KAPITEL 2

Der Mensch ist doch gut – Ursprünge gewaltvollen Handelns

Die Ursachen emotionaler Gewalt sind komplex und liegen häufig in der eigenen Kindheit.

Wir haben es mit mehr als erschreckenden Zahlen zu tun. Studien aus dreißig Ländern zeigen, dass eins von drei Kindern weltweit von emotionaler Gewalt betroffen ist und ein Viertel aller Kinder auf der Welt miterleben muss, wie seine Mutter physische und psychische Gewalt durch ihren Partner erfährt.37

Psychische Gewalt hat viele Ursachen. Sie zu verstehen, ist sehr viel schwieriger und komplexer, als die Auslöser von körperlicher oder sexualisierter Gewalt zu untersuchen. Bei letzterer sind wir uns als Gesellschaft einig: Das geht nicht! Dabei ist es die Grenze zu psychischer und emotionaler Gewalt, die im Alltag sehr viel häufiger überschritten wird, als wir es wahrnehmen.

Wenn die Gesellschaft Erziehung fordert

Wer Kinder gemäß geltender Normvorstellungen erziehen und erreichen möchte, dass sie in unserer Gesellschaft möglichst reibungslos »funktionieren«, der steht vor dem Problem, dieses Interesse gegen viele andere, auch kindliche Interessen und Bedürfnisse durchsetzen zu müssen. Das fängt mit dem Schlafengehen an, geht über den Kita- und Schulbesuch und die dort erbrachten Leistungen und endet mit der Frage, wann ein Jugendlicher am Wochenende zu Hause zu sein hat oder wo er denn hingehen darf. Das ist zum Teil notwendig, um Kinder vor Folgen ihrer Handlungen, die sie selbst noch nicht ausreichend einschätzen können, zu schützen. Aber auch, um den Alltag als Familie zu organisieren oder um einem Kind beizubringen, seine Bedürfnisse in einer sozial akzeptablen Weise zu äußern, und gegebenenfalls, je nach Entwicklungsstand, auch einmal zu verschieben oder auf sie zu verzichten, weil auch andere Bedürfnisse haben und es wichtig ist, dies zu respektieren.

Doch nicht alle Erziehungsmaßnahmen geschehen aus diesen Gründen. Eltern erziehen ihre Kinder auch, weil die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Diese Art von sozialer Normierung beginnt bereits sehr früh – wenn ein Baby ständig schreit, sind sogar Personen aus dem nahen Umfeld rasch geneigt, der Mutter die Schuld daran zu geben. Sie soll dafür sorgen, dass das Kind aufhört. Wie sie das macht, bleibt ihr überlassen. Das gilt auch für rebellierende Kleinkinder und generell für alles im kindlichen Verhalten, was das Ruhe- und Sicherheitsbedürfnis der Erwachsenen im Umfeld und in der Familie stören könnte. Kinder und ihre Bedürfnisse werden häufig als Störfaktoren wahrgenommen, und die Aufgabe der Eltern scheint es zu sein, Kinder sozialverträglich zu regulieren und aus ihnen Erwachsene zu machen, und das oft auf Kosten der Persönlichkeit des Kindes.

Bedeutet Erziehung aber nicht auch, das Selbst eines Kindes unverletzt zu bewahren? Warum dürfen Kinder nicht sein, wie sie sind? Mit welchem Recht erklären wir Kindern, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie vor Wut oder Ohnmacht weinen und schreien – statt ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen beim Umgang damit zu helfen? Könnte es sein, dass es uns stört, wenn es um uns laut wird, weil ein junger Mensch das macht, was wir uns nicht (mehr) trauen? Wenn das so ist – wer hat dann das Problem, das Kind, das seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, oder wir, die wir gelernt haben, Gefühle zu unterdrücken, vor allem unsere im Alltag immer wieder hochkommende Wut? Wie oft würden Sie gerne laut schreien und tun es nicht? Dabei wäre es so gesund!

Selbstverständlich möchten alle Eltern gute Eltern sein, und die erkennt man vermeintlich an »guten Kindern«. Kinder, die keinen Lärm machen, gute Noten schreiben und brav sind, kurz: Kinder, die keinen Ärger machen! Das fängt schon früh an, zum Beispiel beim Schlafverhalten und im Sandkasten. Wenn ein Dreijähriger seine Spielsachen nicht teilen möchte, erntet seine Mutter zutiefst kritisch-missbilligende Blicke. Aber wer von uns teilt denn schon gerne? Teilen Sie morgens in der S-Bahn bereitwillig Ihr Frühstück? Oder Ihre Zeitung? Na also! Junge Kinder haben von sich aus kein Interesse daran, »gut« zu sein und zu teilen, weil sie dieses abstrakte Konzept noch nicht verstehen können.38 Sie möchten einfach sich und die Welt entdecken und dabei geliebt und versorgt werden. Ihr Interesse, »gut« zu sein, beginnt erst da, wo sie feststellen, dass ihr Bedürfnis, geliebt zu werden, offensichtlich mit einem Verhalten verbunden ist, das ihre Eltern und ihre Erzieherinnen bestimmen, und sie teilen müssen.

