Auf unserer nächsten Etappe machen wir eine Reise von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln, um die Psychosomatik direkt am und im menschlichen Körper besser zu verstehen.

Es sei vorab erwähnt, dass ich alle folgenden Krankheitsbilder vornehmlich aus psychosomatischer und psychotherapeutischer Perspektive vorstelle. Eine gründliche körpermedizinische Diagnostik setzte ich immer voraus. Die Ursachen psychosomatischer Erkrankungen sind extrem weitreichend, und der Krankheitsauslösung liegt ein Bündel an Einflüssen zugrunde. Mein Pochen auf innerseelische und biografische Gründe kommt daher, dass wir als Psychosomatiker dort unsere Einflussmöglichkeit in der Therapie verorten – und deshalb diese Faktoren in den Vordergrund rücken.

Zum Haareraufen

Haare, ganz praktisch

Haare haben viele Funktionen. Sie schützen uns vor Licht, Regen und Schnee, sind eine gute Wärmedämmung und können Schweiß aufnehmen. Im Laufe der Evolution haben wir Menschen die meisten davon verloren, weil wir sie in weiten Teilen nicht mehr so intensiv benötigen. Wofür gibt es schließlich die iPhone-Wetter-App?

Das verbliebene Gestrüpp an bestimmten Körperstellen rasieren sich viele von uns ab. Außer am Kopf! Da haben die meisten einen ordentlichen Haarwuchs. Den nutzen wir gerne für eine Sache, die ich noch nicht erwähnt habe: zum Imponieren und Drohen. Haare haben nämlich auch eine soziale und kommunikative Funktion: anderen zu signalisieren, wer wir sind – und ob wir in guten oder bösen Absichten kommen. Ob nun der zackige Haarschnitt mit lila Strähnchen oder das lange blonde Haar einer schönen Frau für das eine oder das andere steht, entscheidet natürlich der Betrachter. Haare sind also eine Möglichkeit zu zeigen, wie wir gesehen werden wollen. Gerade Jugendliche verändern häufiger ihren Haarschnitt bzw. ihre Frisur, was als Ausdruck innerer Veränderungen und der Anpassung der eigenen Identität gesehen werden kann61.

Und wenn wir uns die Haare krümmen?

Was aber, wenn uns jemand unsere Haare beschädigen würde? Und wie sollen wir damit umgehen, wenn derjenige wir selbst sind?

Eine psychosomatische Haarkrankheit, bei der genau das passiert, ist die Trichotillomanie (griechisch tricho = das Haar; tillo = ziehen; manie = Vorliebe/Wahnsinn für etwas). Zunächst sehen wir an dem Wort deutlich, wie verquer medizinische Begriffe manchmal sind – damit ein Laie bloß nicht versteht, worum es geht. Da sind wir heute zum Glück ein gutes Stück weiter.

Wer von der Trichotillomanie betroffen ist, reißt sich zwanghaft die Haare aus. Das heißt, er tut es immer wieder und kann es einfach nicht lassen, obwohl es nicht als sinnvoll empfunden wird – und er es gerne lassen würde. Es entstehen dadurch, meistens auf dem Kopf oder im Intimbereich, kahle Stellen, was oft zu Schamgefühlen führt. Lange dachte man, die Krankheit sei selten und käme nur bei unter einem Prozent der Bevölkerung vor. Doch vielen Betroffenen ist es zu peinlich, sich Hilfe zu suchen  – sie gehen deshalb nicht zum Arzt und erscheinen daher auch nicht in der Statistik.

Das Haareraufen wird zur Abfuhr innerer Spannungen genutzt, wahrscheinlich aber auch zur Stimulation bei Langeweile oder innerer Leere. Es gehört in die Gruppe der Impulskontrollstörungen: Betroffene möchten es lassen, aber es ist in dem Moment so befriedigend, dass sie es einfach machen müssen. Der Impuls kann trotz besseren Wissens nicht kontrolliert werden. Einen ähnlichen Mechanismus hat das Nägelkauen. Beides beginnt oft in der Kindheit, im jugendlichen Alter oder als junger Erwachsener.

Die unbewusste Seite der Haare

Schon einer der ersten psychosomatisch denkenden Ärzte in Deutschland, Georg Groddeck62, beschrieb in den 1930er-Jahren seine (sehr gewagte) Theorie, dass verlorene Haare mit der Zurückentwicklung in das Stadium als Säugling einhergingen, in der innere Konflikte und Spannungen noch nicht ausgehalten werden mussten, sondern von den Eltern »gehalten« wurden. So können Spannungen oder Langeweile und Leeregefühle über das Haarerupfen bewältigt werden, wobei die dahinterstehende Symbolik der verdeckte Wunsch zurück zur wenig behaarten Zeit im Bauch der Mutter sein könne.

Ich finde, diese psychoanalytischen Erklärungen haben manchmal etwas Abgedrehtes. Sie können aber auch helfen, in verschiedene Richtungen zu denken und die Einengung auf unseren ständig in den Vordergrund drängenden rationalen Verstand zu verlassen, der sagt: »Ich habe ein Problem, eine Lösung muss her.« Für uns ist es eben meist frustrierend, wenn es keine einfache Lösung gibt. Wir sollten aber im Hinterkopf behalten, dass wir uns bezüglich der psychisch wirksamen Muster im Reich der Spekulation bewegen.

Wenn man die Haare als Bestandteil der Körperhülle namens Haut betrachtet, stellt sich die Frage, warum jemand seine Schutzschicht und körpereigene Wärmedämmung angreift oder aufgibt. Es scheint sich bei vielen Patienten in meiner Sprechstunde um Aggressionen und (problematische) Abgrenzung von anderen zu drehen. Über die Haut als Abgrenzungsorgan sprechen wir noch weiter unten.

Was tun?

Die Trichotillomanie kann psychische Auslöser wie vermehrte Anspannung oder eine innere Leere haben – wie diese jeweils entstehen, ist nur im Einzelfall zu erforschen. Häufig wird das Verhalten dann immer automatischer weitergeführt und hat schließlich eine große Macht über den Betroffenen: Durch die ständigen Wiederholungen wird im Gehirn eine Art Neuronenautobahn gelegt, sodass eine liebe Gewohnheit wie das Rupfen immer leichter fortgesetzt wird.

Der Besuch einer Selbsthilfegruppe kann Entlastung bringen. Je nach Ausprägung der kahlen Stellen und nach Leidensdruck sollte die professionelle psychotherapeutische oder eine medikamentöse Behandlung erfolgen. Es können Antidepressiva zum Einsatz kommen, die die Wiederaufnahme von Serotonin an einer bestimmten Stelle der Synapsen hemmen (»SSRI«) und so für mehr Serotonin im Gehirn sorgen, wie zum Beispiel Escitalopram. Manchmal wird auch eine Kombination aus Psychotherapie und Medikament angewendet. Das Ziel ist ein deutlicher Rückgang des zwanghaften Haarereißens.

