb eine etwa zweitausend Ar große Fläche im Herzen der Stadt, grün und unkultiviert, im Besitz der Familie Sułkowski. Anfang der dreißiger Jahre verkauften die Erben das Land an eine Gruppe von Bauunternehmern. Auf dem Rasen, auf dem ich unter Aufsicht meiner deutschen Gouvernante, Hilde Baron, gespielt hatte, wurden die Fundamente für ein neues Wohnviertel ausgehoben. Bald schossen dort Häuser in die Höhe.

Vielleicht wegen des Bauhausstils oder vielleicht, weil die meisten Bewohner dieser protzigen Wohnungen wohlhabende Juden waren, wurde das neue Viertel im Volksmund »Tel-Aviv-Viertel« genannt. Viele Freunde unserer Familie, die Wert auf eine repräsentative Adresse legten, zogen dort ein. Nicht so mein Vater. Er hing an dem grauen, charakterlosen Haus, in dem ich im Januar 1928 geboren wurde, im, wie man behauptete, strengsten Winter seit der Jahrhundertwende, in dem Tausende von Obdachlosen dem Frost zum Opfer gefallen waren. Als ich als Erwachsener die Berliner Nationalgalerie besuchte, fand ich heraus, dass George Grosz zu eben jener Zeit sein Bild Die Stützen der Gesellschaft gemalt hatte. Ich betrachtete die verzerrten und bösartigen Gesichter der kriegshetzenden Generale, der korrupten Richter und Politiker, der verlogenen Journalisten, und ein Zittern überfiel mich. Es lag etwas Prophetisches in diesem Gemälde. Damals jedoch, als ich nahe der Mutterbrust war, war meine Welt warm und geborgen.

Fast alle Zimmer unserer Wohnung im zweiten Stock gingen auf die Straße hinaus. Das Rauchzimmer mit seinen Sesseln, der Bar auf Rädern und der Bibliothek aus kaukasischem Walnussholz war den Gästen meines Vaters vorbehalten. Ich liebte es, mich hineinzuschleichen, auf einen Stuhl zu klettern und in den Büchern des obersten Regals zu blättern. Jeder der Einbände war abgenutzt, ein Zeichen, dass sie nicht nur zur Dekoration dort standen. Das Schlafzimmer meiner Eltern mit seinen aus Rosenholz geschnitzten Möbeln war das hellste der Wohnung. Ein Teppich, von einem Heimweber handgewebt, fiel vom Sofa auf den blankpolierten Parkettboden und strahlte eine intime Wärme aus. Ganz anders dagegen war die Atmosphäre im düsteren Wohnzimmer, das sich durch dicke Brokatvorhänge gegen die Sonne schützte. Sogar den kleinen Perserteppichen, die meine Mutter so gern sammelte und ohne die sie nicht gewillt war, dem Nazi-Terror zu entfliehen, gelang es nicht, die Steifheit des Zimmers zu mildern, das der Stolz meiner Eltern war und Symbol ihres gesellschaftlichen Standes. Manchmal fragte ich mich, wie sich wohl die Rosenthal-Porzellanballerinen fühlten, die hinter der Glastür der Eckvitrine ihren ewigen Tanz vollführten. An einer Wand stand ein riesiges Mahagonibuffet, dessen Fächer vor Tischdecken aus Damaszener Seide, erlesenem Porzellan und solidem Wiener Silber überquollen. Den Sarg nannte ich es insgeheim.

In der Mitte des Zimmers stand wie ein schwarzer Pilz ein Tisch, an dem ein Dutzend Leute Platz fanden. Mindestens einmal im Monat kamen die wichtigsten Kunden meines Vaters zu einem Dinner zu uns, und auch ich durfte in Jackett und Krawatte bis neun Uhr abends neben diesen Würdenträgern sitzen. Hauptsächlich, um meiner Mutter die Gelegenheit zu geben, die guten Tischmanieren, die sie mir beigebracht hatte, meine europäische Erziehung, meine Kenntnisse in Literatur und Tagesgeschehen vorzuführen. Manchmal allerdings schaffte ich es nicht, den kleinen Dämon in mir zu zügeln, und ärgerte meine Eltern, indem ich ein verwöhntes Balg spielte. Dann sah mein Vater mich böse an und griff nach der Klingel, die wie ein Märchenzwerg aussah und an einer Kordel von einer antiken Alabasterlampe hing. Mein Vater drückte auf den Kopf des artigen Zwergs, und Paula, das Mädchen, erschien prompt aus der Küche.

»Bring ihn auf sein Zimmer«, sagte er mit strengem Gesicht. Paula streckte mir die Hand entgegen, und ich folgte ihr. Äußerlich wie ein gescholtenes Kind, innerlich jedoch in boshafter Freude.

Die duftende Szenerie der Hinterfenster indes gehörte allein Paula und mir. Paula schlief in einem kleinen Schlafraum hinter dem Badezimmer. Sie war eine große Frau, alterslos, mit einem breiten Gesäß und solide wie eine Maya-Statue, vom Schlage jener deutschen Bauern, die schon seit unzähligen Generationen die schlesischen Dörfer bewohnten. Für mich war sie die Stütze, an der unser Familienleben schon gelehnt hatte, lange bevor ich das Licht der Welt erblickte. Sie blieb zurück, als die Stürme des Krieges uns von dort hinwegfegten. Ich sehe ihre stille Figur noch in der Haustür, der Pforte zu unserem Exodus, stehen und höre sie sagen, sie werde auf uns warten und sollte es ein Jahr dauern. Mein Vater lachte, winkte ihr zu und versprach, vor dem Herbst zurück zu sein.

