Eine glückliche Kindheit beginnt mit den Werten und Entscheidungen von Eltern.
Da sich Erwachsene ihrer frühen Traumata selten bewusst sind, wirken sie unerkannt in den Tiefen der Seele weiter und kommen besonders in Beziehungen und garantiert im Umgang mit den eigenen Kindern wieder zum Vorschein.125 In besonders herausfordernden Situationen treffen Eltern dann bestimmte verletzende Aussagen, die sie sich eigentlich geschworen hatten, niemals auszusprechen. All das ist menschlich und verständlich, sollte aber trotzdem nicht immer wieder vorkommen, weil es Kindern schadet. Wie gut, dass es Wege aus dieser Triggerfalle gibt!
Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Mutter, die sich in Foren und in den sozialen Medien intensiv für einen Mentalitätswandel in der Erziehung, weg von der emotionalen Gewalt und hin zu bedürfnisorientiertem Begleiten einsetzt. Sie sagte mir, dass sie sich wünscht, alle Menschen müssten, bevor sie Kinder bekommen, einige Wochen Therapie machen, um ihre eigenen Traumata zu heilen. So drastisch dieser Vorschlag zunächst erscheint, hat er doch auch einen wahren Kern, denn was Menschen in der Kindheit erfahren, prägt sie ein Leben lang. Ich bin allerdings der Ansicht, dass eine Therapie nicht in allen Fällen erforderlich ist, da es Alternativen gibt. Abgesehen davon, wo sollen auch die vielen benötigten Therapieplätze plötzlich herkommen?
Werden Menschen Eltern, richten sie ihr Verhalten an den frühen Vorbildern für Elternschaft in ihrem Leben aus – also an ihren eigenen Eltern. Dies kann sich unterschiedlich auswirken. Manche Menschen versuchen sehr bewusst, alles ganz anders und besser zu machen als ihre eigenen Eltern, andere wählen sie als positives Vorbild, sind blind für die Fehler, unter denen sie als Kind selbst gelitten haben, oder haben sie verdrängt. Das ist der Grund, warum der Anfang einer glücklichen Kindheit für ein Kind mit dem Reflexionsprozess der Eltern beginnt. Eltern sollten sich folgende Fragen stellen: Was aus meiner eigenen Kindheit war gut und darf bleiben? Was ist aus heutiger Sicht vielleicht nicht mehr nützlich und sollte bewusst verabschiedet werden?
Wenn Eltern ihre eigene Kindheit auf diese Weise reflektiert haben, kommen Sätze wie »Mir hat das auch nicht geschadet« ganz sicher seltener vor oder verschwinden vollkommen. Das ist nämlich exakt die gleiche Formulierung, die man früher auch oft im Zusammenhang mit dem berühmten Klaps auf den Hintern hörte. Wenn man aber ein wenig tiefer gräbt, dann entdeckt man, dass die Betroffenen sich der seelischen Verletzungen bestimmter Erziehungsmethoden zumindest teilweise sehr wohl bewusst sind, vor der Auseinandersetzung damit aber zurückscheuen. Das geschieht aus Selbstschutz und auch, weil man als Erwachsener das Verhältnis zu den Eltern möglicherweise nicht nachträglich belasten möchte. Auch das ist menschlich und absolut verständlich, dadurch wird der Teufelskreis emotionaler Gewalt aber nicht durchbrochen.
Ich plädiere für eine liebevolle und achtsame Beschäftigung mit der eigenen Kindheit für sich alleine, mittels Coaching oder durch den Beginn einer Therapie. Das gibt zum einen die Möglichkeit, alte Wunden im Licht eines neuen Bewusstseins zu heilen, zum anderen macht es frei davon, aus dem Trauma oder Unbewussten heraus zu agieren und so vielleicht neue Verletzungen bei den eigenen Kindern zu verursachen.
Schimpfen erzeugt Stress – bei Eltern, bei Pädagogen –, aber vor allem bei den Kindern. Es hemmt sie, erzeugt Unruhe und Ängste und hindert sie daran, die Persönlichkeit zu werden, die sie werden könnten, wenn sie ihr Potenzial frei entfalten würden. Wie aber können Eltern und Pädagogen mit den vielfältigen Herausforderungen, die im Alltag mit Kindern auftreten, umgehen? Die größte Schwierigkeit ist wohl, im entscheidenden Augenblick ruhig zu bleiben und dem Drang, zu schimpfen, nicht nachzugeben. Denn schimpfen hilft nur kurzfristig oder gar nicht – im Gegenteil, es schadet nachweislich!126 Viel besser ist, Kinder in Ruhe an die getroffenen Regeln und Absprachen zu erinnern und als Eltern bei sich zu bleiben. Stellen Sie sich in solchen Momenten Fragen wie diese: Was fühle ich gerade? Bin ich wirklich sauer über die Unordnung im Kinderzimmer oder wächst mir in Wahrheit etwas ganz anderes über den Kopf?
