Oft hören wir Sätze wie »Das ist paradox: Er hat mich eingeladen, und jetzt verlangt er, dass ich den Schaden zahle« oder »Es ist paradox, dass Raffaels Frau genau am Tag ihrer Hochzeit gestorben ist«.
Nun, der erste Fall ist nicht paradox, sondern einfach ärgerlich oder höchstens absurd, während der zweite ungewöhnlich, ausgefallen, nicht den normalen Erwartungen entsprechend ist, wie die Geburt einer Fliege mit zwei Köpfen.
In keinem der beiden Fälle haben wir es mit echten Paradoxen zu tun, auch wenn der naive Sprachgebrauch den Begriff für alles benutzt, was im Gegensatz zu dem von uns Gewollten oder Erwarteten steht.
Allenfalls kann etwas paradox im Sinne von »sonderbar« oder »bizarr« sein, weil das Wort paradox zwei ziemlich verschiedene Bedeutungen hat: einerseits die in der Logik und Philosophie übliche, andererseits die in der Rhetorik gebräuchliche.
Die logischen Paradoxe sollte man passender »Antinomien« nennen. Im Internet behauptet zwar jemand, die Griechen hätten sie »Paralogismen« genannt, aber Paralogismen sind einfache Denkfehler, die problemlos korrigiert werden können. So ist es zum Beispiel ein Paralogismus, wenn man sagt: »Alle Athener sind Griechen, alle Spartaner sind Griechen, also sind alle Athener Spartaner.« Abgesehen davon, dass diese Schlussfolgerung schon für den gesunden Menschenverstand als falsch erkennbar ist, zeigt sich ihr paralogischer Charakter in einem Dreisatz wie diesem:
Alle A sind G
Alle S sind G
Also sind alle A gleich S.
René Magritte
Der Verrat der Bilder oder auch: Dies ist keine Pfeife, 1929
Los Angeles County Museum of Art
Dies ist deshalb ein Paralogismus, weil in diesem Syllogismus der Mittelbegriff (G) nicht quantifiziert ist und eine fehlende Quantifizierung des Mittelbegriffs die Schlussfolgerung falsch macht.
Antinomien sind dagegen diejenigen Aussagen, die man im Mittelalter insolubilia nannte, »Unlösbarkeiten«, das heißt Sätze oder Schlussfolgerungen, die man weder als wahr noch als falsch bezeichnen kann, da sie zwei einander widersprechende Interpretationen erlauben.
Die klassische Antinomie ist die des Lügners. Der Satz »Ich bin ein Lügner« kann weder als wahr noch als falsch bezeichnet werden, denn wäre er wahr, würde zutreffen, was er besagt, und folglich wäre ich kein Lügner, und wäre er falsch, wäre es nicht wahr, dass ich ein Lügner bin, und folglich wäre es wahr, dass ich die Wahrheit sage, und damit wäre ich wirklich ein Lügner.
Das bekannteste Beispiel ist das Paradox des Epimenides, der als Kreter behauptete, alle Kreter seien Lügner. Der Apostel Paulus, der viele gute Eigenschaften besaß, nur keinen Sinn für Humor, hat diese Behauptung ernst genommen und im Brief an Titus geschrieben, die Kreter seien allesamt Lügner, und der Beweis sei, dass es einer von ihnen gesagt habe, der sie gut kenne. Dabei liegt auf der Hand, dass Epimenides, weil er Kreter ist, zwar lügt, aber es eben deshalb nicht wahr sein kann, dass alle Kreter Lügner sind, sondern einige Kreter die Wahrheit sagen. Aber gehört nun Epimenides zu diesen Einigen oder nicht? Wenn ja, dann stimmt es, dass alle Kreter Lügner sind, und es ist falsch, dass einige wie Epimenides die Wahrheit sagen. Und wenn Epimenides zu denen gehört, die lügen, dann stehen wir wieder am Anfang, und alles geht von vorne los.
Doch das sogenannte Paradox des Epimenides ist kein echtes Paradox, denn man bräuchte nur anzunehmen, dass Epimenides von allen Kretern der einzige Lügner ist, und schon wäre es ganz natürlich, dass er nicht die Wahrheit sagt.
Ähnlich berühmt ist das Paradox vom Wettlauf des Achilles und der Schildkröte, das Zenon zugeschrieben wird. Wenn die Schildkröte sich, sagen wir, einen Meter vor Achilles befindet, muss er, um sie einzuholen, zuerst den ersten halben Meter zurücklegen, doch um das zu tun, muss er zuerst den ersten Viertelmeter zurücklegen, und um das zu tun, die Hälfte des ersten Viertelmeters und immer so weiter ad infinitum, weshalb er die Schildkröte niemals einholen kann.
Oder stellen wir uns eine Strecke von einem Kilometer vor, von dem Punkt P bis zu dem Punkt A. Und jetzt stellen wir uns vor, wie Achilles von P losläuft, um A zu erreichen. Zuerst muss er die Hälfte der Entfernung von P nach A zurücklegen, um den Punkt auf der Mitte zwischen den beiden zu erreichen, den wir M nennen wollen. Dann muss er die Hälfte der verbliebenen Entfernung von M nach A zurücklegen, um an den Punkt S zu gelangen. Dieser Halbierungsprozess der Strecke setzt sich bis in alle Ewigkeit fort. Die verbliebene Strecke kann, wie klein sie auch sein mag, immer wieder halbiert werden.
Doch auch das sogenannte Achilles-Paradox ist kein echtes Paradox, und die Lösung hatte schon Aristoteles gesehen, als er die Unterscheidung zwischen potenziell Unendlichem und tatsächlich Unendlichem traf (in Physik III, 8, 206): Bei Zahlengrößen gibt es eine Unendlichkeit per Addition (ich kann immer eine gerade Zahl finden, die höher als die vorige ist), nicht aber per Division, da die Unendlichkeit der Abschnitte, in die eine Strecke unterteilt werden kann, immer in einer begrenzten Totalität enthalten ist (nie höher als 1). So unbegrenzt die Teilung auch fortgesetzt werden kann (Halbierung des Ganzen, Halbierung der Hälfte, Halbierung der Hälfte der Hälfte usw.), wird das Ergebnis doch nie größer als 1 sein, wie es ja auch bei den irrationalen Zahlen der Fall ist, bei denen aus 3,14 …, wie weit man es auch zu berechnen vermag, niemals 4 wird.
