Wenn jeder Erwachsene Verantwortung übernimmt, wird aus der Vision einer gewaltfreien Welt für Kinder eine gemeinsame Mission.
Wenn wir Kinder vor emotionaler und psychischer Gewalt zu Hause, in Kitas oder in der Schule wirklich und nachhaltig schützen wollen, dann brauchen wir das gemeinsame, aktive Mitwirken aller Beteiligten: Eltern, pädagogischer Fachkräfte, Politiker und ganz klar auch der Öffentlichkeit als Gesamtheit.
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie schnell speziell die Bedürfnisse von Kindern vergessen werden, wenn andere Interessen, vor allem wirtschaftliche, in den Vordergrund treten. Ohnehin sind unsere Kinder fast überall Opfer der Ökonomisierung unseres Alltags. Die Möglichkeiten, sich frei und unbefangen zu entwickeln und Kind zu sein, reduzieren sich ständig.156 Das echte, aber laute Lachen und Spielen von Kindern wird oft als Lärm empfunden. In der Kita und in der Schule sollen sie lernen, sich strikt nach Vorgaben zu entwickeln, sind massiv gefordert, Fortschritte zu machen und ständig Leistung abzuliefern. Aber für das freie und fröhliche Spiel, das zentral ist für unser Menschsein, für unsere Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, bleibt immer weniger Raum und Zeit. Wir sparen auf schier unglaubliche Weise an unseren Kindern und erwarten, dass sie all das in ihrer Entwicklung einfach so abfangen und uns möglichst nicht noch zusätzlich Schwierigkeiten machen. Wir ökonomisieren ihre Kindheit und ihr Aufwachsen und pathologisieren ihre Reaktionen darauf. Diese düstere Bestandsaufnahme wurde durch die Corona-Pandemie noch einmal bestätigt. Genau das sind die Stellschrauben, an denen wir als Gesellschaft dringend drehen müssen, um Kindheit für unsere Kinder wieder zu einem geschützten Entwicklungsraum zu machen. In den letzten Jahren hat sich der Trend durchgesetzt, Kinder immer früher zu fördern,157 in engen Leistungskurven zu verorten und entsprechend von einer Fehlentwicklung zu sprechen, sobald sie diesen engmaschigen Vorgaben nicht entsprechen. Ich hingegen plädiere dafür, Kinder Kinder sein zu lassen! Jedes Kind ist individuell, genau wie seine Entwicklung.
Zudem muss es eine gesamtgesellschaftliche Debatte geben, wie viel Arbeit wir uns auf Kosten unserer Kinder leisten wollen. Noch immer orientieren sich die Arbeitszeiten an den Vorgaben der jeweiligen Betriebe statt an den Bedürfnissen der Familien. Längst hat die Digitalisierung den Freiraum eröffnet, dass Eltern ihre Arbeitszeit verkürzen könnten, wie skandinavische Länder es bereits vorleben. Eltern sind nun einmal die wichtigsten Bezugspersonen im Leben eines Kindes, ohne diese spezielle Bindung kann keine Entwicklung geschehen. Diese Debatte müssen wir führen, denn im Moment leisten wir uns eine starke Wirtschaft auf Kosten der psychischen Gesundheit und der Entwicklung unserer Kinder wie auch der Doppelbelastung der Eltern, vorrangig der Mütter. Das ist ein extrem hoher Preis, den wir als Gesellschaft bezahlen, und es ist höchste Zeit, dass wir ihn endlich benennen.
Familien sind jener Ort, an denen Kinderrechte wie das Recht auf emotionale Gewaltfreiheit aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch am häufigsten verletzt werden, denn es ist in den meisten Familien noch immer üblich, Kinder beispielsweise zu schimpfen. Die Anliegen der Menschen in meinen Beratungen als auch ein Blick auf die Ratgeberliteratur bestätigt: immer mehr Menschen suchen nach Möglichkeiten, gewaltfrei zu sein, aber es gelingt äußerst selten. Sicherlich liegt uns das Wohl der Kinder am Herzen. Doch Überforderung, Lebenssituationen, fehlende Unterstützung und andere Begleitumstände wie Krankheit und weitere Herausforderungen können dazu führen, dass Eltern und Fachkräfte diesem Anspruch nicht immer gerecht werden können. Es fehlt noch immer an Information und Aufklärung sowie an Hilfsangeboten und Beratung. Das trifft vor allem auf Alleinerziehende, Eltern mit Migrationserfahrung, Familien mit Krankheits- oder Suchtgeschichten oder anderen Belastungen wie Armut zu. Hier mangelt es häufig am Wissen über Kinderrechte und an der Kompetenz, sich Hilfe zu suchen. Starke Gefühle von Scham und Angst kommen hinzu, sie erschweren es Eltern und Fachkräften, sich Hilfe zu holen.