Noch schwieriger ist es, wenn Kinder Erwachsene mit ihrer Wut konfrontieren. Das Kind schreit, weil es nicht ins Bett will. Das bedeutet für die meisten Eltern eine massive mentale wie körperliche Stresssituation. Menschen sind hier mit drei Reaktionen ausgestattet: fliehen, angreifen oder erstarren! Alle drei Optionen stellen im Umgang mit Kindern keine besonders guten Lösungen dar. Kinder lernen am Modell. Durch Ihren Umgang mit Stress lernt das Kind, wie es später selbst mit Stress umgeht. Deshalb kann es hilfreich sein, wenn Sie sich vor Augen halten, dass Ihr Kind eben nicht der personifizierte Stress ist, sondern Ihr Kind, für das Sie viel Liebe empfinden. Achtsam bei sich selbst zu bleiben und eine innere Beobachterposition einzunehmen kann dabei helfen, dass die Gefühle Sie nicht überrollen und Sie schlussendlich doch wieder schimpfen.
Wenn Kinder verstehen, warum Mutter oder Vater »Nein« sagen, und sich dennoch gehört und gesehen fühlen, können sie diese ungeliebten Neins besser akzeptieren. In der Praxis hört sich das dann in etwa so an: »Ich verstehe sehr gut, dass du gerade Lust auf ein Eis hast, und auch mir würde das jetzt gefallen, aber das müssen wir auf später verschieben. Lass mich erst die Küche aufräumen und später spazieren wir zur Eisdiele und gönnen uns ein Eis.« Ganz wichtig dabei: Was versprochen wird, muss auch eingehalten werden, denn gebrochene Versprechen sorgen für Vertrauensverlust – und das ist das Letzte, was Sie wollen.
Je sicherer sich ein Kind fühlt und je mehr es einem Erwachsenen vertraut, desto offener wird es kommunizieren, seine Gefühle zeigen und kooperieren. Denken Sie an Ihr eigenes erwachsenes Umfeld. Wenn Sie jemandem wirklich vertrauen, hinterfragen Sie nicht jeden Satz dieser Person und erfüllen eine Bitte schon deshalb leichter, weil Sie wissen, dass Sie weder ausgenutzt noch hintergangen werden. Sie vertrauen aber nur dann, wenn Sie in der Vergangenheit erfahren durften, dass Sie von diesem Menschen gemocht und ernst genommen wurden. Kinder brauchen genau diese Form der Wertschätzung. Ihre Ideen zu beachten und sich in ihre Gefühle hineinzuversetzen hilft, zu verstehen, warum ihnen etwas wichtig ist – auch wenn es mit Ihren Bedürfnissen als Eltern und den Anforderungen des Alltags kollidiert. Je besser Eltern ihre Kinder verstehen, desto leichter wird der gemeinsame Alltag, weil die Bedürfnisse aller wahrgenommen werden. Das ist letztlich wichtiger, als alle Bedürfnisse sofort zu erfüllen.
Kinder sind keine unfertigen Menschen, sie sind Kinder und haben eigene Bedürfnisse. Sie sind zwar noch nicht so sehr erfahren im Leben, aber dafür aufmerksame Beobachter und wissen eine ganze Menge. Da sie die Welt durch Kinderaugen wahrnehmen, sehen sie anders. Kinder haben einen bewundernswerten Blick für Dinge, die wir vielleicht Kleinigkeiten nennen würden. Für sie sind das keine Kleinigkeiten, es ist ihre Welt! Und in dieser ihrer Welt möchten sie als verständige und kompetente Gesprächspartner anerkannt und behandelt werden. Alles andere verletzt ihr Selbstwertgefühl.127
Wir Erwachsenen schaffen das allerdings nur dann, wenn wir etwas Stress aus unserem Alltag nehmen. Mit mehr bewusst verbrachter Zeit mit den Kindern gelingt es leichter, ein sicheres und liebevolles Umfeld zu schaffen, in dem auch Platz für Konflikte und Emotionen ist. Sie kennen das sicher: Wenn Sie selbst bereits vollkommen am Anschlag sind, empfinden Sie die Bedürfnisse und Gefühle Ihres Kindes schnell als Störung, ja sogar als Bedrohung. Je besser Ihnen die Organisation des Alltags gelingt und je mehr Sie externe Stressoren vermeiden, umso mehr Luft bleibt Ihnen für die Interaktion mit Ihren Kindern. In solchen Momenten und Phasen haben Sie einen Raum geschaffen, in dem Entwicklung, Begegnung und Nähe entstehen können.