Wendet man diese Überlegung auf die unterteilbare Länge einer Strecke an, die sich potenziell unendlich oft unterteilen ließe, zumindest insofern man immer kleinere Teilstücke postulieren kann, so ändert das nichts daran, dass Achilles in actu diese Strecke mit einem Schritt bewältigen kann. Achilles bewältigt eine ihm zugewiesene Wegstrecke in einer ihm eigenen Zeiteinheit.
Von Paradoxen spricht man auch in der Topologie, und so hat man auch schon den Möbiusring als paradox definiert. Ich finde daran nichts Paradoxes. Oder besser gesagt, es klingt zwar unwahrscheinlich, dass eine Verdrehung genügt, um eine Fläche mit zwei Seiten in eine Fläche mit nur einer Seite zu verwandeln, aber es kommt tatsächlich vor, wir haben es gesehen, und das heißt nur, dass die Topologie ein bisschen komplizierter ist als die euklidische Geometrie. Es gibt jedoch sehr viel ernsthaftere Paradoxe, unter denen eines der berühmtesten das von Bertrand Russell vorgeschlagene Paradox des Barbiers ist.
Es gibt dafür eine naive und eine subtile Formulierung. Die erste lautet: »Der Dorfbarbier ist derjenige, der alle Männer rasiert, die sich nicht selber rasieren. Wer rasiert den Dorfbarbier?« Offenkundig kann er sich nicht selber rasieren, denn er rasiert ja nur diejenigen, die sich nicht selber rasieren, und es ist anzunehmen, dass es im Dorf keine anderen gibt, die berechtigt sind, irgendwen zu rasieren. Ich habe dieses Paradox meinen vier- und fünfjährigen Kindern vorgelegt, und sie haben es auf dreierlei Weise gelöst: 1.) Der Dorfbarbier ist eine Frau, 2.) der Barbier rasiert sich nicht und trägt einen dichten Vollbart, 3.) der Barbier rasiert sich nicht, sondern sengt sich die Barthaare ab und hat das Gesicht voller grässlicher Brandnarben.
In Wirklichkeit muss das Paradox so formuliert werden: »Ein Dorf hat unter seinen Bewohnern einen und nur diesen einen, der Barbier ist, ein stets glatt rasierter Mann. Auf seinem Ladenschild steht: ›Der Barbier, der alle diejenigen rasiert, die sich nicht selber rasieren.‹ Die Frage ist nun: Wer rasiert den Barbier?«
Die Logik und die moderne Mathematik haben viele Antinomien vorgeschlagen, um höchst subtile Probleme zu lösen, von denen ich hier nicht sprechen will, um mich damit zu begnügen, einige andere berühmte Antinomien zu zitieren, zum Beispiel diese von Aulus Gellius überlieferte, nach welcher Protagoras einen vielversprechenden jungen Mann namens Euathlos zum Rechtsanwalt ausgebildet hatte, dafür aber nur die Hälfte des üblichen Honorars verlangte, da sie vereinbart hatten, den Rest werde Euathlos bezahlen, wenn er seinen ersten Prozess gewonnen habe.
Doch Euathlos war dann nicht Anwalt geworden, sondern hatte sich auf die Politik verlegt und folglich nie einen ersten Prozess gewonnen, da er nie einen geführt hatte. Also wurde Protagoras nie bezahlt. Schließlich zog er vor Gericht und verklagte Euathlos auf Zahlung des Resthonorars für seine Ausbildung. Der junge Mann beschloss, sich allein zu verteidigen, wurde also zum Anwalt seiner selbst und schuf damit folgende unentschiedene Lage: Nach Meinung von Protagoras: Würde Euathlos gewinnen, müsste er ihm das Resthonorar auf Basis ihrer Vereinbarung zahlen, denn er hätte ja dann seinen ersten Prozess gewonnen; würde er dagegen verlieren, müsste er es ihm gleichfalls zahlen, diesmal aufgrund des Urteils. Nach Meinung von Euathlos: Würde er gewinnen, müsste er dem Protagoras aufgrund des Urteils nichts bezahlen; würde er verlieren, müsste er ihm aufgrund der Vereinbarung nichts bezahlen, denn dann hätte er ja seinen ersten Prozess nicht gewonnen.
Dieses Paradox hat lange Zeit als Beweis dafür gedient, dass sowohl die Advokaten als auch die Politiker keine vertrauenswürdigen Personen seien.
Oder nehmen wir das von Diogenes Laertius zitierte Rätsel des Krokodils: Ein Krokodil hat sich ein Kind geschnappt, das am Ufer des Nils gespielt hatte. Die Mutter fleht das Krokodil an, ihr das Kind zurückzugeben. »Sicher«, sagt das Krokodil, »wenn du mir exakt voraussagen kannst, was ich tun werde, gebe ich dir den Kleinen zurück; aber wenn du es nicht errätst, verzehre ich ihn zu Mittag.« – »Oh«, sagt die Mutter verzweifelt schluchzend, »du wirst mein Kind verschlingen.«
Das schlaue Krokodil erwidert: »Ich kann dir dein Kind nicht zurückgeben, denn wenn ich es tue, bewirke ich damit, dass du etwas Falsches gesagt hast, und ich hatte dir garantiert, dass ich in dem Fall dein Kind verschlingen würde.« – »Genau das Gegenteil ist der Fall«, antwortet die schlaue Mutter. »Du kannst mein Kind nicht verschlingen, weil du damit sonst bewirken würdest, dass ich die Wahrheit gesagt habe, und du hattest ja versprochen, dass du mir, wenn ich die Wahrheit sage, mein Kind zurückgibst. Ich weiß, dass du ein ehrenwertes Krokodil bist und dein Wort halten wirst.«
Jean-Simon Barthélémy
Alexander durchschneidet den gordischen Knoten, 1767
Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts
Zum Abschluss hier noch ein paar schöne logische Paradoxe, die Raymond Smullyan gesammelt hat:
Ich bin ein Solipsist, wie übrigens alle.
Ich glaube, der Solipsismus ist die richtige Philosophie, aber das ist nur eine individuelle Meinung.