Kinder probieren sich und immer wieder Neues aus, weil sie verstehen wollen, weil sie lernen – niemals, weil sie provozieren wollen –, alleine dieses Wissen würde schon viel Leid verhindern.

Mir ist es wichtig, zu betonen, dass Kinder mit vielen positiven Anlagen zur Welt kommen, die ihnen soziale Kooperation39 ermöglichen, auf die sie letztendlich angewiesen sind. Schon im Alter von wenigen Monaten können sie gegenüber anderen Lebewesen Mitgefühl zeigen. Dieses Verhalten ist uns angeboren und kein Ergebnis von Erziehung. Das »gut« hingegen, das ich oben kritisch angesprochen habe, ist die Anpassung, die aus der Erziehung resultiert – also Kinder, die sich benehmen und brav sind. Anders ausgedrückt, Kinder, die gelernt haben, sich dem Willen Erwachsener komplett unterzuordnen, und dafür ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Diese Art der Unterordnung kann nur erreicht werden, wenn Ältere zu Formen emotionaler und psychischer Gewalt greifen, um Jüngere für das Ausleben nicht erwünschter Gefühle – etwa dem berühmten kindlichen Trotzanfall im Supermarkt vor ganz großem Publikum – entsprechend zu bestrafen. Da die Körperstrafe inzwischen verboten ist, greifen Eltern in solchen Fällen zu unsichtbaren Formen der Gewalt: Sie drohen, schimpfen, beleidigen oder erpressen mit Wenn-Dann-Sätzen.

Die Art der ausgeübten Gewalt mag sich in den letzten Jahrzehnten geändert haben, die Ursache und ihre Folgen bleiben die gleichen!

»Schwarze Pädagogik« und das falsche Selbst

Die Geschichte der Kindheit ist eine lange und komplizierte.40 Ich kann im Folgenden nicht alle Aspekte berücksichtigen, will aber zeigen, warum emotionale Gewalt noch immer Alltag für viel zu viele Kinder ist. Dazu muss man wissen, dass der Begriff Kindheit lange Zeit überhaupt nicht existierte. Diese Lebensphase wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von Jean-Jacques Rousseau zu etwas Schützenswertem erklärt. Aber auch dann waren Kinder oft noch dazu auserkoren, Arbeitskräfte zu sein und den Fortbestand von Besitz und Familie zu sichern sowie die Altersvorsorge der Eltern.41 Wie Kindheiten aussahen, hing auch stark von der sozialen Herkunft ab. Mit der Aufklärung und dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert entstand aber nunmehr eine breitere Mittelschicht, die weniger Kinder bekam, und, getragen durch erste wissenschaftliche Erkenntnisse im Zusammenhang mit Kindern, sich daranmachte, deren Entwicklung durch Bildung und strenge Erziehung gezielt zu fördern.42 Gleichzeitig geriet dies durch die Reformpädagogik bereits teilweise in die Kritik.

Es waren die disziplin- und abhärtungsorientierten Ansätze, die im Nationalsozialismus einen Höhepunkt erlebten. Noch bis in die 1980er-Jahre hinein lasen viele junge Mütter eine der überarbeiteten Ausgaben des erstmals 1934 erschienenen Buches Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind der Lungenfachärztin Johanna Haarer, in dem sie das Kind – wörtlich – als »Feind« bezeichnet, gegen das die Mutter mit Methoden wie Schreienlassen oder Kaltstellen den Kampf aufnehmen muss.43 Dieses schwere Erbe endete nicht etwa mit dem Untergang des Nazireichs, sondern reicht zuweilen bis in die Gegenwart, denn noch immer haben viele Menschen Angst, Kinder durch Zuwendung zu »verwöhnen«.44 Früher wie heute geschah und geschieht alles immer nur zum sogenannten Besten des Kindes. Interessant, dass nach wie vor bei vielen Kindern dieses Beste nicht so richtig gut ankommt. Die Autorin Katharina Rutschky analysierte diese Form der Erziehung als »schwarze Pädagogik«, die Gehorsam von Kindern verlangt, und in der Erniedrigungen und andere Varianten drastischer Strafen eingesetzt werden, als eine Erfindung der Neuzeit, bei der es vor allem um Triebabwehr ging – die Bedürfnisse des Kindes sollten unterdrückt werden, die Liebe zwischen Mutter und Kind wurde als »Affenliebe« abgewertet.45

Ich erinnere mich an einen Ausspruch meiner Großmutter, die ich sehr geliebt habe: Sie erwähnte einmal, dass sie es mehr als befremdlich fand, dass Mütter heutzutage ihre Kinder die ganze Zeit »ablecken« und durch die Gegend tragen. Mit ablecken meinte sie küssen! Für meine Oma war es ein bloßer Nebensatz, für mich als Erziehungswissenschaftlerin der Beweis ihrer Sozialisation. Ihre Zuneigung mir gegenüber drückte meine Großmutter durch unglaublich leckere Mahlzeiten, durch gemeinsames Singen, die Gestaltung der zauberhaftesten Oster- und Weihnachtsfeste und durch liebevolle Strenge, wie sie das nannte, aus. Körperlich war sie selten – obwohl sie es sehr mochte, wenn man sie in den Arm nahm und ihr ein Küsschen gab.