Zudem gibt es keinen Rechtsanspruch auf frühe Hilfen im Sozialgesetzbuch, sodass diese niedrigschwelligen Unterstützungs- und Beratungsangebote nicht allen Eltern kostenfrei zur Verfügung stehen, wenn Eltern an ihre Grenzen kommen.158 Das trifft auch und besonders auf Kinderbetreuungsangebote zu, die Familien entlasten könnten. Zugleich zeigen sich gerade bei diesen Betreuungsangeboten häufig noch Mängel bei der notwendigen Qualität, um die Wahrung der Kinderrechte sicherzustellen. Auch findet vielerorts nicht der erforderliche Austausch zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Eltern im Sinne einer Bildungspartnerschaft statt.
In einigen Orten hat der Ausbau von Kindertagesstätten zu Familienzentren bereits begonnen, doch solche Einrichtungen werden in naher Zukunft nicht flächendeckend zur Verfügung stehen. Unsere große gemeinsame Vision muss es sein, Anlaufstellen für alle Sorgen und Probleme von Familien zu schaffen, sodass Familien Unterstützung finden. Aus dieser Vision müssen wir in der Folge als Gesellschaft unbedingt auch eine übergreifende Mission machen, weil es uns eben alle angeht. Familien dürfen mit ihren vielen Fragen und zahlreichen Schwierigkeiten nicht mehr alleine gelassen oder schlimmstenfalls sogar stigmatisiert, sondern müssen stattdessen abgeholt und unterstützt werden. Nur dann kann es uns gemeinsam gelingen, Kinder aktiv zu schützen und bedarfsgerecht zu fördern.
Im Moment fehlen jedoch bundesweite, niedrigschwellige konkrete Programme, in denen Erwachsene und Kinder über Kinderrechte ausreichend und praxisnah aufgeklärt werden: Briefe, YouTube-Beiträge, Fernsehspots, Social-Media-Kampagnen, in denen Eltern und Fachkräfte über Hilfsangebote und die Möglichkeit friedvoller Begleitung informiert werden. Es geht dabei vorrangig darum, insgesamt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie eine gesunde Kindheit aussieht, und wie wir als Gesellschaft emotionale Gewalt verhindern können.
Etwa 90 Prozent aller Kinder besuchen ab dem dritten Lebensjahr einen Kindergarten, ein immer größer werdender Teil früher auch schon eine Kinderkrippe.159 Das bedeutet, dass viele Kinder bereits ab dem ersten Lebensjahr in einer Kita oder bei einer Tagespflegeperson betreut werden. Hier machen Kinder die ersten sozialen Erfahrungen außerhalb der Familie und lernen Werte kennen. Diese Werteerziehung ist sogar im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert.160 Im Alltag vieler Kitas spielen Kinderrechte jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Das liegt auch, aber nicht nur an dem viel zu geringen Personalschlüssel, überwiegend liegt es an fehlendem Bewusstsein und an der Haltung, dass Erwachsene für Kinder entscheiden. Kinder werden zu wenig miteinbezogen, ihre Interessen und Bedürfnisse zu selten gehört und noch seltener in die pädagogischen Konzepte integriert. Für echte Partizipation der Kinder im Alltag der Kita bleibt zu wenig Zeit, dabei wäre das, etwa im Zusammenhang mit Ruhezeiten und Mahlzeiten, eine hervorragende Gelegenheit, um mit den Kindern Mitbestimmung zu üben. Die Kinder könnten auf diese Weise entscheiden, was und wie viel sie essen und ob und wie lange sie ausruhen möchten.161 Echte Partizipation bedeutet nicht nur, dass Kinder dann essen, wenn sie Hunger