Autorisiertes Parken verboten.
Diese Spezies ist immer ausgestorben gewesen.
Du bist außerordentlich, wie immer.
Gott muss es geben, denn er wäre nicht so gemein, mich glauben zu lassen, dass es ihn gibt, wenn es ihn nicht gäbe.
Ich schwöre, den Schwur zu brechen, den ich gerade schwöre.
Aberglauben bringt Unglück.
Was aber ist ein rhetorisches Paradox?
Etymologisch ist griechisch parádoxos etwas, das sich pará tēn dóxan, gegen die herrschende Meinung stellt. Daher bezeichnet das Wort ursprünglich eine seltsame, bizarre, unerwartete Behauptung, weitab von den Überzeugungen der Mehrheit, und in diesem Sinne finden wir es noch bei Isidor von Sevilla (Etymologien II, 21, 29) – für den ein Paradox dann vorliegt, wenn wir sagen, dass etwas Unglaubliches geschehen ist, wie etwa als Cicero in der Verteidigung von Flaccus, den er hätte loben müssen, ihn stattdessen jedoch verurteilte.
Doch die rhetorische Definition von Paradox finden wir in den diversen italienischen Enzyklopädien, und so lautet sie zum Beispiel im Battaglia:
These, Auffassung, Behauptung, Sentenz, geistreiche Bemerkung, meist innerhalb eines ethischen oder theoretischen Diskurses, im Widerspruch zur verbreiteten oder allgemein anerkannten Meinung, zum gesunden Menschenverstand und zur allgemeinen Erfahrung, zum System der Glaubensvorstellungen, auf die man sich bezieht, oder zu den Prinzipien und Kenntnissen, die als anerkannt gelten (oft hat das P. auch keinerlei Wahrheitswert und ist bloß ein Sophismus, geprägt aus Liebe zur Exzentrizität oder um dialektische Fähigkeiten zu bezeugen; aber es kann auch unter einer scheinbar unlogischen und verwirrenden Form einen objektiv gültigen Kern enthalten, der dazu bestimmt ist, sich gegen die Ignoranz und Leichtfertigkeit der unkritisch die Meinung der Mehrheit Befolgenden zu behaupten).1
Demnach wäre das Paradox im rhetorischen und literarischen Sinn eine Art Diktum oder Maxime, die auf den ersten Blick wie etwas Falsches erscheint, sich aber schließlich als eine nicht selbstverständliche Wahrheit erweist.
In diesem Sinne tritt das Paradox fast immer in Form einer Maxime oder eines Aphorismus auf.
Nichts ist weniger definierbar als der Aphorismus. Das griechische Wort, eigentlich »das für eine Spende Abgezweigte« und daher »Spende«, bekommt im Laufe der Zeit die Bedeutung »Abgrenzung, Definition, knappe Sentenz«. So beispielsweise die Aphorismen des Hippokrates. Darum ist der Aphorismus heute für unsere gängigen Wörterbücher, wie den Zingarelli, eine »kurze Maxime, die eine Lebensregel oder eine philosophische Sentenz ausdrückt«.
Man hat gesagt, der Aphorismus sei eine Maxime, in der es nicht bloß auf die Kürze der Form, sondern auch auf den Witz und Scharfsinn des Inhalts ankomme, wobei die Anmut und Geschliffenheit höher geachtet würden als die Annehmbarkeit des Gesagten unter dem Aspekt der Wahrheit. Natürlich ist der Begriff der Wahrheit bei Maximen und Aphorismen abhängig von den Intentionen des Aphoristikers. Zu sagen, ein Aphorismus drücke eine Wahrheit aus, heißt zu sagen, er wolle ausdrücken, was der Autor für wahr hält und wovon er seine Leser überzeugen will. Doch im Allgemeinen wollen Maximen und Aphorismen weder unbedingt geistreich erscheinen noch eine gängige Meinung attackieren, sondern vielmehr einen Punkt vertiefen, in dem die gängige Meinung oberflächlich erscheint und der Korrektur bedarf.
Nehmen wir folgende Maxime von Chamfort: »Der Sparsame ist der reichste aller Menschen, der Geizige der ärmste« (Maximes et pensées, I, 145). Hier entspringt der Witz aus der Tatsache, dass die gängige Meinung dazu neigt, den Sparsamen als einen zu betrachten, der seine wenigen Ressourcen nicht verschwendet, also auch seine eigenen Bedürfnisse nur sparsam befriedigt, während der Geizige als einer gilt, der mehr Ressourcen anhäuft, als er braucht. Die Maxime scheint also der gängigen Meinung zu widersprechen und dabei lediglich hinzunehmen, dass »reich« in Bezug auf die Ressourcen verstanden wird und »arm« außer im moralischen Sinne auch in Bezug auf die Bedürfnisbefriedigung. Ist dieses rhetorische Spiel einmal durchschaut, widerspricht die Maxime der gängigen Meinung nicht mehr, sondern bekräftigt sie eher.
Widerspricht jedoch ein Aphorismus der gängigen Meinung so heftig, dass er auf den ersten Blick falsch und inakzeptabel erscheint und erst nach wohlüberlegter Reduzierung seiner hyperbolischen Form als Träger einer gerade noch akzeptablen Wahrheit erkennbar wird, so haben wir es mit einem Paradox zu tun.
Demnach wäre der Aphorismus eine Maxime, die als wahr anerkannt werden will, obwohl sie vor allem geistreich erscheinen möchte, während das Paradox als eine Maxime auftritt, die auf den ersten Blick falsch ist und erst nach einiger Überlegung erkennen lässt, dass sie ausdrücken soll, was der Autor für wahr hält. Aufgrund der Kluft zwischen den Erwartungen der gängigen Meinung und der provokatorischen Form, in der die Maxime auftritt, wirkt sie dann geistreich.
Die Literaturgeschichte ist reich an Aphorismen und etwas weniger reich an Paradoxen. Aphorismen zu prägen ist relativ leicht (und zu den Aphorismen gehören auch Sprichwörter wie »La mamma è sempre la mamma« oder »Hunde, die bellen, beißen nicht«). Paradoxe dagegen sind eher schwierig.