Wir rutschen nun die Haare herunter bis zur Wurzel und wenden uns dem Kopf zu.

Kopfschmerzen

Wofür sind Kopfschmerzen bekannt?

Kopfschmerzen kennt fast jeder. Viele meiner Patienten haben häufig Kopfschmerzen, auch wenn sie eigentlich wegen einer Depression, Angsterkrankung oder Essstörung in die Behandlung kommen. Wer Kopfschmerzen hat, nimmt diese oft hin, verordnet sich vielleicht selbst eine Schmerztablette wie Paracetamol oder Aspirin – und schenkt der Sache keine weitere Beachtung. Manche legen sich auch in einen abgedunkelten Raum und warten auf Besserung.

Mehr als jeder zweite Deutsche soll mindestens einmal im Jahr unter dem berühmten Spannungskopfschmerz leiden. Diesen zeichnet das typische Gefühl aus, »als wenn der Kopf in einem Schraubstock eingespannt ist« oder »fast platzen« könnte.

Was sind die Ursachen?

Die Ursachen für Kopfschmerzen sind sehr unterschiedlich. Es werden zwischen 200 und 300 Gründe von der wissenschaftlichen Literatur beschrieben; sie reichen von äußerst gefährlich bis unbedenklich. Es gibt direkte Kopfschmerzerkrankungen wie Migräne oder Clusterkopfschmerz und diverse Formen von Kopfschmerzen, die durch andere Krankheiten wie Tumoren und Infektionen oder auch durch psychische Ursachen wie Schmerzstörungen oder Depressionen ausgelöst werden können.

Jeder schwere, ungewöhnliche Kopfschmerz ist ein Notfall und sollte umgehend ärztlich abgeklärt werden. Auch bei wiederkehrenden Kopfschmerzen ist eine gründliche Diagnostik wichtig. Denn: Die meisten Kopfschmerzarten lassen sich, wenn andere körperliche Ursachen ausgeschlossen wurden, konkret behandeln. Bei chronischen Kopfschmerzen kann man selbst beginnen, ein Schmerztagebuch zu führen, um herauszufinden, was gegebenenfalls die Kopfschmerzen auslöst, verstärken oder verbessern kann.

Auch das Seelenleben kann sich auf verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Migräne oder Spannungskopfschmerzen auswirken, diese mitbedingen oder aufrechterhalten. Wichtig ist, wenn man in diese Richtung denkt, dass vorher gefährliche körperliche Ursachen wie eine Blutung, ein Tumor, eine Infektion oder eine Sinusvenenthrombose (verstopfte Vene im Gehirn) ausgeschlossen sind – bei neu auftretenden Kopfschmerzen also am besten erst mal zum Arzt.

Kopfstress

Haben Sie chronische Kopfschmerzen, lohnt es sich womöglich, dass Sie sich psychisch näher kennenlernen. Denn: Ziemlich sicher ist, dass Kopfschmerzen damit zusammenhängen, wie der Betroffene mit Stress umgeht und wie er Informationen verarbeitet63. So neigen Kopfschmerzpatienten und Migränepatienten dazu, in belastenden Situationen diese eher mit sich allein auszumachen und nehmen nur ungern Unterstützung durch die Menschen in ihrer Umgebung in Anspruch – anders als Personen aus einer Vergleichsgruppe, die nicht unter Kopfschmerzen leiden64. Den eigenen Umgang mit Stress und Belastung anzuschauen könnte sich also lohnen. So etwas wie eine Migräne-Persönlichkeit, bei der bestimmte Charaktermerkmale gehäuft auftreten, lässt sich wiederum nicht belegen.

Wiederkehrende Kopfschmerzen können je nach Fall für eine Rettung stehen und jemandem dabei helfen, die Reißleine zu ziehen, weil der Kopf im Schraubstock ist. So »erspart« es sich der Betroffene unbewusst, direkt zu sagen, dass er überlastet ist oder eine Pause braucht. Nicht selten findet sich auch ein weggeschobener psychischer Schmerz, der sich als Kopfschmerz seinen Weg an die Oberfläche suchen kann. Hier wäre es die Aufgabe in einer Therapie, Worte für das noch nicht Aussprechbare zu finden.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 10: Kopfschmerz durch Schmerzmittel

Viele von uns sind es gewohnt, die Signale des Körpers zu betäuben, auch wenn diese uns eine Überforderung anzeigen. Wir pfeifen uns gerne die eine oder andere Ibuprofen rein, weil wir dann einfach weitermachen können und uns nicht damit beschäftigen müssen, warum uns die Kopfschmerzen womöglich ausbremsen. Doch zu häufig eingenommene Schmerztabletten werden schnell zu einem eigenen Problem: dem Analgetika-Kopfschmerz, der manchmal sogar täglich auftritt (Analgetika = Schmerzmittel). Dabei handelt es sich um schon am Morgen auftretende, dumpf-drückende Dauerkopfschmerzen, die sich vom Spannungskopfschmerz, der häufig am Beginn der ganzen Misere stand, gar nicht unterscheiden lassen. Der psychische Motor des zugrunde liegenden Schmerzmittelmissbrauchs ist die Angst vor weiteren Kopfschmerzanfällen. Aus Angst werden viel zu oft und zu früh Schmerzmittel genommen. Das führt dann schneller, als man glaubt, zu Entzugskopfschmerzen, wenn man die Tabletten nach ein paar Tagen oder Wochen vergisst oder wieder absetzen möchte. Der Weg aus dieser Falle führt in erster Linie über eine qualifizierte Entzugsbehandlung. Danach geht es darum, die Angst vor dem Kopfschmerz zu verstehen, der uns Anspannung und Überlastung signalisieren kann. Es braucht dann neue Wege der Entspannung – ohne Medikamente.

Rückenschmerzen:
Die häufigste somatoforme Schmerzstörung

Unter dem Kopf kommt der Hals- und Nackenbereich, der direkt in den Rücken übergeht.

Schmerzen am Rücken werden oft chronisch. Durch unseren aufrechten Gang und die hohe Belastung unseres Bewegungsapparates aus Knochen, Bändern, Sehnen, Gelenken und Muskeln durch zu viel Sitzen und Bewegungsmangel kommt das filigrane System leicht durcheinander. Häufig gibt es zudem tatsächlich kleine Abnutzungserscheinungen am Skelett, die sich durch einen gewissen Schmerz bemerkbar machen und auf die wir – sofern wir anfällig dafür sind – mit einer Schonhaltung oder reflexartiger Anspannung der Muskulatur reagieren – ganz unbewusst. Nicht selten beginnt dabei ein Teufelskreis, bei dem muskuläre Anspannung neue Schmerzen auslöst und der Schmerz zu verstärkter Anspannung der Muskeln führt. Der Großteil der Rückenschmerzen, die zu langen Krankschreibungen, vorzeitiger Berentung und unnötiger Diagnostik führen, ist ein solcher Schmerz, der durch unsere Bewertung und unseren Umgang damit (meist Schonung) aufrechterhalten wird.