Als ich geboren wurde, gab mein Vater sein Arbeitszimmer auf und bezog ein Büro im Geschäftsviertel der Stadt. Er wurde sehr erfolgreich. Die Stadt erlebte gerade einen Aufschwung, und die sich entwickelnde Industrie brauchte Rechtsanwälte, die etwas von Genossenschafts- und Bankgesetzen verstanden. Das Büro expandierte, mein Vater beschäftigte mehrere Anwaltsgehilfen, und ähnlich wie bei uns zu Hause gab es auch hier eine unabkömmliche Angestellte – Fräulein Mila. Fräulein Mila empfing die Kunden und führte sie in das Wartezimmer. In ihren wenigen freien Momenten rollte sie mit einer Spezialvorrichtung die achtzig türkischen Zigaretten, die mein Vater täglich rauchte.

Die einfachen Kunden wurden von den Anwaltsgehilfen betreut. Nur die ganz wichtigen wurden in das Privatbüro meines Vaters gebeten und durften in den alten Ledersesseln Platz nehmen. Das Alter spielte dabei eine wesentliche Rolle, weil es Solidität, Kontinuität und Seriosität bewies. Ich selbst mochte das Büro nicht, vielleicht weil ich spürte, dass mein Vater hier weder die Zeit noch die Geduld hatte, sich mit mir zu beschäftigen. Die acht venezianischen Fenster in diesem Heiligtum waren immer bis zur Hälfte von Rollläden verdeckt, und das Halbdunkel verlieh dem Zimmer einen gewissen mystischen Zauber – besonders dann, wenn mein Vater und seine Kunden im grünen Licht der Tischlampen rauchend und flüsternd die Dokumente durchsahen, die aus dem Safe geholt worden waren. Der Safe selbst, ein Stahlschrank von enormen Dimensionen, war ebenfalls sehr alt.

Die Vorliebe meines Vaters für Dinge, die uns in die Vergangenheit zogen, war mir fremd. Mich zog es zu neuen, hellen und bunten Sachen. Das Violett des Flieders war meine Farbe. Das ehemalige Arbeitszimmer jedoch, das meine Eltern für mich frei gemacht hatten und das sogar sie nicht Kinderzimmer nannten, war nicht gerade dazu angetan, eine fröhliche Atmosphäre zu schaffen. Zu dem Schreibtisch, der in meiner Phantasie wie ein großes Schiff aus der düsteren Ecke in die Mitte des Zimmers zu gleiten schien, und der Bibliothek aus schwarzer Eiche, einer Kreuzung zwischen Biedermeier und Art nouveau, war lediglich ein weißes Bett hinzugekommen. Auf den Regalen, die vorher Akten und juristische Bücher beherbergt hatten, standen jetzt meine Zinnsoldaten. Bis ich elf Jahre alt war, liebte ich Kriege. Mitleid mit den Opfern kannte ich nicht. Im Spielzeugladen gab es unzählige neue Truppen, die rekrutiert werden konnten.

Meine Mutter suchte in mir nicht nur europäische Umgangsformen zu entdecken, sondern auch musikalische Talente. Als Frau von Welt hielt sie es für undenkbar, dass ein jüdischer Junge aus gutem Hause nicht Klavier spielen sollte. Meine Bitten und Beteuerungen, dass ich kein musikalisches Gehör besäße und diesen biologischen Defekt wahrscheinlich von ihr geerbt hätte, halfen mir überhaupt nicht. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, behauptete sie fest, und zu meinem siebenten Geburtstag bekam ich ein Klavier. Nun stand es da in meinem Zimmer: schwarz und mit gestutzten Flügeln, gleich einem bösen Tier, das seine Tastenzähne fletschte und mir drohte, mir meine Zeit zum Spielen zu rauben. Zu meinem Glück verkündete Frau Mozart, wie ich meine Lehrerin nannte, dass ich unfähig sei, zwischen B-Dur und f-Moll zu unterscheiden, und die Tortur hatte ein Ende. Das Klavier wurde dem Maccabi-Sportverein gespendet, wo meine Klassenkameraden und ich zweimal wöchentlich freudig auf ihm herumtobten.

