Da ich mich hier zum Thema Obsession äußern soll, kam ich darauf, dass eine der Obsessionen unserer Zeit fraglos die der Komplotte und Verschwörungen ist. Schon ein kleiner Ausflug ins Internet macht uns deutlich, wie viele (offensichtlich an den Haaren herbeigezogene) Komplotte überall entdeckt werden. Die Obsession der Verschwörung betrifft jedoch nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit.
Dass es in der Geschichte Verschwörungen gab und immer gegeben hat, scheint mir evident zu sein, vom Komplott zur Ermordung Julius Cäsars über die Pulververschwörung in England und Georges Cadoudals Konspiration der Höllenmaschine in Frankreich bis hin zu den heutigen Finanzkomplotten, mit denen Aktiengesellschaften zur Macht an der Börse verholfen werden soll. Aber für reale Verschwörungen ist es charakteristisch, dass sie alsbald aufgedeckt werden, sowohl wenn sie erfolgreich sind (wie bei Julius Cäsar) als auch wenn sie scheitern, wie das Orsini-Komplott zur Ermordung Napoleons III. oder der versuchte Staatsstreich, den Junio Valerio Borghese Ende 1969 in Italien organisierte, oder auch die Konspirationen des Freimaurers Licio Gelli. Reale Verschwörungen sind also keineswegs mysteriös, weshalb sie uns hier auch nicht weiter interessieren.
Interessant ist dagegen das Phänomen des Verschwörungssyndroms und des Erdichtens bisweilen sogar weltumspannender Konspirationen, von denen es im Internet geradezu wimmelt und die mysteriös und unerforschlich bleiben, weil für sie dasselbe gilt wie für das Geheimnis, über das der Soziologe Georg Simmel geschrieben hat, dass es umso mächtiger und verlockender wird, je leerer es ist. Ein leeres Geheimnis erhebt sich drohend und kann weder aufgedeckt noch widerlegt werden, und genau deshalb wird es zu einem Machtinstrument.
Beginnen wir mit dem König aller Komplotte, mit dem sich zahlreiche Internetseiten beschäftigen: dem des 11. Septembers. Viele Theorien dazu sind im Umlauf, angefangen bei den extremistischen (auf arabischen oder neonazistischen Webseiten), denen zufolge der Anschlag von den Juden organisiert worden sein soll, denn angeblich hätten alle in den beiden Wolkenkratzern arbeitenden Juden die Information bekommen, an jenem Tag nicht zur Arbeit zu gehen.
Diese durch den libanesischen Fernsehsender al-Manar verbreitete Nachricht war offenkundig falsch: Tatsächlich kamen im Feuer der Zwillingstürme mindestens zweihundert Bürger mit israelischem Pass ums Leben, zusammen mit vielen Hunderten amerikanischer Juden.
Sodann gibt es die Anti-Bush-Theorien, nach denen das Attentat im Auftrag des US-Präsidenten organisiert wurde, um einen Vorwand für die Invasion Afghanistans und des Irak zu haben. Und es kursieren Theorien, die den Anschlag diversen mehr oder minder auf Abwege geratenen amerikanischen Geheimdiensten zuschreiben; nach einer davon sei das Komplott zwar arabisch-fundamentalistisch motiviert, aber der amerikanischen Regierung vorher bekannt gewesen, nur habe sie die Attacke laufen lassen, um wie gesagt einen Vorwand für den Angriff auf Afghanistan und den Irak zu haben (ähnlich wie Roosevelt einst nachgesagt wurde, er habe von dem bevorstehenden Angriff auf Pearl Harbor gewusst, aber nichts unternommen, um seine Flotte in Sicherheit zu bringen, da er einen Vorwand gebraucht habe, um den Krieg gegen Japan zu beginnen). In all diesen Fällen behaupten die Verfechter mindestens einer dieser Verschwörungstheorien, dass die offizielle Rekonstruktion der Fakten bewusst gefälscht, betrügerisch und zudem albern sei.
Wer sich ein genaueres Bild von diesen Verschwörungstheorien machen will, lese das Buch Zero. Perché la versione ufficiale sull’ 11/9 è un falso, herausgegeben von Giulietto Chiesa und Roberto Vignoli, erschienen 2007 im Verlag Piemme.1 Sie werden es nicht glauben, aber darin finden sich Beiträge von höchst angesehenen Personen, deren Namen ich hier aus Respekt verschweige.
Wer jedoch auch die Gegenseite hören möchte, bedanke sich beim selben Verlag, der mit bewundernswerter aequitas animae (und mit der offenkundigen Fähigkeit, zwei gegensätzliche Marktbereiche zu erobern) im selben Jahr auch ein Buch gegen die Verschwörungstheorien herausgebracht hat: 11/9. La cospirazione impossibile, herausgegeben von Massimo Polidoro, mit Beiträgen ebenso angesehener Persönlichkeiten. Ich möchte hier nicht auf die Einzelheiten der von den Vertretern beider Seiten angeführten Argumente eingehen, die allesamt überzeugend klingen mögen, sondern mich bloß auf das berufen, was ich den »Beweis des Schweigens« nenne. Ein Paradebeispiel für diesen Beweis des Schweigens kann man etwa gegen jene ins Feld führen, die insinuieren, dass die amerikanische Landung auf dem Mond eine Fälschung im Fernsehstudio gewesen sei. Wenn das amerikanische Raumschiff nicht auf dem Mond gelandet wäre, hätte sich damals jemand klar und deutlich dazu geäußert, denn es gab jemanden, der in der Lage war, es zu überprüfen, und der ein Interesse daran gehabt hätte, die »Wahrheit« ans Licht zu bringen, nämlich die Sowjetunion. Dass die Sowjets damals geschwiegen haben, ist für mich der Beweis, dass die Amerikaner wirklich auf dem Mond gelandet sind. Punkt und basta.
