Emotionale Gewalt ist institutionell veranlagt – es ist höchste Zeit für Veränderungen.
In meinem Buch Seelenprügel beschreibe ich das Ausmaß psychischer Gewalt, deren Zeuge ich bei meinen Besuchen in über 500 Kitas geworden bin. Dieses Buch musste geschrieben werden.134 Es hat sich mir förmlich aufgedrängt, so allgegenwärtig waren und sind Beschimpfungen, Drohungen, Demütigungen, Zwang, Erpressung, Manipulation, Ablehnung, Zurückweisung und Vernachlässigung in pädagogischen Einrichtungen. Kitas und Schulen sind alles andere als sichere Orte für das Seelenleben und die Entwicklung von Kindern. Dieses Buch war der endgültige Bruch eines Tabus, um den Blick auf einen Bereich zu lenken, bei dem wir uns als Gesellschaft viel zu viele Ambivalenzen erlauben.
Einerseits ist es uns ein Anliegen, Kinder so wohlbehütet und optimal gefördert wie nur möglich aufwachsen zu lassen. Andererseits wollen wir als Individuen und Gesellschaft, dass beide Elternteile möglichst früh die Gelegenheit haben, wieder arbeiten zu gehen, sowohl aus Gründen der Selbstverwirklichung als auch der wirtschaftlichen Notwendigkeit. Von einem Gehalt allein kann heute kaum noch eine Familie überleben, und selbst mit zweien ist es oft noch mehr als herausfordernd. Gleichzeitig wissen wir, dass eine frühe Fremdbetreuung für Kinder nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken birgt. Es kann zu Bindungsabbrüchen135 kommen, zu den bereits beschriebenen Entwicklungstraumata und auch zu Erfahrungen psychischer Gewalt. Das hat sowohl etwas mit den charakterlichen Eignungen pädagogischer Vorbilder als auch mit der Struktur von Institutionen wie Kitas und Schulen zu tun.
Oft fehlt es an gut ausgebildetem Personal und auch an räumlichen und finanziellen Ressourcen. Die Fachkräfte, die grundsätzlich mit einem hohen pädagogischen Anspruch antreten, werden schnell aufgerieben in einem System, das von allen viel zu viel verlangt und im Gegenzug viel zu wenig offeriert. So werden Kinder, auch die kleinsten, in vielen Fällen eher verwahrt als gut betreut oder gar liebevoll begleitet, und das nicht selten über den Großteil des Tages. Der Streit über die Fremdbetreuung ist so alt wie die Berufstätigkeit der Frau, doch ich möchte den Fokus weg von den Eltern hin zu den Institutionen und der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung lenken.
Eine Erhebung aus dem Juni 2021 zeigt, dass in deutschen Kitas ein Mangel von 173.000 Erzieherinnen herrscht.136 Aufgrund der akuten Unterbesetzung ist es keine Seltenheit, dass nur eine Fachkraft für 17 Kinder und mehr auf einmal zuständig ist. Wer einmal mehr als ein Kind zwischen drei und sechs Jahren – die Krippengruppen gar nicht erst zu erwähnen – betreut hat, weiß, dass es schlicht unmöglich ist, bei dieser Menge an Kindern jedes einzelne von ihnen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, auf individuelle Bedürfnisse und Gefühle einzugehen. Das Beste, was unter solchen Umständen machbar ist, ist bloße Verwahrung. Förderung oder empathische Interaktionen sind nicht in einem sinnvollen Ausmaß möglich. Hinzu kommt, dass Erzieherinnen schlecht bezahlt werden und unter enormem Stress stehen, der sich auch daraus ergibt, dass ihnen immer mehr Aufgaben aufgebürdet werden. Nach allem, was Sie nunmehr über den Zusammenhang von Stress und seelischer Gewalt wissen, fällt es Ihnen sicher leicht, sich vorzustellen, wie schnell es in einem solchen Umfeld geschehen kann, dass seelische Gewalt an Kindern infolge von Stressreaktionen an der Tagesordnung ist.
Dazu kommt, dass Kitas abgeschlossene Räume sind. Die Bereitschaft, unter Kollegen gegenseitig achtsam zu sein und sich jeweils zu sagen, wenn man eventuell gewaltvoll mit Kindern umgeht, ist eher gering, da man ja aufeinander angewiesen ist. Den Kindern selbst fehlt es an Möglichkeiten, über das zu berichten, was sie an belastenden Erfahrungen machen. Manche Eltern wollen, auch das gehört zur bitteren Wahrheit, oft nicht hinsehen, weil ihnen der faule Kompromiss zwischen Berufstätigkeit und unbefriedigender Fremdbetreuung unter den gegenwärtigen Umständen durchaus bewusst ist, sie ihn aber lieber verdrängen.