haben, sondern sie hätten auch die Möglichkeit abzustimmen, welche Speisen angeboten werden. Meine Erfahrungen der beinahe letzten dreißig Jahre haben mir gezeigt: Mittels Bildkarten klappt das auch schon bei den Jüngsten in der Krippe. Bedenken, Kinder würden nur Vanilleeis bestellen, sind unbegründet – ich habe das in all den Jahren, in denen ich Kitas berate, nie erlebt. Was ich hingegen erfahren habe, ist, dass die Teilhabemöglichkeiten der Kinder ausschließlich von den Haltungen der Fachkräfte abhängen. Das betrifft nicht nur Essen und Schlafen, es geht vielmehr um sämtliche Bereiche, die ein Kind betreffen – erwartungsgemäß sind das in einer Kita nahezu alle. Für mich ist es eindeutig Gewalt, wenn der vierjährige Lukas beim Anziehen lautstark zurechtgewiesen wird, dass er sich nicht wie ein Krippenkind benehmen und nun endlich seine Matschhose anziehen soll. Das soll er tun, obwohl er klar und deutlich gesagt hat, er will keine Matschhose anziehen, weil ihm warm ist. Das ist alles andere als die Umsetzung des Kinderrechtes, aber es ist weitgehend Normalität in Kitas.
Noch komplizierter wird es, wenn es um Kinderrechte in der Schule geht. Kinder verbringen einen großen Teil ihres Alltags in der Schule. Schulen sind per se sehr viel mehr als bloße Orte des Lernens, sie sind vorrangig auch Orte der Begegnung. Vielfach werden sie diesem Anspruch jedoch noch nicht gerecht. Die UN-Kinderrechtskonvention legt fest, dass Schulen sowohl Orte der Bildung als auch der Chancengleichheit sein müssen. Bildung muss kostenlos sein und in Verbindung mit Erholung zur Verfügung stehen. Gerade, wenn Schulen mehr und mehr zu Ganztagsschulen werden, müssen sie als Orte der Begegnung völlig neu gedacht und Kinder von Anfang an in ihre Konzeption aktiv mit eingebunden werden. Initiativen wie beispielsweise »Schule im Aufbruch«162 zeigen, wie der Paradigmenwechsel aussehen kann und wie Schulen zukunftsfähig werden. Schulen müssen zu Orten von Kindern für Kinder werden. Das erfordert ein Umdenken in den Köpfen der Erwachsenen, darin liegt die größte Herausforderung für Lehrer und Eltern. Schließlich ist Bildung der Schlüssel für den Erfolg der Zukunft. Die Sorge davor, etwas falsch zu machen, nicht die richtigen Entscheidungen zu treffen und dadurch Kinder nicht gut auf die Zukunft vorzubereiten, ist riesig, was absolut nachvollziehbar ist. Doch die Bestandsaufnahme aus dem vorangegangenen Kapitel zeigt, dass wir tatsächlich eine Menge falsch machen und viele Kinder definitiv nicht optimal gefördert, sondern viel zu oft beschämt und ausgegrenzt werden. Wenn wir also den Mut hätten, einen echten Paradigmenwechsel einzuleiten, dann könnten in den Schulen Kinder heranwachsen, die nicht nur auf ihre eigenen Bedürfnisse Rücksicht nehmen, sondern auch auf jene der anderen. Sie würden dadurch vielleicht zu Menschen, die diese Welt in einen besseren Ort verwandeln können.
Eines ist klar: Die Wege der Vergangenheit haben eindeutig ausgedient! Diese Wege beinhalten immer noch viel zu oft seelische Gewalt in Form von Demütigung, Beschimpfungen, verbaler Aggression, Drohungen, Bloßstellungen und Erpressungen, die für gute Erziehung gehalten werden, die aber nichts anderes sind als Gewalt und die in den Seelen von Kindern entsprechende Spuren hinterlassen.