Was schließlich die Verschwörungen und die Geheimnisse angeht, so sagt uns die Erfahrung (auch die historische) Folgendes: 1.) Wenn es ein Geheimnis gibt, sei es auch nur einer einzigen Person bekannt, so wird diese Person es früher oder später offenbaren, womöglich im Bett ihrem Liebhaber – nur die naiven Freimaurer und die Adepten gewisser kindischer Templerriten glauben an ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommt. 2.) Wenn es ein Geheimnis gibt, wird es immer auch eine angemessene Summe geben, für die jemand bereit ist, es zu enthüllen (ein paar Hunderttausend Pfund Sterling als Honorar für Autorenrechte genügten, um einen Offizier der britischen Armee alles erzählen zu lassen, was er mit Prinzessin Diana im Bett gemacht hat; und hätte er es mit Dianas Schwiegermutter getan, hätte es genügt, die Summe zu verdoppeln, und ein Gentleman seines Schlages hätte auch darüber ausgepackt). Um nun einen vorgetäuschten Anschlag auf die Twin Towers zu organisieren (also sie zu verminen, der Luftwaffe zu bedeuten, dass sie nicht eingreifen soll, störende Beweise zu beseitigen usw.), wäre die Mitwirkung wenn nicht Tausender, so doch zumindest Hunderter von Personen nötig gewesen. Die zu solchen Zwecken eingespannten Personen sind jedoch gewöhnlich keine Gentlemen, und es ist ganz undenkbar, dass nicht wenigstens eine von ihnen für eine entsprechende Summe geredet hätte. Kurzum, in dieser Geschichte fehlt der Tiefe Schlund.*23
Umschlag des Bandes Die jüdische Gefahr. Die Protokolle der Weisen von Zion, verfasst mutmaßlich um 1900 von Matthieu Golovinski
Privatsammlung
Das Verschwörungssyndrom ist so alt wie die Welt, und wer seine Philosophie am besten beschrieben hat, war Karl Popper. Schon in den Vierzigerjahren hatte er in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde über die »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« geschrieben:
Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, daß Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.)
Diese Ansicht von den Zielen der Sozialwissenschaften entspringt natürlich der falschen Theorie, daß, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen ist. Besonders Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt. […] In ihren modernen Formen ist die Theorie ein typisches Ergebnis der Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens. […] Der Glaube an die homerischen Götter, deren Verschwörungen die Geschichte des trojanischen Krieges erklären, ist verschwunden. Die Götter sind abgeschafft. Aber ihre Stelle nehmen mächtige Männer oder Verbände ein – unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind, unter denen wir leiden –, wie die Weisen von Zion, die Kapitalisten, die Monopolisten oder die Imperialisten.
Ich will nicht sagen, daß Verschwörungen sich niemals ereignen. Im Gegenteil: Verschwörungen sind ein typisches soziales Phänomen. Sie werden zum Beispiel immer dann wichtig, wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben. Und Menschen, die allen Ernstes zu wissen glauben, wie man den Himmel auf Erden errichtet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschwörungstheorie übernehmen, und sie werden sich in eine Gegenverschwörung gegen nicht existierende Verschwörer verwickeln lassen.2
Und 1969 präzisierte Popper dann in Conjectures and Refutations:
Diese Theorie ist viel primitiver als die meisten Formen des Theismus; sie ähnelt Homers Gesellschaftstheorie. Homer sah die Macht der Götter so, daß alles, was auf dem Feld von Troja geschah, nur die verschiedenen Verschwörungen auf dem Olymp widerspiegelte. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist nur eine Variante des Theismus, eines Glaubens an Götter, deren Launen und Willen alles beherrscht. Sie kommt davon, daß man Gott aufgibt und dann die Frage stellt: ›Wer nimmt seinen Platz ein?‹ Sein Platz wird dann besetzt durch verschiedene mächtige Menschen und Gruppen – durch finstere Interessengruppen, denen dann unterstellt wird, daß sie die große Depression geplant haben, und alle Übel, an denen wir leiden. […] Nur wenn Verschwörungstheoretiker an die Macht kommen, bekommt sie einen gewissen Erklärungswert für die tatsächlichen Ereignisse […] Zum Beispiel, als Hitler an die Macht kam, der an den Mythos der Verschwörung der Weisen von Zion glaubte, versuchte er sogleich, diese eingebildete Verschwörung mit seiner eigenen, wirklichen Verschwörung zu bekämpfen.3
Die Psychologie des Komplotts entsteht aus der Tatsache, dass die offensichtlichsten Erklärungen vieler besorgniserregender Dinge uns nicht befriedigen, und das nicht selten, weil es uns wehtut, sie zu akzeptieren. Man denke nur an die Theorie des »Großen Alten« nach der Entführung von Aldo Moro: Wie ist es möglich, fragte man sich, dass Dreißigjährige eine so perfekte Aktion planen und durchführen konnten? Da muss doch ein erfahreneres Gehirn dahintergesteckt haben. Ohne zu bedenken, dass andere Dreißigjährige Firmen leiteten, Jumbojets flogen oder neue elektronische Geräte erfanden. Das Problem war also nicht, wie Dreißigjährige es schaffen konnten, mitten in Rom den Premierminister zu entführen, sondern dass diese Dreißigjährigen Söhne derer waren, die vom Großen Alten fabulierten.