Es gibt Fälle von einem organisch ausgelösten Rückenschmerz, wie etwa bei akutem Bandscheibenvorfall, bei Rheuma oder Tumoren. Deshalb muss der Rücken gründlich untersucht und bei diesen Ursachen speziell behandelt werden. Bei vielen »unspezifischen« Rückenschmerzen (wie wir Mediziner sie nennen, weil sich nicht eine spezifische Ursache finden lässt) wissen wir aber, dass zu viel Schonung einerseits oder ein stressreiches Leben andererseits das fein ausbalancierte Haltesystem der Wirbelsäule in ein Ungleichgewicht bringt. Die Wirbelsäule und der ganze Bewegungsapparat sind auf Bewegung ausgelegt und können auch nur, wenn sie dieser Funktion nachkommen, langfristig gut in Form bleiben. Bewegungsmangel steigert das Risiko, sich zum Beispiel bei einer falschen Bewegung eine Verrenkung einzufangen.

Unsere Schmerzverarbeitung im Gehirn ist außerdem davon abhängig, wie es uns emotional geht. Vielleicht kennen Sie das: Wenn man einen schlechten Tag hat, üble Post, bei der Arbeit nicht vorangekommen und schlechte Nachrichten aus der Schule oder dem Pflegeheim, fühlen sich die eigenen Schmerzen doch ernsthafter und bedrohlicher an als am Tag zuvor. Wie können wir also unsere Schmerzverarbeitung bei Rückenschmerzen verbessern? Hilfreich kann es sein, Ungelöstes wie Konflikte aktiver anzugehen, anstatt sie länger als Last mit sich herumzutragen und sich zurückzuziehen. Statt sich zu schonen oder sogar hinzulegen, sollte man sich trotz Rückenschmerzen bewegen, herumlaufen, schwimmen oder Fahrrad fahren. Schreibtischarbeit kann mit entsprechenden Tischaufsätzen auch wechselweise im Stehen erledigt werden. Aber Rückzug und Schonung sind genau das Falsche.

Arbeiten wir uns nun in die spannende Innenwelt des Kopfes vor.

Gedankenschleifen und Zwangshandlungen

In unserem Kopf werden Erleben, Sprache und Gedanken ständig in elektrische Signale und Biologie umgewandelt. Aus gespeicherten biologischen Fakten im Gehirn wird dann wiederum die Welt unserer Gedanken und Empfindungen erzeugt. Wie bei einem Beamer, der aus Datenmaterial einen Film an die Tapete zaubert. Ist das nicht großartig? So ein feines System ist leider auch fehleranfällig.

Grübeln

Ich kann mir vorstellen, dass Sie es kennen, unter Zwängen zu leiden. Auch Grübeleien (Gedanken ohne Ergebnisse), die sich im Kreis drehen, sind ein Zwangsphänomen, wenn auch noch nicht unbedingt eine Erkrankung.

Horrorszenarien laufen in Ihrem Kopf ab, wenn Sie sich ein schwieriges Gespräch im Büro ausmalen. Wiederkehrende Sorgen bilden ein realistisches Preview, was Ihnen selbst oder einer Ihnen nahestehenden Person passieren könnte. Vielleicht liegen Sie aber auch einfach im Bett und würden gerne einschlafen, während Sie im Kopf bekannte Pros und Kontras für eine anstehende Entscheidung auflisten, ohne dass Sie den Eindruck haben, jemals zu einem Ende kommen zu können.

Solche zwanghaften Gedanken haben das charakteristische Merkmal, dass man sie nicht abschalten kann, obwohl sie absolut nicht zielführend sind und man sie gar nicht denken möchte.

Es ist alles eine Frage der Heftigkeit; jeder klebt mal mehr an einem Thema oder Gedanken, verbeißt sich in Gedankenschleifen. Entscheidend ist, wie stark einen diese Neigung auffrisst und wie viel Zeit man damit verbringt. In extremeren Formen können die Gedanken auch »magische« Ausprägungen annehmen. Betroffene haben dann die Vorstellung, dass durch die eigenen Gedanken tatsächlich jemandem etwas passieren könnte. Oder es dreht sich der Gedanke im Kopf, wie es wäre, andere aus Versehen zu verletzen. Ganz wichtig: Das alles passiert, obwohl der Betroffene es (auf bewusster Ebene) gar nicht möchte.

Wieso uns Gedanken quälen

Es gibt viele Gründe für Zwangsgedanken. Ein verbreitetes Erklärungsmodell ist die Idee eines inneren Konfliktes zwischen Ärger einerseits und dem Verbot, dieses Gefühl auszuleben, andererseits. Der Impuls, auf den Tisch zu hauen oder jemanden anzugreifen, in seine Schranken zu verweisen etc., wird dann gekappt. Was bleibt, sind kreisende Gedanken, allenfalls aggressive Fantasien. Die motorische Energie der Aggression wird in unser Hadern, Zögern, Grübeln umgesetzt. Die Angst vor der eigenen Wut wird so zunächst neutralisiert, was uns angenehm entlastet; vor allem wird eine gefürchtete Auseinandersetzung vermieden.

Die Neigung zu Zwängen wird oftmals während der analen Phase im zweiten bis zum dritten Lebensjahr geprägt, wenn aufgrund der zunehmenden Autonomietendenzen des Kindes, das sich allein wegbewegen kann und Kontrolle über Blase und Darm erhält, Machtspiele zwischen Eltern und Sprössling ausgefochten werden. Wenn Eltern diese Tendenzen bei ihren Kindern bestrafen, müssen Kinder ihre Impulse unterdrücken.

Zwänge haben also etwas zu tun mit der Unterdrückung von unliebsamen Impulsen. Durch die eigenen Gedankengerüste und die innere Logik wird etwas kanalisiert, was ursprünglich ein Gefühl oder ein Drang war, der uns jedoch angesichts der biografischen Erfahrungen zu gefährlich erscheint. So kann aus dem Ärger über den nervigen Vorgesetzten schnell ein kreisender Gedanke werden, ob man kündigen sollte oder besser nicht, was wir in der Psychosomatischen Medizin als »Verschiebung« kennen. Die Verschiebung ist ein Abwehrmechanismus. Die Psyche sucht sich dabei zur Entlastung ein anderes Ziel, wenn der eigentliche Empfänger (der Chef) nicht für das Gefühl (Ärger) erreichbar erscheint und der Impuls Angst macht und uns zurückschrecken lässt.