Eine gewaltfreie Zukunft ist möglich, allerdings nur über mehrere Etappen. Sie können sich die Vision einer gewaltfreien Zukunft vorstellen wie eine Treppe, die wir gemeinsam erklimmen. Mit jeder Stufe kommen wir dem Ziel ein wenig näher, doch ganz oben ankommen können wir nur gemeinsam und nur dann, wenn wir alle mitnehmen! Das bedeutet, dass wir uns gegenseitig bei diesem anstrengenden »Aufstieg« unterstützen müssen. Es reicht nicht, wortgewaltig von Gewaltfreiheit und Bedürfnisorientierung zu sprechen. Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, einen echten Paradigmenwechsel, und dieser funktioniert nicht über Lippenbekenntnisse. Er erfordert den Abschied von lieb gewordenen Überzeugungen, die Teil unserer Identität sind, sowohl als Individuen und auch als Gesellschaft.
Wir alle, gemeinsam, konstruieren unsere gesellschaftliche Wirklichkeit – wir tragen die Verantwortung und treffen Entscheidungen. Wir sind die Erwachsenen, die es besser wissen – nicht die Kinder. Wir sollten uns beim gemeinsamen Erklimmen der Treppe von den folgenden Glaubenssätzen für immer verabschieden:
All das sind nur ein paar der Meinungen, die bisher überwiegend unreflektiert in unseren Köpfen überlebt haben. Sie bilden oft noch überwiegend das Fundament für Erziehung. Die Glaubenssätze variieren manchmal, je nachdem, welcher Kultur oder Generation Menschen angehören, doch die Schnittmenge bleibt die gleiche. Wir stellen unsere Glaubenssätze zu selten infrage, obwohl bei genauerer Betrachtung viele von ihnen Ansätze seelischer Gewalt beinhalten. Der erste Schritt auf unserer Mission zur Gewaltfreiheit ist es, diese Glaubenssätze zu hinterfragen, sie aufzulösen und für immer zu entsorgen. Sie sind nicht dafür geeignet, Kinder zu seelisch gesunden Erwachsenen zu machen.
Der zweite Schritt ist, das Wohlergehen der Kinder im Umgang mit ihnen und auch bei allen Entscheidungen zur obersten Priorität zu machen. Bislang werden Kinder in Institutionen mit Rahmenbedingungen gepresst, die anderen Interessen dienen – der Wirtschaft, den Bedürfnissen und dem Identitätsverständnis der Eltern und auch unserer allgemeinen Idee von Bildung. Ein neuer Weg könnte sein, all diese Bereiche mehr und mehr den wahren Bedürfnissen der Kinder anzupassen. Das kann gelingen, indem wir sie schlicht und einfach fragen: »Was braucht ihr?«
Der Neurobiologe Gerald Hüther163 weist in seinen Büchern darauf hin, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und wir sie auch nicht als solche behandeln sollten. Kinder sind perfekt dafür vorbereitet, Kinder zu sein. Je nach Entwicklungsphase verändern sich ihre Bedürfnisse und dementsprechend ihr Verhalten. Sobald wir in ihnen kleine Erwachsene sehen, zwingen wir sie bereits in ein gewaltvolles Verhältnis. Ebenso gewaltvoll ist in diesem Zusammenhang auch der sogenannte Adultismus. Dieser Begriff beschreibt eine besondere Form der Diskriminierung, die Erwachsene gerne gegenüber Kindern betreiben, wenn sie davon ausgehen, dass sie selbst allein aufgrund ihres höheren Alters intelligenter, kompetenter oder schlicht besser sind als Kinder und Jugendliche und sich daher über deren Meinungen und Ansichten salopp hinwegsetzen dürfen. Zwischen Erwachsenen und Kindern besteht ein »natürliches« Machtgefälle, in dem alle Macht bei den Erwachsenen zu liegen scheint. Die Bedürfnisse, Wünsche und Ansichten von Kindern werden dann oft nicht gehört oder als nicht wichtig betrachtet. Adultismus ist Diskriminierung und findet sich überall dort, wo Erwachsene auf Kinder treffen, also in Kitas, Schulen und natürlich auch in vielen Familien. Auch hier gilt: Viele handeln unreflektiert, wenn sie Sätze aussprechen wie »Dafür bist du noch zu klein!«– »Das kannst du nicht!« – »Du tust, was ich dir sage!« und »Wenn Erwachsene reden, sind Kinder still!« – falls Sie sich jetzt fragen, wer heutzutage noch so mit Kindern spricht: Alle Menschen, die Kinder nicht ernst nehmen und Kinder weder nach ihrer Meinung noch nach ihren Wünschen fragen würden.