In der Nachfolge Poppers ist das Verschwörungssyndrom auch von vielen anderen Autoren untersucht worden, ich nenne hier nur Daniel Pipes, dessen Buch Il lato oscuro della storia [Die dunkle Seite der Geschichte] 2005 in italienischer Übersetzung erschienen ist. Im Original war es bereits 1997 unter dem deutlicheren Titel Conspiracy veröffentlicht worden (mit dem Untertitel »Wie der paranoide Stil floriert und woher er kommt«).4 Das Buch beginnt mit einem Zitat von Metternich, der, als er vom Tod des russischen Botschafters in Wien hörte, gesagt haben soll: »Was werden seine Beweggründe gewesen sein?«
Die Menschheit war seit jeher fasziniert von eingebildeten Komplotten. Popper zitiert Homer, aber für neuere Zeiten erinnern wir an den Abbé Barruel, der die Französische Revolution einer Verschwörung der mittelalterlichen Tempelritter zuschrieb, die überlebt hätten und in Freimaurersekten aufgegangen seien, und an die Vervollständigung seiner Theorie durch einen mysteriösen Hauptmann Simonini, der auch noch die Juden ins Spiel gebracht hat, sodass die Grundlage für die späteren Protokolle der Weisen von Zion gelegt war.
Kürzlich bin ich im Internet auf eine Website gestoßen, die alle Niedertracht der beiden letzten Jahrhunderte den Jesuiten zuschreibt. Präsentiert wird ein langer Text mit dem Titel Le monde malade des jésuites von Joël Labruyère. Wie der Titel nahelegt, handelt es sich um eine umfangreiche Auflistung aller Ereignisse der Welt (nicht nur der zeitgenössischen), die auf die jesuitische Weltverschwörung zurückgehen.
Die Jesuiten des 19. Jahrhunderts, von Abbé Barruel bis zur Gründung der Zeitschrift Civiltà cattolica und zu den Romanen von Pater Bresciani, gehörten zu den wichtigsten Inspiratoren der Theorie von der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung, und es war nur gerecht, dass es ihnen vonseiten der Liberalen, der Mazzinianer, Freimaurer und Antiklerikalen mit gleicher Münze heimgezahlt wurde, nämlich mit der Theorie von der jesuitischen Weltverschwörung, die nicht nur durch einige Streitschriften und berühmte Bücher Verbreitung fand, von Pascals Provinciales bis zu Giobertis Il Gesuita moderno und zu den Schriften von Michelet und Quinet, sondern auch durch die populären Romane von Eugène Sue, Der Ewige Jude (1844–45) und Die Geheimnisse des Volkes (1849–57).
Jesuiten im Konklave diskutieren über Rechnungen
19. Jahrhundert
Chatsworth House, Sammlung des Duke of Devonshire
Nichts Neues also, aber die Website von Labruyère treibt die Jesuiten-Obsession auf die Spitze. Ich fasse nur kurz zusammen, weil die Komplottfantasie Labruyères geradezu homerische Dimensionen annimmt. Also die Jesuiten sind stets darauf aus gewesen, eine Weltregierung zu konstituieren, die sowohl den Papst als auch die verschiedenen europäischen Monarchien kontrolliert. Durch den berüchtigten Illuminatenorden (den die Jesuiten selber gegründet hatten, um ihn dann als kommunistisch zu denunzieren) versuchten sie, jene Monarchen zu stürzen, die die Gesellschaft Jesu aus ihren Reichen verbannt hatten. Es waren die Jesuiten, die den Untergang der Titanic verursacht hatten, weil es ihnen durch diesen Unfall möglich wurde, die Federal Reserve Bank zu gründen, vermittelt durch die von ihnen kontrollierten Malteserritter – und nicht zufällig sind beim Untergang der Titanic die drei reichsten Juden der damaligen Welt gestorben, Astor, Guggenheim und Strauss, die sich der Gründung jener Bank widersetzt hatten. Mithilfe der Federal Reserve Bank haben die Jesuiten dann die beiden Weltkriege finanziert, die eindeutig nur dem Vatikan Vorteile gebracht haben. Was den Mord an Kennedy angeht – wenn wir nicht vergessen, dass auch die CIA als ein jesuitisches Programm entstanden ist, inspiriert von den geistlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola, und dass Jesuiten sie durch den sowjetischen KGB kontrollierten –, so verstehen wir, dass Kennedy von denselben Leuten ermordet worden ist, die schon die Titanic hatten untergehen lassen.
Natürlich sind auch sämtliche neonazistischen und antisemitischen Gruppierungen jesuitisch inspiriert, die Jesuiten standen hinter Nixon und Clinton, es waren Jesuiten, die das Massaker von Oklahoma City planten, von Jesuiten inspiriert war Kardinal Spellman, der den Vietnamkrieg förderte, an dem die jesuitische Federal Bank zweihundertzwanzig Millionen Dollar verdient hat. Natürlich darf in diesem Rahmen auch nicht die Organisation Opus Dei fehlen, die die Jesuiten durch die Malteserritter kontrollieren.