Müttern wurde zeitweise gewissermaßen verboten, liebevoll ihren Kindern gegenüber zu sein. Diese Überzeugungen sind bei weitem noch nicht überwunden, denn auch heute werden Mütter, die ihren Kindern gegenüber nicht machtvoll durchgreifen, zumindest schief angesehen. Zugegeben, früher hatte man wenig Chancen, anders als die anderen zu sein und zu handeln, doch heutzutage ist die Welt diverser und damit auch offener für neue Denk- und Handlungsweisen.

Auch heute noch wird »schwarze Pädagogik« angewandt, die mit Erniedrigung, Entmutigung – »so wirst du es ganz sicher nie zu etwas bringen« –, Einschüchterung und Zwangsmaßnahmen arbeitet. Ich habe unzählige Male erlebt, dass ein Kind in der Kita zur Strafe ein besonders schweres Puzzle machen musste, und in Beratungen zeigen Eltern mir Strafaufgaben, in denen ihre Kinder fünfzigmal Sätze wie »Ich ärgere meine Mitschüler nicht und befolge die Anweisungen meines Lehrers« oder die gesamte Schulordnung abschreiben mussten. Obwohl von solchen Maßnahmen kein Nutzen zu erwarten ist, werden bis heute Kontrolle, Überwachung, seelische Grausamkeit und Abhärtung praktiziert. Ursprünglich sollte Kindern mit »schwarzer Pädagogik« das Böse ausgetrieben werden, man glaubte nicht an das Gute im Menschen. Ich erlebe heute in meinem beruflichen Alltag noch immer Menschen, die glauben, man könne und müsse Kinder formen, ganz so, als würde man aus einem Diamanten durch einen guten Schliff einen Brillanten machen. Menschen, mit denen ich spreche, formulieren es genau so: »Mich hat das Leben geschliffen, mich hat das Leben geformt, mich hat das Leben gezeichnet!« Ich frage mich, wie man auf die Idee kommt, Menschen mit Steinen zu vergleichen, und glaubt, keinen Einfluss auf das eigene Leben zu haben. Es könnte sein, dass man bei einer solchen Sichtweise auf sich selbst und das Leben schon früh gelernt hat, passiv zu sein und das zu (er)tragen, was einem »das Leben« auf die Schultern lädt.

Die Psychoanalytikerin Alice Miller entwickelte aus diesen Sichtweisen der Erwachsenen auf Kinder ihr Konzept des »falschen Selbst«, das nur durch Erziehung im Kind entsteht. Dieses falsche Selbst ist nicht authentisch, sondern orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Eltern.46

In den 1970er-Jahren kam die Reformpädagogik erneut auf, die mit dem antiautoritären Ansatz versuchte, den Folgen »schwarzer Pädagogik« entgegenzuwirken. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang die reformpädagogische Schule in Summerhill, England, an der die Schüler gleichberechtigt den Alltag an ihrer Schule mitbestimmen. Einige der Konzepte der Reformpädagogik fanden Eingang in die Mitte der Gesellschaft – etwa, dass Gewalt gegen Kinder kein geeignetes Erziehungsmittel ist, sondern kranke Erwachsene zur Folge haben kann, die sich in der Gesellschaft nur schwer zurechtfinden und leiden.

Drogenprobleme, psychische Erkrankungen, körperliche Probleme, die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, konnten auch wissenschaftlich47 direkt auf die Folgen einer zu strengen Erziehung zurückgeführt werden, was an einigen Stellen zu einem Umdenken führte. Statt nur auf Autorität setzten auch bürgerliche Eltern zusätzlich auf liebevolle Zuwendung, Aufmerksamkeit und Förderung.

Doch die Autorität blieb – sie war und ist das Einfallstor für emotionale und psychische Gewalt. Meine Beobachtung ist, dass fast jede Familie ihre eigenen Formen von psychischer und emotionaler Gewalt kennt. Einige von ihnen werden von Generation zu Generation weitergegeben. »Wenn du nicht brav bist, dann kommst du ins Heim«, ist so ein Satz oder »Gleich kommt die Polizei und nimmt dich mit.«

Es sind Rituale, die Eltern bei sich als wirksam erlebt haben, weil sie selbst von ihnen eingeschüchtert wurden. Dieser Automatismus von Manipulation und Drohung kann Wirkung zeigen, weil sie Kindern Angst macht, sie psychisch und emotional verletzt und sie auf diese Weise dazu bringt, dem elterlichen Willen zu gehorchen. Brav ins Bett zu gehen, aufzuräumen, leise zu sein, all das, was Eltern sich so wünschen, damit der Alltag möglichst reibungslos läuft und die Familie nach außen hin als »gut« repräsentiert wird – bei Verwandten, Nachbarn, in Kita und Schule.