Kurzbeispiel Zwang

Mein Patient Mirko, ein zurückgezogen lebender junger Mann, hatte eine sehr ordentliche und auf Sauberkeit bedachte Mutter, wie die Diagnosegespräche ergaben. Kurz nach seiner Geburt hatte Mirkos Vater die Familie verlassen, da die ewige Kritik der Mutter über seine Unordnung und Nachlässigkeit für ihn wohl nicht mehr zu ertragen gewesen war. Mirko hatte keine Wahl. Er kooperierte mit seiner Mutter, ohne das alles zu hinterfragen.

Mit Beginn seiner ersten Partnerschaft entwickelte er aus heiterem Himmel starke Zwangssymptome, ohne dass ihm der Hintergrund dazu bewusst gewesen wäre. Er kontrollierte manchmal vor Verlassen der Wohnung so lange, ob die Fenster geschlossen waren und der Herd aus war, bis er seinem Freund die ganze Verabredung absagen musste. Vor allem wenn die beiden etwas besonders Schönes vorhatten oder in ihrer Beziehung einen Schritt weitergekommen waren, wurden die Zwänge sehr stark und einschränkend.

Aus psychodynamischer Sicht besteht bei Mirko eine Zwangskrankheit mit Kontrollzwängen und – wie sich zeigte – Zwangsgedanken, was alles Furchtbares passieren könnte, wenn er etwas übersähe oder einen Fehler machte, was zu einem Brand führen könnte. Ganz typisch ist, dass starke Ängste auftauchten, sobald Mirko versuchte, seine Kontrollen nicht mehr durchzuführen.

Ursächlich war in diesem Fall, dass der Patient unter der rigiden, strengen Mutter keine Erfahrungen damit hatte machen können, Impulsen nach Lust, Sexualität, aber auch Aggression nachzugeben. Die Mutter hatte immer schon die Regeln aufgestellt und für Ordnung gesorgt, ehe er als Zwei-, Drei- oder Vierjähriger in die Versuchung gekommen war, an seine Grenzen zu gehen und etwas auszuprobieren.

Wenn nun als Erwachsener Bedürfnisse nach sexueller Neugier oder lustvollen Momenten andrängten, die nur in der Fantasie mit Kontrollverlust einherzugehen drohten, musste Mirko diese abwehren, da sie eine Bedrohung für sein psychisches Gleichgewicht darstellten (»So was hat es früher auch nicht gegeben«). Dafür zahlte er den Preis, die bedrohlichen Wünsche unbewusst mithilfe der Zwangssymptome vermeiden und »überspielen« zu müssen. So hatte er wie früher die Illusion, gar nicht in Kontakt mit so manchen Fragen zu kommen (»Wie viel Nähe möchte ich zulassen?«). Allerdings litt er oft unter Schamgefühlen wegen seiner Zwangssymptome.

Ergänzend zur Erklärung von Mirkos Zwängen möchte ich erwähnen, dass es auch Erkrankungen gibt, bei denen Zwangssymptome eine andere Bedeutung haben. Beispielsweise bei Schizophrenien oder emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen dienen die zwanghaften Symptome vielmehr dazu, die Persönlichkeit »zusammenzuhalten« und eine gefürchtete Verlorenheit und innere Selbstauflösung zu verhindern. Zwangsmuster als Geländer, an dem sich die Betroffenen festhalten können. Deshalb erfolgt die Behandlung von Zwangskrankheiten heute nur nach sehr genauer Einordnung der Krankheit, denn sie haben nicht selten vor allem eine Schutzfunktion für die in Not geratene Psyche.

Was kann man tun?

Zunächst ist eine Erkenntnis ganz wichtig: Zwänge lassen sich, wie ihr Name schon verrät, nicht einfach unterdrücken, nur weil man das möchte. Betroffene sind gezwungen, etwas zu denken oder zu tun. In vielen Fällen ist das Unterdrücken eines Zwanges auch gar nicht sinnvoll, weil das Zwangssymptom ja gerade versucht, ein seelisches Gleichgewicht notfallmäßig wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Die Heftigkeit von Zwängen dürfen Sie sich in etwa so vorstellen, als würden Sie versuchen, einen bergab rollenden Bus aufzuhalten, indem Sie sich ihm in den Weg stellen. Das Ergebnis wäre, dass Sie umgefahren würden und der Bus weiterrollt. Also sollten wir uns von dieser Illusion trennen.

Begrenzen

Betroffene können eine feste Verabredung mit sich selbst treffen, die Zeiträume für bestimmte Gedanken, Kontrollgänge und Tätigkeiten festlegen und versuchen, sich zum Beispiel auf achtmal Händewaschen am Tag oder dreimal zehn Minuten Kontrollieren des Herdes täglich zu begrenzen.

Dazu gehört es, die Zwänge als Teil des eigenen Lebens anzunehmen und ihnen einen freundlichen Namen zu geben. Sie arbeiten schließlich im Sinne unseres inneren Gleichgewichtes. Wer eine Behandlung anstrebt und beim Arzt vorstellig wird, was bei starkem Leidensdruck durch Zwänge sinnvoll ist, kann zuvor beginnen, die Zwangsgedanken oder -handlungen mit Dauer und eigener emotionaler Verfassung in einem kleinen Symptomtagebuch zu notieren. Kleine Oktavhefte (Vokabelhefte, vielleicht noch bekannt aus der Schulzeit) eignen sich dazu gut. Man notiert jeweils das Tagesdatum und darunter chronologisch die Uhrzeit, Symptome mit Dauer oder Anzahl der Wiederholungen und die psychische Verfassung bzw. wahrnehmbare Gefühle.

Eine häufige Funktion von Zwängen ist es, Ängste in Schach zu halten und durch Ordnung und Kontrolle gefühlt die Oberhand zu behalten. Um den Wurzeln der Zwänge auf die Spur zu kommen, kann es also helfen zu überlegen, ob es etwas im eigenen Leben gibt, das einen ängstigt: Droht ein Verlust? Wurde man Opfer einer Straftat oder hat selbst eine begangen? Ist man im Begriff, jemanden zu überflügeln, und erlaubt sich das nicht? Könnte ein Traum in Erfüllung gehen?

Auslöser für psychische und psychosomatische Krankheiten sind keineswegs immer nur negative Ereignisse wie Jobverlust, Trennung vom Partner oder Geldverluste. Auch scheinbar Schönes, wie eine Hochzeit, eine Erbschaft oder die Chance, die Karriereleiter heraufzuklettern, kann schwere psychische Konflikte auslösen.