Seelische Gewalt in Kitas hat viele Gesichter. Es kann der Zwang zum Mittagessen oder zum Mittagsschlaf sein, der Drill, der sich unweigerlich ergibt, wenn der Alltag so vieler hilfsbedürftiger junger Menschen institutionell organisiert werden muss. Hinzu kommt die Unberechenbarkeit der kindlichen Entwicklung. Kinder sind eben auch schon Individuen. Die einen spielen möglicherweise friedlich, die anderen möchten Aufmerksamkeit, tragen Konflikte aus oder haben mit anderen Herausforderungen zu kämpfen, für die sie die Begleitung eines Erwachsenen bräuchten. Aber genau die ist in zu vielen Fällen nicht verfügbar, weil die Anforderungen an das Personal zu hoch sind und auch, weil das Bewusstsein für seelische Gewalt oft noch fehlt. Letzteres stelle ich bei meinen Seminaren mit pädagogischen Fach- und Ergänzungskräften immer wieder fest. Die typischen Erziehungsmärchen, die bis heute in den Köpfen mancher Eltern wirken, finden sich teilweise auch noch bei jenen Menschen, die beruflich mit jungen Kindern arbeiten. Man könnte annehmen, es beträfe nur diejenigen, deren Ausbildung länger zurückliegt. Aber auch einige der Jüngeren arbeiten zum Teil mit Überzeugungen, mit denen sie die Entstehung psychischen Missbrauchs tendenziell eher begünstigen statt verhindern. Dazu kommt die räumliche und organisatorische Struktur vieler Kitas. Für freies Spiel, draußen, in der Natur, steht viel zu wenig Zeit zur Verfügung. Vielmehr werden die Kinder in engen Räumen zusammengepfercht und sollen dann möglichst auch noch mit allerlei unterrichtsähnlichen Aktivitäten auf den Schulbesuch vorbereitet werden.137 Aber gerade dieses freie Spiel ist grundlegend für die Entfaltung als Mensch, es ist die Basis, auf der unsere kommunikativen, kreativen und intellektuellen Fähigkeiten entstehen.
Sehen wir uns die Schulen näher an, wird die Lage noch dramatischer. Neben teilweise schlecht auf den schulischen Alltag vorbereiteten Lehrern und viel zu großen Klassen gibt es den institutionell gewollten sozialen Selektionsdruck in Form von Noten, Schulformen und ein überaus rigoroses System, das Kinder vor allem als defizitäre Wesen betrachtet, die ständig überwacht und in die Spur gebracht werden müssen. Dagegen kann auch die persönliche Haltung der Lehrenden oft nur wenig ausrichten. Obwohl es inzwischen viele Pädagogen gibt, die eigentlich gerne anders unterrichten wollen, das System ist mächtiger – die rigiden Vorgaben lassen nur wenig Spielraum. Die Lehrpläne, Vorschriften und Notenvorgaben sind starr, auch Lehrende müssen in diesem System vor allem ihre Rolle erfüllen und können weniger pädagogischen Motiven nachgehen, die am Anfang ihrer Berufswahl gestanden haben mögen. Schulen sind noch immer Einrichtungen, deren Produkt möglichst funktionierende und sozial angepasste Individuen sein sollen, bereit für die Verwertung auf dem Arbeitsmarkt. Eine wirkliche Vorbereitung auf das Leben im 21. Jahrhundert mit beispielsweise Achtsamkeitstrainings, Medien- und Konfliktlösekompetenzen oder gar eine individuelle Förderung entlang unterschiedlicher Fähigkeiten findet nicht statt und wenn, dann nur als Beiprodukt oder in extraschulischen Aktivitäten.