Wenn ich mir heutige Familien so anschaue, dann staune ich oft und frage mich gleichzeitig, wann sie eigentlich Zeit miteinander verbringen. Häufig ist der Alltag zwischen Arbeit, Abholzeiten, Verabredungen und Freizeitaktivitäten so intensiv durchgetaktet, dass kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Ein aktives Leben zu führen ist toll. Aber die notwendigen Pausen, gemeinsame Aktionen, Qualitätszeit als Familie auch jenseits des Urlaubs, all das kommt oft zu kurz. Ich beobachte aber auch, wie neue Eltern sich proaktiv für mehr Zeit mit ihren Kindern entscheiden und die ein oder andere Verabredung, das ein oder andere Familienfest nicht wahrnehmen, weil sie wissen, wie anstrengend es für alle Beteiligten ist, wenn ein vierjähriges Kind drei Stunden gut gelaunt stillsitzen soll. Sich sehr genau zu überlegen, was Sie sich und Ihrem Kind zumuten wollen – auch das ist aktiver Kinderschutz!
Wenn Eltern und Pädagogen sich immer wieder bewusst dafür entscheiden, sich auf die positiven Aspekte von Situationen und die Kompetenzen der Kinder zu konzentrieren, kann sich Druck weniger schnell auftürmen. Ihre Kinder haben in mehreren Anläufen Milchreis gekocht und in der Küche ein Chaos angerichtet? Dafür brauchen sie jetzt kein Abendessen mehr, Sie müssen nicht kochen, und die Kinder haben gelernt, dass Milch schnell anbrennt. Sie können nun gemeinsam mit den Jungköchen die Küche aufräumen, es sei denn, auch Sie neigen dazu, viel zu viel Fürsorge zu leisten und zu wenig Hilfe einzufordern. Dann nämlich räumen Sie genervt alleine auf, und Ihre Kinder haben gelernt: »Ich koche und danach wird für mich geputzt!« Das mag aus Sicht der jungen Köche sehr angenehm sein, könnte aber für Sie schnell zu Überforderung führen, zumindest dann, wenn Ihre Kinder gerne kochen.
Kinder wollen selbstwirksam sein und am Leben beteiligt werden. Viele Eltern wissen das schon und geben ihren Kindern einen echten Platz in der Familie. Jeder hat eine Stimme, jeder wird gebraucht. Auch jüngere Kinder helfen im Rahmen ihrer Möglichkeit gerne im Haushalt mit, wenn Erwachsene sich die Zeit nehmen, es mit ihnen zu üben. Auch wenn es erst einmal mehr Zeit kostet – auf lange Sicht entlastet es die ganze Familie, wenn jeder ein kleines bisschen mit anpackt. Und es stärkt das Selbstvertrauen der Kinder, wenn sie sehen und vor allem spüren, sie sind wichtig und gehören dazu.
Als Elternteil immer wieder nur im Moment zu sein, statt mit dem Kopf in der Zukunft oder Vergangenheit, und sich achtsam zu fragen, wie es einem selbst eigentlich geht – körperlich wie mental –, hilft, aus dem bloßen Abhaken von Aufgaben herauszukommen, was schnell zu einem Gefühl der Ohnmacht führen kann. In einer Familie mit Kindern endet die Arbeit schließlich nie, das kann Menschen schnell an den Rand der Verzweiflung bringen. Deshalb ist es so wichtig, sich als Erstes vom Perfektionismus zu verabschieden und als Zweites anzuerkennen, dass Sie fast immer Ihr Bestes geben. Fast? Ja, fast, denn niemand gibt immer sein Bestes. Das ist auch gut so, sonst wären wir perfekt, und davon wollten wir uns ja gerade verabschieden.
Und was, wenn doch einmal etwas schiefgeht? Dann ist Lachen eine gute Medizin. Zeigen Sie als Mutter oder Vater, dass Sie auch über sich selbst lachen können, nehmen Sie sich auf die Schippe und nicht immer ernst. Lachen baut Spannungen ab, es entlastet und verbindet und sorgt ganz automatisch für die Ausschüttung positiver Botenstoffe. Es ist das beste und wirksamste Mittel gegen Stress, und es ist dazu noch sympathisch, unterhaltsam und gesund. Wenn der ganze Stress mal wieder zu viel wird und Sie spüren, wie der Druck in Ihnen ständig steigt, überlegen Sie doch zuerst einmal, ob es möglich wäre, die Situation vielleicht auch in einem komischen Licht zu sehen. Das funktioniert besser, als Sie sich vielleicht vorstellen können.