Entlastung

Für Betroffene kann ebenfalls hilfreich sein, Aufgaben an andere abzugeben oder – wenn möglich – ganz bleiben zu lassen, um sich erst einmal nicht weiter zu verzetteln. Damit kann man versuchen, dem zwanghaften Muster den Treibstoff zu entziehen. Dafür müssen Zwangspatienten natürlich üben, die Verantwortung abzugeben, was bei vielen Aufgaben sicher eine gute Sache ist. Man sollte sich auch einmal genau überlegen und gegebenenfalls aufschreiben, was eigentlich die Konsequenz wäre, wenn bestimmte Dinge weniger perfekt und pedantisch ausgeführt würden: Katastrophe oder vielleicht doch komplett vertretbar?

Was bei Zwängen ebenfalls wichtig zu wissen ist: In bestimmten Phasen der Kindheit und Jugend sind Zwänge etwas ganz Normales. Vielleicht ist Ihnen bekannt, wie sehr Kinder Rituale – wie immer die gleiche Gutenachtgeschichte oder sich wiederholende Abläufe – mögen. Das bietet ihnen Sicherheit und reduziert Ängste. Zwang hat immer auch mit dem Festhalten am Bewährten zu tun und gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu.

Wer Zwangssymptome entwickelt, hat häufig zwanghafte Charaktereigenschaften, die sich durch Sinn für Ordnung, ein hohes Pflichtbewusstsein, Sparsamkeit und manchmal auch einen gewissen Eigensinn zeigen. Das sind Eigenschaften, die oft im Leben helfen und dazu beitragen, verlässlich zu sein.

Ohne meine eigenen »zwanghaften« Charakteranteile hätte ich es wohl weder geschafft, das Medizinstudium zu Ende zu bringen, noch dieses Buch zu schreiben. Wir sollten unsere zwanghaften inneren Anteile daher bis zu einem gewissen Grad auch gebührend schätzen.

Psychotherapie bei Zwangsstörungen

Wenn Zwänge das Leben einengen, ist eine Behandlung angezeigt, wobei eine Psychotherapie der Goldstandard ist. Lange ging man davon aus, eine Verhaltenstherapie, bei der man die Zwänge wieder »verlernt«, sei das Beste, doch psychodynamische Therapieverfahren als Einzel- oder Gruppenbehandlung stellen eine gute Veränderbarkeit von Zwangssymptomen unter Beweis65, auch wenn hier noch viel geforscht werden muss. Psychodynamische Psychotherapien sind für diejenigen Patienten, die einmal entschieden haben, sich darauf einzulassen, eine wirklich tief greifende Hilfe.

Wir machen uns in einer Therapie auf den Weg, die hinter dem Symptom stehende Ursache zu finden. Es ist also sinnvoll, sich nicht 25 Sitzungen lang nur mit dem Herd oder der zu kontrollierenden Tür zu befassen. Das ist allerdings nicht immer leicht, denn ein von Zwängen betroffener Mensch neigt dazu, Erfahrungen mit anderen Menschen wenig Bedeutung beizumessen. Seine Abwehr, die zu seiner vorübergehenden Stabilisierung beiträgt, besteht ja gerade darin, alles auf scheinbar sachlicher Ebene oder im Rahmen von Kontrollhandlungen zu verarbeiten und eben nichts emotional erleben zu müssen.

Was zwanghaft Erkrankte alles tun, scheint oft richtig und logisch, nur ist es in der ständigen Wiederholung und Einseitigkeit ein Garant für eine Einschränkung der eigenen Freiheitsgrade und einen Energieverlust.

Zunächst muss eine vertrauensvolle und tragende Beziehung zwischen Patient und Therapeut aufgebaut werden. Danach gilt es für den Betroffenen, die unliebsamen Wünsche, Impulse und Gefühle zulassen zu lernen und in die eigene Persönlichkeit zu integrieren – das ist oft ein weiter und steiniger Weg. Wenn das gelingt, sind die Zwangssymptome meist nicht mehr oder in geringerem Ausmaß notwendig und der Patient wird freier, lebendiger und genussfähiger. Ebenso wird er nicht selten für andere verträglicher, weil er sich zutraut, mehr von dem zu zeigen, was er fühlt, und nicht mehr so viel in die Zwangssymptome abführen muss. Das macht ihn für andere erkennbarer und authentischer.

Zwangssymptome können übrigens auch hirnphysiologisch betrachtet werden: Die Basalganglien, unter anderem der Nucleus caudatus (ein Gebiet im Großhirn), sollen hier eine tragende Rolle spielen. Spannend ist, dass, eine bei Zwangserkrankungen erhöhte Nervenaktivität dieses Hirnkerngebiets, nach einer erfolgreichen Psychotherapie, in der auch alle Symptome sehr stark abnahmen, sich auch im Hirnscan wieder normalisiert66.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 11: Einschlafstörungen und
Grübeln überwinden

Einschlafstörungen, die häufig mit Grübeln verbunden sind, kennen viele von uns. Oft kommt dazu beim Blick auf die Uhr ein Riesenärger darüber, dass man verdammt noch mal nicht einschlafen kann. Die wenigen verbleibenden Stunden sind schnell überschlagen – das löst Stress im Körper aus: Adrenalin und andere aktivierende Hormone werden aus der Nebenniere ausgeschüttet. Man ist hellwach und denkt in einer Dauerschleife darüber nach, wie sich so unausgeschlafen wohl der nächste Tag bewältigen lässt.

Dieser Problematik liegt der gleiche Mechanismus wie den vorher beschriebenen Zwangssymptomen zugrunde – und sie lässt sich nicht direkt mit Willenskraft bekämpfen. Viel zielführender ist es, sich in der Situation der Schlaflosigkeit klarzumachen, dass der Schlaf nicht über den Willen herbeigeführt werden kann. Vielmehr sollte man gedanklich immer wiederholen: »Schlaf ist ganz gleichgültig – der Körper nimmt sich den Schlaf, den er braucht.«67 Die Kunst besteht also darin, weniger zu tun und den Körper selber machen zu lassen.

Eine andere Möglichkeit ist, sich zu fragen, wie man die durch die Schlafstörung gewonnene Zeit nutzen könnte, um dann aufzustehen und genau das zu tun. Die Auswirkungen des Schlafentzugs auf den nächsten Tag werden in der nächtlichen Schwarzmalerei schnell überschätzt, und viele sind auch nach einem Einschlafen erst in den frühen Morgenstunden überrascht, wie gut sie nach dem Ende einer kurzen Nacht dann doch in den Tag kommen.