Vor Jahren habe ich mich einmal mit einem Meister des Aphorismus wie Pitigrilli beschäftigt.*10 Hier sind einige seiner brillantesten Maximen.2 Manche davon wollen, wenn auch mit Witz, eine Wahrheit bekräftigen, die sich keineswegs gegen die gängige Meinung stellt:
Gastronom: ein Koch, der das Gymnasium besucht hat.
Grammatik: ein kompliziertes Instrument, das Sprachen lehrt, aber am Sprechen hindert.
Fragmente: eine Himmelsgabe für Schriftsteller, die keine ganzen Bücher zustande bringen.
Dipsomanie: ein medizinischer Fachausdruck, der so schön ist, dass er einem Lust macht zu trinken.
Andere formulieren weniger eine angebliche Wahrheit als eine ethische Entscheidung oder Handlungsmaxime:
Ich verstehe den Kuss für einen Leprakranken, aber nicht den Händedruck mit einem Kretin.
Sei nachsichtig mit denen, die dir ein Unrecht getan haben, denn du weißt nicht, was die anderen für dich bereithalten.
Doch gerade in jenem Band mit dem schönen Titel Dizionario antiballistico (Mailand 1962), in dem er Maximen, Sprüche und Aphorismen von sich und anderen versammelt, warnt Pitigrilli, der stets und um jeden Preis zynisch sein wollte, auch auf die Gefahr hin, treuherzig seine Bosheiten zu gestehen, wie tückisch das Spiel des Aphorismus sein kann:
Da wir schon einmal bei Vertraulichkeiten sind, gestehe ich, dass ich das Rowdytum des Lesers gefördert habe. Ich meine folgendes: Wenn auf der Straße ein Streit ausbricht oder ein Verkehrsunfall passiert, taucht häufig plötzlich wie aus den Eingeweiden der Erde ein Individuum auf und versucht, einem der beiden Streithähne, gewöhnlich dem Automobilisten, seinen Regenschirm über den Schädel zu hauen. Der unbekannte Rowdy lässt seine latente Wut heraus. Ähnliches kommt auch in Büchern vor: Wenn ein Leser, der keine Ideen hat oder nur solche in formlosem Zustand, auf einen pittoresken, phosphoreszierenden oder explosiven Satz stößt, verliebt er sich in ihn, adoptiert ihn, versieht ihn mit einem Ausrufungszeichen am Rande, mit einem »gut!« oder »richtig!«, als hätte er schon immer so gedacht, als wäre dieser Satz die Quintessenz seines Denkens und Philosophierens. Er »bezieht Position«, wie der Duce sagte. Ich biete ihm die Möglichkeit, Position zu beziehen, ohne dass er in den Dschungel der verschiedenen Literaturen eintauchen muss.
So verstanden, drückt der Aphorismus auf brillante (und neue) Weise einen Gemeinplatz aus.
Von einem Harmonium zu sagen, es sei »ein Pianoforte, das sich angeekelt vom Leben in die Religion geflüchtet hat«, ist nichts als eine effektvolle Formulierung dessen, was wir schon wussten und glaubten, nämlich dass das Harmonium ein Kircheninstrument ist. Vom Alkohol zu sagen, er sei »eine Flüssigkeit, welche die Lebenden tötet und die Toten konserviert«, fügt dem, was wir über die Gefahren der Trunksucht und die Gebräuche in anatomischen Instituten wussten, nichts hinzu.
Wenn Pitigrilli (in Esperimento di Pott, Mailand 1929) seinen Protagonisten sagen lässt: »Intelligenz bei Frauen ist eine Anomalie, die so selten auftritt wie Albinotum, Linkshändigkeit, Hermaphroditismus oder Polydaktilie«, dann sagt er genau das, wenn auch auf witzige Weise, was der männliche Leser (und vermutlich auch die weibliche Leserin von 1929) zu lesen erwartete.
Doch, bei aller Kritik an seiner vis aphoristica, sagt Pitigrilli noch etwas mehr, nämlich dass viele glänzende Aphorismen auch umgedreht werden können, ohne dadurch an Kraft zu verlieren. Sehen wir uns einige der von ihm selbst vorgebrachten Beispiele solcher Umkehrung an:
Viele verachten die Reichtümer, aber nur wenige wissen sie zu verschenken.
Viele wissen Reichtümer zu verschenken, aber nur wenige verachten sie.
Wir versprechen gemäß unseren Befürchtungen und halten gemäß unseren Hoffnungen.
Wir versprechen gemäß unseren Hoffnungen und halten gemäß unseren Befürchtungen.
Die Geschichte ist nur ein Abenteuer der Freiheit.
Die Freiheit ist nur ein Abenteuer der Geschichte.
Das Glück liegt in den Dingen und nicht in unserem Geschmack.
Das Glück liegt in unserem Geschmack und nicht in den Dingen.
Überdies stellt er Maximen verschiedener Autoren zusammen, die zwar einander widersprechen, aber dennoch eine gesicherte Wahrheit auszudrücken scheinen:
Man täuscht sich nur aus Optimismus (Hervieu).
Man wird öfter durch Misstrauen als durch Vertrauen getäuscht (Rivarol).
Die Völker wären glücklich, wenn die Könige philosophierten und die Philosophen regierten (Plutarch).
Wenn ich eine Provinz bestrafen will, werde ich sie von einem Philosophen regieren lassen (Friedrich II.).
Ich werde für diese umkehrbaren Aphorismen hier den Begriff »kanzerisierbare Aphorismen« verwenden. Der kanzerisierbare – also krebsanfällige – Aphorismus ist eine Krankheit der Neigung zum Witz oder Aperçu, mit anderen Worten, eine Maxime, die sich, solange sie nur geistreich erscheint, nicht darum schert, dass ihr Gegenteil ebenso wahr ist. Das Paradox ist eine reale Umkehrung des Gewohnten, die eine inakzeptable Welt präsentiert, weshalb es erst einmal Widerstand und Ablehnung hervorruft, dann aber, wenn man es genauer bedenkt, Erkenntnis produziert. Am Ende erscheint es geistreich, weil man zugeben muss, dass es wahr ist. Der kanzerisierbare Aphorismus ist demgegenüber lediglich Träger einer partiellen Wahrheit, und oft enthüllt er, sobald er kanzerisiert worden ist, dass keine der beiden behaupteten Ansichten wahr ist. Es schien nur so, weil er witzig formuliert war.