Empathie kommt im Umgang mit Kindern eine entscheidende Rolle zu. Sie drückt sich durch Mitgefühl, eine wertschätzende Sprache – auch im Konfliktfall –, Kommunikation auf Augenhöhe, Ehrlichkeit und das Einhalten von Absprachen aus. Kinder erfahren dadurch, dass sie mit ihren Gefühlen wahrgenommen werden. Das stellt für sie in jedem Lebensalter eine bedeutsame und notwendige Erfahrung dar. Bei kindlichen Wutattacken geht es oft auch darum, dass die jeweilige Bezugsperson das kindliche Erleben anerkennt und die Gefühle ernst nimmt. Mit einem Satz wie »Ich kann verstehen, dass du traurig bist, weil wir nicht mehr auf den Spielplatz gehen, aber heute kann ich es nicht einrichten. Wollen wir gleich schauen, wann wir es stattdessen machen, damit du dich darauf freuen kannst?« drücken Sie Verständnis aus und bieten außerdem noch eine Alternative und damit einen Lösungsweg aus der Wut heraus in Richtung Vorfreude. Wir kennen das eventuell aus anderen, sehr nahen Beziehungen. Häufig kann ein Konflikt erst dann beigelegt werden, wenn sich beide Seiten gesehen und verstanden fühlen. Das heißt nicht, dass man plötzlich einer Meinung ist oder der Widerspruch aufgehoben wurde, sondern nur, dass man sich wechselseitig wahrnimmt und diese Wahrnehmung auch entsprechend ausdrückt.
Auch wenn wir das häufig vergessen: Wir waren alle einmal Kinder! Die Erinnerung daran steckt noch in uns, auch wenn sie im Alltag verschüttet ist. Sich bewusst Zeit zu nehmen, Erinnerungen an das eigene Erleben als Kind wachzurufen, hilft dabei, Mitgefühl mit Kindern zu haben, auch und gerade, wenn Kinder besonders herausfordernd sind. Vor allem fällt dann auf, dass das, was viele Eltern ihren Kindern unterstellen, gar nicht stimmt. Kinder verhalten sich nicht irgendwie absichtlich »so«, weil sie provozieren, weil sie Grenzen suchen und dominieren wollen. Kinder verhalten sich, wie sie sich verhalten, weil das Ausdruck ihrer inneren Bedürfnisse und Wahrnehmungsverarbeitung ist. Das Ziel, ihre Eltern bewusst aus der Fassung zu bringen, verfolgen Kinder nicht, wozu auch? Auch wenn das manchmal schwer zu glauben ist, Kinder möchten nicht ärgern, und wenn es ihnen gut geht, provozieren sie auch nicht. Tun sie es doch, ist es ein Signal dafür, dass sie auf irgendetwas aufmerksam machen wollen, was ihnen in ihrem Leben gerade nicht guttut.
Wenn also wieder einmal eine Schreiattacke im Supermarkt losbricht oder sich Ihr Kind weigert, die Schuhe anzuziehen, obwohl Sie ohnehin schon zu spät dran sind: Bedenken Sie, dass jede dieser Verhaltensweisen ein Gefühl des Kindes ausdrückt. Vielleicht hatte das Kind schon einen anstrengenden Tag und vielleicht ist es vom riesigen Angebot, dem grellen Licht, den schrillen Durchsagen und den vielen Menschen im Supermarkt schlicht überfordert. Dieses Gefühl kann ich auch als Erwachsene sehr gut nachvollziehen. Vielleicht würde das Kind lieber in seinem Zimmer allein spielen und einer Idee nachgehen, statt unter Termindruck zu stehen? Auch das kann sicher jeder von uns, der seine Tage mit übervollen Terminkalendern verbringt, verstehen. Warum sollte es Kindern anders gehen? Noch dazu haben sie ja viel weniger Mitbestimmungsrecht darüber, was in und mit ihrem Leben gerade geschieht.