Dies nun bringt uns zu Dan Browns Da Vinci Code, einem Roman, der das Verschwörungssyndrom zu seinem Rohstoff gemacht und damit Legionen leichtgläubiger Leser gezwungen hat, Orte in Frankreich und in England aufzusuchen, wo sich die beschriebenen Dinge ganz offenkundig nicht befanden. Brown schmückt seine Erzählung fröhlich mit zahllosen Schnitzern aus, etwa wenn er behauptet, das Priorat von Zion sei in Jerusalem von einem »französischen König mit Namen Gottfried von Bouillon« gegründet worden, obwohl doch Gottfried bekanntlich die Königswürde nie akzeptiert hat; oder dass Papst Clemens V. zur Beseitigung der Templer »versiegelte Geheimbefehle ausgesandt hatte, die seine Soldaten in ganz Europa am Freitag, den 13. Oktober 1307, hätten öffnen sollen«, obwohl doch geschichtlich belegt ist, dass die Botschaften an die Vögte und Seneschallen des Königreichs Frankreich nicht vom Papst, sondern von Philipp dem Schönen verschickt wurden (und genauso wenig ist klar, wie der Papst »Soldaten in ganz Europa« gehabt haben soll); oder wenn Brown die 1947 in Qumran gefundenen Schriftrollen (die weder von der »wahren Geschichte des Gral« noch vom »Reich Christi« sprechen) mit den Schriften von Nag Hammadi verwechselt, die einige gnostische Evangelien enthalten. Oder wenn er schließlich von einer Sonnenuhr in der Kirche Saint-Sulpice in Paris behauptet, es handle sich um »einen Überrest des heidnischen Tempels, der einstmals genau an jener Stelle stand«, und dort erscheine eine sogenannte Rosenlinie, die dem Nullmeridian von Paris entspreche und sich bis ins Untergeschoss des Louvre fortsetze, unterhalb der sogenannten umgekehrten Glaspyramide, wo sich angeblich die letzte Stätte des Heiligen Grals befinde. Prompt begeben sich auch heute noch zahlreiche Geheimnissucher auf Pilgerreise nach Saint-Sulpice, um nach der Rosenlinie zu suchen, sodass sich die Kirchenleitung veranlasst sah, am Eingang eine Plakette mit folgender Richtigstellung anzubringen:
Die Méridienne [der »Mittagsweiser«] in Gestalt einer Messinglinie im Fußboden der Kirche ist Teil eines wissenschaftlichen Messinstrumentes, das im 18. Jahrhundert konstruiert wurde. Dies erfolgte durch die Astronomen des kurz zuvor eingerichteten Observatoriums von Paris und in vollem Einverständnis mit den kirchlichen Behörden. Die Linie wurde benutzt, um verschiedene Parameter der Erdkugel zu bestimmen […] Anders als ein neuer Bestsellerroman fantasievoll behauptet, handelt es sich dabei nicht um die Überreste eines heidnischen Tempels, den es an dieser Stelle nie gegeben hat. Auch wurde sie nie Rosenlinie genannt. Sie ist auch nicht deckungsgleich mit dem Meridian, der den Mittelpunkt des Observatoriums durchläuft und den Karten, auf denen die Längengrade in Gradabweichungen östlich oder westlich von Paris angegeben werden, als Bezugspunkt dient. Von diesem astronomischen Instrument lässt sich keinerlei mystischer Begriff ableiten, es sei denn die Erkenntnis, dass allein der Schöpfergott Herr über die Zeit ist. Auch beachte man, dass die Buchstaben P und S in den kleinen Rundfenstern zu beiden Seiten der Vierung sich auf Pierre und Sulpice beziehen, die Patrone der Kirche, und nicht auf ein fiktives Priorat von [S]ion.
Weshalb haben Ammenmärchen so großen Erfolg? Weil sie ein Wissen verheißen, das nicht allen zugänglich ist. Erst kürzlich hat Frédéric Lordon in Le Monde Diplomatique die Hypothese aufgestellt, das Verschwörungssyndrom sei die Reaktion einer Bevölkerung, die gerne begreifen würde, was gerade passiert, aber feststellen muss, dass ihr der Zugang zu umfänglicher Information oft verwehrt wird. Und er zitiert Spinozas Theologisch-politischen Traktat (damit sind wir im 17. Jahrhundert), in dem es heißt: »Es überrascht nicht, dass der Pöbel weder Wahrheit noch Urteilskraft hat, solange die Staatsgeschäfte ohne sein Wissen verhandelt werden.« Doch zwischen Staatsgeheimnis, Verschwiegenheit und Komplott liegt noch ein gewisser Unterschied. So schreibt Richard Hofstadter in seinem Buch The Paranoid Style in American Politics (London 1965), die Lust am Komplott sei nur zu erklären, wenn man die Kategorien der Psychiatrie auf das gesellschaftliche Denken anwende. Es handle sich um zwei Formen von Paranoia. Der klinisch kranke Paranoiker sehe die ganze Welt gegen seine Person verschworen, während der Sozialparanoiker der Ansicht sei, die Verfolgung durch geheime Mächte richte sich gegen seine Bezugsgruppe, seine Nation oder seine Religion. Ich halte den Sozialparanoiker für gefährlicher als den klinisch kranken Paranoiker, weil er seine Obsessionen von Millionen anderer Menschen geteilt sieht und den Eindruck hat, er handle uneigennützig gegen das Komplott. Dies erklärt manches von dem, was heute in der Welt geschieht, nicht nur vieles von dem, was gestern geschah.