Salvador Dalí
Unsichtbarer Afghane mit Erscheinung des Gesichts von García Lorca am Strand in Form einer Fruchtschale mit drei Feigen, 1938
Privatsammlung
Das Paradox ist jedoch keine Abart des klassischen Topos der »verkehrten Welt«. Dieser ist bloß mechanisch, er führt eine Welt vor, in der Tiere sprechen und Menschen brüllen, Fische fliegen und Vögel schwimmen, Affen die Messe lesen und Bischöfe auf den Bäumen herumspringen. Er operiert mit einer Aneinanderreihung von adynata oder impossibilia ohne Logik. Er ist ein Karnevalsjux.
Um Paradox zu werden, muss die Umkehrung einer Logik folgen und auf einen Teil der Welt begrenzt sein. Ein Perser kommt nach Paris und beschreibt Frankreich so, wie ein Pariser Persien beschreiben würde. Die Wirkung ist paradox, weil sie den Leser zwingt, die Dinge anders als in der gewohnten Perspektive zu sehen.
Eine der Prüfungen, durch die sich ein Paradox von einem kanzerisierbaren Aphorismus unterscheiden lässt, ist der Versuch, es umzukehren.
Ein Autor, der sich stets mit Zynismus und Zwanglosigkeit zwischen Paradox und Aphorismus bewegt hat, ist Oscar Wilde. Angesichts der unzähligen Aphorismen, die er in seine Werke eingestreut hat, müssten wir zugeben, dass wir es mit einem dandyhaft seichten, auf oberflächliche Reize erpichten Autor zu tun haben, der, solange er nur den braven Bürger erschreckt, nicht zwischen Aphorismus, kanzerisierbarem Aphorismus und Paradox unterscheidet. Ja, er traut sich sogar, uns Behauptungen als scharfsinnige Aphorismen vorzusetzen, die sich unter der witzigen Oberfläche als triviale Gemeinplätze entpuppen – jedenfalls als Gemeinplätze für die viktorianische Oberschicht.
Auch hier jedoch lässt uns ein Experiment dieser Art erkennen, ob und inwieweit ein Autor, der die aphoristische Provokation zum Salz seiner Romane, Komödien und Essays gemacht hat, tatsächlich ein Schöpfer fulminanter Paradoxe war oder bloß ein begabter Bonmot-Sammler.
Ich werde zunächst eine Reihe echter Paradoxe auflisten, die sich, wie mir scheint, nicht kanzerisieren lassen (oder höchstens mit dem Ergebnis einer sinnlosen oder eindeutig falschen Behauptung):
Das Leben ist einfach ein mauvais quart d’heure aus erlesenen Augenblicken.
Egoismus besteht nicht darin, zu leben, wie es uns passt, sondern zu verlangen, dass die anderen leben, wie es uns passt.
Ein feinfühliger Mensch ist einer, der, wenn er Schwielen hat, stets auf die Füße der anderen tritt.
All jene, die unfähig zum Lernen sind, haben sich aufs Lehren verlegt.
Ein Mann, über den viel geredet wird, ist eo ipso attraktiv. Irgendetwas muss schließlich an ihm dran sein.
Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung.
Falschheit ist die Wahrheit der anderen.
Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie neu zu schreiben.
Eine Sache ist nicht notwendigerweise wahr, weil jemand für sie gestorben ist.
Die Verwandten sind ein Haufen langweiliger Leute, die nicht den geringsten Sinn dafür haben, wie man lebt, und nicht die blasseste Ahnung, wann man stirbt.
Jedes Mal, wenn die Leute mit mir einer Meinung sind, habe ich das Gefühl, im Unrecht zu sein.
Aber es gibt auch unzählige Aphorismen von Wilde, die sich leicht kanzerisieren lassen:
Leben ist das Seltenste auf der Welt. Die meisten Leute existieren bloß und sonst nichts.
Existieren ist das Seltenste auf der Welt. Die meisten Leute leben bloß und sonst nichts.
Wer einen Unterschied zwischen Seele und Körper findet, hat weder das eine noch das andere.
Wer keinen Unterschied zwischen Seele und Körper findet, hat weder das eine noch das andere.
Leben ist zu wichtig, um ernst darüber zu sprechen.
Leben ist zu unwichtig, um darüber zu scherzen.
Es gibt auf der Welt zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die an das Unglaubliche glauben, wie die anderen, und diejenigen, die das Unwahrscheinliche tun, wie ich.
Es gibt auf der Welt zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die an das Unwahrscheinliche glauben, wie die anderen, und diejenigen, die das Unglaubliche tun, wie ich.
Es gibt auf der Welt zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die das Unwahrscheinliche tun, wie die anderen, und diejenigen, die an das Unglaubliche glauben, wie ich.
Es liegt etwas Verhängnisvolles in allen guten Vorsätzen: Sie werden immer zu früh gefasst.
Es liegt etwas Verhängnisvolles in allen guten Vorsätzen: Sie werden immer zu spät gefasst.
Es liegt etwas Offenkundiges in allen schlechten Vorsätzen: Sie werden immer im richtigen Augenblick gefasst.
Unreif sein heißt vollkommen sein.
Reif sein heißt unvollkommen sein.
Vollkommen sein heißt unreif sein.
Unvollkommen sein heißt reif sein.
Die Unwissenheit gleicht einer delikaten exotischen Frucht: Man braucht sie nur zu streifen, und schon wird sie welk.
Das Wissen gleicht einer delikaten exotischen Frucht: Man braucht es nur zu streifen, und schon wird es welk.
Je mehr wir die Kunst studieren, desto weniger interessiert uns die Natur.
Je mehr wir die Natur studieren, desto weniger interessiert uns die Kunst.
Sonnenuntergänge sind aus der Mode. Sie gehören zu der Zeit, als Turner der letzte Schrei war. Sie zu bewundern, ist ein Kennzeichen für provinziellen Geschmack.
Sonnenuntergänge sind wieder in Mode, denn sie gehören zu der Zeit, als Turner der letzte Schrei war. Sie zu bewundern, heißt up to date sein.
Schönheit enthüllt alles, weil sie nichts ausdrückt.
Schönheit enthüllt nichts, weil sie alles ausdrückt.