Das bringt mich zum zweiten Schlüssel für eine neue, gesunde und starke Interaktion zwischen Kindern und Eltern: Partizipation. Wenn Kinder in die Planung des Alltags, in die Entscheidungen der Eltern und auch in Aufgaben wie etwa den Haushalt eingebunden sind, dann fühlt sich die gemeinsame Zeit für das Kind weniger fremdbestimmt an. Es hat nicht mehr die Wahrnehmung, dass mit ihm etwas gemacht wird – gegen das es vielleicht früher oder später rebelliert –, sondern dass es partizipiert, Teil von etwas Größerem ist und mitgestalten darf. Das bedeutet nicht, dass jede Entscheidung vom Wunsch und Willen des Kindes abhängen sollte oder das Kind Verantwortung tragen muss – diese bleibt selbstverständlich allein bei den Eltern. Aber das Kind wird einbezogen in die Prozesse, die für viele Kinder scheinbar im Verborgenen ihren Alltag bestimmen, weil die Eltern sie nicht mit auf die Reise nehmen.
Kinder haben ein natürliches Interesse daran, zu verstehen, wieso Eltern jetzt dies oder das machen, warum etwas wichtig ist oder, weshalb bereits getroffene Entscheidungen sich noch einmal verändern. Von großer Bedeutung ist, sich die Zeit zu nehmen, Kindern die Zusammenhänge zu erklären, statt sie ständig vor vollendete Tatsachen zu stellen. Man kann Kindern durchaus erklären, dass man sich manchmal beeilen muss, um pünktlich bei einem Termin zu erscheinen. Denn genau das ist es, was irgendwann, scheinbar unvorhersehbar, Protest und Widerstand erzeugt, wenn man plötzlich schnell machen muss, obwohl es doch gerade noch ein gemütlicher Morgen war. Es ist der kindliche Drang zur Selbstbehauptung, der sich da regt, und dieser ist, wie Sie bereits gelesen haben, essenziell für die Entwicklung. Wenn das natürliche Streben nach Autonomie aber der Alltagsplanung der Eltern scheinbar plötzlich dazwischenfunkt, haben diese sich tief in eine Sackgasse manövriert. Dann kann man nur noch entweder von den ursprünglichen Plänen Abstand nehmen oder aber Druck auf das Kind ausüben. Das können Sie vermeiden, indem Sie Ihrem Kind glaubhaft vermitteln, dass seine Meinung und Gefühle ebenfalls wichtig sind, und es in Planungen, die die ganze Familie betreffen, miteinbezogen wird.
In solchen Prozessen lernen Kinder, die Folgen von Entscheidungen als Folgen auch des eigenen Handelns zu verstehen und sich darin wiederzuerkennen. Die Bereitschaft, zu kooperieren, wird dann sehr viel größer sein. Ja, all das kostet viel Zeit. Diese Kosten sind allerdings das beste Investment, das Sie für sich und für Ihr Kind überhaupt machen können – denn die Vertrauensrendite ist galaktisch und läuft ein ganzes langes Leben.
Im Umgang mit Kindern sind wir alle, Eltern wie Nichteltern, Vorbilder. Von Kindern wird erwartet, dass sie sich sozial und friedlich verhalten und Konflikte auf eine respektvolle Weise lösen. Doch wenn es darum geht, genau das selbst zu tun, stellen wir fest, wie schwer es ist, und zwar unabhängig davon, wie alt unser Konfliktpartner ist. Wenn wir mitten in einer brenzligen Situation stecken, ist es noch schwerer, Alternativen für Beschimpfungen und Drohungen zu finden. Deshalb lohnt es, sich schon im Vorfeld ein paar Strategien zu überlegen, wie das einige neue Eltern bereits tun und auch in den sozialen Medien teilen. Ich empfehle Ihnen, sich in einschlägigen Blogs sowie auf Instagram und Facebook jede Menge Anregungen zu holen, Fragen zu stellen und sich auszutauschen. Am Ende des Buches schlage ich Ihnen Websites vor, vielleicht wollen Sie sich ja noch weiter mit diesem Thema beschäftigen.
Um den Machtkampf zwischen Eltern und Kind zu durchbrechen, der in einer typischen Konfliktsituation wie »Nein, nein, nein, ich will mir nicht die Zähne putzen!« entsteht, muss zunächst die Spannung aus der Situation herausgenommen werden. Das kann, wie schon erwähnt, durch Lachen und Humor entstehen, aber auch ein spielerischer Umgang kann zielführend sein. Eine Möglichkeit ist, Quatsch mit der Zahnbürste zu machen, eine andere, sie in ein Spielzeug zu verwandeln. Sie können später Zähne putzen, ein Kuscheltier holen und diesem stattdessen gemeinsam mit dem Kind die Zähne putzen, oder es zusehen lassen. Probieren Sie es mit Zahnputzliedern und fragen Sie vor allem das Kind, ob es selbst eine Idee hat. Die Begeisterung darüber wird vielleicht über die Weigerung die Oberhand gewinnen. Und man kann auch einfach mal nicht Zähne putzen. So schnell faulen Zähne nicht, und die Welt geht deswegen auch nicht unter.