Ich war noch keine sieben Jahre alt, als Hilde Baron, die jeder »das Kindermädchen« nannte, als ob sie keinen Familiennamen hätte, entlassen wurde. 1934 meldeten meine Eltern mich in der Grundschule an, die von der örtlichen jüdischen Gemeinde eingerichtet worden war. Bis dahin wusste ich nichts über diese Gemeinde, obwohl sie eine lebhafte Tätigkeit entfaltete und auf das Leben in Bielitz keinen geringen Einfluss nahm. Jahrelang wurde sie von Vertretern der zionistischen Parteien beherrscht. Doch für mich war Zionismus lediglich ein abstraktes Konzept, das nichts mit unserem täglichen Leben zu tun hatte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hörte ich von dem Kulturkampf zwischen Zionisten und religiösen Juden, der sich unter anderem auch um die Gestaltung der großen Synagoge drehte – unsere besaß beides, eine Frauenempore und eine Orgel. Mindestens zehn Jahre zu spät fand ich zu meinem Erstaunen heraus, dass ich sehr fromme Nachbarn gehabt hatte. Die meisten der religiösen Juden wohnten allerdings in Biala, am Südufer des Flusses Bialka, der die Stadt durchschnitt. Es war ein freiwilliges Ghetto, eine unnahbare Welt, westlich erzogenen Kindern versperrt, ein Lager, zu dem der Zutritt verboten war. Meinen ersten Juden mit Kaftan, Bart und Schläfenlocken sah ich erst viel später, als wir auf der Flucht in den östlichen Teil des Landes waren, in Provinzen, die ein Stadtkind wie ich nur aus den Geschichten Scholem Alejchems kannte. Ich hatte keine Ahnung, dass unser Vermieter ein Nachkomme der ehrwürdigen Rappaport-Dynastie war. Die Familie Rappaport hatte in Łodź viele Strickfabriken besessen, bis sie von der russischen Obrigkeit aus der Stadt vertrieben wurde und sich 1880 in Biala ansiedelte. Eine natürliche Wahl, da sich in dieser Gegend eine weitverzweigte Textilindustrie entwickelte. Die Rappaports heirateten Frauen aus bekannten Rabbinerfamilien, sie wurden reich und erwarben Grundbesitz, ohne ihre Bindung zur Thora zu lösen. Und obwohl all dies bekannt war, bekam ich nie auch nur die Gelegenheit, davon zu hören. Uns trennte nicht nur der Fluss. Uns schied eine kulturelle Mauer, die so hoch war, dass ich noch nicht einmal einen Blick auf die andere Seite hätte werfen können, wenn ich die Leiter der Neugierde erklommen hätte.

Die Schule wurde von etwa fünfhundert Kindern aus wohlhabenden Familien besucht. Mein Vater weigerte sich, mich in eine öffentliche Schule zu schicken, wahrscheinlich um zu verhindern, dass ich mit polnischen und deutschen Kindern meines Alters verkehrte. Unser Institut nannte sich Hebräische Kraszewski-Elementarschule. Kraszewski war einer der Intellektuellen im neunzehnten Jahrhundert gewesen, die an eine polnisch-deutsche Bruderschaft geglaubt hatten. Als Redakteur der Gazeta Codzienna, einer Tageszeitung, die von einem jüdischen Finanzier, Leopold Kronberg, herausgegeben wurde, hatte er sogar versucht, seine Ansichten Wirklichkeit werden zu lassen. Für ein Erziehungsinstitut, das den Namen eines polnischen Autors, Journalisten und Historikers trug, geziemte es sich natürlich, in polnischer Sprache zu unterrichten. Ab der vierten Klasse bekamen wir außerdem Bibelunterricht und lernten etwas Hebräisch, ein kleiner Tribut, den die jüdische Intelligenz den traditionellen Werten zollte. Mein Vater suchte den goldenen Mittelweg zwischen zwei oder vielleicht sogar drei Welten: zwischen der polnischen, der deutschen und der jüdischen Kultur. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von seiner Umgebung, die zwischen ihrem Judentum und ihrer Bindung an die lokalen und paneuropäischen Wertesysteme keinen Widerspruch sah. Von Kindheit an gewöhnte er mich daran, das Beste ihrer jeweiligen Früchte zu genießen. Mit zehn Jahren las ich jüdische und polnische Literatur. Ich las Emil Ludwigs Biographien über Bismarck und Napoleon, bevor ich die Abenteuergeschichten von Karl May in die Hand nahm. Und ich kannte Arnold Zweigs Sergeanten Grischa, lange bevor »der große Krieg der weißen Rasse« für mich Wirklichkeit wurde.

Habe ich schon von meinen Reitstunden erzählt? Lieber Gott, wie ich meines Vaters Vorliebe für die Reiterei hasste, vor allem dann, wenn ich aus dem Sattel fiel! Zweimal die Woche musste ich die Nostalgie meines Vaters, der in Józef Piłsudskis Legion gedient hatte, zufriedenstellen und Pferde reiten, die mir wie bockige, wilde Tiere vorkamen. In Wahrheit waren sie sicher gut trainiert, von den langweiligen Routineübungen erschöpft. Geleitet wurde die Reitschule von einem ehemaligen polnischen Offizier, der seiner Arbeit voller Ehrfurcht nachging. Am Stalleingang hing ein Porträt des verstorbenen Marschalls: In einer blauen Uniform saß er auf einem Pferd, den Blick nach oben gerichtet. Der Inhaber der Ställe salutierte jedes Mal, wenn er an dem Bild vorbeiging. Das allein genügte schon, den Respekt meines Vaters zu gewinnen, der selbst sein ganzes Leben lang Piłsudski, den Vater der polnischen Freiheit, verehrte. Als der alte Marschall im Mai 1935 starb, herrschte in unserem Haus große Trauer. Sein Sarg wurde in einem Sonderzug von Warschau nach Krakau gebracht, in die ehemalige Hauptstadt Polens, in der die meisten seiner Monarchen begraben liegen. Mein Vater mietete einen Balkon in einem hohen Gebäude entlang der Strecke, die die Trauerprozession nehmen musste, sodass wir Piłsudskis letzten Weg zum Friedhof der Kathedrale des Wawel-Schlosses beobachten konnten. Ich wusste nichts von dem Sturm, der in den Kreisen der Nobilität ausbrach, als entschieden wurde, Piłsudski neben den Königen Polens beizusetzen, und ich hatte keine Ahnung von den Kämpfen, die im Warschauer Schloss Belvedere um sein Vermächtnis ausgetragen wurden. Mein Vater sprach nie darüber, obwohl er von diesen Dingen Kenntnis gehabt haben muss. Nie ließ er mich an seinen Sorgen teilhaben, nicht als die bürgerlichen Rechte nach und nach widerrufen wurden, und auch nicht, als die neue Administration nichts unternahm, um die Flutwellen des Antisemitismus einzudämmen. Ich lebte wie in einem Naturschutzgebiet. In meiner kleinen Welt machten sich die politischen Veränderungen nur dadurch bemerkbar, dass nun Porträts des neuen militärischen Führers an den Wänden unserer Klassenzimmer hingen, des Mannes, der Hitlers territoriale Forderungen mit den Worten »Nicht einen einzigen Knopf werden wir zurückgeben« schroff zurückgewiesen hatte. Hitler hatte damals Zugang vom Reich nach Danzig auf dem Landweg verlangt. Die grobe Parole sollte das polnische Volk bis zu seiner Niederlage im September 1939 begleiten.