Kein verheirateter Mann ist attraktiv, außer für seine eigene Frau, und oft, wie man hört, nicht einmal für sie.
Jeder verheiratete Mann ist attraktiv, außer für seine eigene Frau, und oft, wie man hört, sogar für sie.
Dandytum ist auf seine Weise ein Versuch, die absolute Modernität der Schönheit zu verfechten.
Dandytum ist auf seine Weise ein Versuch, die absolute Inaktualität der Schönheit zu verfechten.
Die Konversation müsste alles streifen, ohne sich je auf etwas zu konzentrieren.
Die Konversation dürfte nichts streifen, um sich auf alles zu konzentrieren.
Ich liebe es, über nichts zu sprechen. Es ist das einzige, worüber ich alles weiß.
Ich liebe es, über alles zu sprechen. Es ist das einzige, worüber ich nichts weiß.
Nur die großen Meister des Stils verstehen es, klar zu sein.
Nur die großen Meister des Stils verstehen es, dunkel zu sein.
Jeder kann teilhaben an der Geschichte. Nur ein großer Mann kann sie schreiben.
Jeder kann Geschichte schreiben. Nur ein großer Mann kann an ihr teilhaben.
Die Engländer haben mit den Amerikanern alles gemeinsam außer der Sprache.
Die Engländer haben mit den Amerikanern nichts gemeinsam außer der Sprache.
Nur die Modernen werden überholt.
Nur die Überholten werden modern.
Müssten wir hier unser Urteil über Wilde fällen, würde es ziemlich streng ausfallen. Als höchste Inkarnation des Dandytums, aber im Rückstand hinter Lord Brummell und sogar hinter seinem geliebten Des Esseintes, kümmert er sich nicht um die Unterscheidung zwischen Paradoxen als Trägern zugespitzter Wahrheiten, Aphorismen als Trägern akzeptabler Wahrheiten und kanzerisierbaren Aphorismen als bloß geistreichen Spielereien ohne Wahrheitsanspruch. Und andererseits würde sein Verhalten durch seine Vorstellungen von der Kunst autorisiert, dürfte es doch ihnen zufolge bei einem Aphorismus niemals um Nützlichkeit, Wahrheit oder Moralität gehen, sondern stets nur um stilistische Schönheit und Eleganz.
Allerdings würde sein Bemühen um ästhetische Provokation und Stil nicht genügen, um Oscar Wilde freizusprechen, da es ihm nicht gelang, zwischen der echten Provokation durch das Paradox und der bloß oberflächlichen Provokation zu unterscheiden. Doch wäre es nach seinen Prinzipien gegangen, hätte er nicht ins Gefängnis gesteckt werden dürfen, weil er Lord Douglas liebte, sondern weil er ihm Briefe wie diesen geschrieben hatte: »Es ist ein Wunder, dass deine rosenroten Lippen nicht minder für die Musik des Gesanges als für die Tollheit der Küsse gemacht sind« – und nicht nur deshalb, sondern weil er während des Prozesses auch noch behauptet hatte, dieser Brief sei eine Stilübung und eine Art Sonett in Prosa gewesen.
Aber kann man zum Beispiel einen Aphorismus als schwach bezeichnen, den der Autor einer bewusst als seicht dargestellten Figur in den Mund legt? Ist es ein Aphorismus, wenn Lady Bracknell in The Importance of Being Earnest zu Algernon sagt: »Den Vater oder die Mutter zu verlieren kann als bedauerlicher Unglücksfall gelten. Beide zu verlieren, grenzt schon an Schlamperei«? Daher der begründete Verdacht, dass Wilde an keinen seiner Aphorismen glaubte und nicht einmal an die besten seiner Paradoxe, sondern einzig daran interessiert war, eine Gesellschaft vorzuführen, die solche Sprüche zu schätzen wusste.
Übrigens sagt er das selbst. Man lese nur diesen Dialog in The Importance of Being Earnest:
Algernon: Alle Frauen ähneln mit der Zeit ihren Müttern. Das ist ihre Tragik. Aber nie ein Mann. Das ist seine Tragik.
Jack: Findest du das geistreich?
Algernon: Es ist perfekt formuliert. Und so zutreffend, wie man es unter kultivierten Leuten von einem Aperçu erwarten darf.
Darum sollte man Oscar Wilde nicht als einen liederlichen Aphoristiker ansehen, sondern als einen Satiriker und Kritiker der herrschenden Bräuche. Dass er dann in und mit diesen Bräuchen sehr gut zu leben verstand, ist eine andere Sache und war sein Pech.
Lesen wir noch einmal Das Bildnis des Dorian Gray (1890). Bis auf wenige Ausnahmen werden die denkwürdigsten Aphorismen dem als seichten Salonlöwen porträtierten Lord Henry Wotton in den Mund gelegt. Wilde präsentiert sie uns keineswegs als Lebensregeln, die er selber für richtig hielte.