Auch Pier Paolo Pasolini hatte einmal geschrieben, dass Verschwörungen uns faszinieren, weil sie uns von der Last befreien, uns mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Nun könnte es uns ja gleichgültig sein, ob die Welt von Verschwörern wimmelt: Wer glaubt, die Amerikaner seien nicht auf dem Mond gelandet, ist selber schuld. In einem Online-Artikel mit dem Titel »The social consequences of conspiracism« ziehen Daniel Jolley und Karen M. Douglas aus diversen Studien den Schluss, »dass bei Menschen, die ihre Informationen vorwiegend aus Verschwörungstheorien beziehen, die Lust auf politische Betätigung geringer ist als bei solchen, deren Informationen auf Widerlegung der Verschwörungstheorien abzielen«.5 Wenn man tatsächlich davon überzeugt ist, dass die Weltgeschichte von Geheimgesellschaften gelenkt wird, seien es die Illuminaten oder die Gruppe Bilderberg, die im Begriff sind, eine neue Weltordnung zu errichten – was kann ich als Einzelner dagegen tun? Ich gebe auf und ziehe mich wütend in mein Schneckenhaus zurück. Jede Verschwörungstheorie richtet die öffentliche Fantasie auf inexistente Gefahren und lenkt sie von den echten Bedrohungen ab. Wie Noam Chomsky einmal bemerkte, als er sich gleichsam eine Verschwörung der Verschwörungstheorien ausdachte: Von den Hirngespinsten über ein mutmaßliches Komplott profitieren vor allem diejenigen Institutionen, auf die es die Verschwörungstheorie abgesehen hatte. Mit anderen Worten, wenn man sich vorstellt, Bush habe für den Einsturz der Twin Towers gesorgt, um den Irakkrieg zu rechtfertigen, bewegt man sich zwischen verschiedenen Halluzinationen und verzichtet darauf, die Techniken und wirklichen Gründe für Bushs Intervention im Irak zu analysieren und zu klären, welchen Einfluss die Neocons auf ihn und seine Politik gehabt haben.
Ermordung von Präsident Lincoln im Ford’s Theatre in Washington am 14. April 1865
Radierung, um 1900, Privatsammlung
Aber hier möchte ich mich weniger mit dem Umsichgreifen des Verschwörungssyndroms beschäftigen, das vor unser aller Augen stattfindet, sondern mit den, sagen wir, pseudo-semiotischen Techniken, mit denen die vermeintlichen Verschwörungen nachgewiesen und gerechtfertigt werden.
Gewöhnlich bedient sich eine Verschwörungstheorie zufälliger Koinzidenzen, die mit Bedeutung aufgeladen werden, und kombiniert Fakten, die nichts miteinander zu tun haben. Um ein Beispiel zu geben, hier eine hübsche Reihe von Zufälligkeiten, die, wenn noch nicht zu Verschwörungstheorien ausgeartet, zumindest auf dem besten Weg dahin sind. Im Internet lese ich: Abraham Lincoln wurde 1846 in den Kongress gewählt und John F. Kennedy 1946; Lincoln wurde 1860 zum Präsidenten gewählt und Kennedy 1960. Die Gattinnen von beiden verloren ein Kind, während sie im Weißen Haus residierten. Beide wurden an einem Freitag von einem Südstaatler in den Kopf geschossen. Lincolns Sekretär hieß Kennedy, und Kennedys Sekretärin hieß Lincoln. Lincolns Nachfolger war Andrew Johnson (geboren 1808), und Lyndon B. Johnson, der Nachfolger Kennedys, wurde 1908 geboren. John Wilkes Booth, der Mörder Lincolns, wurde 1839 geboren und Lee Harvey Oswald 1939. Lincoln wurde im Ford’s Theatre getroffen und Kennedy in einem Wagen der Marke Ford Lincoln. Lincoln wurde in einem Theater erschossen, und sein Mörder versteckte sich in einem Lagerhaus. Der Mörder Kennedys schoss aus einem Lagerhaus und versteckte sich in einem Theater. Sowohl Booth als auch Oswald wurden erschossen, bevor es zu einem Prozess kam. Kirschlein auf der Torte (leicht anrüchig): Eine Woche vor seiner Ermordung war Lincoln in Monroe, Maryland gewesen. Eine Woche vor seiner Ermordung war Kennedy in Monroe, Marilyn gewesen.
Viele Spekulationen hat es auch über den Einsturz der Twin Towers und das dabei auffällig häufige Vorkommen der Zahl 11 gegeben.
Ebenfalls im Internet, um dabei zu bleiben, wird gezeigt, wie man, wenn man eine 50-Dollar-Note mit einer geradezu origamiartigen Technik faltet, ein Bild von den Zwillingstürmen in Flammen erhält, an dem man erkennt, dass eine Freimaurerverschwörung (es ist normal und kein Zufall, dass man auf amerikanischen Banknoten Freimaurersymbole findet, war doch ein Großteil der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung Freimaurer) jene Katastrophe vorhergesehen und von langer Hand geplant hatte.
Fantasien dieser Art haben mich vor einiger Zeit dazu angeregt, eine Parodie auf Dan Browns Da Vinci Code zu verfassen. Betrachten wir Leonardos Abendmahl, so sehen wir dreizehn Personen am Tisch sitzen. Jesus und Judas (die beide kurz darauf sterben werden) nicht mitgerechnet, bleiben elf Tischgäste übrig. Elf ist die Anzahl der Buchstaben der beiden Namen Petrus und Judas, elf Buchstaben hat das Wort Apocalypsis, desgleichen der Titel Ultima coena, rechts und links neben Jesus sitzen je zwei Apostel mit ausgebreiteten Armen und einer mit ausgestrecktem Zeigefinger, sodass in beiden Fällen eine 11 gebildet wird. Und elf an der Zahl sind auch die großen Rechtecke (Seitenpaneele und Fenster), die auf dem Gemälde erscheinen. Mehr noch, wenn man, einem elementaren Prinzip der Kabbala folgend, den 26 Buchstaben des Alphabets eine fortlaufende Zahl zuordnet und jeden Buchstaben durch diese Zahl ersetzt, so ergibt der Name Leonardo da Vinci die Rechnung 12+5+15+14+1+18+4+15+4+1+22+9+14+3+9=146, und die Quersumme von 146 ist 11. Führt man dieselbe Operation mit dem Namen Matthäus durch, so ist die Summe aus dem Zahlenwert der Buchstaben 74 und deren Quersumme wiederum 11. Elf mal elf ergibt 121: Zieht man davon die zehn Gebote ab, so erhält man 111.