Die Frage an Kinder, »Was braucht ihr?« mag manchen absurd erscheinen. Wie soll denn ein Kind wissen, was es braucht? Auch aufgeklärte Erwachsene unterstellen dann gerne, dass die kindlichen Antworten so ähnlich ausfallen würden: »Spielzeug oder ein Stück Schokolade«. Das ist Adultismus in Reinform, also die diskriminierende Einstellung, Erwachsene wüssten besser über Kinder Bescheid, weil sie Erwachsene sind.
Die helfende Hand –
aus meinem Beratungsalltag
Vor einiger Zeit stellte ich in einem Online-Coaching für Kitapersonal folgende Frage: Wann haben Sie zuletzt zu einem Kind gesagt: »Dafür bist du noch zu klein!« oder »Du bist doch noch ein Kind!« – und wissen Sie, dass Sie damit Kinder diskriminieren? Viele der Fachleute hatten Fragezeichen in den Blicken. Liebe Leserin, lieber Leser, was würde ich jetzt in Ihrem Blick sehen? Ich reiche Ihnen wieder die Hand und wünsche mir, dass Sie mit mir noch einmal ein paar Schritte in Ihre Vergangenheit gehen, denn ich möchte Ihnen zeigen, dass auch Sie höchstwahrscheinlich aufgrund Ihres Alters diskriminiert wurden. Sie bekamen Belohnungen für erwünschtes Verhalten und wurden bestraft für das, was Sie nicht tun sollten. Sie haben gelernt, wie man Macht ausübt, und es ist einfach, wenn der vermeintlich Stärkere die Ansagen macht und der Schwächere tut, was man von ihm verlangt – so läuft es vermeintlich in der Welt. Erwachsene missbrauchen ihre Macht, weil sie es nicht anders kennen. Wir haben gelernt, dass man so mit Kindern umgeht, weil man so mit uns umgegangen ist, und deshalb tun wir es wieder. Sie, andere Eltern, andere Fachkräfte und auch ich – trotz allen Wissens, trotz aller Erfahrung. Aber Diskriminierung ist Gewalt, und wir können uns davon verabschieden, wenn wir uns eingestehen, dass wir Gewalt anwenden – gegen Kinder und durch harte Selbstkritik auch gegen uns selbst. Der erste Schritt in die Gewaltfreiheit ist der Schritt zurück in die Erkenntnis, dass wir gelernt haben, so zu handeln, wie wir handeln. Erst dann können wir lernen, wie man Kinder noch sehen kann, wie man auch mit ihnen umgehen kann. Aus einem »Du bist doch noch ein Kind, und ich sage dir, wie das Leben läuft« wird dann ein »Du bist ein Kind, und ich begleite dich auf deinem Lebensweg.«
Kinder kennen sich und ihre Bedürfnisse ausgezeichnet, und sie äußern sie auch. Es ist ihnen ein inneres Bedürfnis, an der Welt, in der sie leben, mitzuwirken und sich darin auszudrücken. Ja, sie können dies nur mit ihren Mitteln – mit den Mitteln von Kindern, doch es ist unsere Aufgabe, diese für uns Erwachsene verständlich zu übersetzen. Schließlich finden Kinder jeden Tag auch Wege, uns zu verstehen!
Kinder ernst zu nehmen, ist ein ganz entscheidender Schritt auf dem Weg zur Gewaltfreiheit, nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern auch in der Gesellschaft. Das »Lernen am Modell« habe ich im Laufe dieses Buches bereits erläutert. Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Wenn sie lernen, Konflikte, also widerstreitende Interessen, nicht durch Macht und Gewalt zu lösen, sondern durch Kommunikation, Kompromisse und Konsens, dann verändert das auf lange Sicht unser Zusammenleben auf eine so grundlegende Weise, dass wir uns das heute kaum vorstellen können.
