Erwachsene sind zu hundert Prozent für ihren Umgang mit Kindern verantwortlich – Punkt.
»Stell dich nicht so an!« – »Jetzt komm schon, mach schneller!« – »Sitz gerade und nimm die Ellbogen vom Tisch!« – »Du entschuldigst dich jetzt sofort!« – »Mach endlich Hausaufgaben!« – »Ich drehe noch durch mit dir!« – »Das ist doch nicht schlimm!« – »Mach nicht so ein Theater!« – »Wenn du jetzt nicht sofort dein Zimmer aufräumst, dann nehme ich dir dein Handy weg!« Eventuell kennen Sie den ein oder anderen Satz. Vielleicht aus Ihrer Kindheit, vielleicht haben Sie ihn schon selbst ausgesprochen – vielleicht beides.
Das sind Sätze, die in Kindheiten viel zu oft vorkommen. Sätze, mit denen Kinder noch immer »erzogen« werden. Sätze, durch die Kinder über ihre engsten Bezugspersonen erfahren, wie man verbale und nonverbale Gewalt, beispielsweise durch abschätzende Gesten, abwertende Blicke und desinteressiertes Verhalten, ausübt. Dadurch lernen Kinder gleichzeitig auch, sich selbst nicht zu mögen. Denn Menschen – und Kinder sind bekanntlich Menschen –, die ständig kritisiert und selten gefragt werden, was sie sich wünschen oder gar brauchen, kommen möglicherweise zu der festen Überzeugung, dass sie falsch sind, so wie sie sind, dass sie falsche Gefühle fühlen. Und, Hand aufs Herz – das ist fatal für jegliche zukünftige Entwicklung.
Zum Glück besteht längst Konsens darüber, dass körperliche Gewalt gegenüber Kindern nicht nur strafbar, sondern auch gesellschaftlich geächtet ist. Trotzdem gehört sie für viele Kinder noch immer zum Alltag. Besonders entsetzliche Fälle, vor allem sämtliche Formen sexualisierter Gewalt, beherrschen dann sofort die Medien und sorgen für große Aufregung und Entsetzen. Fast alle Menschen nehmen sexualisierte Gewalt an Kindern als besonders abscheulich wahr und prangern sie an – und das ist auch gut so.
Worüber jedoch immer noch viel zu wenig berichtet und gesprochen wird, sind subtile, teilweise unsichtbare Formen von Gewalt. Sie hinterlassen keine äußeren Spuren, sind in ihren Konsequenzen allerdings ebenso zerstörerisch wie alle anderen Formen von Gewalt. Darum geht es mir in diesem Buch: um die oft unerkannte, die unbewusste, die alltägliche, die unblutige, die versteckte, die psychische, die emotionale Gewalt. Jene Art von Gewalt, die nach meiner persönlichen und professionellen Erfahrung tagtäglich in sehr vielen Familien stattfindet: am Essenstisch, beim Zubettbringen, beim Hausaufgaben machen. Eine Gewalt, die sich in Worten, in Blicken, in Gesten, durch als »Grenzen und Konsequenzen« getarnte Bestrafungen, in Erwartungen, Anforderungen und anderen starren Konventionen ausdrückt. Jene Gewalt, die gegen die Bedürfnisse der Kinder durchgesetzt wird, und zwar durchaus auch von liebevollen Eltern und pädagogischen Fachkräften in Kitas und Schulen, also von Menschen, die für Kinder nur das Beste wollen. Diese Form von Gewalt bedeutet nicht zwangsläufig, dass Eltern sich nicht für ihre Kinder interessieren, sie schlechte Eltern sind oder es grundlegende Probleme in diesen Familien gibt. Sie tritt häufig auf, weil Eltern ihre eigenen hohen Erwartungen und den Druck, der von außen auf sie ausgeübt wird, an ihre Kinder weitergeben. Heutige Eltern wollen es besser machen als ihre eigenen und handeln aus gutem Glauben, aber leider oft noch unreflektiert. Sie kommen nicht so recht aus dem Kreislauf ihrer eigenen Erfahrungen heraus, haben Sorge, Fehler zu machen, sind ratlos und leiden unter Schuldgefühlen. Genau an diesem Punkt setzt dieses Buch an. Es geht nicht um Perfektion – es geht um eine innere Haltung.