Abends, vor dem Einschlafen, am besten Blaulichtstrahlung vom Display des Laptops, Handys, Tablets oder Fernsehers meiden, ganz zu schweigen von den ganzen Likes und News oder sogar Fake News aus den sozialen Netzwerken. So etwas wühlt nur auf und regt die Psyche und damit auch den Körper an, anstatt zu beruhigen. Dann lieber heiße Milch vor dem Schlafengehen trinken, diese enthält Melatonin und Tryptophan als schlaffördernde Substanzen – zwar sehr wenig, aber Sie wissen ja: reine Kopfsache. Und das Ritual – vielleicht ein Relikt aus der eigenen Kindheit – wirkt auf jeden Fall.

Um Schlafstörungen zu vermeiden, ist nach einer durchwachten Nacht wichtig, niemals tagsüber den Schlaf nachzuholen – dann ist der Teufelskreis mit erneutem abendlichem Wachliegen nämlich vorprogrammiert, und der Rhythmus verschiebt sich immer weiter.

Diagnose Hypochondrie: Krankheitsangst

An der Schnittstelle zwischen Denken und Fühlen einerseits und den körperlichen Organen andererseits finden wir ein verbreitetes Phänomen namens Hypochondrie.

Was ist das?

Viele von uns sind manchmal hypochondrisch, oder sie kennen zumindest jemanden, der es ist.

Hypochondrie bedeutet, starke Angst davor zu haben, unter einer schweren Erkrankung zu leiden, sich daher viel mit der eigenen Gesundheit zu beschäftigen und vor allem den Körper ständig zu beobachten, während der Arzt wieder und wieder nur das eine findet: nämlich nichts.

Ich arbeite gerne mit hypochondrischen Menschen zusammen, aber ich weiß, dass das nicht allen Kollegen so geht. Ich finde, die Tragik des Lebens zeigt sich auf eine natürliche Weise, wenn wir Sorge haben, unser Körper funktioniere nicht mehr richtig. Wie könnte ich dieses menschliche Bedürfnis nach Unversehrtheit jemandem absprechen? Natürlich war ich als Medizinstudent auch manchmal hypochondrisch. Es ist ein offenes Geheimnis unter Medizinern, dass man auf sehr persönliche Art die Krankheiten, die man gerade in der Uni lernt, auch selbst durchmacht – zumindest in den eigenen Albträumen und Ängsten.

Krankheitsängste sind übrigens weit verbreitet: In einer durchschnittlichen Arztpraxis kann mit einem Anteil von fünf bis zehn Prozent von Hypochondern gerechnet werden68.

Was steckt dahinter?

Wie so oft in der Psychosomatik steckt hinter den Ängsten vor Krankheiten etwas Tieferes: das Unbewusste, das uns durch Versprecher, Verwechslungen oder Symptome etwas zeigt, was wir nicht bewusst wissen. Darauf werden wir immer wieder stoßen, wenn wir den Körper von Kopf bis Fuß auf psychosomatische Zusammenhänge abtasten.

Es ist grundsätzlich so, dass bei Hypochondern die Beruhigung, die Ärzte nach einer Untersuchung ohne krankhaften Befund geben können, nicht lange anhält. Was bei hypochondrischen Menschen auffällt, ist, dass an die Stelle von Empfindungen Wahrnehmungen treten69.

Wie ist das gemeint? Wenn man Betroffene beobachtet, sieht man, wie sie in sich gekehrt sind, in den Körper horchen oder sogar etwas ertasten, zum Beispiel die Hand auf das Gebiet über dem Herzen legen und die Organe in ihrer Funktion »analysieren«. Betroffene sind einerseits auf die Geschehnisse in ihrem Körper bezogen, nehmen diese sehr genau wahr, andererseits haben sie nicht selten eine Art Gefühlsblindheit und empfinden nicht wirklich, was in ihnen vorgeht. Sie sind wie in einer Blase, ganz mit ihren Gedanken und Befürchtungen beschäftigt, und erkennen das nicht an, was der Arzt ihnen sagt oder was Befunde zeigen. Sie haben, was ihren Körper angeht, sozusagen eine eigene Realität. Das bringt andere dazu, sie nicht ernst zu nehmen oder über sie zu schmunzeln.

Die früh erworbene biografische Voraussetzung für hypochondrische Züge ist die überbesorgte, ängstliche Mutter. Aufgrund dieser intensiven frühen Lernerfahrungen ist es kein Wunder, dass sich Betroffene später in die Körperängste zurückziehen, sobald schwierige Aufgaben oder innere Konflikte auf sie zukommen (siehe dazu auch den Kasten »Raus aus der Psychosomatik-Falle Nr. 12« hier). Die ständige Beschäftigung mit dem Körper, mit dem Essen, mit der Beobachtung der Organfunktionen und ihrer Kontrolle ist nicht nur eine Hinwendung zum eigenen Körper, sondern auch ein Rückzug und eine Abschottung von der Welt, die außerhalb der eigenen Haut liegt. Und gleichzeitig bindet die Hypochondrie diffuse Ängste, die sich auf nichts Konkretes beziehen und die wir alle dem Leben gegenüber haben – mal mehr und mal weniger bemerkt. Für den Moment kann die Wendung nach innen hilfreich sein, auf Dauer aber führt das womöglich zu einer schwer ausgeprägten Form von Hypochondrie.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 12: Sich wieder auf sich
verlassen können

Hinter überzogener Sorge und Angst um die Gesundheit und den Körper steckt meist ein verinnerlichtes Muster: sich scheinbar nicht auf sich selbst und die eigenen Organfunktionen verlassen zu können. Dieses Muster kann sich unter anderem dadurch entwickeln, dass man als Kind mit ängstlichen, besorgten Bezugspersonen zu tun hatte und sich deren »Alarmreaktionen« einbrannten: »Achtung, du tust dir gleich weh!« oder »Das darfst du niemals machen, niemals!«. Dabei spielt eine Rolle, mit wie großer eigener Ängstlichkeit der Eltern diese Sätze vermittelt werden, also was sich zwischen den Zeilen emotional überträgt. Als Kind hätte man durch fürsorgliches, liebevolles Verhalten der Eltern, gelernt, sich später auch selbst zu beruhigen und so Ängste in den Griff zu bekommen.

Falls das nicht passiert ist, heißt es für Sie heute als Erwachsener: selber machen! Jetzt können Sie üben, worauf Sie als Kind noch von den Eltern angewiesen waren.