Wenn wir Kinder ernst nehmen, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, dass wir sie aktiv an allen Prozessen beteiligen, die sie betreffen. Viele Erwachsene haben damit Probleme, weil sie dann immer gleich mit der Verantwortung argumentieren. »Kinder verstehen doch gar nicht, welche Auswirkungen das hat!«, heißt es dann. Das müssen Kinder auch nicht. Dazu sind ja wir da. Aber das bedeutet nicht, dass wir ihnen nicht aufmerksam zuhören sollten. Die Ideen und Vorschläge von Kindern sind meist nicht sinnlos oder unlogisch, ihnen fehlt bloß die Erfahrungstiefe von Erwachsenen. Die Anregungen und Ideen von Kindern entstehen aus ihrem klaren Bedürfniserleben, und darin sind sie nun einmal die Experten. Selbst Eltern oder Menschen wie ich, die sich den ganzen Tag beruflich damit beschäftigen, wie Kinder sich am besten entwickeln, am besten lernen und was sie dafür brauchen, wissen nicht so gut, was ein Kind benötigt, wie eine Zweijährige, ein Fünfjähriger oder eine Elfjährige. Wir dürfen nie vergessen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie stellen keine unvollkommenen Versionen von uns dar. Sie sind vollkommene Versionen von sich selbst!
Deshalb ist das Wichtigste, was Erwachsene tun können, mit Kindern zu reden. Wir sollten nicht nur für unsere Kinder da sein, sondern vielmehr ihnen zugewandt leben und sie einbeziehen. Wir könnten ihnen solche und ähnliche Fragen stellen:
Dadurch würden wir Kinder als echte Gegenüber sehen und ihre Hilfe annehmen, damit wir sie besser verstehen. »Kindlich« würde dann zu einem eigenen Qualitätsbegriff und wäre kein abwertendes Adjektiv mehr:
Wir würden dann zu Kindern auch in schwierigen Situationen glasklar und ehrlich sein und ihnen die Welt und unser Verhalten so erklären, dass sie eine Chance haben, die Welt und uns zu verstehen. Eine solche Erklärung könnte sich in etwa so anhören: »Es wird Situationen geben, in denen ich nicht auf dich Rücksicht nehmen kann, weil diese Welt weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, und weil ich, obwohl ich erwachsen bin, über viele Dinge auch keine Kontrolle habe. Aber ich werde mir in einem solchen Fall die Zeit nehmen, es dir zu erklären, und wenn du wütend sein möchtest, dann sind wir gemeinsam wütend. Es ist zum Beispiel nicht gerecht, dass du um sechs Uhr morgens aufstehen musst, weil ich zur Arbeit muss, obwohl du noch so müde bist. Es ist auch nicht gerecht, dass viele Dinge sind, wie sie sind, und du hast das Recht, darüber wütend zu sein. Ich danke dir, dass du mich daran erinnerst, denn ohne dich hätte ich beinahe vergessen, dass man diese Dinge auch ändern kann.«
Kinder auf diese Weise aktiv zu beteiligen, verlangt uns Erwachsenen eine Menge ab. Nicht nur Geduld und Aufmerksamkeit, nicht nur Selbstreflexion und Demut, vor allem lenkt es unseren Fokus auf all die Dinge unseres Zusammenlebens, die voller Widersprüche sind. Widersprüche, an die wir uns gewöhnt haben, die vielen, faulen Kompromisse des Erwachsenseins, in die wir unsere Kinder so gerne hineinzwingen möchten, damit sie perfekte, kleine Erwachsene sind, Spiegelbilder unseres besten Selbst.