Darüber hinaus sind die Grundsätze der gewaltfreien Kommunikation im Umgang mit Kindern hilfreich. Die gewaltfreie Kommunikation ist ein Handlungskonzept, das auf den amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg zurückgeht.128 Die wichtigsten Aspekte sind Empathie und das Vermeiden von Bewertungen. Das hört sich erst einmal einfach an und ist es auch, wenn man die gedankliche Haltung, die dahintersteht, schon verinnerlicht hat. Falls nicht, ist gewaltfreie Kommunikation eine hervorragende Übung, die, wenn man sie immer wieder anwendet, das eigene Leben und das Leben der Menschen, mit denen man lebt, angenehmer macht.
Gewaltfreie Kommunikation besteht aus vier Schritten:
In der Praxis sieht das folgendermaßen aus:
Auch für jüngere Kinder ist dieses Konzept bereits gut verständlich und anwendbar. Es nimmt den Druck aus vielen Alltagssituationen. Dabei geht es nicht darum, immer objektiv zu bleiben oder sofort Lösungen zu finden, sondern so zu kommunizieren, dass sich alle Beteiligten wahrgenommen und in ihrer Würde geschützt fühlen, sodass Kommunikation überhaupt erst möglich wird.
Zu vermeiden sind moralische Urteile, Vergleiche, Verantwortung zu leugnen, Schuldzuweisungen und Handlungen durch Forderungen zu erzwingen. Rosenberg nannte das lebensentfremdende Kommunikation. Vor allem von Bewertungen wie: »Du bist unmöglich! Jetzt liegt schon wieder das ganze Spielzeug auf den Tisch. Du kannst einfach keine Ordnung halten. Wie oft muss ich dir das noch sagen?« geht psychische Gewalt aus. Sie greifen das noch im Werden begriffene Selbstbild des Kindes an und können später im Erwachsenenleben als strenger »innerer Kritiker«, als ständig strafender und abwertender innerer Dialog zu einer Qual werden. Psychoanalytiker sprechen dann von einem Introjekt – Betroffene haben die strenge Erziehung ihrer Eltern verinnerlicht und werden sie nicht mehr los.129
Entscheidend ist bei gewaltfreier Kommunikation, die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen und nicht einfach zu sagen: »Du bist schuld, dass es mir jetzt so geht.« Nie ist ein anderer schuld daran, wie man sich fühlt. Der andere kann keine Gefühle erzeugen, diese entstehen immer und ausnahmslos in einem selbst!
Eine ganz besonders subtile Form gewaltvoller Kommunikation ist Schweigen. Ein Kind völlig uninteressiert anzuschweigen ist wie stummes »Schreien« mit Wut im Blick. Hilfreicher ist, mit Kindern über Differenzen oder Sorgen in besonders kritischen Situationen zu sprechen und ihnen zu erklären, dass Sie sich selbst vorübergehend eine Zeit lang aus der Situation ziehen, weil Sie sich beruhigen möchten. Sie schicken nicht das Kind weg, sondern kommunizieren, dass Sie selbst kurz weggehen, weil Sie gerade ratlos sind und nachdenken möchten. Auch dadurch lernen Kinder, dass man durch Nachdenken Lösungen findet, dass man seine Gefühle erkennen und benennen kann und darf, und diese vor allem regulieren kann. All das ist eine lebenslange Aufgabe, und wir alle sollten von Kindern nichts verlangen, was wir selbst nicht können. Auch hier ist die Vorbildrolle der Eltern wichtig.