Giotto
Reise der hl. Magdalena nach Marseille
Magdalenenkapelle, 1307–1308
Assisi, Basilika San Francesco
Die Zahlenwerte der Buchstaben des Namens Judas betragen zusammengezählt 42, Quersumme 6. Das Auftauchen der Zahl 6 veranlasst uns, 111 mit 6 zu multiplizieren, und siehe da, schon sind wir bei 666, der »Zahl der Bestie«.
Somit verkündet das Abendmahl, indem es den Verrat an Jesus anprangert, zugleich die Ankunft des Antichristen.
Natürlich musste ich, damit die Rechnung aufging, Petrus lateinisch benennen und Matthäus italienisch (Matteo), Judas einmal italienisch (Giuda) und einmal eben Judas, Ultima coena musste lateinisch sein (nicht italienisch Ultima cena, wofür es keinen triftigen Grund gab), und um auf 111 zu kommen, musste ich die 10 Gebote abziehen und nicht etwa die fünf Wunden Christi oder die sieben Werke der Barmherzigkeit. Aber so geht es nun einmal bei der Numerologie.
Schließen möchte ich hier mit der Rekonstruktion eines weiteren hohlen Komplotts, das noch heute Tausende Neugierige in die Ortschaft Rennes-le-Château führt und auf der Idee beruht, Christus habe Maria Magdalena geheiratet, mit ihr die Dynastie der Merowinger begründet und damit ein phantomhaftes Priorat von Zion, das noch heute aktiv sei. Dieses Komplott verbindet sich, wie es nicht anders sein konnte, mit dem Geheimnis des Grals.
Die legendäre Reliquie hat verschlungene Wege zurückgelegt, sich bald da und bald dort befunden, und eine der jüngsten Legenden, die sich den Büchern des Nazis Otto Rahn verdankt, wollte sie in Montségur in Südfrankreich verorten. Die Gegend war also günstig für ein Wiederaufflackern der Legende, man brauchte nur einen Vorwand. Den lieferte die Geschichte des Abbé Bérenger Saunière, von 1885 bis 1909 Gemeindepfarrer in Rennes-le-Château, einer kleinen Ortschaft ungefähr vierzig Kilometer von Carcassonne entfernt. Saunière hatte die dortige Kirche außen und innen restauriert und sich als Wohnsitz eine Villa Bethanien errichtet, dazu einen Turm auf einem Hügel, den Magdala-Turm, der an den Davidsturm in Jerusalem erinnerte.
Die Baukosten waren auf 200.000 damalige Francs veranschlagt worden, was ungefähr zweihundert Jahresgehältern eines Provinzpfarrers entsprach, weshalb der Bischof von Carcassonne Ermittlungen eingeleitet und Saunière in eine andere Pfarrei versetzt hatte. Aber Saunière hatte sich geweigert und ins Privatleben zurückgezogen, wo er 1917 starb.
Nach seinem Tod jedoch begann es Hypothesen förmlich zu hageln. Es hieß, Saunière habe während der Renovierungsarbeiten in der Pfarrkirche einen Schatz gefunden. In Wahrheit hatte der gewiefte Pfarrer in Annoncen dafür geworben, dass ihm Geld geschickt werde, und den Spendern im Gegenzug versprochen, für ihre Verstorbenen Messen zu lesen, und so hatte er Geld für Hunderte von Messen erhalten, die er tatsächlich nie las – und eben deshalb hatte der Bischof von Carcassonne Ermittlungen gegen ihn aufgenommen.
Bei seinem Tod hinterließ Saunière alles von ihm Erbaute seiner Haushälterin Marie Dénarnaud, die, um dem Geerbten Wert zu verleihen, der Legende vom Schatz weiter Nahrung gab. 1946 erbte dann ihre Besitztümer eine gewisse Noël Corbu, eröffnete ein Restaurant im Dorf und streute in der Lokalpresse Nachrichten über das Geheimnis des »milliardenschweren Pfarrers«, was für die Ankunft etlicher Schatzjäger sorgte.
An diesem Punkt trat Pierre Plantard auf den Plan, ein Mann, der sich politisch in rechtsextremen Gruppen betätigt, antisemitische Gruppen gegründet und im Alter von siebzehn Jahren die Bewegung Alpha Galates ins Leben gerufen hatte, die auf der Seite des Kollaborationsregimes von Vichy stand. Was ihn nach der Befreiung nicht daran hinderte, seine Organisationen als Gruppen des Partisanenwiderstands zu verkaufen.
Im Dezember 1953, nachdem er wegen Vertrauensbruchs sechs Monate im Gefängnis gesessen hatte (später sollte er noch zu einem Jahr wegen Verführung Minderjähriger verurteilt werden), präsentierte Plantard sein Priorat von Zion, dem er auf der Grundlage von Dokumenten, die Saunière entdeckt habe, eine fast zweitausendjährige Geschichte zuschrieb. Angeblich bewiesen diese Dokumente das Überleben der merowingischen Herrscherlinie, und Plantard behauptete, von Dagobert II. abzustammen.
Plantards Schwindel überkreuzte sich dann mit einer Publikation von Gérard de Sède, der schon 1962 ein Buch über die Geheimnisse des Schlosses Gisors in der Normandie geschrieben hatte, wo er mit Roger Lhomoy in Kontakt gekommen war, einem Sonderling, halb Penner, halb Besessener, der eine Zeit lang als Gärtner und Aufseher im Schloss gearbeitet und später zwei Jahre damit verbracht hatte, nachts im Keller nach antiken Geheimgängen zu graben, bis er schließlich verkündete, er sei auf einen Saal gestoßen, in dem er einen steinernen Altar gesehen habe, an den Wänden Bilder von Jesus und den zwölf Aposteln und längs der Wand aufgereiht steinerne Sarkophage und dreißig aus Edelmetall gearbeitete Truhen.