Mein Vater sprach fließend Polnisch, und er bestand darauf, dass ich neben der deutschen Literatur auch die besten der polnischen Klassiker lesen sollte. All das hinderte ihn jedoch nicht, von den zionistischen Ideen Zeev Jabotinskys begeistert zu sein. Trotzdem: Meine Zukunft sah er nicht in der hebräischen Armee im Lande Israel, sondern auf einem britischen College, wo man – für eine angemessene Summe – aus einem jüdischen Jungen aus Osteuropa einen Gentleman mit englischen Manieren machen würde.

Manchmal amüsiert es mich, mir imaginäre Szenen im Stil des »Was wäre, wenn« auszumalen. Was wäre geschehen, wenn alles nach den Wünschen meiner Eltern abgelaufen wäre? Es ist anzunehmen, dass ich heute ein konservativer Mann wäre, dem Leben verhaftet, das meine Eltern mir vererbt hätten, wählerisch und das Gewöhnliche verabscheuend, verheiratet mit einer Frau aus guter Familie, die meine Existenz mit einer anschaulichen Mitgift ausgepolstert und mich in totale Monotonie gehüllt hätte. Diese Vorstellung löst in mir nicht gerade übermäßige Zuneigung zu meinem anderen Ich aus. Sollte ich froh darüber sein, dass ich anders wurde, mich mit der Tatsache abfinden, dass der Holocaust einen großen Einfluss auf die Prägung meines Charakters hatte und mich heute dazu bringt, meine nie verheilten Narben bloßzulegen? Vielleicht sollte man diese Frage nie aufwerfen, aber nun, da sie gestellt ist, ist die Antwort ein entschiedenes Ja.

Von frühester Kindheit an wurde mir klargemacht, dass ich die beste Erziehung und Ausbildung erhalten würde, die für Geld zu haben sei, und dass ich gleich nach meiner Bar-Mizwa nach England in ein Internat für Sprösslinge aus guten Familien geschickt werden würde. Wann diese Idee geboren wurde und warum meine Eltern London Wien vorzogen, erfuhr ich allerdings nie. Auf jeden Fall wurde alles von langer Hand vorbereitet, schon mit sechs Jahren musste ich Englisch lernen. Ich begann, englische Grammatik zu hassen, noch bevor ich überhaupt wusste, was wirklicher Hass bedeutet. Wenn ich überhaupt etwas Englisch lernte, so war es meinem Privatlehrer zuzuschreiben. Herr Rosenstein – ich werde nie begreifen, dass ein Mann wie er sich so der englischen Kultur verschreiben konnte – war ein in Boczacz geborener Jude und ein großer Verehrer des hebräischen Autors Schmuel Joseph Agnon, der ebenfalls aus Boczacz stammte. Manchmal, wenn ich die Stunden satt hatte, las er mir Kapitel der deutschen Übersetzung von Hachnasat Kalla (Brautnuptial) vor. Wir schwiegen darüber, schließlich zahlte mein Vater nicht gutes Geld, zwei Złoty die Stunde, damit ich Herrn Rosensteins wertvolle Zeit an das Studium der Literatur Schai Agnons verschwendete.

Wenn ich mich nicht irre, war ich zehn Jahre alt, als Zeev Jabotinsky in Bielitz auftauchte und eine feurige Rede über den Plan »Rückkehr ins Heimatland«* hielt, die das Herz meines Vaters im Sturm eroberte. Vielleicht schickte man mich deshalb in den nächsten Schulferien in das Lager der Betarbewegung in dem bezaubernden Kurstädtchen Szczyrk. Es lag am Fuße des Klimczok, eines der schönsten Berge der Gegend, dessen Schönheit von seinen Bewohnern in zahlreichen Liedern besungen wurde.

Im Sommer 1980 fuhr ich wieder dorthin, um festzustellen, ob die Pension »Goplana«, in der ich meine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte, noch stand. Wir fanden eine Holzvilla vor, deren eigenartig dekorierte Türme wie Türmchen einer exotischen Moschee in den Himmel stachen.

Im Erdgeschoss, in der Halle, wo man uns die Grundsätze der Ideen Jabotinkys eingepaukt hatte, war eine Kneipe eröffnet worden, die Spirituosen auch an jene Kunden ausschenkte, die noch nicht das gesetzlich vorgeschriebene Alter von achtzehn Jahren erreicht hatten.