Sich selber beruhigen – wie soll das funktionieren, fragen Sie sich vielleicht? Dazu stellen wir uns unsere Innenwelt in verschiedenen Anteilen vor: Da gibt es das ängstliche, verunsicherte Kind. Es fürchtet sich, dass etwas mit ihm nicht stimmt; allein kommt es da nicht heraus. Dann gibt es aber auch einen gesunden Erwachsenen70, der es bis zu dem heutigen Punkt in Ihrem Leben geschafft und viel erreicht hat. Sie können nun überlegen, was dieser Erwachsene dem verängstigten Kind sagen würde. Und auch, ob er das Kind berühren oder was er tun würde, um es zu beruhigen. Wichtig ist, es hier nicht bei Allgemeinplätzen zu belassen, sondern sich ungestört bequem aufs Sofa oder auf einen Teppich zu setzen und das Szenario in Ruhe zu fantasieren. Was braucht dieses Kind? Wenn zwei oder drei Ideen entstanden sind, versuchen Sie sich diese gut einzuprägen. Wenn hypochondrische Ängste hochkommen, kann man auf diese Worte oder Berührungen in der Fantasie zurückgreifen. Wenn es nötig ist, können Sie auch wieder intensiver in diese Fantasie eintauchen.

Eine Sache noch: Bei neuen, völlig unklaren Beschwerden sollten Sie sich zuerst von einem Arzt untersuchen lassen!

Was kann man tun?

Eine hypochondrische Störung kann das Leben der Betroffenen stark auf die Ängste und ständige Selbstbeobachtung einengen. Hier ist eine professionelle Psychotherapie notwendig.

Mit einigen Methoden können Betroffene aber auch selbst mit der Behandlung beginnen. Ein Hausarzt, mit dem man gut zurechtkommt und sich auch mit Angst vor Krankheiten anvertrauen kann, ist sehr wichtig. Entscheidend ist, diesem Arzt und seinen Diagnosen zu vertrauen und nicht immer weitere Untersuchungen herauszuhandeln – es wird dadurch nur schlimmer. Wenn man viel im Internet recherchiert, um die Angst in Schach zu halten, bringt es wahrscheinlich wenig, dies ganz aufgeben zu wollen. Aber die Reduktion auf eine festgelegte Dauer, zum Beispiel auf dreimal 15 Minuten pro Tag, kann hier helfen, dem Ganzen eine erste Grenze zu setzen.

Hilfreich ist es zudem, die Krankheit auch positiv zu sehen: Wer viel auf seinen Körper achtet, wird tatsächlich verschiedene Krankheiten eher entdecken und besser behandeln können. Eine hypochondrische Neigung kann also auch Vorteile haben.

Betroffene können zudem überlegen, wie in ihrer Familie Mutter, Vater und Geschwister mit eigenen Krankheiten oder auch Angst umgegangen sind. Sie können sich fragen, ob sie selbst einmal körperlich erkrankt waren. Vielleicht gibt es da etwas, das Ausdruck verlangt und endlich zur Sprache kommen muss, weil es sonst weiter an der eigenen Körpersicherheit nagt. Hier kann tatsächlich ein Psychotherapeut am besten weiterhelfen. Denn viele Hypochonder haben Angehörige, die schwer krank waren oder früh verstorben sind, was nach bewusster Auseinandersetzung verlangt – dann kann die Spirale der Krankheitsangst auch gestoppt werden.

Psyche und Ernährung: Was uns Essen bedeutet

Wir sind auf unserer Reise durch den Menschen weiter nach unten gelangt, bis zum Mund. Von hier aus erstreckt sich der Verdauungstrakt von der Mundhöhle über die Speiseröhre, den Magen, die Gedärme bis zum Enddarm. Wir wollen uns nun mit dem Essen und seiner psychosomatischen Bedeutung beschäftigen.

Es gibt verschiedene Typen von Essstörungen, die gut belegbare Beispiele für psychosomatische Erkrankungen sind.

Wir sind Esser

Essen hat für jeden von uns, auch für die Gesunden, sowohl biologisch als auch psychisch eine große Bedeutung, selbst wenn uns dies im Alltag kaum bewusst ist.

Was hat es mit der Ernährung auf sich, abgesehen von den biologischen Inhaltsstoffen?

Zunächst einmal halten wir fest, dass wir neun Monate lang vor der Geburt von unserer Mutter mit Nahrungsstoffen versorgt wurden, und zwar über den Mutterkuchen (die Plazenta) und die Nabelschnur. Danach wurden die meisten von uns gestillt – Ernährung ist demnach für uns alle eine frühe Prägung, bei der es um das Ernährtwerden geht, das notwendigerweise in Abhängigkeit von einem anderen geschieht. So können wir in der Muttermilch nur Stoffe finden, die die Mutter vorher in irgendeiner Form zu sich genommen oder selbst produziert hat.

Gleichzeitig wissen wir aus älteren, durchaus brachialen Tierversuchen, dass Affenkinder, die zwar technisch von Drahtgestellen ernährt wurden, aber keine zärtliche Zuwendung erhielten, später schwere Verhaltensstörungen zeigten. Sie interessierten sich nicht für die Bindung zu anderen Tieren und konnten auch den eigenen Nachwuchs nicht aufziehen71. Ernährung ist viel mehr als das Zuführen von Nahrung. Für einen gesunden Umgang mit dem Thema Ernährung kommt es auf die gelungene Kombination von Nahrungszufuhr und körperlicher Zuwendung (durch Berührung) bereits in den ersten Monaten an, in denen die Bezugsperson die Ernährungsbedürfnisse des Säuglings erkennt und respektiert. Das kann übrigens auch der Vater mit der Flasche sein!

Ernährung und die Beziehung zum anderen gehören zusammen.

Leider kommen Beziehungen in unserer Gesellschaft oft zu kurz. Erst wenn eine Depression da ist, wenn eine Essstörung da ist, kommt der Betroffene mitunter an Personen wie Therapeuten, die im Appetitmangel das seelische Leiden sehen und behandeln.

Und wie sieht es mit den Gesunden unter uns im Alltag aus? Wir haben unstillbaren Heißhunger auf Süßes oder Pommes. Gleichzeitig machen viele eine Diät. Nicht wenige haben Angst vor der Schädlichkeit von Gluten, dem Weizenkleber, oder vor den Auswirkungen von Kuhmilch.

Was hindert uns daran, einmal tiefer zu fragen, welche alten Beziehungserfahrungen, die wir innerlich abgespeichert haben, da noch ausgehandelt werden? Mit welchen Ernährungsmythen sind wir unbewusst identifiziert? Oder: Von wem wollen wir uns abgrenzen, wenn wir alles Mögliche nicht »vertragen« und nicht essen mögen?