Die helfende Hand – aus meinem Beratungsalltag

26 erfahrene Kita-Pädagoginnen sitzen in meinem Seminarraum und schauen mich fragend an. Ich hatte gesagt, dass sie es sind, die bei Kindern Reaktionen auslösen. Dass Kinder auf ihr Verhalten reagieren und, dass, wenn sie sich andere Verhaltensweisen wünschen, sie bei sich etwas ändern dürfen.

Ein Kind tut nicht, was man ihm sagt – es zieht sich nicht an oder wieder aus. Ich weiß, Sie kennen solche Situationen und ärgern sich darüber. Was genau ärgert Sie daran: Ist es wirklich die Jacke, die noch auf dem Boden liegt, oder geht es darum, dass Ihre Aufforderung nicht oder nicht schnell genug erfüllt wird? Wo drückt der Schuh? Wenn Sie das wissen, können Sie überlegen, woher Sie dieses Gefühl – zum Beispiel, dass Sie nicht ernst genommen werden – kennen, und ich bin mir sicher: Sie erinnern sich an unschöne Erlebnisse aus Ihrer Kindheit.

Denken Sie nun einen Schritt weiter und überlegen Sie, was Sie sich damals gewünscht hätten. Was waren Ihre Bedürfnisse, wie hätten sie befriedigt werden können? Wenn Sie das wissen, erfüllen Sie sich selbst genau dieses Bedürfnis, denn jetzt sind Sie erwachsen und bestimmen über Ihr Leben. Und zwar nur Sie, denn es ist Ihr Leben. Geben Sie Ihrem verletzten inneren Kind das, was es damals nicht bekommen hat, und ich bin mir wieder sicher: Sie werden, wenn Sie sich gut behandeln, automatisch Kinder besser behandeln.

Ertappen Sie sich vielleicht so manches Mal dabei, ein Kind als Strafe bewusst zu ignorieren? Oder setzen Sie Methoden wie den Ausschluss von geliebten Aktivitäten ein, oder sperren Sie ein Kind ein? Was tun Sie mit Kindern, was auch Ihnen angetan wurde? Diese Fragen habe ich den Fachkräften mit nach Hause gegeben, und wenn Sie wollen, gehören Sie nun Ihnen.

Es gibt so viele Möglichkeiten, Kinderseelen zu verletzen und für immer negativ zu konditionieren. »Eigentlich wollte ich ja immer einen Jungen haben« zum Beispiel ist eine Aussage, die sich tief eingräbt.48 Viele Mädchen fühlen sich dann unbewusst aufgefordert, sich wie ein Junge zu verhalten, und versuchen, besonders wild zu sein, keine Kleider zu tragen und burschikose Haarschnitte zu bevorzugen. Sie stellen sich vor, auf diese Weise mehr elterliche Liebe und Anerkennung zu bekommen. Was jedoch immer bleibt, ist die unterschwellige Überzeugung, so, wie man auf die Welt gekommen ist, nicht gewollt zu sein.

»Was sollen nur die Nachbarn denken?« ist ebenfalls eine Aussage, die den Druck, den Eltern oft an ihre Kinder weitergeben, perfekt widerspiegelt. Da hat jemand seine Kinder nicht im Griff! Das scheint für uns als Gesellschaft noch immer das Wichtigste zu sein, statt uns zu fragen, ob für diese Kinder gut gesorgt wird und ob sie glücklich sind. Von Kindern, die nicht erzogen sind, die die Eltern »nicht im Griff« haben, geht nach dieser Lesart für uns als Gesellschaft noch immer eine Gefahr aus. Dieser Druck ist eine der entscheidenden Ursachen für emotionale und psychische Gewalt – allerdings nicht ihre einzige.

Ursachen emotionaler und psychischer Gewalt

Um in der Tiefe zu verstehen, wie emotionale und psychische Gewalt zustande kommt und warum es so schwer ist, ihren toxischen Kreislauf zu durchbrechen, müssen wir noch tiefer zu ihren Ursprüngen vordringen. Bis zu ihrer Wurzel, und die liegt, wie so oft, in der Kindheit der Eltern und in unseren gesellschaftlichen Strukturen.

Aggression ist Teil unserer menschlichen Verhaltensweisen – sie dient unserer Selbstbehauptung.49 In unserer Menschheitsgeschichte half Aggression uns dabei, zu überleben, indem wir lernten, uns bei Gefahren zu verteidigen. Aggression hingegen, die über die reine Gefahrenabwehr hinausgeht, wirkt destruktiv, gegen sich und andere. Wenn mich jemand angreift, anschreit oder misshandelt, hilft mir die Aggression, den Mut zu finden, mich zu wehren. Das zeigt dem anderen, dass er mit seinem Verhalten nicht weiterkommt – ein wichtiger sozialer Regulator, der noch aus unserer vorsprachlichen Frühgeschichte stammt. Das bedeutet: Wenn Eltern ihre Kinder mit Worten verletzen, erzeugen sie nicht nur seelischen Schmerz, sondern auch Wut.50 Kinder weinen auch vor Wut, sie schreien und lassen ihrer Wut freien Lauf, nur um dann erneut dafür bestraft zu werden. Das führt dazu, dass die Wut unterdrückt wird. Diese verdrängte Wut vergiftet die Seele und wirkt noch lange nach – mit oft schlimmen Folgen für das Individuum und für unsere Gesellschaft.