Ganz egal, wohin wir blicken, wir entdecken fast überall Erwachsene, die unter dem, was sie selbst als Kinder erlebt haben, leiden. Es sind Menschen, die aus ganz »normalen« Familien stammen, in denen die oft »üblichen« Erziehungsmethoden angewendet wurden – unerbittlicher Leistungsdruck, starre Regeln, Beschämung, Eindringen in die Privatsphäre, Gewalt durch Worte, Entzug von Privilegien, beispielsweise durch Hausarrest oder Fernsehverbot. Hinzu kommt in vielen Familien chronischer Streit zwischen den Eltern oder Bloßstellungen der Kinder vor anderen Kindern, Nachbarn oder Verwandten. Diese Gewalt betrifft jeden von uns. Wir alle kennen Worte, die sich in der Kindheit wie Pfeile in uns gebohrt und bis heute Narben hinterlassen haben. Wenn wir mutig auf unser Leben schauen und es wagen, einen Blick in den einen oder anderen Abgrund zu werfen, werden wir vermutlich Verletzungen erkennen und fühlen, auf die wir gerne verzichtet hätten. Mancher wird in seinem Herzen Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen finden, die auch nach all den Jahren, in ganz bestimmten Situationen, immer noch und immer wieder seelische Schmerzen verursachen. Das sind die sogenannten Triggerpunkte.1 Wir alle haben sie, und es ist notwendig, sie zu kennen, damit man lernt, mit ihnen umzugehen. Danach sind sie weniger schmerzhaft, wenn wieder jemand den sprichwörtlichen Finger in die Wunde legt. Man kann diese »wunden Punkte« als stressverstärkende Denkmuster2 bezeichnen, die folgende Kernthemen fokussieren:
Wenn ich in meinem Institut für kindgerechte Pädagogik Eltern und Fachkräfte berate, kommt das Thema »Triggerpunkte« früher oder später immer zur Sprache. Ich erkläre gerne an folgendem Beispiel, wie das sich im Alltag darstellen kann: Stellen Sie sich vor, Sie sollen für das Sommerfest im Kindergarten eine große Schüssel Kartoffelsalat machen. Sie wollen allen zeigen, was für eine gute Köchin Sie sind, und suchen stundenlang nach dem perfekten Rezept. Sie kaufen die besten Kartoffeln und alle anderen Zutaten natürlich im Bioladen. Am Abend vor dem Fest, nachdem Sie Ihre Kinder ins Bett gebracht haben, schälen und schnibbeln Sie noch eine ganze Weile. Sie geben sich viel Mühe, einen schmackhaften Kartoffelsalat zu kreieren, und verzieren ihn mit Petersilie und Radieschenröschen. All das kostet Sie Zeit, die Sie eigentlich nicht haben, doch Sie wollten die Bitte nicht ablehnen, weil sich alle am Sommerfest beteiligen und Sie nicht die Ausnahme sein wollten. Das Sommerfest ist ein voller Erfolg, die Sonne scheint, die Menschen amüsieren sich, sie essen und trinken, nur Ihr Kartoffelsalat steht unangetastet auf dem Buffet. Wie geht es Ihnen jetzt, was macht das mit Ihnen? Fühlen Sie sich abgelehnt, sind Sie enttäuscht, wütend, verletzt? Warum isst niemand von Ihrem Salat, was vermuten Sie?
Der Punkt ist: Sie beziehen Ihre Vermutungen teilweise auf sich selbst, auf Ihr Können und womöglich auf Ihre Beliebtheit, Sie wissen aber nicht, warum die Schüsseln mit dem Gurkensalat und dem Nudelsalat leer sind und Ihre Schüssel noch voll ist. Solange Sie das nicht herausgefunden haben, zeigen Ihre Vermutungen Ihnen Ihre wunden Punkte – Ihre Trigger. Und so kann es sein, dass Sie sich in einem ewigen Kampf mit sich selbst befinden und Ihre negativen Vermutungen über sich selbst zu Ihren Lebensfeinden werden.3
Warum der Blick auf sich selbst und die Meinungen, die wir von uns haben, so wichtig sind, erfahren Sie im zweiten Teil dieses Buches. Dort geht es darum, wie wir es schaffen können, mehr Bewusstsein für emotionale Gewalt zu erreichen und das Leben der Kinder freier und kindgerechter zu gestalten.