Lehrpläne, die nach überalterten pädagogischen Vorgaben arbeiten oder aber immer wieder ungenügend fundierte Methoden wie das »Schreiben nach Gehör« einführen, nur um es wenige Jahre danach wieder abzuschaffen, sorgen für Verwirrung und für eine wachsende Zahl an Kindern, die mit dem System Schule nicht mehr zurechtkommen. Statt diese Warnsignale ernst zu nehmen, werden die Kinder pathologisiert. Die Zahl der Diagnosen von ADHS, Autismus oder den oft absichtlich weit gefassten Wahrnehmungsstörungen nimmt ab der ersten Klasse sprunghaft zu.138 Auch, weil die Lehrer dann im Rahmen des neuen Inklusionsansatzes darauf hoffen können, eine Integrationskraft als Hilfslehrer zugeteilt zu bekommen und so ein wenig Hilfe im Umgang mit Klassen haben, die nicht selten dreißig Kinder umfassen. Kinder mit unterschiedlichem Lernstand, sehr diversen Lebenswelten und vor allem individuellen Interessen, die an die Oberfläche drängen, können so leicht zu Störfaktoren werden, auf die dann nicht selten mit subtiler oder direkter institutioneller, verbaler und psychischer Gewalt reagiert wird. In meinen Beratungen berichten mir verzweifelte Pädagogen, dass es nicht möglich ist, auf alle Kinder einzugehen, und dass sie, wenn sie mit den Nerven am Ende sind, auch laut werden und Kinder anschreien, damit der Alltag einigermaßen funktioniert und Ruhe im Klassenzimmer ist. Kinder erzählen, sie fühlen sich ungerecht behandelt und glauben, ihre Lehrerin mag sie nicht. Eltern sind oft ratlos, weil sie aus Angst, dass ihr Kind es ausbaden muss, nicht den Mut aufbringen, ein offenes Gespräch mit der Lehrkraft zu führen.
Als wäre das alles nicht genug, gibt es zusätzlich Diagnosen, die einem Kind das Gefühl geben, »mit dir stimmt etwas nicht« – auch das ist emotionale Gewalt, die von einem dringend reformbedürftigen System an ihnen verübt wird. Das geschieht oft nur deswegen, um institutionelle Defizite zu verdecken. Wie sonst ist zu erklären, dass sich immer mehr junge Kinder in Therapie befinden und entsprechende Diagnosen haben? Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, 104 Prozent mehr als im Jahr 2009.139
Von Diagnosen bis zur Verschreibung von Medikamenten ist es nicht mehr weit, obwohl es vielfach schlicht das Umfeld ist, welches das als problematisch empfundene Verhalten der Kinder erzeugt.
Wann haben Sie zuletzt in einem Raum mit dreißig anderen Menschen und den dazugehörigen Geräuschen und Gerüchen versucht, sich etwas zu merken? Wie gut können Sie sich stundenlang konzentrieren, wenn sogar der Toilettengang reglementiert wird und jedes Gespräch mit Ihrem Sitznachbarn einen Tadel erzeugt?
Starre Lehrpläne und ein Fokus auf den Transfer von Fakten statt der wirklichen Vermittlung von Inhalten in Verbindung mit der Abwertung, die in jedem Notensystem steckt, sorgen für ein Klima, in dem sich viele Kinder nicht wohlfühlen und rebellieren. In einem solchen Klima gedeihen Abwertung und Bevorzugung, nicht nur durch Mitschüler, sondern auch durch die Lehrenden selbst. Das hinterlässt Spuren, nicht nur bei den Kindern. Eine breit angelegte Studie aus dem Jahr 2014 zeigte, dass rund 60 Prozent aller Lehrer am Rande eines psychischen oder physischen Zusammenbruchs stehen. Sie sind die Berufsgruppe mit der größten Zahl an psychosomatischen Krankheiten.140 Lehrende stehen unter hohem Druck – und geben ihn teilweise auch an die Kinder weiter.
Doch nicht die Lehrenden per se machen die Schule zu einem kinderfeindlichen System. Es sind vielmehr die Rahmenbedingungen und Grundsätze, nach denen Schule funktioniert. Der allgegenwärtige Vergleich mit Gleichaltrigen etwa setzt die Kinder einer belastenden Konkurrenzsituation aus, der sie nicht entkommen können. Mobbing und Schulangst wachsen und gedeihen in diesem Klima. Für individuelle Lernwege bleibt kein Platz, der Begriff der Bildung wird auf reine Wissensvermittlung reduziert, für Herzensbildung und individuelles, interessenbasiertes Lernen bleibt keine Zeit.
Fluten von Hausaufgaben lassen Kindern nur wenig Möglichkeit zur Erholung. Nicht wenige müssen am Nachmittag zusätzliche Nachhilfeangebote in Anspruch nehmen, um überhaupt mithalten zu können. Von ihren Eltern können sie oft nur wenig Verständnis erwarten, denn in den letzten Jahren hat sich dem Gefühl nach die Besessenheit vom Gymnasium als sozialem und einzigem Heilsversprechen noch verstärkt. Anders ausgedrückt: Wessen Kind es nicht auf das Gymnasium schafft, der hat versagt!