Goplana wird, dank der intimen Bekanntschaft mit Rita, der zehnjährigen Tochter eines Parfümeriebesitzers aus Sedschütz, unauslöschlich in mein Gedächtnis gemeißelt bleiben. Rita hatte mich in das dichte Gebüsch am Ufer eines nahen Flusses gezogen und mir dort, ganz ohne Scham, den Unterschied zwischen männlich und weiblich gezeigt. »Ich fasse dich an, und du fasst mich an«, sagte sie. Ich traute mich nicht. Aber es waren diese Worte, die in meinen Ohren hallten, und das Bild ihrer kleinen Figur, das geblümte Kleid bis zur Taille erhoben und mit einem boshaften Glanz in ihren Augen, das vor mir stand, als ich zum ersten Mal in meinem Leben masturbierte. Nach dem Krieg suchte ich lange nach ihr, in der Hoffnung, unser Kinderspiel als Erwachsene wiederaufnehmen zu können, aber die kleine Rita war irgendwo unter den Ruinen des Lebens begraben, das hinter uns lag.

Doch zurück zum »Kinderzimmer«. Ich machte meine Schulaufgaben meistens auf dem Oberdeck des Schreibtischs. Ich glaube, wir segelten nicht weit – der Schreibtisch nicht, weil er zu schwer war, und ich nicht, weil ich das Lernen so geringschätzte. Ich denke, ich muss einer dieser unausstehlichen Schüler gewesen sein, denen alles leichtfällt und die sich darum einbilden, hundertmal mehr als die Lehrer zu wissen. Wichtiger als dies jedoch war die Tatsache, dass sich unter der Schreibtischplatte tiefe Fächer und verschlossene Schubladen befanden, die meine Neugierde weckten. Ich zögerte und hatte auch ein wenig Angst, doch zuletzt siegte die Versuchung; ich brach die Schlösser auf und entdeckte in den Ecken des alten Schreibtisches gebündelte Liebesbriefe, die mein Vater meiner Mutter geschrieben hatte, als er noch Kavallerieoffizier war, erst im Artilleriekorps Seiner Kaiserlichen Majestät Franz Josef I., dann in den Legionen Marschall Piłsudskis. Neben den Briefen meines Vaters fand ich auch die meiner Mutter. Die blauen und rosa Umschläge waren musterhaft in chronologischer Reihenfolge geordnet, jedes Bündel mit einem weißen Seidenband umwickelt.

Ohne zu zögern und ohne Rücksicht auf ihr Privatleben, riss ich die Briefmarken von den Umschlägen und sortierte sie in ein Album, das eine meiner Tanten mir geschenkt hatte.

Es dauerte zwei Jahre, bis ich den nächsten Schritt unternahm und begann, den Inhalt der Briefe zu entziffern. Meine Mutter hatte eine klare, runde Handschrift. Mein Vater hingegen ließ seine gotischen Buchstaben strammstehen, in wunderbar geraden Linien, ähnlich meinen Zinnsoldaten auf der Parade, die ich jeden Morgen für sie abhielt. Mit grenzenlosem Staunen vertiefte ich mich in die Lektüre. Die Worte widersprachen nicht nur der gewohnten Form, in der mein Vater seine Briefe abfasste, sondern auch seinem Charakter, so wie ich ihn kannte. Ich begriff nicht, wie der ernsteste Mann der Welt solchen Blödsinn von Sehnsucht, ungezügeltem Verlangen nach dem Körper meiner Mutter und von Träumen von einem gemeinsamen Leben hervorbringen konnte. Und es war mir ein Rätsel, wie meine Mutter, die so mit sich und der Pflege ihres Körpers beschäftigt war, eine so endlose Bereitschaft zur Hingabe zur Schau stellen konnte. Ich hatte Polnisch und Deutsch gelernt, sogar Englisch gegen meinen Willen, doch für die Sprache der Liebe war ich offenbar noch zu klein.

Die Photographie meines Vaters steht heute in einem Messingrahmen auf meinem Schreibtisch. Sein Gesicht ist streng, zumindest scheint es mir so, seine Stirn hoch, sein Haar dünn, sein Schnurrbart kurz geschnitten, und er schaut mich direkt an. Nein, nein, Vater, droh mir nicht. Heute kann mich dein durchdringender Blick nicht mehr in die Schranken weisen. Ich habe keine Angst mehr vor den Blicken der Toten. Du wolltest immer nur Ordnung, Disziplin und Routine, aber all das gehört der Vergangenheit an, aus deren Schichten ich meine Geschichte konstruiere. Wüsstest du, was ich jetzt schreiben will, würdest du ins Badezimmer gehen, den Riemen zum Schärfen der Rasiermesser holen, der immer ordentlich aufgehängt war, und mir, wie es deine Art war, den Hintern versohlen. Aber heute nehme ich dich beim Wort: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt, hast du einmal gesagt.