Fakt ist: Eigene Erziehungserfahrungen fordern ihren Tribut. Sie zeigen sich oft in Glaubenssätzen, verinnerlichten Normen und Werten oder Ängsten und Erwartungen. Wenn zum Beispiel eine Frau in einer Familie aufgewachsen ist, in der Gefühle nicht ausgedrückt worden sind oder in der es ständig Angst davor gab, was die Nachbarn möglicherweise denken, dann können diese Strukturen sie so nachhaltig geprägt haben, dass sie als Mutter dieselben Muster unbewusst auf ihre Kinder überträgt. Das kann sich auch in bestimmten Ritualen, Erziehungspraktiken oder überzogenen Erwartungen zeigen.
Viele Eltern sind heute stolz darauf, dass sie nicht mehr den Erziehungsstil ihrer eigenen Elterngeneration pflegen und ihre Kinder nicht anschreien, strafen und schlagen – sie setzen stattdessen auf bedürfnisorientierte Begleitung. Wer einen Blick in die sozialen Medien, Elternmagazine, Blogs und auf die Bestsellerlisten wirft, erkennt schnell: Erziehung ist out, Beziehung ist in – und das ist gut so. Endlich haben die grundlegenden Ergebnisse der Bindungsforschung, dass Kinder Nähe brauchen und sich am besten über sichere Beziehungen entwickeln, Einzug in die Familien, Kitas und Schulen gefunden, und endlich trauen sich immer mehr Menschen, Kinder liebevoll zu begleiten, anstatt sie gewaltvoll zu erziehen.4 Allerdings ist meine berufliche Erfahrung, dass es sich bei diesen, ich nenne sie gerne »neue« Eltern, nach wie vor um eine Minderheit handelt und die breite Masse der Eltern und Pädagogen und Pädagoginnen noch immer althergebrachte Erziehungsmethoden anwendet – weit weg von Bedürfnisorientierung. Das geht heute, wenigstens offiziell, ganz und gar nicht mehr. Inoffiziell wird aber weiterhin oft Erziehung im konservativen Sinn gepflegt, bei der Kindern in Familien, Kitas und Schulen permanent feste Regeln und Ansprüche übergestülpt werden und sie weder in Entscheidungen miteinbezogen noch als Persönlichkeiten gewürdigt werden. Kinder werden oft subtil vernachlässigt, verglichen, ignoriert, gedemütigt, erpresst und beschimpft – um nur ein paar Beispiele zu nennen. All das ist jedoch Gewalt. Solche frühen Erfahrungen müssen nicht unbedingt zu schwerwiegenden Traumata führen, doch sie hinterlassen Spuren auf der Seele – Spuren, die im schlimmsten Fall ein Leben lang negativ beeinflussen.
Vor kurzem beobachtete ich zwei Paare in einem italienischen Restaurant bei der Bestellung des Abendessens. Die etwa achtjährige Tochter eines der Paare saß ebenfalls mit am Tisch. In dem sehr kleinen Lokal gibt es keine Speisekarte. Die Chefin des Hauses kommt mit einer Schiefertafel, auf der die Tagesgerichte stehen, an jeden Tisch und liest das Angebot zusätzlich vor. Die vier Erwachsenen wussten schnell, was sie essen wollten, und gaben ihre Bestellung auf. Danach richteten sich alle Augen auf das Mädchen, das sich sichtlich unwohl fühlte, weil es sich nicht so schnell entscheiden konnte. Sofort wurde sein Vater ungeduldig: »Jetzt entscheide dich endlich! Du musst doch wissen, was du willst! Los jetzt, mach schon, oder glaubst du, die Dame möchte ewig hier stehen und warten, bis das Fräulein ausgewählt hat? Wenn du nicht weißt, was du willst, dann hast du auch keinen Hunger!« Ich sah, wie das Kind immer mehr in sich zusammensank und seine Augen sich mit Tränen füllten. Die Tochter lehnte sich an ihre Mutter, die sogleich Pasta mit Tomatensoße für sie bestellte. Der wütende Patriarch reagierte daraufhin noch erzürnter und schrie seine Frau im voll besetzten Restaurant laut an: »Erziehe dein Kind endlich mal richtig, ich habe keine Lust mehr, mich ständig mit ihr zu blamieren!« Die derart harsch angesprochene Partnerin kämpfte jetzt ebenfalls mit den Tränen, nahm sich aber zusammen und schloss sich der gepflegten Konversation der übrigen Erwachsenen an. Das kleine Mädchen saß, sich weiterhin klein machend, auf seinem Stuhl und starrte unglücklich und apathisch vor sich hin. In dieser Familie scheint das der übliche Umgangston zu sein, dachte ich entsetzt und wollte mir die Auswirkungen auf das Kind gar nicht näher ausmalen.