Laut unserem gesellschaftlichen Konsens lehnen wir aggressives Verhalten ab. Also werden aggressive Impulse unterdrückt. Wichtig ist, zu erkennen, dass Erziehung, so wie wir sie bisher verstehen, die also mit den genannten Macht- und Gewaltmitteln arbeitet, genau diese Art von Aggression51 fördert und gleichzeitig von Kindern verlangt, dass sie lernen, die entstehenden Aggressionen zu unterdrücken. Ziemlich paradox, was meinen Sie?

Aus »gut« erzogenen Kindern werden oft Erwachsene mit unterdrücktem Aggressionspotenzial. Das muss sich keineswegs in Form von körperlicher Gewalt zeigen. Unterdrückte Aggression kann sich auf vielen Wegen Bahn brechen, etwa in der sozialen Interaktion durch Konflikte und Beschimpfungen, oder später in der Erziehung der eigenen Kinder. Oder in den sozialen Netzwerken, wo sich durch die legale Anonymität besonders deutlich zeigt, wie explosiv Menschen reagieren, wenn Wut und Mut sich paaren.52

Die meisten von uns haben gelernt, dass physische Gewalt drastisch bestraft werden kann, und wenden sie deshalb nicht an. Bei psychischer Gewalt ist die Hemmschwelle jedoch geringer, denn sie ist viel schwieriger zu beweisen und hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Wir lassen unseren Aggressionen immer da freien Lauf, wo wir keine Konsequenzen zu befürchten haben. Mal ehrlich: Wen schreien Sie schneller an – Ihren Chef oder Ihr Kind? Wut richtet sich oft nicht konkret an ihren Verursacher, sondern gegen jemand, den man als schwächer identifiziert und so zum Opfer macht, einfach aus dem Wunsch heraus, kein Opfer mehr zu sein und selbst Macht auszukosten.

Macht spielt bei den Ursachen für emotionale und psychische Gewalt eine entscheidende Rolle. Wir dürfen nicht vergessen, dass Erwachsene Kindern gegenüber immer in einer Machtposition sind, aus der heraus sie ihre Entscheidungen durchsetzen können. Dieses Machterleben kann für Menschen, die in ihrer Kindheit oder in ihrem sonstigen Leben häufig Gefühle von Ohnmacht erlebt haben oder erleben, berauschend sein. Endlich haben sie die Kontrolle, zwar nicht über sich und ihr Verhalten, aber über Kinder! Woran man selbst gelitten hat, kann auf diese Weise ausagiert werden. Das führt zu einer Entlastung der eigenen verdrängten Verletzungen durch emotionale und psychische Gewalt.53 Möglicherweise fühlt man sich nicht einmal schuldig, weil man nicht merkt, was man tut, und sich sagt: »Ich wurde als Kind immer geschlagen, DAS mache ich mit meinen Kindern ganz sicher nicht.« So wird man möglicherweise blind für andere Formen der Gewalt, die man eventuell ausübt, verdrängt unterschwellige Schuldgefühle und kann das eigene Handeln als gute Erziehung sogar noch positiv umdeuten. Dabei sollten wir jedoch nie vergessen: Alles, was ein Opfer hervorbringt, ist definitiv eine Form von Gewalt.

In der Literatur werden verschiedene Gewaltformen unterschieden. Physische und verbale Gewalt sind Ihnen jetzt schon ein Begriff, aber es gibt auch aktive/passive und direkte/indirekte Gewalt.54 Eine Ausdrucksweise indirekter Gewalt ist unter anderem Mobbing. Passive Aggressivität lebt jemand, der bewusst Abhängigkeit und Schuldgefühle erzeugt. Wie oft fällt auch in Familien gegenüber Kindern der Satz: »Weißt du eigentlich, was ich für dich alles geopfert habe? Du könntest ruhig ein wenig dankbarer sein!« Und wieder trifft ein Wortpfeil die Kinderseele und hakt sich dort fest. Wieso sollte ein Kind dankbar für die »Opfer« seiner Eltern sein – hat es darum gebeten?

Der Sozialpsychologe Albert Bandura hat mit seinen Forschungen immer wieder bestätigt, dass wir anhand von Vorbildern lernen.55 Kinder beobachten Verhaltensweisen und übernehmen sie unter Umständen im Rahmen ihres Sozialisierungsprozesses. Das gilt auch für Aggression. Das Kind lernt, dass Eltern Macht ausüben und dass diese Machtausübung mit einem guten Zweck gerechtfertigt, also erlaubt ist, anders als etwa dem Nachbarskind im Sandkasten die Schaufel auf den Kopf zu hauen. Es erlebt die emotionale und psychische Gewalt im Kontext der Erziehung als verletzend und demütigend, muss aber gleichzeitig akzeptieren, dass die Eltern das nur mit den besten Absichten und aus Liebe tun, weil sie ja gute Menschen sind.56 Ein Kind versteht das zwar nicht, aber es adaptiert dieses Verhalten und saugt es sprichwörtlich mit der Muttermilch in sich ein. Das bedeutet, ein Kind kann diesen Widerspruch nur dann aushalten, wenn es Liebe mit dieser Art von Verhalten in Verbindung bringt und wenn es akzeptiert, dass es so, wie es ist, eben nicht bedingungslos liebenswert ist, sonst würden sich die Eltern ja nicht so verhalten.