Die Freizeit und damit vielfach auch die Kindheit laufen zunehmend Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Der Leistungsdruck wird internalisiert, um ihn aushalten zu können. Auch kommt es immer wieder zu dramatischen Streitigkeiten innerhalb der Familie mit Vorwürfen und Abwertungen, die an das Kind gerichtet werden, dem man Faulheit unterstellt. »Die anderen kriegen das doch auch hin, du musst dich nur mehr anstrengen!« Wie viel subtile, aber pfeilschnelle und schmerzende Gewalt in diesem Satz steckt, lässt sich auch mit dem Abstand eines erwachsenen Selbst noch gut nachempfinden.
Wirkliche Partizipation und auch das Versprechen von Inklusion bleiben häufig reine Lippenbekenntnisse, weil sie sich organisatorisch nicht umsetzen lassen. Inklusion heißt eben nicht, einem Kind mit einer bestimmten Einschränkung einfach ein anderes Arbeitsblatt zu geben und es ansonsten sich selbst zu überlassen. All das bedeutet, dass Kinder im System Schule mitmachen müssen, ohne das Gefühl zu haben, auch nur ein kleines bisschen mitgestalten und beeinflussen zu können. Das demotiviert und frustriert und erzeugt sogenannte »Problemkinder« oder »Schulversager«, die dann rasch aussortiert werden, damit sie den Betrieb nicht stören.
Unbestritten ist, dass Kinder aus benachteiligten Familien von einer guten Fremdbetreuung profitieren. Das belegen zahlreiche Studien.141 Doch dieser Vorteil hängt eben von der Qualität der Betreuung ab, er ergibt sich nicht aus der Betreuung an sich. Kinder, die nur institutionell verwahrt werden, profitieren nicht. Immer wieder wird dann auf den Erwerb sozialer Fähigkeiten verwiesen, die Kinder angeblich nur in Kitas lernen, doch dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich nicht haltbar. Kinder brauchen Kinder,142 das ist richtig, aber das Zusammentreffen mehrerer Kinder muss nicht zwingend in einer Institution stattfinden. Das Sozialverhalten von Kindern hängt entscheidend davon ab, was sie in ihren Herkunftsfamilien erleben, nicht von der Interaktion mit Gleichaltrigen.
Tatsächlich erzeugt schlechte Betreuung gerade in den ersten Lebensjahren sogar mehr Verhaltensauffälligkeiten, statt diese zu verhindern.143 Festzustellen ist, dass Kindheit heute zunehmend die Abwesenheit der Eltern bedeutet. Viele Kinder erfahren den größten Teil der Welt und sich, während sie in der Kita und später in der Schule sind. Der Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder nehmen können, wird allein durch die gemeinsame Zeit begrenzt. Welche Folgen das auf die kindliche Entwicklung und das erwachsene Selbst hat, ist noch nicht ausreichend erforscht und wird sich vermutlich erst in ein paar Jahren zeigen. Letztlich müssen sich vor allem bedürfnisorientierte Eltern vor Augen halten, dass, ganz egal, welche Werte sie leben, sie diese zwar zunehmend auch in den Konzeptionen der Kitas und den Lehrplänen der Schulen wiederfinden, nicht aber in der praktischen Umsetzung. Im schlimmsten Fall heißt das, dass Kinder zu Hause zwar einen sicheren, geborgenen Rahmen vorfinden und in den pädagogischen Einrichtungen vermeintlich scheitern, weil sie gelernt haben, eine Stimme zu haben und für sich einzustehen – also rebellieren, auffällig werden, aussortiert und am Ende pathologisiert werden, nur weil sie stark sind.
Die Neurobiologie hat längst gezeigt, dass Lernen nur dann gelingt, wenn wir durch positive Beziehungen zu anderen dazu motiviert werden.144 Diese sogenannten Spiegelungs- und Resonanzvorgänge kommen im pädagogischen Alltag, wie er derzeit gestaltet wird, viel zu kurz. Selbst wenn Erziehende und Lehrende die Absicht haben, diese Erkenntnisse in ihre Arbeit zu integrieren, lassen ihnen die institutionellen Rahmenbedingungen oft viel zu wenig Raum dafür. Sie können gar nicht anders, als Kinder in Kategorien wie »normal« und »schwierig« einzusortieren und die Kinder das entsprechend spüren zu lassen. Das ist emotionale Gewalt.