Lord Henry formuliert, wenn auch mit Esprit, eine unerträgliche Reihe von Gemeinplätzen der viktorianischen Gesellschaft (und gerade deshalb delektierten sich Wildes Leser an seinen falschen Paradoxen): Ein Bischof sagt als Achtzigjähriger noch genau dasselbe, was man ihn als Achtzehnjährigen gelehrt hat. Das Gewöhnlichste wird begehrenswert, sobald man es versteckt. Der einzige Reiz der Ehe liegt darin, dass sie ein Leben in Täuschung für beide Teile unentbehrlich macht. Heutzutage bringt es ein gebrochenes Herz zu vielen Auflagen. Die Jungen möchten treu sein und sind es nicht, die Alten würden gern untreu sein und können es nicht. Nur wer seine Rechnungen bezahlt, braucht Geld, und ich bezahle meine nie. Ich möchte in England nichts ändern, nur das Klima. Um die eigene Jugend wiederzufinden, muss man nur dieselben Verrücktheiten wieder begehen. Männer heiraten aus Müdigkeit und Frauen aus Neugier. Frauen haben einen wunderbaren Sinn für die Praxis: Wir vergessen oft, von Heirat zu sprechen, aber sie erinnern uns immer wieder daran. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich. Die wahre Tragik der Armen ist, dass sie sich nichts außer der Selbstaufopferung gönnen (wer weiß, ob Lord Henry das Kommunistische Manifest gelesen hatte und wusste, dass die Proletarier nichts zu verlieren haben als ihre Ketten?). Es ist besser zu lieben, als geliebt zu werden, geliebt zu werden ist eine Belästigung. Mit jedem Effekt, den wir erzielen, machen wir uns einen Feind, um beliebt zu sein, muss man mittelmäßig sein. Auf dem Land kann jeder gut sein, dort gibt es keine Versuchungen. Das Eheleben ist nur eine Gewohnheit. Das Verbrechen ist das Vorrecht der Unterklassen, für sie ist das Verbrechen das, was für uns die Kunst ist: eine Art und Weise, sich Gefühle außerhalb des Gewöhnlichen zu verschaffen. Mord ist immer ein Fehler, man sollte nie etwas tun, worüber man nicht nach dem Essen reden kann …3
Neben diesen Plattitüden, die nur darum brillant erscheinen, weil sie in Salven abgeschossen werden – wie bei jener Technik der Aufzählung, in der die banalsten Wörter an Glanz gewinnen, weil sie ein inkongruentes Verhältnis mit ebenso banalen anderen Wörtern eingehen –, bezeugt Lord Henry ein besonderes Genie im Aufspüren von Gemeinplätzen, die sogar für die Spruchkärtchen in Pralinéschachteln zu fad wären, und macht sie durch Umkehrung würzig:
Natürlichkeit ist nichts als Pose, und zwar die ärgerlichste, die ich kenne.
Die einzige Art, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben.
Ich liebe die einfachen Freuden, sie sind die letzte Zuflucht der komplizierten Personen.
Was ich hören will, ist eine Neuigkeit, natürlich keine nützliche, sondern eine unnütze.
Diejenigen, die nur einmal im Leben lieben, sind die wirklich Oberflächlichen.
Die Tragödien der anderen haben immer etwas Erbärmliches.
Wenn ein Mann etwas besonders Dummes tut, handelt er stets aus den edelsten Motiven (aber dies lässt sich auch umkehren: Wenn ein Mann etwas besonders Edles tut, handelt er stets aus den dümmsten Motiven).
Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein, solange er sie nicht liebt.
Besser schön sein als gut sein. Doch niemand anerkennt bereitwilliger als ich, dass es besser ist, gut zu sein, als hässlich zu sein (dies rekurriert auf einen Gemeinplatz, der banaler nicht sein kann, von der Sorte, die unsere TV-Talkmaster lieben: »Lieber schön, reich und gesund als hässlich, arm und krank«).
Nur die Oberflächlichen urteilen nicht nach dem Schein.
Es ist ungeheuerlich, wie die Leute heutzutage herumlaufen und hinter unserem Rücken Dinge sagen, die absolut wahr sind.
Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer lebenslangen Leidenschaft ist, dass die Laune etwas länger andauert.
Man kann Lord Henry auch nicht die Erfindung einiger schöner Paradoxe absprechen, etwa:
Meine Freunde wähle ich wegen ihrer Schönheit aus, meine Bekannten wegen ihres guten Charakters und meine Feinde wegen ihrer Intelligenz.
Amerikanische Mädchen verbergen ihre Eltern so geschickt wie englische Frauen ihre Vergangenheit.
Die Philanthropen verlieren jeden Sinn für Humanität. Das ist ihr Erkennungszeichen.
Rohe Gewalt kann ich tolerieren, aber rohe Vernunft ist unerträglich.
Wagners Musik gefällt mir mehr als jede andere. Sie ist so laut, dass man die ganze Zeit reden kann, ohne dass jemand hört, was man sagt.
Eine grande passion ist das Privileg derer, die nichts zu tun haben.
Die Frauen wecken in uns den Wunsch, Meisterwerke zu schaffen, um uns dann ständig daran zu hindern, sie zu realisieren.
Wer nicht zögert, einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen sein, ihn zu benutzen.
Häufiger sind die Paradoxe Lord Henrys jedoch kanzerisierbare Aphorismen:
Die Sünde ist der einzige Farbtupfer, der dem modernen Leben geblieben ist.
Die Tugend ist der einzige Farbtupfer, der dem modernen Leben geblieben ist.
Die Menschheit nimmt sich zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wäre der Höhlenbewohner fähig gewesen zu lachen, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen.
Die Menschheit nimmt sich zu wenig ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wäre der Höhlenbewohner fähig gewesen, sich das Lachen zu verkneifen, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen.
Die Frauen verkörpern den Sieg der Materie über den Geist, so wie die Männer den Sieg des Geistes über die Moral verkörpern.
Die Männer verkörpern den Sieg der Materie über den Geist, so wie die Frauen den Sieg des Geistes über die Moral verkörpern.
Die Wahrheit ist, dass im Dorian Gray die Seichtheit Lord Wottons in Szene gesetzt und zugleich denunziert wird. Über ihn wird gesagt: »Hör ihm nicht zu, meine Liebe … Er redet nie ernsthaft.« Über ihn sagt der Autor: »Er spielte mit der Idee und versteifte sich immer mehr darauf; er warf sie in die Luft und verwandelte sie, ließ sie entkommen und fing sie wieder ein, machte sie schillernd vor Fantasie und geflügelt mit dem Paradox … Er spürte, dass Dorian Grays Augen ihn fixierten, und das Bewusstsein, dass unter seinen Zuhörern einer war, den er faszinieren wollte, schien seinem Witz noch mehr Schärfe und seiner Fantasie noch mehr Farbe zu geben.«
Einige der besten Paradoxe von Wilde stehen in jenen »Sätzen und Philosophien zum Gebrauch der Jungen«, die er ebendarum als Lebensmaximen in einem Oxforder Studentenmagazin veröffentlich hat:
Gut erzogene Leute widersprechen den anderen. Die Weisen widersprechen sich selbst.
Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht der Gescheiterten.
Bei Prüfungen stellen die Dummen Fragen, auf welche die Weisen nicht antworten können.
Nur den großen Meistern des Stils gelingt es, immer unbemerkt durchzuschlüpfen.
Die erste Pflicht des Lebens ist es, so artifiziell wie möglich zu sein. Welches die zweite ist, weiß ich nicht.