Später könnte dieses Kind in einem Setting, in dem Machtausübung und Gewaltanwendung möglich sind, selbst zu diesen Mitteln greifen, also dann, wenn es selbst Kinder hat, aber auch in der Interaktion mit anderen Kindern, die jünger oder schwächer sind. Eigene Gewalterfahrungen psychischer und emotionaler Gewalt und Machterleben sind zwei wichtige Faktoren für die Entstehung von Gewalt in der Erziehung der eigenen Kinder.

Ein weiterer Grund, der zur Gewaltausübung führen kann, sind Stress und Frustration. Ein Viertel aller Mütter berichtet von einer sehr hohen Stressbelastung, nur rund 9 Prozent von einem geringen Stressniveau.57 Eine Umfrage der KKH Kaufmännische Krankenkasse aus dem Jahr 2019 zeigte, dass rund 40 Prozent aller Eltern unter Dauerstress stehen – Finanzen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Alltagssorgen. Erziehung und die Betreuung der Kinder stellen mit 41 Prozent den größten Stressfaktor dar.58

Eine andere Studie belegt, dass elterlicher Stress, kindliches Problemverhalten und problematische Erziehungsmethoden in einer unheilvollen Wechselwirkung zueinander stehen.59 Eltern, die gestresst sind, erklären das Verhalten ihrer Kinder häufiger als problematisch, weil sie keine Ressourcen mehr haben, um auf die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Kinder angemessen zu reagieren. Kommt es dann zu Problemen, zeigen Eltern häufiger Erziehungsmethoden, die psychische, emotionale und körperliche Gewalt beinhalten. Sie sind schlicht und ergreifend überfordert, was ihr Verhalten nicht rechtfertigt, wohl aber eine Erklärung dafür liefert.

Aggression und Stress stehen in direktem Zusammenhang. Unter Stress sinkt die Frustrationstoleranz, es kommt häufiger zu unüberlegten, gereizten Handlungen und auch zu emotionalen Ausbrüchen.60 Wer den ganzen Tag im Job unter Strom steht und versuchen muss, Haushalt, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen, den kann bereits das Quengeln eines Kindes an den Rand der Belastbarkeit bringen. Die Reizverarbeitung wird überfordert, das emotionale Fass läuft über, und so werden Kinder zum Ventil, einfach, weil sie da sind, weil sie schwächer sind – und weil es viel einfacher ist, ein Kind anzubrüllen, als sich mit sich selbst auseinanderzusetzen! Aggressionen in Form von Beschimpfungen, Schuldzuweisungen, Vorwürfen oder Anschreien machen dann dem Druck, der sich durch den alltäglichen Stress in Eltern aufgebaut hat, machtvoll Luft.

Ein Blick über den Tellerrand: Erziehung in indigenen Gesellschaften

Die Journalistin Michaeleen Doucleff wollte erkunden, welche wesentlichen Unterschiede es in den Erziehungsstilen westlicher Industrienationen und denen traditioneller indigener Gesellschaften gibt. Dazu reiste sie zu den Maya nach Mexiko, den Inuit nach Alaska und den Hadza nach Tansania.61 Sie stellte fest, dass dort wesentliche Aspekte dessen fehlen, was wir gemeinhin als gute Erziehung betrachten.

Zunächst setzen die von Doucleff betrachteten indigenen Kulturen vor allem auf eine starke Bindung zu ihren Kindern. Diese werden lange umhergetragen und oft gestillt, bis sie drei oder vier Jahre alt sind. Statt auf Angst und Demütigung setzt man auf Vertrauen und Kooperation und darauf, individuell auf Bedürfnisse zu reagieren, anstelle nach vorgegebenen Standards zu handeln. Es zeigt sich: Aus diesen Kindern werden sehr früh selbstverantwortliche Individuen, die sowohl mit einem starken Selbstbild als auch mit einem Gemeinschaftssinn ausgestattet sind. Aggressionen sind ihnen meist fremd und werden nur in bestimmten Zusammenhängen, etwa im Krieg, auf der Jagd oder in bestimmten Ritualen ausgelebt.

Lenken wir unseren Blick aus der Ferne zurück auf unsere Kultur. Welchen Common Sense leben wir? Vermutlich kennt jede Mutter den gut gemeinten Rat, sie müsse sich jetzt aber auch wirklich einmal gegen das Kind durchsetzen, sonst werde sie, weil sie das Kind verzieht, noch ernsthafte Probleme bekommen.