Der Terminus »normal« wird in diesem Zusammenhang definiert als Fähigkeit, sich anzupassen, den institutionellen Anforderungen gerecht zu werden und eigene Bedürfnisse zu unterdrücken. Wem das nicht gelingt, dem begegnen Ablehnung und Abwertung, was für das Selbstbild katastrophale Folgen haben kann. Das Kind wird die Überzeugung verinnerlichen, nicht gut genug zu sein, und so, wie es ist, nicht angenommen zu werden. Kinder suchen sich dann Fluchtmöglichkeiten, durch Tagträumereien, Computerspiele oder andere Beschäftigungen, die ihnen positives Feedback geben. Sie hadern mit sich selbst und entwickeln kein Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Ressourcen. Ein abgelehntes Kind wird die Welt als einen feindlichen Ort erleben und sich mehr und mehr auch so verhalten – ein Teufelskreis, aus dem zu entkommen in späteren Jahren sehr schwierig ist.145 Offen bleibt dann nur, ob dieser Mensch den daraus entstehenden Frust in Resignation, Selbsthass oder in direkte Aggression verwandelt. Dass viele Kinder scheinbar ohne diese Folgen von der Schule abgehen, ist kein Beweis des Gegenteils, denn die Auswirkungen zeigen sich häufig erst im Laufe des Lebenswegs, wenn der Übergang in Ausbildung oder Beruf scheitert oder sie mit mentalen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, für die es zunächst keine Ursache zu geben scheint.146
Das System Schule, so wie es jetzt ist, bringt Menschen hervor, die durch den institutionellen Zwang in unterschiedlichem Maße beschädigt werden und sich anschließend schwertun, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden oder sich selbst zu akzeptieren. Viele sogenannte gescheiterte Biografien junger Menschen gewinnen so eine ganz andere Bedeutung. Nicht sie sind gescheitert, sondern wir als Gesellschaft haben in der Aufgabe versagt, sie auf das Leben vorzubereiten und zu integrieren. Wer erfolgreich den Übergang zu Universität oder Berufstätigkeit schafft, der leistet das häufig trotz der prägenden schulischen Erfahrungen, nicht wegen diesen. Die Langzeitfolgen, die Sie aus dem ersten Teil des Buches kennen, können ein Leben dominieren – all das muss aber nicht sein, wir können es ändern!
Umfragen zeigen, dass rund 80 Prozent aller Eltern ihre Kinder privat betreuen und unterrichten lassen würden, wenn sie es sich leisten könnten.147 Das bedeutet, dass immer mehr Menschen, vor allem mit hohem Einkommen, ihre Kinder vorrangig in private Institutionen geben148 und dadurch selbst wenig Erfahrung mit staatlichen Einrichtungen haben. Das müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, wenn es um die staatliche Unterstützung für Kitas und Schulen sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen geht. Solange Eltern und Lehrer keinen politischen Druck ausüben, wird sich wenig ändern und die gesellschaftliche Spaltung auch auf der Bildungsebene fortschreiten.149 Die Hoffnung, dass sich dieses System von oben nach unten selbst reformiert oder die Politik sich das Problem auf die Agenda schreibt, ist eine Illusion auf Kosten der psychischen Unversehrtheit unserer Kinder.
Die Antwort kann jedoch nicht lauten, dass ein Elternteil, vorrangig wieder die Mütter, zu Hause bleiben muss und die Betreuung übernimmt. Auch bei den Schulen sieht es heute so aus, dass die Kinder, mit denen ein Elternteil am Nachmittag üben und Inhalte vertiefen kann, einen eklatanten Vorteil150 gegenüber Kindern haben, die auf sich alleine gestellt sind. So verfestigen sich Herkunftsdeterminationen – der soziale Aufstieg wird für viele Kinder aus ärmeren oder bildungsfernen Schichten immer schwerer und über die Hälfte der Eltern in Deutschland sind mit dem Schulsystem unzufrieden.151
Private Kitas und Schulen können sich den Luxus kleiner Klassen und damit des individuellen Lernens leisten. Hier ist oft mehr Platz für die jeweiligen Bedürfnisse und Fähigkeiten einzelner Kinder, auf sie kann eingegangen und Rücksicht genommen werden. In meinen Beratungen, in denen es überwiegend um freudvolles, erfolgreiches und nachhaltiges Lernen geht, rate ich verzweifelten und finanziell gut gestellten Eltern oft zu einem Kita- oder Schulwechsel, denn nach meiner Beobachtung erfahren sowohl Kinder als auch Eltern in privaten Einrichtungen sehr viel häufiger die notwendige Resonanz für erfolgreiches Lernen und sind in der Folge auch tatsächlich erfolgreicher. Für alle anderen bleibt der harte Kampf um seelische Integrität und den Erhalt der eigenen Würde in einem System, das auch aufgrund der Rahmenbedingungen wie Raum- und Personalmangel gerade darauf keine Rücksicht nehmen kann und zuweilen auch nicht möchte. Nicht, weil es nicht möglich wäre, das zu ändern, sondern weil wir es uns als Gesellschaft einfach nicht leisten wollen, Kitas und Schulen zu menschenfreundlichen Institutionen zu machen, aus denen Kinder nicht nur möglichst unbeschadet, sondern gestärkt und auf das Leben vorbereitet hervorgehen. »Friss oder stirb«, der Ausdruck ist in diesem Zusammenhang nicht zu drastisch gewählt. Diese Mentalität entfaltet eine starke Wirkung in den Seelen jener, die ihr ausgeliefert sind. Nur, weil wir das als Normalität erachten, was wir häufig selbst als Kinder und Schüler erlebt und überlebt haben, heißt das nicht, dass diese Art der Pädagogik angesichts des aktuellen Forschungsstands, der belegt, dass die Basis für Bildung gelingende Beziehungen152 sind, nicht dringend zu reformieren und mit anderen Ressourcen auszustatten ist. Auch und gerade, weil wir angesichts intensiver globaler Herausforderungen wie unter anderem der Digitalisierung darauf angewiesen sind, nicht nur eine kleine Elite junger Menschen hervorzubringen, die auf sich selbst und ihre innovativen Fähigkeiten vertrauen, sondern wirklich alle mit auf die Reise in die Zukunft nehmen müssen.