Manchmal kann es hilfreich sein, zu erkennen, dass Ursache und Auslöser für einen Konflikt oder Ärger nicht immer identisch sind.130 Wir können gereizt sein, weil der Haushalt uns neben dem Job vor Herausforderungen stellt, doch der unmittelbare Auslöser für einen Konflikt sind heftig streitende Geschwister. Hin und wieder beschreiben neue Eltern, wie sie in einer solchen Situation als Mediatoren131 auftreten. Auch hier ist gewaltfreie Kommunikation ein nützliches Hilfsmittel, um Eskalationen zu vermeiden. Viele Eltern neigen dazu, als Autorität in einen Konflikt einzugreifen und dann denjenigen zu kritisieren, der gerade das am wenigsten zu tolerierende Verhalten zeigt. »Tom, du hörst sofort auf, deine Schwester zu schubsen.« Doch da Tom bereits in seinem Ärger gefangen ist, wird er möglicherweise auf diese Zurechtweisung samt unausgesprochener Drohung nur mit noch mehr Wut reagieren, und wenn er diese nicht herauslassen kann, mit Selbsthass. Hilfreich kann es sein, Empathie auszudrücken. »Du bist wütend, weil Mia deinen Papierdrachen angemalt hat, und du bist enttäuscht, weil du mit Tom den Drachen basteln wolltest. Habt ihr eine Idee, wie wir das lösen können?«
Das klappt natürlich nicht in jeder Situation. Dann sollten Erwachsene als schützende Autorität eingreifen und den Konflikt beenden, indem sie die Kontrahenten voneinander trennen. Aber es ist auf jeden Fall einen Versuch wert, zuerst die Mediatoren-Lösung zur Anwendung zu bringen.
Der amerikanische Autor Alfie Kohn analysierte für sein Buch Der Mythos des verwöhnten Kindes gängige Erziehungsstrategien.132 Tatsächlich scheint die Mehrzahl der Eltern noch immer die unbestimmte Angst zu haben, Kinder zu sehr zu verwöhnen. Es gibt auch heute noch sehr viele Eltern und Fachkräfte, die Kinder durch Manipulation und Bestechung zum Gehorsam bringen und unter Druck setzen. Alle diese Methoden gehören in den Bereich seelischer Gewalt und verletzen die Würde des Kindes. Einige stammen sogar aus der Tierdressur: wie etwa die, einen Hund, der seinen Besitzer stürmisch begrüßt und freudvoll an ihm hochspringt, zu ignorieren. Der Hund lernt dann zwar schnell, dass er erst beachtet wird, wenn er sich ruhig verhält, aber das ändert nichts an der Grausamkeit des Ignoriertwerdens. Stellen Sie sich einfach vor, Sie freuen sich wie Bolle über das Heimkommen Ihres Lieblingsmenschen nach einer langen Reise. Sie könnten platzen vor lauter Glück, Sie wollen ihn nur noch umarmen und küssen, hüpfen und springen und wissen nicht, wohin mit all den herrlichen Gefühlen, und dann wendet sich Ihr Lieblingsmensch immer wieder uninteressiert von Ihnen ab. Sie versuchen es wieder und wieder – er dreht sich wieder und wieder weg und ignoriert Sie. Wenn Sie sich dann resigniert, traurig und enttäuscht ruhig auf einen Stuhl setzen, sagt Ihr Lieblingsmensch kühl: »Na, geht doch, warum nicht gleich so?«
Ebenso falsch ist es natürlich, Kindern jeden Wunsch zu erfüllen. Dahinter können unterschiedliche Motive stecken, etwa ein schlechtes Gewissen, weil man als Elternteil zu viel arbeitet, oder ein übersteigerter Perfektionsanspruch als Mutter oder Vater. Doch Kindern alles abzunehmen und zu ermöglichen, schränkt sie massiv in ihrer Selbstentfaltung ein. Um zu lernen, brauchen Kinder soziale Eingebundenheit, Freiräume, Räume im Freien und Herausforderungen. Wenn Kinder ihre Fähigkeiten nicht austesten können, nimmt man ihnen die innere Motivation, Herausforderungen selbst anzugehen und zu meistern, sodass sie kein Gefühl der Selbstwirksamkeit entwickeln können.133 Genau diese so bedeutsamen Erfahrungen für Kinder sind es, die sie stark und im Alltag kompetent machen.
Die helfende Hand –
aus meinem Beratungsalltag
Eine Frage, die mir Menschen fast täglich stellen, ist die nach der richtigen Erziehung. In meinem beruflichen und privaten Alltag begegnen mir noch weitaus mehr Menschen mit antiquierten Ansichten als solche, die beziehungsorientiert denken und sich einen gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern wünschen. Erst vor kurzem war eine Mutter in Begleitung ihrer dreijährigen Tochter bei mir, weil sie auf der Suche nach dem richtigen Kindergarten war. Sie will ihrer Tochter den größtmöglichen Bildungserfolg garantieren und dachte, dafür bräuchte sie ein ganz bestimmtes Förderprogramm in einem ganz besonderen Kindergarten. Ich gab Paula als Beschäftigungsoption ein Körbchen mit Glitzerknete, einen Aquarellblock und Pinselstifte. Kaum hatte sie ihre Finger um die Henkel gelegt, wurde sie aufgefordert, »das Zauberwort« zu sagen. Als ich sagte, dass ihr Lächeln für mich Danke bedeutet, wurde die Mutter ganz klein und fragte, ob es ein Erziehungsfehler sei, von Kindern Höflichkeit einzufordern. Ich reichte meine helfende Hand und verneinte, denn es kommt in meinen Augen nicht auf das Ob, sondern auf das Wie an.