Wir möchten unsere Kinder anschauen und in ihnen kleine, unbeschädigte Versionen von uns selbst erkennen, sozusagen der Beweis dafür, dass wir im Kern gut sind, optimal geeignet für alles, was die Gesellschaft von uns erwartet. Teamfähig, sozial, klug, schöpferisch, irgendwie besonders, liebenswert, angepasst, aber nicht langweilig – eine Persönlichkeit, die keinerlei Fehler aufweist: ein freundliches Produkt. Aber Kinder sind nicht unsere Produkte! Es sollte im Umgang mit ihnen nicht darum gehen, immer wieder neue und bessere Erziehungsmethoden anzuwenden, sondern darum, sie zu begleiten. Denn Kinder sind richtig, wie sie sind. Sie entwickeln sich entlang eines in ihnen angelegten Planes, der nur ihnen vorbehalten ist. Es gibt allgemeingültige Entwicklungslinien, die jeder Mensch durchläuft. Dazwischen gibt es aber sehr viel Raum. Und welchen Verlauf die individuelle Entwicklung nimmt, muss nicht geformt werden, um zu gelingen, sondern entscheidend sind vielmehr möglichst Wachstums-freundliche Bedingungen. Das und nichts anderes ist die Aufgabe von Elternschaft und Gesellschaften: Kinder gedeihen zu lassen. Das hat nichts damit zu tun, sie sich selbst zu überlassen. Gedeihen lassen bedeutet auch, für Impulse und Austausch zu sorgen, für einen Dialog mit diesem kindlichen Selbst, das sich selbst entdeckt. Und das kann es am besten, indem es von uns Erwachsenen ernst genommen wird.
Zum Ende hin möchte ich noch einen Aspekt der emotionalen Gewalt ansprechen, der für das Leben der Betroffenen eine große Rolle spielt: Stigmatisierung. Wo Gewalt herrscht, ist das Stigma für die Opfer nicht weit, ganz egal, ob körperliche, sexuelle oder seelische Gewalt im Spiel ist. Stigma wirkt wie ein Katalysator für alles, was Gewalt Menschen ohnehin schon antut. Gewalt ist das Gefängnis, aber Stigma dreht den Schlüssel im Schloss um und wirft ihn daraufhin weg.
Jede Art von Gewalt erzeugt Stigma. Es kann auch im Kleinen wirken, sozusagen im Nahbereich. Jeder, der schon einmal zum Opfer geworden ist, hat ein Stigma. Das ist auch der Grund, weshalb Opfer so laut und anhaltend schweigen. Sie wissen, dass es Gefahren birgt, sich als Opfer zu outen. Das liegt daran, dass wir so ungern über Täter reden. Wir wollen lieber so tun, als sei an den Opfern etwas, das die Gewalt hervorgerufen hat, und tatsächlich glauben die Opfer das meist auch selbst. Es ist nicht damit getan, das für ein Hirngespinst zu halten, denn in der Tat gibt es einen Zusammenhang. Wer einmal im Leben Opfer war, wird es häufig auch später noch einmal. Die Forschung schiebt das auf die durch ihre Traumatisierung beeinflussten schlechten Lebensentscheidungen der Betroffenen.164 Doch ich denke, wir machen uns das als Gesellschaft zu einfach, weil wir wieder einmal nicht über die Täter sprechen wollen, sondern die Opfer thematisieren.
Der Grund dafür ist abermals das Stigma. Das Wort geht auf das griechische »Wundmal« zurück, bedeutet also, dass jemand gezeichnet ist. Der Soziologe Erving Goffmann hat sich intensiv mit der sozialen Funktion von Stigmatisierung165 beschäftigt. Stigma schafft für den Einzelnen eine soziale Distanz und ein künstliches Gefühl der Sicherheit. »Du bist nicht wie ich, deshalb bist du Opfer geworden«, ist die dann oft gehörte Aussage. »Mir kann das nicht passieren, denn ich bin ja nicht wie du.«
Weil wir über Gewalt nicht offen sprechen, vor allem nicht über die nach außen unsichtbare, die seelische Gewalt, muss sie sich anderswo entladen. Das geschieht in einem unbewussten Prozess. Der Mensch, der schon einmal Opfer geworden ist, nimmt in der sozialen Interaktion diese Rolle deswegen wieder und wieder ein.166 Sie ist ihm ja vertraut. Opfer seelischer Gewalt werden deshalb eher noch einmal Opfer körperlicher Gewalt oder sexualisierter Gewalt und umgekehrt. Das soziale Stigma einer Herkunft mit psychisch erkrankten Eltern, Sucht oder Armut macht verletzlich, und wo Gewalt ist, folgt noch mehr Gewalt hin. Es ist nicht das Opfer, das sie anzieht, es ist die Gewalt, die sich diese Entladungsmöglichkeiten sucht. Da darf sie sich entladen, sozial verträglich sozusagen, weil die Gesellschaft schon beschlossen hat, dass mit dieser Person etwas nicht stimmt.