Die helfende Hand –
aus meinem Beratungsalltag
Ein Großteil meines Lebens besteht in der Beschäftigung mit Gewalt, die durch pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen ausgeübt wird. Darüber habe ich das Buch Seelenprügel geschrieben. Ich stelle in diesem Buch anhand zahlreicher und zum Teil sehr drastischer Beispiele dar, wie viel Gewalt viel zu viele Kinder in Kitas erleiden, und zeige Wege auf, was wir alle dagegen tun können. Hand auf mein Herz – es ist eine mühsame und langwierige Angelegenheit, doch ich werde nicht müde, weil unsere Kinder es einfach wert sind. Meine helfende Hand, die ich Ihnen an dieser Stelle anbiete, besteht darin, Ihnen Mut zu machen und Sie zu bitten: Reden Sie – machen Sie den Mund auf und beziehen Sie Stellung, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind in Kita oder Schule nicht gut aufgehoben ist. Schauen Sie genau hin, achten Sie auf Signale Ihres Kindes, vertrauen Sie Ihrem Gefühl und wagen Sie es, Kritik am System oder an einzelnen Pädagogen anzubringen. Ich spreche mit vielen Eltern und Pädagogen und höre viel zu häufig, dass sie sich nicht trauen, beobachtetes Fehlverhalten anzusprechen, weil sie Sanktionen befürchten. Bitte seien Sie ein Teil der Veränderung. Auch in Kitas und Schulen machen Menschen Fehler, aber speziell an diesen Bildungsorten brauchen sie die Haltung, den Willen, die Kompetenz und das Durchhaltevermögen, gewaltfrei zu agieren.
Das von mir häufig beobachtete und in Gesprächen auch bestätigte Schweigen steht übrigens in einem krassen Widerspruch zu den Meldungen, Eltern würden heute beim kleinsten Anlass Kitas und Schulen verklagen. Die meisten Eltern halten einem Scheinfrieden zuliebe still – Sie auch? Und wenn ja, finden Sie das zielführend?
Ich habe den Eindruck, dass sich alle Eltern wünschen, Kitas und Schulen zu Orten zu machen, die für eine fortschrittliche Pädagogik gemäß aktuellem Wissensstand stehen. Doch sie sind damit häufig auf sich allein gestellt. Wer es dennoch versucht, hat bald das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Tatsächlich ist es falsch, Kitas und Schulen samt Personal pauschal zu verurteilen. Vielmehr sollte man im individuellen Miteinander versuchen, neue Räume des Verständnisses und des Austauschs zu schaffen, die den Kindern zugutekommen. Das verlangt sowohl den Eltern als auch den Pädagogen einiges ab und ist nicht immer erfolgreich. Doch es scheint die einzige Möglichkeit zu sein, einen Kulturwandel von innen heraus herbeizuführen. Zusätzlich brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte mit offenem Ausgang darüber, welche Art von institutioneller Pädagogik wir uns leisten wollen, sonst wird die leise Abwanderung wohlhabender Familien in private Einrichtungen fortschreiten und im öffentlich schulischen Bereich bleibt alles, wie es schon immer war.