Alle später von de Sède angeregten Forschungen brachten zwar ein paar Tunnel zum Vorschein, führten aber nicht zu dem fabelhaften Saal. In der Zwischenzeit war de Sède jedoch von Plantard angesprochen worden, der behauptete, er besitze nicht nur geheime Dokumente, die er leider nicht vorzeigen könne, sondern auch eine Karte des geheimnisvollen Saales. Tatsächlich hatte er diese Karte selbst nach den Angaben des besagten Lhomoy gezeichnet, der wiederum de Sède ermuntert hatte, sein Buch zu schreiben und darin anzudeuten, in dieser Geschichte hätten, wie fast immer in solchen Fällen, die Tempelritter die Hand im Spiel. 1967 veröffentlichte de Sède sein Buch Der Schatz von Rennes-le-Château und verschaffte damit dem Mythos des Priorats von Zion endgültig die Aufmerksamkeit der Medien, zusammen mit der Reproduktion der falschen Pergamente, die Plantard in diverse Bibliotheken zu streuen verstanden hatte. In Wahrheit, wie Plantard später selber zugab, waren diese Pergamente von Philippe de Chérisey, einem Schauspieler und Humoristen beim französischen Rundfunk, gezeichnet worden, der 1979 schließlich bekannte, Autor der Fälschungen zu sein und die Unzialschrift von Dokumenten aus den Beständen der Pariser Nationalbibliothek abgekupfert zu haben.
In diesen Dokumenten entdeckte de Sède einen beunruhigenden Hinweis auf ein weltberühmtes Gemälde von Nicolas Poussin, auf dem (wie zuvor bereits auf einem Gemälde von Guercino) einige Hirten an einem Grab mit dem eingravierten Schriftzug Et in Arcadia ego dargestellt sind. Dabei handelt es sich um ein klassisches memento mori, in dem auf die Anwesenheit des Todes auch im glücklichen Arkadien hingewiesen wird. Plantard aber hatte behauptet, der Satz tauche seit dem 13. Jahrhundert auch in seinem Familienwappen auf (was unwahrscheinlich ist, denn Plantard war der Sohn eines Kellners), die Landschaft auf den Gemälden erinnere an die Umgebung von Rennes-le-Château (während Poussin aus der Normandie stammte und Guercino überhaupt nie in Frankreich gewesen war), und die Gräber auf den Gemälden Poussins und Guercinos ähnelten einem Grab, das bis in die Achtzigerjahre an einer Straße zwischen Rennes-le-Château und Rennes-les-Bains zu sehen war. Leider ist dann aber nachgewiesen worden, dass dieses Grab erst im 20. Jahrhundert angelegt worden ist.
In jedem Fall sah man darin den Beweis, dass die Gemälde sowohl bei Poussin als auch bei Guercino vom Priorat von Zion in Auftrag gegeben worden waren. Aber damit war die Entschlüsselung des Poussin-Gemäldes noch nicht zu Ende: Durch ein Anagramm von Et in Arcadia ego gelangte man zu dem Fluch I! Tego arcana Dei, was so viel heißt wie »Weiche! Ich (ver)berge die Geheimnisse Gottes«, und das nahm man dann als »Beweis«, dass es sich bei dem Grab um die Grabstätte Jesu handele.
De Sède vermerkte, dass in der von Saunière restaurierten Kirche die Inschrift Terribilis est locus iste auftaucht, was die auf Mysterien Versessenen ganz aus dem Häuschen brachte. Tatsächlich handelt es sich um ein Zitat aus Genesis 28,17, das in vielen Kirchen auftaucht und sich auf Jakobs Vision von der Himmelsleiter bezieht. Denn als Jakob aus seinem Traum erwacht, stellt er in der lateinischen Vulgata fest: »terribilis est […] locus iste [furchtbar ist dieser Ort]«. Im Lateinischen bedeutet terribilis freilich, dass etwas verehrungswürdig und ehrfurchtgebietend ist – der Ausdruck hat daher nichts Bedrohliches an sich.
In der Kirche dient dem Weihwasserbecken ein kniender Dämon als Stütze, der als Asmodeus gedeutet wurde, und auch hier könnte man einwenden, dass es etliche romanische Kirchen mit Teufelsabbildungen gibt. Außerdem überragen den Asmodeus die Abbildungen von vier Engeln, unter denen der Satz »Par ce signe tu le vincrais« prangt, der auf Konstantins In hoc signo vinces verweisen könnte, aber das eingefügte »le« hat die Geheimnisjäger darauf gebracht, die Buchstaben des Satzes zu zählen: Es sind 22, so viel wie die Zähne des Schädels am Eingang zum Friedhof, so viel wie die Zinnen des Magdala-Turms und so viel wie die Stufen der beiden Treppen, die zum Turm hinaufführen. Die Buchstaben von »le« sind zudem der dreizehnte und der vierzehnte des Satzes; fügen wir 13 und 14 zusammen, so haben wir 1314, das Jahr, in dem Jakob von Molay, der Großmeister des Templerordens, auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde. Betrachten wir dann die anderen Standbilder und setzen die Anfangsbuchstaben der dargestellten Heiligen (Germaine, Rochus, Antonius der Eremit, Antonius von Padua und Lukas) zusammen, so haben wir GRAAL, die französische Form von Gral.
Teufel als Ständer eines Muschelbeckens am Portal der Kirche in Rennes-le-Château
Vielleicht wäre die Legende von Rennes-le-Château mit der Zeit demontiert worden, wenn de Sèdes Buch nicht so großen Eindruck auf einen Journalisten gemacht hätte, nämlich auf Henry Lincoln, der für die BBC drei Dokumentarfilme über Rennes-le-Château drehte. Zusammen mit Richard Leigh, einem weiteren glühenden Anhänger okkulter Mysterien, und dem Journalisten Michael Baigent publizierte er 1982 das Buch Der heilige Gral und seine Erben, das sofort hohe Auflagen erzielte.