Wie ist das bei Ihnen: Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, »Erziehungsfehler« gemacht zu haben? Jeder Mensch, der mit Kindern zu tun hat, kennt das wohl. Trotz aller guten Vorsätze, trotz aller Arbeit an sich selbst, mit seinem inneren Kind und an der Interaktion mit dem Kind sind wir eben alle nur Menschen. Und Menschen machen nun einmal Fehler! Das kann bedeuten, dass wir ungehalten oder genervt reagieren oder so sehr mit uns selbst oder anderen Dingen beschäftigt sind, dass wir es einfach nicht schaffen, unseren eigenen, meist enorm hohen Ansprüchen gerecht zu werden.
Ich reiche Ihnen meine helfende Hand, indem ich Sie dazu einlade, diese »Fehler« aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Menschliche Interaktion, gerade jene zwischen Erwachsenen und Kindern, ist naturgemäß ein Feld potenzieller Konflikte. An diesen kann man, wenn man mit ihnen umgeht, auch wunderbar wachsen. Gehen Sie offen mit Ihren Gefühlen um, zeigen Sie sich gesprächsbereit und entschuldigen Sie sich bei jungen und älteren Menschen, wenn Ihnen etwas leidtut. Das gibt Kindern die Möglichkeit, an Ihrem Verhalten mitzuwachsen und etwas über zwischenmenschliche Beziehungen zu lernen. Es ist natürlich und nicht gefährlich, wenn auch geliebte Menschen uns enttäuschen. Wir alle kennen das, es ist in unserer eigenen Kindheit geschehen, es passiert immer wieder auch in Freund- und Partnerschaften. Wenn wir lernen, gelegentliche Enttäuschungen als Teil des Menschseins einzuordnen, die sicheren Beziehungen keinen Abbruch tun, erschaffen wir uns neu. Zusammen mit diesen neuen Eltern und neuen Pädagogen können Kinder stark werden, weil sie lernen, dass nach jedem Regen auch wieder die Sonne scheint.
Die wichtigsten Faktoren für eine gewaltfreiere Welt sind Selbstreflexion der Eltern und ein empathischer, respektvoller Umgang in der Familie. Starre Regeln und Haltungen wie »Wenn mein Kind das macht, reagiere ich immer so« suggerieren zwar die viel gelobte Konsequenz, aber sie engen die Handlungsspielräume ein. Kindliches Verhalten ist selten stereotyp, sondern entsteht aus dem Moment heraus. Je flexibler Eltern und Pädagogen darauf reagieren, umso mehr Raum bleibt für Empathie und dafür, gemeinsam Lösungen zu finden. Neue Eltern versuchen, sich selbst nicht unter Druck zu setzen, denn sie wissen, sie können auch einmal nicht handeln, sie müssen sich nicht gegen den Willen ihres Kindes durchsetzen, nur, weil das früher so proklamiert wurde.
Neue Eltern sind zuverlässig für ihre Kinder verfügbar – sie sind durchschaubar und berechenbar. Zuverlässigkeit in der Begleitung von Kindern ist für die Orientierung zwar wichtig, aber sie muss nicht zu einem starren Korsett werden. Wenn Sie an einem Tag Ihrem Kind erlauben, noch zehn Minuten länger fernzusehen, damit Sie in Ruhe telefonieren können, heißt das nicht, dass Ihre gesamte Konsequenz und Berechenbarkeit für immer dahin ist. Es bedeutet vielmehr, dass Sie Ihr eigenes Zuhause nicht zu einem Kampfplatz machen – und genau darum muss es uns doch im Umgang mit unseren Kindern gehen.
Ein gewaltbewusstes und sicheres Zuhause ist eines, in dem Gefühle ohne Angst ausgedrückt werden dürfen, in dem Bedürfnisse wahrgenommen und Bitten gehört werden. Das heißt nicht, dass Kinder und Erwachsene immer alles bekommen, was sie möchten, aber dass alle grundsätzlich in einer wohlwollenden und zugewandten Umgebung leben, in der jeder eine wichtige Rolle spielt.