Nichts, was wirklich geschieht, hat die geringste Bedeutung.
Überdruss ist das höhere Alter der Ernsthaftigkeit.
Wenn man die Wahrheit sagt, ist man sicher, früher oder später entdeckt zu werden.
Nur wer wenig Tiefe hat, erkennt sich selbst.
Doch in welchem Maße er diese Sätze als wahre Lehren ansah, sagt er in den Antworten, die er im Prozess gab, als sie ihm vorgehalten wurden: »Ich denke selten, dass etwas von dem, was ich schreibe, wahr ist.« Es ist richtig, von Wilde keine strenge Unterscheidung zwischen Paradoxen (wahren), Aphorismen (trivialen) und kanzerisierbaren (also falschen oder jedes Wahrheitswertes baren) Aphorismen zu verlangen. Was er zur Schau stellt, ist eine regelrechte Sentenzenwut, ein furor sententialis (und somit eine wohltuende rhetorische Inkontinenz), nicht eine philosophische Passion.
Wenn dem so ist, kann man ebenso gut eine neue Form von falschem Paradox und lügnerischem Aphorismus erfinden, die nur dazu dient, die Existenz von Gemeinplätzen kenntlich zu machen, in denen wir selbst uns tagtäglich verfangen.
Gerade ist ein köstliches Büchlein erschienen, das 500 auf den Kopf gestellte Gemeinplätze versammelt, die auch schon im Internet verbreitet sind. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich nur einige davon zitiere, ausgehend vom Titel des Buches: Scusa l’anticipo ma ho trovato tutti verdi.4
Manchmal übertrifft die Fantasie die Wirklichkeit.
Ich glaube nicht an Gott, aber an die Kirche.
Erst hat er sich das Leben genommen, dann hat er mit derselben Waffe seine Frau und die Kinder umgebracht.
Danke, dass ihr mir in dieser Zeit fern geblieben seid.
Es bekümmert mich sehr, dass ich mein Studium nicht abgebrochen habe.
Es wird Zeit, dass der Weihnachtsmann kapiert, dass es die Kinder nicht gibt.
Ich bin wieder Kind geworden, aber ich bin nicht alt.
Man hat mir die Brieftasche geklaut, aber nicht wegen der Papiere, sondern wegen des Geldes.
Nicht schlafen, dann kannst du keine Cola trinken.
Es ist nicht die Feuchtigkeit, es ist die Wärme.
Kalium ist reich an Bananen.
Alberto Sordi kann als der Erbe von Verdone betrachtet werden.
Die antike Kunst verstehe ich nicht.
Zur Probeaufnahme hatte ich bloß eine Freundin begleitet, und dann ist sie tatsächlich genommen worden.
Da ist die Krise, da ist die Krise, und abends sind alle zu Hause.
Im Grunde hat Mussolini auch viele Schweinereien gemacht.
Venedig ist das Amsterdam des Südens.
Albinos haben die Musik im Blut.
Früher war hier alles Stadt.
Die Chinesen sehen alle verschieden aus.
Es scheint, dass er besser mit Kissen schläft.
Ich würde auch Linux benutzen, aber es ist mir zu leicht.
Hier noch eine Reihe berühmter Paradoxe von Karl Kraus. Ich versuche gar nicht, sie umzukehren, da das, wie sich bei kurzem Nachdenken zeigt, unmöglich ist. Sie sind allesamt Träger einer unkonventionellen, gegen die gängige Meinung gerichteten Wahrheit. Sie lassen sich nicht zum Ausdruck der gegenteiligen Wahrheit verbiegen.
Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.
Zur Vollkommenheit fehlte ihr nur ein Mangel.
Das Virginitätsideal ist das Ideal jener, die entjungfern wollen.
Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.
Es gibt einen dunklen Weltteil, der Entdecker aussendet.
Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Warum aber spielen Soldaten Kinder?
Natürlich ist auch Karl Kraus nicht gegen die Sünde des kanzerisierbaren Aphorismus gefeit. Hier einige seiner Sprüche, die leicht widerlegt und folglich umgedreht werden können:
Nichts ist unergründlicher als die Oberflächlichkeit des Weibes.
Nichts ist oberflächlicher als die Unergründlichkeit des Weibes.
Lieber ein hässlicher Fuß verziehen als ein hässlicher Strumpf!
Lieber ein hässlicher Strumpf verziehen als ein hässlicher Fuß!
Es gibt Frauen, die nicht schön sind, sondern nur so aussehen.
Es gibt Frauen, die schön sind, aber nicht so aussehen.
Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt.
Der Mensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Übermenschen voraussetzt.
Die einzigen Paradoxe, die sich fast niemals kanzerisieren lassen, sind die von Stanisław Jerzy Lec. Hier eine kurze Liste seiner Unfrisierten Gedanken:5
Könnte man den Tod doch abzahlen, indem man ihn in Raten schliefe!
Ich habe von der Wirklichkeit geträumt. Welche Erleichterung, zu erwachen!
Sesam öffne dich – ich möchte hinaus!
Wer weiß, was Kolumbus entdeckt hätte, wenn ihm Amerika nicht in die Quere gekommen wäre!
Wie schrecklich: ein mit Honig beschmierter Knebel.
Der Krebs errötet nach seinem Tod. Was für ein beispielhaftes Feingefühl bei einem Opfer!
Schont die Sockel, wenn ihr die Denkmäler stürzt. Sie könnten noch gebraucht werden.
Er hat die Wissenschaft besessen, aber nicht geschwängert.
Scheiterhaufen erleuchten die Finsternis nicht.
Man kann auf St. Helena sterben, ohne Napoleon gewesen zu sein.
Sie standen sich so nah, daß es zwischen ihnen keinen Platz mehr für Gefühle gab.
Er streute Asche auf sein Haupt – die seiner Opfer.
Ich habe von Freud geträumt. Was bedeutet das?
Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat.
Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.
Sogar in seinem Schweigen gab es Sprachfehler.
Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Lec, und so möchte ich mit einem Paradox von ihm schließen, das mir, auch wenn ich es nicht immer befolgt habe, als Leitfaden für mein Leben bleibt, und ich hoffe, auch für das Ihre:
Überlege, bevor du denkst.
[Vortrag im Rahmen der Milanesiana 2010, Paradoxe]