Es fällt mir schwer, mir seine eindrucksvolle Gestalt in Erinnerung zu rufen. Hätte ich nicht die Photographien, könnte ich mir sein Gesicht kaum noch vorstellen. Es ist, als ob seine Gesichtszüge mit der Zeit verschwunden wären. Ich erinnere mich jedoch an seine schwere Hand, die ich immer dann zu spüren bekam, wenn ich gegen die Regeln des guten Benehmens verstieß. Mein Vater glaubte an die erstklassige erzieherische Wirkung des Riemens, und so komisch es klingen mag, ich akzeptierte diese Art von körperlicher Züchtigung als einen Teil seiner väterlichen Liebe. Sie bezog sich auf mich und mein Handeln. Ich wurde nie ungerecht bestraft, aber auch Weinen und Betteln halfen nie. Den Ausdruck »vergeben« gab es nicht im Wörterbuch meines Vaters. Ich glaube, er handelte nach dem Prinzip der Vergeltung, das besagt, dass die Strafe exakt der Schwere des Vergehens entsprechen soll. Ich bin sicher, dass seine Methoden – die heute bestimmt jeden Pädagogen schockieren würden – mir damals schon halfen, das Prinzip moralischer Vergeltung zu akzeptieren, und dass dieses Kapitel meiner Kindheit in mir einen Gerechtigkeitssinn entwickelte, den sogar das Regime der Nazi-Konzentrationslager nicht zerstören konnte.

Sonntags, wenn die Büros und Fabriken Pause machten und die ewige Paula in die protestantische Kirche ging, um dem Heiligen Geist ihre geheimen Bitten vorzutragen, blieben meine Eltern meist bis neun Uhr im Bett. Mir wurde dann erlaubt, unter die Bettdecke zu kriechen und im Arm meines Vaters zu liegen, ja, ich durfte sogar auf seiner behaarten Brust reiten. Es waren seltene Momente direkter Berührung, und jene kurzen Augenblicke der Zärtlichkeit machten mich sehr glücklich. Man könnte sagen, dass ich nicht viel brauchte, um glücklich zu sein, doch es hängt alles von dem ab, was man erwartet. Die teuren Spielsachen, die er mir kaufte, die hübsche Kleidung oder das Taschengeld, das ich bekam – all das sah ich nicht als Ausdruck seiner Liebe an. Sie waren Teil der Realität, in der ich lebte. Ihre Verweigerung war eine Strafe. Ihr Vorhandensein eine Selbstverständlichkeit.

Wenn das Wetter schön war, durfte ich an solchen Sonntagen meinen Vater auf seinen langen Spaziergängen in die Natur begleiten. Meine Mutter faulenzte lieber im Bett, aber mein Vater glaubte an das »einfache Leben«. Nach dem Frühstück fuhren wir mit der Straßenbahn bis zur letzten Haltestelle am Zigeunerwald. Von dort stiegen wir den schmalen Pfad zur Jägerhütte und zum Restaurant »Rodelhütte« hinauf, wo sich mein Vater in einem Seitenzimmer mit seinen Freunden traf, um einige Partien Bridge zu spielen.

Bis zum Restaurant brauchten wir ungefähr vierzig Minuten, und der gemeinsame Gang gab mir Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten. Hörte er mir zu? Interessierten ihn meine Probleme? Ich weiß es nicht. Einmal sagte er zu mir: »In deinem Alter muss man lernen, seine Impulse zu beherrschen.« Ich war damals in der vierten Klasse und in ein dünnes, lächelndes Mädchen namens Lilly Carter verliebt. Meine tiefen Gefühle für sie mögen von der Tatsache beeinflusst gewesen sein, dass ihre Eltern ein Fahrradgeschäft hatten und ich vom Pferderücken auf zwei Räder überwechseln wollte. Es war eine reine, platonische Liebe, und um ihr einen greifbaren Ausdruck zu geben, schnitt ich meinem Schatz mit einer Schere die Zöpfe ab. Dies war keine spontane Tat, entsprungen einer plötzlichen Regung. Ich hatte die Schere von zu Hause mitgenommen und unten in meinem Ranzen versteckt. Lilly saß auf der Bank vor mir, und als sie sich zurücklehnte, um aufmerksam dem Lehrer zuzuhören, schwang ich mit der Entschiedenheit und dem Mut eines entschlossenen Mannes mein tödliches Instrument. Dicke Zöpfe abzuschneiden, ist jedoch gar nicht so leicht, und ich tat ihr offensichtlich sehr, sehr weh. Lilly brach in Tränen aus. Meine boshafte Tat wurde öffentlich angeprangert, und die Klassenlehrerin schickte mich für drei Tage nach Hause. Die aufgezwungenen Ferien hätten mich nicht gestört, wenn nicht der Riemen meines Vaters mir für eine Woche das Sitzen erschwert hätte. Als wir zum Hügel hinaufgingen, versuchte ich, meinem Vater meine Motive zu erklären, den Sturm der Gefühle, der in meinem Herzen getobt und für den ich ein Ventil gebraucht hatte. Doch unkontrollierte Handlungen waren meinem Vater fremd, und das mir so wichtige Gespräch endete mit strengen Bemerkungen über meine Pflicht, meine Gefühle zu beherrschen.

Manchmal fragte ich mich, ob er jemals bei einem Streich erwischt worden war. Kann eine Kindheit ohne befreiende Ausbrüche, ohne die schöpferische Kraft, die die Schranken der Konvention mitunter überschreitet, überhaupt glücklich sein? Ich wusste nichts von seiner Kindheit. Es kam ihm nie in den Sinn, mir von seinem Elternhaus, dem Bauernhof, auf dem er geboren war, oder der Schule, die er besucht hatte, zu erzählen. Unsere Bindung hatte keine Wurzeln in der Vergangenheit, und als er starb, blieb nichts davon übrig. Ich kann mir kaum vorstellen, dass mein Vater je ein faules Ei in einen Süßigkeitsladen geschleudert hat, so wie wir es bei Herrn Hahn, dem Eigentümer des Delikatessengeschäftes in Bielitz, zu tun pflegten.