Die meisten Menschen, die in Kitas und Schulen arbeiten, sind mit echtem Herzblut dabei und teilen, ob im Stillen oder nicht, die Kritik vieler Eltern. Ziel muss sein, Verbündete in Form anderer Eltern und unterstützender Pädagogen zu finden und für eine große gemeinsame Sache zu kämpfen, statt die Gräben zwischen diesen beiden Gruppen, die gerade in den letzten Jahren verstärkt entstanden sind, immer weiter zu vertiefen. Bislang schieben sich die Seiten wechselseitig die Schuld zu, wenn ein Kind im System nicht so funktioniert, wie es soll. Darunter leidet das Kind am meisten. Aus dieser Sackgasse gilt es auszusteigen, individuell und als Gesellschaft. Nicht mit den Kindern ist etwas falsch, sondern mit der Art, wie viele betreut, erzogen und unterrichtet werden. Wie soll ein junger Mensch lernen, an sich zu glauben und das Positive an sich und in der Welt zu sehen, wenn das gesamte Bildungssystem sich bei ihm auf Fehlersuche begibt? In meiner Praxis erlebe ich täglich Menschen mit Prüfungsangst. Menschen, die keine Fehler machen wollen und sich als defizitäre Wesen sehen. Wenn man von Kindesbeinen an Bewertungen ausgesetzt ist, scheint das die wenig verwunderliche Folge zu sein. Zugegeben, es ist schwierig, im Zusammenhang mit Institutionen, auf die Eltern gefühlt nur wenig bis gar keinen Einfluss nehmen können, von sicheren Räumen zu sprechen. Und selbstverständlich erlebt nicht jedes Kind Gewalt. Ich habe allerdings in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass sehr viele Kinder in Kitas und Schulen in irgendeiner Weise seelische Gewalt erfahren, allein schon dadurch, das sie gewaltvolle Szenen beobachten müssen. Wenn ein Kind, warum auch immer, von einem Pädagogen angeschrien wird, dann ist nicht nur das gedemütigte Kind betroffen, sondern auch alle anderen Kinder. Wir Menschen verfügen über Spiegelneurone153 in unserem Gehirn und fühlen das, was ein anderer fühlt. Freude und Schmerz – wir teilen alles miteinander, und das kann Segen oder Fluch sein.
Eine konkrete Handlungsmöglichkeit ist, sich als Eltern aktiv in die Gestaltung der Lebenswelt in Kita und Schule einzubringen, ganz im Sinne einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft.154 Viele Schul- und Kita-Konzeptionen beinhalten bereits eine auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtete Pädagogik, zu der auch die Zusammenarbeit mit Eltern gehört. Nur werden diese modernen Konzepte noch nicht ausreichend umgesetzt. Hier können Eltern als Anwälte ihrer Kinder auftreten, zusammen mit den Pädagogen die Verantwortlichen in die Pflicht nehmen und Wege für ein gewaltbewusstes Miteinander suchen.
Alle Beteiligten profitieren von einer gelebten Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Deren Bedeutung wird sowohl in der Kita als auch in der Schule immer größer – das ist genau die Chance, die Eltern für ihre Kinder nutzen sollten, um das Bildungssystem von innen heraus zu verändern. Statt die Bildungsinstitutionen als Dienstleister zu verstehen, können Eltern eine gleichberechtigte Bildungs- und Erziehungspartnerschaft einfordern und gestalten. Fragen Sie in Ihrer Kita oder Schule einfach einmal nach Konzepten für Elternarbeit. Nach gesetzlichen Grundlagen müssen sie längst geschaffen sein. Ich bin mir sicher, dass die Konzepte längst fertig zumindest in den Schubladen liegen. Jetzt dürfen sich Pädagogen und Eltern in der Praxis an die Umsetzung wagen. Wenn alle Beteiligten wohlwollend zusammenarbeiten, dann können durch beziehungsorientierte Eltern, Kitas und Schulen sichere Räume für Kinder gestaltet werden. Ich trete auch dafür ein, Kitas zu Orten zu machen, in denen aktiv zum Spielen und Mitgestalten eingeladen wird. In vielen Kitas geht die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft inzwischen weit über das Kuchenbacken für den Weihnachtsbasar hinaus. Es gibt dort Vorlesepaten, Eltern, die Spielzeuge bauen, in den Kitas ihre Berufe vorstellen, und jede Menge freudvoller Ausflüge und Unternehmungen, an denen Kinder, Eltern und Fachkräfte gemeinsam partizipieren. Nicht nur die Pädagogen, sondern auch die Eltern sind aufgerufen, diese Orte noch viel mehr mitzugestalten, und zwar sowohl räumlich als auch im Sinne der gebotenen Aktivitäten.