Ich möchte Eltern, aber auch Pädagogen in Institutionen wie Kitas und Schulen aufrufen, ihren Umgang mit Kindern zu hinterfragen und antiquierte Erziehungsgedanken hinter sich zu lassen. Den Beobachtungen nach, die ich im Rahmen meiner Berufstätigkeit als Coach und Dozentin in den vergangenen Jahren in über 500 Kitas gemacht habe, zählt dort zu oft nicht das Kind, nicht das Menschsein, sondern nur die Effizienz der Institution. Betreuung und Bildung heißt leider in vielen Bereichen noch immer, Kinder vor allem zu verwalten und nicht, Kinder im Leben zu begleiten. Das hat viele Ursachen: von Sparzwängen über wirtschaftliche Gründe bis hin zur mangelnden Wertschätzung von Kindern und Familien. In unserer globalisierten Welt werden Kinder oft als Humankapital gesehen, als Arbeitnehmer und Unternehmer der Zukunft, die sich in weltweiter Konkurrenz bewähren müssen. Diese imaginären Erwartungen machen vielen Eltern Angst. Die Ansprüche, die heute an Kinder und ihre Familien gestellt werden, sind hoch. Viele Erwachsene und Institutionen erwarten bereits von Kindergartenkindern Leistung und Anpassung, daher versuchen Eltern krampfhaft, nur ja alles richtig zu machen, und greifen unter Stress zu den falschen Mitteln. Ihnen ist dies meist nicht bewusst, weil sie doch »ganz normal« mit ihren Kindern umgehen. Doch diese »Normalität« bedeutet oft, Kindern emotionale Gewalt anzutun. Und genau die gerade beschriebene unreflektierte Art des Umgangs mit Kindern, die unseres Schutzes, unserer Fürsorge und unserer vollen Aufmerksamkeit bedürfen, um zu starken, gesunden und glücklichen Erwachsenen heranzuwachsen, bedarf dringend eines Umdenkens. Wie notwendig ein Diskurs über emotionale Gewalt ist, sehe ich auch in meinen Elternberatungen immer wieder. Die Kluft zwischen angestrebter Bedürfnisorientierung in der Erziehung und gelebtem Alltag ist oft groß.
Wenn wir irgendwann in einer friedlichen Welt leben wollen, dann müssen wir Kindern die Möglichkeit geben, zu erfahren, was Frieden bedeutet, wie man Konflikte löst, ohne andere Menschen zu verletzen. Kinder können lernen, Bedürfnisse auszutarieren, damit alle Platz haben und es keine Verlierer gibt. Wir alle vergessen noch viel zu oft, dass Kinder unserer Macht als Erwachsene, als Vorbilder und als Autoritätspersonen hilflos ausgeliefert sind. Und wir vergessen, dass wir heute den Samen säen für die Menschen, die morgen erblühen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihnen beim Lesen dieser Zeilen bereits mehr als eine Situation vor Augen stand, in der die Worte oder Handlungen eines Elternteils, Großelternteils, Erziehers oder Lehrers Sie als Kind bis ins Mark getroffen haben, so sehr, dass Sie die Situation und den seelischen Schmerz bis heute nicht vergessen konnten. Und damit sind wir beim wichtigsten Punkt: Erziehung, so wie sie bisher verstanden wurde und teilweise noch wird, schafft verletzte Menschen. Nicht länger auf der körperlichen Ebene, wie es bis vor kurzer Zeit noch oft der Fall war – doch auf der seelischen.
Seelisch versehrte Menschen entwickeln so etwas wie Ablenkungsmanöver rund um ihre Verletzungen.5 Manchen von ihnen gelingt es hervorragend, trotz aller Wunden und Narben zu »funktionieren« und sehr erfolgreich zu sein, anderen wieder gar nicht. Einige werden für sich selbst zur Last, andere für den Rest der Gesellschaft. Vermutlich ist es für traumatisierte Menschen immer etwas schwieriger, mit sich selbst und dem Leben zufrieden und glücklich zu sein. Im Idealfall meistern sie ein Erwerbsleben, ohne psychisch zu erkranken. Die steigenden Zahlen seelischer Erkrankungen, die Kranken- und Rentenversicherungen jedes Jahr veröffentlichen, sprechen allerdings eine deutliche Sprache.6 Und keine Depression, keine Angststörung und auch keine Suchterkrankung fällt einfach so vom Himmel – die Ursachen dafür liegen häufig schon in der Kindheit.