Sein Laden befand sich an der Hauptstraße, der Straße des Dritten Mai, benannt nach dem Tag, an dem die polnische Verfassung in Kraft getreten ist, und es war eines der besten Geschäfte der Stadt. Auf seinem Ladenschild prangte ein Hahn. Wenn wir von der Schule nach Hause kamen, versteckten wir zunächst unsere Ranzen in einem Treppenhaus in der Nachbarschaft, um nachher schneller fliehen zu können. Dann gingen zwei oder drei von uns in Herrn Hahns Laden, betrachteten mit Kennermiene die ausgelegten Süßigkeiten und warteten auf den Moment, in dem unser Kamerad Erik, der Meisterschütze der Klasse, von außen ein Ei an eine der Innenwände des Ladens schmettern würde. Ein Ei, das wir so lange eingegraben hatten, bis es unerträglich stank. Herr Hahn, ein kleiner, dicklicher und kahlköpfiger Deutscher, stürmte aus dem Geschäft, um den »kleinen Banditen« zu schnappen. Bis er schimpfend und atemlos zurückkam, hatten wir unsere Taschen längst mit Süßigkeiten gefüllt und uns aus dem Staub gemacht.

Eriks Mutter habe ich nie gesehen. Sie hatte sich das Leben genommen, als er noch ein kleines Kind war. Wir wussten nicht, warum sie Selbstmord begangen hatte; was wir allerdings genau wussten, war, dass sein Vater ein intimes Verhältnis mit Eriks Gouvernante hatte. Sie war wie Hilde Baron Deutsche. Später half sie der ganzen Familie, sich vor der Verfolgung durch die Nazis zu retten.

Eriks Vater betrieb weitverzweigte Geschäfte in Polen und im Ausland. Er war im internationalen Handel tätig, erwarb mehrere Spirituosenfabriken und war außerdem Teilhaber eines schäbigen Kinos im Südteil von Bielitz, wo, wie er es beschrieb, »Filme für Hausmädchen und ihre Freunde von der Feuerwehr« gezeigt wurden. Erik schaffte es immer, Freikarten zu bekommen, und mindestens einmal in der Woche gingen wir hin, nicht unbedingt, um drittklassige Hollywood-Produktionen zu sehen, sondern um mit einer Neugier, die uns das Blut in die Wangen trieb, die Paare in den letzten Reihen zu beobachten, die sich küssten und miteinander schmusten.

Ich glaube nicht, dass mein Vater auch nur im Traum daran gedacht hätte, Sünden wie diese zu begehen. Nie sah ich ihn meine Mutter küssen oder umarmen. Ich glaube, dass er bereits als Fötus fähig war, seine Triebe zu unterdrücken. Sein Tagesprogramm war genau eingeteilt, und er bestimmte das Tempo. Paula wusste, dass sie exakt um 7.30 Uhr das Frühstück servieren musste. Immer den gleichen Milchkaffee, immer im gleichen Glas und immer das gleiche Gebäck dazu: ein knuspriges Brötchen, die braune Oberseite in vier Teile geteilt. Kaiserbrötchen wurden sie genannt. Vielleicht mochte der alte Franz Josef sie besonders gern zu seinem Frühstück in Schloss Schönbrunn in Wien. Alles, was aus Wien kam, galt in Bielitz als hochmodern, ganz gleich, wie viele Jahre seitdem vergangen sein mochten.

Unser Frühstück aßen wir stets zusammen. Mein Vater tunkte immer das Ende seines Brötchens in den Kaffee, bevor er mit offensichtlichem Genuss hineinbiss. Eine Angewohnheit, die meine Mutter höchst unpassend fand, da sie gegen die Tischmanieren der guten Gesellschaft verstieß. Sie begnügte sich mit etwas trockenem Zwieback und einem Glas Milch. Ich musste ein Getränk trinken, das man Ovomaltine nannte. Es schmeckte wie Kakao, war aber doppelt so teuer, der Vitamine wegen, die jedes Kind vor »Krankheit und Schwäche« schützen sollten. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass andere Kinder Lebertran trinken mussten.

Um fünf vor acht ging mein Vater aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zehnzłotymünze als Haushaltsgeld für den Tag auf den Nachttisch des Schlafzimmers zu legen. Das vergaß er nie. Damals waren diese Münzen noch aus reinem Silber, mit einer Abbildung Marschall Piłsudskis auf der einen Seite, wenn ich mich nicht irre, und dem polnischen Adler auf der anderen. Punkt zwei kam er zum Mittagessen zurück, und nachdem wir alle gegessen hatten, schloss er sich zu einem Schlummerstündchen ein. Während dieser Zeit durften noch nicht einmal die Fliegen summen. Um vier Uhr ging er wieder in sein Büro, um sieben in den Bridgeklub, um neun kehrte er zum Abendessen heim – und so weiter. Seine Anzüge ließ er immer bei dem gleichen Schneider anfertigen, seine Ferien verbrachte er in immer dem gleichen Hotel im Kurort Krynica, zu deutsch Tannenhof, mit immer den gleichen Leuten, die der gleichen gesellschaftlichen Schicht angehörten wie er. Dieses Gleichmaß des Lebens, das aus der heutigen Sicht langweilig und phantasielos erscheint, gab uns damals eine gewisse Stabilität. Alles schien so ewig wie die Bahn der Erde um die Sonne. Der Himmel über Europa war längst bewölkt, es stürmte und donnerte am Horizont, aber wir sahen nur die Sterne. Meine Eltern konnten die Zeichen an der Wand nicht deuten.