Kinder sollen einfach nicht permanent ihre Bedürfnisse anmelden und die ohnehin schon arg überforderten Mütter damit tyrannisieren. Sie erinnern sich – als Gesellschaft leben wir ja noch immer mit dem Bild von dem Kind, das erzogen werden muss. Und da kommen wir zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt: Unsere Art der Erziehung ist eine kulturelle Institution. Wir haben sie entwickelt, sie in der Breite der Gesellschaft noch immer nicht grundlegend reflektiert und uns nicht gefragt, ob sie überhaupt noch zeitgemäß ist. Ob sie es je war und ob sie das, was wir uns als Gesellschaft für unsere Kinder wünschen, nämlich, dass sie zu starken und gesunden Erwachsenen heranwachsen, überhaupt leistet.

Vielmehr bleiben viele Erwachsene noch den Grundsätzen einer autoritären Erziehung verhaftet, die kein starkes Individuum hervorbringen will, sondern ein unterdrücktes Selbst, das sich anpasst.

Eltern wollen ihren Kindern den Lebenserfolg sichern, sie wollen glückliche Kinder, die gut in der Schule und erfolgreich im späteren Leben sind. Wenn sich die Kinder dafür nicht verbiegen müssen, ist das auch vollkommen okay. Leider erlebe ich in meinen Entwicklungsberatungen viel zu oft Kinder, die extrem leiden, weil sie den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht werden können und dafür bestraft werden. Plötzlich will ein Kind nicht mehr in die Kita, alle fragen sich, warum. Wenn ich mit Eltern und Kind den Dingen auf den Grund gehe, stellt sich oft heraus, dass Kinder in der Kita bestraft werden und deshalb nicht mehr hinwollen. Die »Konsequenz« so mancher Erzieherin, einem weinenden Kind Schnuller und Kuscheltier zu verweigern, weil beides nur beim Schlafen benutzt werden darf und die dreijährige Zoe schließlich und endlich mal lernen muss, sich an gewisse Regeln zu halten, stärkt Kinder nicht – im Gegenteil, es setzt sie unter Druck bzw. verweigert ihnen altersangemessene Möglichkeiten der Selbstregulation.

Die Beschäftigung mit manchen indigenen Gesellschaften kann uns zum Nachdenken anregen. Sie legen besonders viel Wert auf die Stärkung des Selbst, weil ihre Gemeinschaften am meisten von den Stärken der Einzelnen profitieren. Wir könnten auch dafür sorgen, dass Kinder mehr gestärkt werden, wenn wir den Druck auf Familien verringern. Aber wir lassen es leider zu, dass Kinder zu Ventilen für den Erziehungsstress werden, den wir Familien permanent zumuten und den sich Familien vor allem auch selbst zumuten. In meinen Fortbildungen mit Erzieherinnen lege ich größten Wert darauf, immer wieder zu reflektieren, was Kinder wirklich brauchen, was Eltern sich für ihre Kinder wünschen und vor allem, warum so viele Eltern so wenig gelassen sind und deshalb noch immer so streng und hart erziehen – das ist der negative Sinn von Erziehung, von dem ich im ersten Kapitel gesprochen habe. Erziehung im positiven Sinn IST Beziehung – nicht mehr, aber auch nicht weniger, und Gewaltfreiheit ist möglich, wenn Erwachsene mit sich selbst in Beziehung gehen –, das kann sehr schmerzhaft sein, aber es lohnt sich und bringt uns alle weiter.

Resilient trotz emotionaler und psychischer Gewalt?

Können Sie sich noch an die schrecklichen Bilder Anfang der 1990er-Jahre aus Rumänien erinnern? Journalisten fanden damals tausende verwahrloste und vernachlässigte Kinder, die unter dem Diktator Nicolae Ceaușescu in Kinderheime gesperrt und dort unter schrecklichen Bedingungen sich selbst überlassen wurden. In der Folge zeigte sich, dass diese Kinder nicht nur geistig zurückgeblieben waren, sondern auch nur zu einem sehr eingeschränkten emotionalen Erleben in der Lage waren.62 Die furchtbaren Erfahrungen ihrer Kindheit haben sie für immer geprägt.