Das Gemeinschaftswerk fasste sämtliche von de Sède und Plantard verbreiteten Behauptungen zusammen, schmückte sie romanhaft aus und ließ, indem es das Ganze als unbestreitbare geschichtliche Wahrheit darstellte, die Gründer des Priorats von Zion direkt von Jesus Christus abstammen, der nicht am Kreuz gestorben sei, sondern sich mit Maria Magdalena vermählt habe, nach Frankreich geflohen sei und dort die Dynastie der Merowinger begründet habe. Was Saunière gefunden habe, sei nicht ein Schatz gewesen, sondern eine Reihe von Dokumenten, die bewiesen, dass die Nachkommenschaft Jesu von königlichem Blut, Sang Real, sei, was dann verballhornt zu Saint Graal, Heiliger Gral, wurde. Den Grundstein zu Saunières Reichtum habe das Gold des Vatikans gelegt, das ihm für die Geheimhaltung seiner schrecklichen Entdeckung bezahlt worden sei. Außerdem habe bereits Plantard versichert, es hätten im Lauf der Jahrhunderte Sandro Botticelli, Leonardo da Vinci, Robert Boyle, Robert Fludd, Isaac Newton, Victor Hugo, Claude Debussy und Jean Cocteau dem Priorat angehört. Fehlte nur noch Asterix.
All diese falschen Dokumente haben den Mythos von Rennes-le-Château bestärkt und es zum Ziel vieler Pilgerreisen gemacht. Die Einzigen, die im Grunde nicht daran glaubten, waren die Initiatoren des Märchens. Als die Geschichte von Baigent und Co. bereits romanhaft aufgeplustert worden war, ließ de Sède in einem Buch von 1988 die diversen Schwindeleien und Betrügereien rund um Saunières Dorf auffliegen. Und 1989 widerrief auch Pierre Plantard alles, was er zuvor behauptet hatte, und schlug eine zweite Version der Legende vor, der zufolge das Priorat erst 1781 in Rennes-le-Château entstanden sei. Außerdem revidierte er einige seiner falschen Dokumente und erweiterte die Liste der Großmeister des Priorats um Roger-Patrice Pelat, einen Freund von François Mitterrand, der später wegen illegaler Börsengeschäfte angeklagt wurde. Plantard, der als Zeuge bestellt war, gab unter Eid zu, dass er die ganze Geschichte des Priorats erfunden hatte.
Jetzt nahm ihn niemand mehr ernst. 2003 erschien jedoch Dan Browns Da Vinci Code, der sich klar und eindeutig auf de Sède, auf Baigent, Leigh und Lincoln und viele weitere okkultistische Literatur bezog. Brown behauptete nun, alle von ihm gemachten Angaben seien historisch wahr. Doch Lincoln, Baigent und Leigh strengten eine Plagiatsklage gegen ihn an. Im Vorwort zu ihrem Der heilige Gral und seine Erben wird allerdings der ganze Inhalt des Buches als historische Wahrheit präsentiert. Und wenn jemand die Wahrheit eines historischen Faktums feststellt (etwa die, dass Cäsar an den Iden des März ermordet wurde), geht diese historische Wahrheit im selben Moment, in dem sie öffentlich gemacht wird, in kollektiven Besitz über, und wer erzählt, dass Cäsar im Senat dreiundzwanzig Dolchstöße versetzt bekommen hatte, kann deswegen nicht als Plagiator angeklagt werden. Indem Baigent, Leigh und Lincoln nun also Brown des Plagiats bezichtigten, gestanden sie damit öffentlich ein, dass alles, was sie als historische Wahrheit verkauft hatten, Frucht ihrer Fantasie und damit ihr exklusives literarisches Eigentum war. Freilich, um an einen Teil von Browns milliardenschweren Tantiemen heranzukommen, wäre wohl mancher bereit, Brief und Siegel darauf zu geben, dass er nicht Sohn seines rechtmäßigen Vaters sei, sondern eines der vielen Matrosen, die bei seiner Mama aus- und eingingen, und Baigent, Leigh und Lincoln müssten unser vollstes Verständnis finden. Aber noch kurioser ist, dass Brown im Prozessverlauf angab, er habe das Buch von Lincoln und Co. nie gelesen – eine widersprüchliche Verteidigung für einen Autor, der behauptet hatte, all seine Faktenaussagen aus zuverlässigen Quellen bezogen zu haben (die exakt mit dem übereinstimmten, was die Verfasser von Der heilige Gral und seine Erben geschrieben hatten).
An diesem Punkt können wir die Geschichte von Rennes-le-Château auf sich beruhen lassen, wäre es nicht noch heute Ziel von Pilgerfahrten, als handle es sich um Medjugorje. Der Fall Rennes-le-Château lehrt nicht nur, wie einfach es ist, eine Legende aus dem Boden zu stampfen, sondern auch, wie dauerhaft diese sich durchsetzen kann, obwohl Historiker, Gerichte und andere Institutionen erkannt haben, dass es sich um eine Lüge handelt. Und somit erinnert uns die ganze Geschichte an einen Aphorismus, der Chesterton zugeschrieben wird: »Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.« Das entspricht einer der Beobachtungen von Karl Popper und ist mir ein willkommenes Schlusswort für meine Ausführungen zum Verschwörungssyndrom.
[Vortrag im Rahmen der Milanesiana 2015, Manien und Obsessionen]