Ich weiß: Es ist leicht, im Nachhinein gescheit zu sein. Klügere Leute als wir irrten sich. Im Büro des Reichsführers in Berlin hatte man Mein Kampf in die Sprache der Befehle und Kampfrichtlinien übersetzt, aber die Kapitäne der zivilisierten westlichen Staaten taten, als sähen und hörten sie nichts. Im März 1938 marschierten Hitlers Truppen durch Wien. Im Wiener Opernhaus wurde die dekadente jüdische Musik Gustav Mahlers und Béla Bartóks verboten, während sich gleichzeitig die Tore zu den Steinbrüchen des Konzentrationslagers Mauthausen öffneten, um Häftlinge aufzunehmen. England protestierte nur schwach. Die Franzosen fanden noch nicht einmal die Zeit zu reagieren, da sie mit einer ihrer ständigen Regierungskrisen beschäftigt waren. Im September opferten die Großmächte in München das Sudetenland auf dem Altar eines Scheinfriedens. Neville Chamberlain, der britische Premierminister, der das schmähliche Abkommen in München unterzeichnet hatte, erklärte stolz, »unserer Generation den Frieden« gebracht zu haben, als ob er die Weisheit des Sprichwortes »Essen macht Appetit« vergessen hätte. Kurze Zeit später wand sich die Tschechoslowakei im Todeskampf. Die polnische Armee überquerte die Olsa und annektierte einen Teil des Nachbarlandes. Die Zeitungen schrieben mit patriotischer Begeisterung über diesen Akt historischer Gerechtigkeit, und die Post brachte eine Sondermarke heraus: »Das Olsa-Gebiet kehrt ins Heimatland zurück.« Ich war einer der Ersten, der sie kaufte. Sie blieb in meinem Zimmer, in dem Album bei den anderen Heldenmarken, die mit den Zinnsoldaten zurückgelassen und Paula anvertraut wurden. Kaum ein Jahr nach diesem nationalen Jubel, der mit Pauken und Trompeten gefeiert wurde, brach Polen selbst unter dem Druck der Nazi-Armeen zusammen.

Doch wir wollen nicht den Wagen vor das Pferd spannen.

Im Oktober 1938, das Wetter war kühl und regnerisch, und die fallenden Blätter kündeten vom Herbst, wurde ein Zug aus dem Reich auf dem kleinen Grenzbahnhof Zbąszyń, Bentschen, angehalten und auf ein Seitengleis geschoben. Die Nazis hatten Tausende von Juden, die im Reich lebten, aber ihre polnische Staatsangehörigkeit behalten hatten, in den Zug verfrachtet und in ihr »Heimatland« geschickt. Nun standen die Waggons im Niemandsland zwischen beiden Ländern, da keiner die Passagiere haben wollte. Tage vergingen, ohne dass sich etwas tat. In meiner Schule wurde eine Sammlung organisiert, und wir trugen Nahrung und Kleidungsstücke für die unglücklichen Kinder zusammen.

Nach dem Abendbrot, das er immer mit einem Kirschwasser abschloss, widmete sich mein Vater seiner Zeitung, Chwila, die er im Abonnement bezog. An einem jener Abende las er einen Artikel über das Leiden der Deportierten: »Hier steht, dass die armen Teufel ihre Wertsachen an die Bauern der Gegend verkaufen, um Lebensmittel zu bekommen.«

Mutter nickte teilnahmsvoll. Plötzlich sagte sie: »Schmuck? Wäre es nicht gut, nach Bentschen zu fahren?«

Mein Vater warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Wenn du dagegen bist, lassen wir es sein«, gab meine Mutter sofort nach, und das Thema wurde fallengelassen.

Am anderen Ende Europas, in der Stadt der Lichter, las ein jüdischer Student, Herschel Grynszpan, ebenfalls vom Elend der Deportierten. Er fand heraus, dass auch seine alten Eltern in einem der Waggons gefangen waren. Entsetzt über die Gleichgültigkeit der Welt, entschloss er sich zu einer Verzweiflungstat. Er erschoss Ernst vom Rath, einen unbedeutenden deutschen Diplomaten, an der Botschaft des Deutschen Reiches in Paris. Die Nazis reagierten auf den tödlichen Schuss mit der »Kristallnacht«.


  1. * Ein Plan, nach dem 1,5 Millionen osteuropäischer Juden innerhalb von zehn Jahren in das Land Israel gebracht werden sollten. Die jüdischen Gemeinden lehnten ihn ab; sie fürchteten, er werde die antisemitische Behauptung rechtfertigen, Juden seien Fremdlinge im eigenen Land. Die polnische Regierung befürwortete die Idee und schlug sogar vor, ihre Delegierten im Völkerbund tätig werden zu lassen, um die Engländer zu zwingen, denen, die nach Palästina auswandern wollten, die Einreise zu erlauben.