Sichere Räume bietet auch das Konzept der Lebensweltorientierung,155 denn es hilft Pädagogen, professionelle Empathie im Umgang mit den Herkunftsfaktoren und individuellen Ressourcen der Kinder zu entwickeln. Dieses Konzept ist in vielen Bildungsplänen bereits verankert, wird aber oft noch nicht ausreichend berücksichtigt und praktisch umgesetzt. Auch dies ist ein guter Ansatzpunkt für Eltern und Pädagogen, Kita und Schule im Sinne ihrer Kinder zu verändern.
Zeigen Sie Ihrem Kind immer wieder, dass Sie jederzeit ein offenes Ohr haben, hören Sie zu, wenn es von seinem Alltag in der Kita oder in der Schule erzählt. Seien Sie auf der Basis dieser Erzählungen mutig genug, Missstände anzusprechen und Verbesserungsvorschläge bei Erziehern und Lehrern anzubringen. Begehen Sie nicht den Fehler, Ihrem Kind die Schuld daran zu geben, wenn es nicht den gewünschten Erfolg hat, sondern erhalten Sie in diesem Fall seinen Selbstwert durch Zuspruch und Fokus auf seine ganz individuellen Talente und Fähigkeiten, die es außerhalb der Schule erblühen lässt. Schaffen Sie entsprechende Bezugspunkte und Räume für Resonanz, durch Hobbys, Freizeitaktivitäten und Kontakt mit Menschen, die Ihnen und Ihrem Kind gegenüber wertschätzend auftreten und nicht bewerten wollen oder müssen.
Ein wirkliches Wechselspiel sicherer Orte werden wir erst haben, wenn die Bereitschaft der Gesellschaft wächst, die Dreigliedrigkeit unseres Bildungssystems zu reformieren. Erst dann werden Kitas, Schulen und Familien in ständigem Austausch stehen, sich gegenseitig achten und vor allem auf sich achten. Das kostet Zeit, Geld, Mut und bedarf nicht zuletzt eines positiven Blicks auf Kinder. Deutschland kann es sich locker leisten, seine staatlichen Einrichtungen ebenso gut auszustatten wie die privaten. Allein, es fehlt der politische Wille, denn Kinder wählen nicht, und junge Familien sind in einer überalterten Gesellschaft eine Minderheit. Wir brauchen mehr Aufklärung über emotionale Gewalt und ihre Folgen und viel mehr Unterstützungsangebote in Form von Kursen und Beratungen für alle Menschen, die mit Kindern zu tun haben. Ich meine damit nicht nur die klassische Erziehungsberatung, sondern vielmehr Möglichkeiten der Selbsterfahrung durch Biografiearbeit und vor allem Entlastungen für Familien.
Mit meiner täglichen Arbeit versuche ich bereits seit ungefähr dreißig Jahren, meinen Beitrag zu leisten, indem ich Aufklärung anbiete, Eltern und Fachkräften eine helfende Hand durch Beratungen, Fort- und Weiterbildungen reiche und sie auf ihrem Weg, eine gewaltbewusste Haltung anzunehmen, begleite. Um all das noch mehr Menschen zugänglich zu machen, habe ich 2020 die Stiftung Gewaltfreie Kindheit gegründet.
Ich vertrete eine positive Pädagogik, weg von alten Glaubenssätzen hin zu den Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung und einem positiven und inklusiven Menschenbild. Ich bin häufig erstaunt bis erschrocken darüber, wie wenig Wissen Menschen, die mit Kindern arbeiten, in ihren Ausbildungen über deren Psyche und Entwicklungsprozesse vermittelt wurde. Auch hier braucht es Aufklärung und einen offenen Diskurs mit allen Verantwortlichen, damit Ausbildungsinhalte an Fachakademien und Universitäten ergänzt werden. Das Wissen zu all diesen Entwicklungen ist längst vorhanden, ebenso die Erkenntnis, dass die bisherigen Methoden nicht mehr zeitgemäß sind. Jetzt müssen zunächst Eltern in den Familien und pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen nur noch den Wandel als solchen zustande bringen. Nicht nur die heutigen Kinder und zukünftigen Generationen, sondern auch wir als Gesellschaft werden davon immens profitieren, wenn wir das schöpferische Potenzial junger Menschen in seiner Vielfalt und Gänze anerkennen und zur Entfaltung bringen.
Wir werden eine offenere, kreativere, zufriedenere, erfolgreichere und selbstbewusstere Gesellschaft sein, wenn wir endlich nicht länger in Kauf nehmen, dass Kitas und Schulen seelische Verletzungen ignorieren und viele Kinder in ihrer Entwicklung eher hemmen als fördern. Machen wir das Zusammenspiel von Eltern, Kitas und Schulen möglich, um sichere Orte für unsere Kinder zu garantieren!