Alles andere würde bedeuten, dass wir als Gesellschaft offen zugeben, dass wir permanent gewaltvoll miteinander umgehen – besonders mit Kindern. Wir nennen es zwar nicht Gewalt, sondern Erziehung, aber es ist und bleibt Gewalt. Wir handeln, weil es uns oft schwerfällt, zu vertrauen und wir uns verpflichtet fühlen, Kinder auf den rechten Weg zu bringen. »Das geschieht nur zu deinem Besten« – mit diesen Worten fangen die schrecklichsten Geschichten an.
An dieser Stelle muss und darf ich Sie warnen: Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit der gewaltfreien Erziehung, werden Sie plötzlich ziemlich viel Druck zu spüren bekommen. Nämlich den erstaunten Druck von außen, von all denen, die noch nicht bereit sind, auf Gewalt zu verzichten.
Leider gehört das zum Wesen der Gewalt. Um ungesehen zu bleiben, muss sie allgegenwärtig sein. Steigt jemand aus dem gewaltvollen Spiel aus, erzeugt das Irritationen bei all jenen, die sich noch in diesem Kreislauf befinden. Wenn Sie aufhören, mit Ihrem Kind zu schimpfen, und auf Augenhöhe mit ihm sprechen, wird das in Ihrem Umfeld nicht lange unbemerkt bleiben. Es wird zu Reaktionen kommen, und nicht alle werden positiv sein.
Seltsame Blicke und spöttische Bemerkungen sind vermutlich noch die harmlosesten Reaktionsvarianten. Es wird vermutlich gar nicht lange dauern und jemand – eventuell auch aus Ihrem sehr nahen Umfeld – wird ankommen und behaupten, Ihr Kind sei nicht richtig erzogen. Vielleicht sogar eine Person mit pädagogischer Autorität, was den darauffolgenden Dialog schwierig machen könnte, denn diese Person wird von der Richtigkeit ihrer Ansichten absolut überzeugt sein. »So kann man kein Kind erziehen. Sie machen uns Probleme mit Ihrer Freiheit. Ihr Kind passt sich nicht an. Das können wir hier nicht gebrauchen. Bringen Sie das in Ordnung!« So oder ähnlich gestalten sich dann harsche Aussagen aus sogenanntem berufenem Munde. Ein Kind, mit dem »etwas nicht in Ordnung ist«, wird schnell ein Kind, das eine bestimmte Diagnose verpasst bekommt. Das zum Außenseiter wird, zum Störenden, zum Problemkind. Und schon wieder hebt das Stigma sein Haupt. Diesen Herausforderungen sehen sich leider viele Eltern gegenüber, die sich einer neuen, gewaltfreien Form der Erziehung verschreiben. Es gehört Mut dazu, aus einem bisherigen Muster herauszutreten und vor der Gesellschaft, dem gesamten Umfeld und vor allem der Familie ganz klar zu kommunizieren: »Wir gehen von nun an einen anderen Weg, zum Wohle unsere Kinder!«
Die gute Nachricht dabei: Die Menschen, die den Mut aufbringen, im Bereich Erziehung neu und anders zu handeln, werden immer mehr. Unterstützt werden diese Eltern von der Wissenschaft. Immer wieder erscheinen Studien,167 die belegen, dass das, was wir heute noch als Erziehung verstehen, in Wirklichkeit nichts anderes als seelische Gewalt in unterschiedlichen Abstufungen168 darstellt. Gerade die Neurobiologie hat in diesem Zusammenhang das große Potenzial, ihre Erkenntnisse unbestreitbar sichtbar zu machen.169
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die lange Ära der seelischen Gewalt in der Erziehung zeitnah an ihr Ende kommen wird. Denn mit jedem Elternteil und jedem Pädagogen, der sich entscheidet, nicht mehr mit den bisherigen Methoden psychischer und emotionaler Gewalt zu arbeiten, wächst ein Mensch heran, der diese Art des Umgangs nicht mehr aktiv verlernen muss, sondern Gewaltlosigkeit selbstverständlich lebt und wiederum an seine eigenen Kinder weitergibt. Und dann wird die Mission, die uns alle angeht, langsam, aber sicher erfüllt sein!