Untersuchungen belegen zudem eindeutig:7 Wer Gewalt als Form des normalen Umgangs in einer Familie erfahren hat, wird diese mit höherer Wahrscheinlichkeit auch in seinen zukünftigen Beziehungen leben. Das gilt für physische Gewalt8 und ist bei psychischer Gewalt nicht anders. So entsteht im großen Maßstab ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem es um oben und unten, um Macht und Ohnmacht geht und darum, sich den anderen nutzbar zu machen, einfach deshalb, weil man es kann. Kinder lernen unter Umständen, dass sie als Objekte behandelt werden, und behandeln andere als Objekte, sobald sie an der Macht sind.9 Allein der Missbrauch von Macht ist Gewalt, und das hat natürlich Auswirkungen auf unseren Umgang miteinander – im Beruf, in Partnerschaften, im Dialog mit Kindern, in sozialen Netzwerken, in der Gesellschaft.
Der Druck, der heute auf Familien und allen voran Müttern lastet, ist enorm. Nicht nur die Erwachsenen haben darunter zu leiden, sondern auch besonders ihre Kinder. Sie sind es, die am wenigsten Einfluss auf die Bedingungen haben, unter denen sie aufwachsen. Durch äußeren Druck und zu hohe Erwartungen entsteht in vielen Eltern innerer Druck, der sich in Wut und Aggression äußern kann, was eine Gefahr für die Kinder darstellt. Dieser Druck innerhalb der Familiendynamik wurde in der Corona-Pandemie noch erhöht,10 was zu einer nachweislichen Verschärfung zwischenmenschlicher Gewalt geführt hat. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge haben zunehmende Angst, wachsende Sorgen, gestiegene finanzielle Belastungen und auch vermehrter Alkoholkonsum dazu beigetragen, dass in sämtlichen Ländern der europäischen Region jedes dritte Kind eine Form von zwischenmenschlicher Gewalt durch wütende, angstvolle und überforderte Eltern, Betreuungspersonen, gleichaltrige oder andere Familienmitglieder erlebt hat.
Wut, Angst und andere häufig als negativ geächtete Gefühle gehören zu unserem menschlichen Gefühlsspektrum und haben ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung. Wir können und sollten aber lernen, mit diesen Emotionen umzugehen, denn Kinder lernen wiederum von uns und an unserem Beispiel. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft Familien stärken, dass wir die Umgangsweise mit den uns anvertrauten Kindern ins Zentrum stellen und besser auf ihre Bedürfnisse eingehen.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie sind nicht hier, um den Großen zu gehorchen und sich anzupassen. Sie sind Kinder und müssen als solche wahrgenommen, wertgeschätzt, geliebt und beschützt werden! Kinder brauchen sichere Räume, um zu wachsen und sich gesund zu entwickeln – zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im öffentlichen Raum, wie beispielsweise in Vereinen, Parkanlagen und Spielplätzen.
Wir Menschen sind handelnde Subjekte. Wir können die Werte, nach denen wir agieren, jederzeit hinterfragen. Uns ist gegeben, die Welt zu verändern, das haben wir bereits mehrfach getan. Vor allem im Umgang mit unseren Kindern müssen wir nicht im ewigen Einheitsbrei bisheriger Erziehungsmethoden verharren – wir können es auch anders machen.
Ich schreibe dieses Buch aus der Expertinnenperspektive einer Erziehungswissenschaftlerin und als empathischer, engagierter Mensch, der an das Gute im Menschen und an nachhaltiges Lernen in jedem Alter glaubt. In über 25 Berufsjahren habe ich in circa 35.000 Stunden Eltern und Pädagoginnen gecoacht und beraten. In allen diesen Stunden ging es und geht es nach wie vor um Kinder. Darum, was Kinder brauchen, damit sie ein kindgerechtes Leben haben, sich gesund entwickeln und möglichst gerne lernen. Um das Lernen geht es auch in diesem Buch, denn wir können lernen, unsere Beziehung mit uns selbst und dadurch auch mit unseren Kindern zu verändern.
Ich möchte dieses Buch als Plädoyer für einen würdevollen Umgang mit Kindern verstanden wissen. Schenken wir ihnen eine gewaltfreie(re) Kindheit und damit uns allen eine friedliche(re) Welt. Gemeinsam können wir diese wichtige individuelle und gesellschaftliche Veränderung in Richtung einer gewaltfreien Kindheit für alle schaffen – davon bin ich überzeugt. Wollen wir uns auf den Weg machen und sofort beginnen?
Dr. Anke Elisabeth Ballmann