Kinder, die emotionale Gewalt oder Vernachlässigung erfahren, bleiben häufig in ihrer Entwicklung zurück und zeigen vor allem im Zusammenhang mit ihrem präfrontalen Kortex im Gehirn Reifungsstörungen, die ein ganzes Leben lang anhalten können. Sie haben in erster Linie Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen zu regulieren.63 Wie sich emotionale und psychische Gewalt langfristig auswirken, ist schwer vorhersehbar, denn dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Das bedeutet auch, dass nicht jedes Kind schwere und dauerhafte Folgen befürchten muss, wenn es Gewalt erleidet. Es kommt auf das Alter des Kindes an, sein Umfeld, von wem die Gewalt ausgeht, wie lange sie andauert und wie schwerwiegend sie ist. Eine Rolle spielt auch etwas, das Forscher als Resilienzfaktoren bezeichnen, sogenannte psychische Abwehrkräfte, die uns helfen. Wie stark diese Resilienz ausfällt, ist individuell unterschiedlich und hängt von vielen weiteren Aspekten ab. Sicher ist: seelische Verletzungen schwächen den gesamten Organismus und das Immunsystem. Sie erinnern sich: Weiter oben habe ich Forschungen geschildert, die belegen, dass Kinder, die emotionale Gewalt erfahren haben, im Hirnscan ein kleineres Wachstum des Hippocampus aufweisen, also in jenem Bereich, der für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Diese Kinder sind deshalb anfälliger für Stress – und für weitere Kränkungserfahrungen durch andere, etwa durch zukünftige Partner, weil sie nicht gelernt haben, ihre Gefühle ernst zu nehmen und auszudrücken und unangenehme Gefühle als Warnungen verstehen. Diese Warnungen lösen Stress aus, und Stress macht aggressiv. Und besonders bedrückend – nicht nur ihre psychischen, sondern auch ihre physischen Abwehrkräfte sind geschwächt.64

Vor allem das Herz, das Organ, das wir mit Liebe in Verbindung bringen, wird durch emotionalen Missbrauch geschädigt. Die Arterien verkalken schneller, und Betroffene haben ein größeres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben.65 Man könnte es auch so ausdrücken: Ein kleines Herz, das zu oft zu früh misshandelt wurde, hört früher auf zu schlagen. Es geht noch weiter. Die Entzündungswerte sind bei misshandelten Menschen häufig erhöht, was zu Übergewicht und anderen chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, führen kann. Mittlerweile zeigen viele Studien, dass emotionale Gewalt die gleichen Folgen hat wie körperliche Gewalt.66 Eine in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2017 durchgeführte Untersuchung der Universität Leipzig konnte belegen, dass Kinder, die unter emotionaler Gewalt leiden, ein erhöhtes Cortisollevel haben – der psychische Stress, unter dem sie stehen, ist also körperlich messbar.67

Ich empfinde es als untragbar, dass wir immer noch eine Pädagogik dulden, die zu Mitteln emotionaler und psychischer Gewalt greift. Denn genau dieser Umgang mit Kindern stört und beschädigt die Bindung zwischen Kind und Bezugspersonen und kann zu einem Bindungstrauma führen. In der Folge ist das Kind, auch später als Erwachsener, häufig nicht in der Lage, sichere und stabile Bindungen zu anderen aufzubauen. Diese Menschen sind oft misstrauisch, vermeiden Beziehungen oder geraten immer wieder in sehr konfliktbehaftete Beziehungen. Angstzustände, Selbstzweifel, Drogensucht, aggressives Verhalten, selbstverletzendes Verhalten, Depressionen, Suizidgedanken, Essstörungen und Identitätsprobleme bis hin zu Persönlichkeitsstörungen können die Folge von emotionaler und psychischer Gewalt sein.68 Auf diese Zusammenhänge zwischen emotionaler Gewalt, gesundheitlichen Folgen und Bindung komme ich im Kapitel »Seelenprügel« genauer zu sprechen. Ob und in welchem Ausmaß diese gesundheitlichen Folgen auftreten, ist individuell unterschiedlich. Umso wichtiger ist es daher, Schutzfaktoren zu generieren und den Kindern zu Hause und in Bildungsinstitutionen zur Verfügung zu stellen. Kinder sind abhängig von Nähe, Zuwendung und stabilen Bindungen.69 Ist das gegeben, können Kinder auch potenziell stressige Erfahrungen wie eine Trennung der Eltern, Armut, Schulprobleme und Migration gut meistern. Diesen Anspruch an gute Bindung sollten auch Kitas und Schulen erfüllen. Davon sind wir derzeit allerdings weiter entfernt als von der Besiedelung des Mars.

Wissenschaftliche Ergebnisse, die in diesem Zusammenhang Hoffnung geben, liefert die berühmte Kauai-Studie, in der die Psychologin Emmy E. Werner 698 Männer und Frauen über mehrere Jahrzehnte begleitete und ihre Entwicklung beobachtete. Viele von ihnen waren von Armut, Ausgrenzung und den Folgen der Kolonialisierung betroffen. Doch diejenigen, in deren Leben es mindestens eine Person gab, die sich zuverlässig und liebevoll um sie kümmerte – häufig war es die Großmutter –, konnten mit diesen Belastungen sehr viel besser umgehen als die anderen. Wem diese wichtige Bindungsperson fehlte, der litt sehr viel häufiger an Alkoholsucht, starb früher und führte ein unglücklicheres Leben.70 Die Kauai-Studie gilt als bahnbrechend im Zusammenhang mit dem, was Kinder resilient macht. Ich bin daher der Meinung, man sollte Kinder und großherzige, liebevolle Großeltern ohne Erziehungsanspruch wieder viel mehr zueinanderführen, damit schützende Beziehungen ihre volle Tragkraft entwickeln können – denn das funktioniert auch hierzulande, nicht nur auf Hawaii. Und auch nicht nur mit Großeltern, sondern ebenso mit anderen verlässlichen Bezugspersonen.