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 13: Unverträglichkeiten und Allergien abklären – und dann
mit Freude essen

Aus psychosomatischer Sicht empfehle ich bei Magen-Darm-Beschwerden auf jeden Fall eine gründliche Diagnostik vom Arzt. Dazu gehört die Untersuchung auf Lebensmittelunverträglichkeiten, wie Laktose- oder Fructose-Intoleranz, wovon etwa 15 bis 30 Prozent der Volljährigen in Deutschland betroffen sind. Auch auf Lebensmittelallergien können Betroffene bei Bedarf untersucht werden, wobei hierunter nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden. Die gefürchtete Zöliakie, die echte Glutenunverträglichkeit, betrifft nur etwa jeden Hundertsten, während noch nicht festgestellt werden konnte, wie viele Menschen tatsächlich unter einer Glutensensitivität (Empfindlichkeit auf Weizenkleber) leiden und durch Gluten milde Symptome wie Bauchschmerzen, Durchfall, aber auch Kopfschmerzen und Erschöpfung bekommen können. Subjektiv halten sich in allen Gruppen allerdings deutlich mehr Menschen für von der Unverträglichkeit oder Allergie betroffen, als die medizinischen Befunde bestätigen. Dies kann unter anderem daran liegen, dass es zunächst einmal hilft, eine »einfache« Ursache für unklare Darmbeschwerden verantwortlich zu machen, an der man selber sogar etwas ändern kann – indem man den vermeintlich unverträglichen Nahrungsbestandteil einfach weglässt. Je allgemeiner und verbreiteter die Symptome sind, desto leichter kann man sie auf eine Ursachenschablone legen, die einen selbst überzeugt.

Wenn man sich nach einer Diagnostik gemäß seiner Unverträglichkeit ernährt, bringt das die Magen-Darm-Beschwerden oft komplett zum Abklingen.

Wenn die Untersuchungen aber unauffällig sind, sollten Betroffene sich wieder ganz normal72, mit Appetit und Freude, ernähren – auch und vor allem in Gesellschaft. Gelingt das Essen aber nicht unbeschwert, können mögliche psychosomatische Komponenten in einer Diagnostik herausgearbeitet werden.

Die Schokoladenorgie bei Stress ist ein möglicher Weg, Sättigung zu inszenieren.

Wenn wir uns mit Psychosomatik beschäftigen, sollten wir Worte wie »satt sein« nicht nur im engeren Sinn verstehen, sondern auch im übertragenen. Die Psyche unterscheidet nicht zwischen dem Sattsein beim Essen und dem Sattsein von menschlicher Nähe und Zuwendung. So können wir den Hunger beim übergewichtigen Menschen, den er dauernd mit Essen zu stillen versucht, auch als den emotionalen Hunger nach Nähe verstehen oder nach etwas, das in seiner Lebensgeschichte zu kurz kam.

Das Symptom Essstörung und seine Funktion

Gestörtes Essverhalten kommt im Zusammenhang mit zahlreichen Erkrankungen vor. In der Psychosomatischen Medizin versuchen wir, ein Symptom auch als notfallmäßigen Lösungsversuch der Psyche zu begreifen. Dabei neigt das Symptom zum Verschwinden, wenn man nach Erkennen des Problems einen Lösungsversuch unternimmt, der reifer, also altersgemäßer erscheint und bei dem der Betroffene das Problem aktiv in Angriff nimmt.

Mit Blick auf die individuellen psychischen Muster (die dazu beitragen, dass jemand psychosomatisch krank wird) entstehen Essstörungen in der oralen Phase, im ersten bis zweiten Lebensjahr (vgl. Kapitel »Krabbeln und Anlecken: Das erste bis zweite Lebensjahr« ab hier), während der wir mit Nahrung viele Erfahrungen machen. In dieser Phase ist nicht unwichtig, dass wir uns Essen einverleiben wollen, dabei aber noch auf andere angewiesen sind, die uns in einem angemessenen Tempo, rücksichtsvoll und möglichst in unserem Rhythmus, füttern und versorgen müssen. Eine prägende Zeit für Ernährungserfahrungen, die unbemerkt bahnt, ob wir Essen später als etwas Aufdringliches oder Unkontrollierbares erleben, was Essstörungen begünstigen kann.

Ein anderer, ganz bedeutsamer Zeitpunkt, an dem der Grundstein für spätere Essstörungen gelegt werden kann, ist die Phase der Autonomie-Entwicklung, über die wir im ersten Buchteil gesprochen haben. Wenn es Kindern langfristig nicht gestattet wird, offen zu rebellieren und eigene Entscheidungen zu treffen, kann dies auf die Nahrungsaufnahme verlagert werden. Hier kann jeder selbst entscheiden, heimlich zu essen oder das Essen zu verweigern, ohne dass die Bezugspersonen es verhindern können. Die Frage des Essens erleben von Essstörungen Betroffene häufig als ihren eigenen Bereich, den ihnen niemand streitig machen kann und den sie komplett selbst beherrschen.

Als nächstes kommen wir nun zu zwei typischen Beispielen von Essstörungen:

Esssucht (Hyperphagie)

Hyperphagie (von altgriechisch phagein = essen und hyper = über) bezeichnet ein gesteigertes, übermäßiges Essverhalten. Vielleicht muss der ein oder andere bei griechischen Vokabeln auch an Soutzoukakia-Platten und Imiglykos denken, womit wir ebenso beim Thema wären. Esssucht ist durch Übergewicht gekennzeichnet, das ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 kg Körpergewicht/Körpergröße in m² vorliegt.

Exkurs:
Bin ich normal-, über- oder untergewichtig?

Ob Sie Übergewicht oder Untergewicht haben, wird in der Medizin mithilfe des Body-Mass-Index (BMI) bestimmt. Die Berechnung kann auch deshalb für Sie interessant sein, weil das eigene »Körperschema« manchmal verzerrt wahrgenommen wird. Betroffene fühlen sich dann schlanker, als sie sind, oder auch völlig unrealistisch zu dick.

Die Berechnung können Sie ganz einfach mit einem Taschenrechner vornehmen. Zuerst rechnen Sie Ihre Körpergröße in Metern mal Ihre Körpergröße und notieren das Ergebnis (z. B. 1,68 m x 1,68 m = 2,8). Dann bitte alles löschen. Schließlich berechnen Sie Ihr aktuelles Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das vorherige Ergebnis (z. B. 70 kg / 2,8 = 25). 25 wäre somit Ihr BMI. Die Formel lautet also: BMI = Körpergewicht (in kg) / Körpergröße x Körpergröße (in m).

Die Weltgesundheitsorganisation73 bietet eine Tabelle mit Richtwerten an. Das Beispiel mit einem BMI von 25 ist an der Grenze von Normal- zu geringem Übergewicht:

BMI (kg/m2)

Einordnung

unter 18,5

Untergewicht

18,5 bis 24,9

Normalgewicht

25 bis 29,9

beginnendes Übergewicht

30 bis 34,9

Adipositas Grad 1

35 bis 39,9

Adipositas Grad 2

über 40

Adipositas Grad 3

Beim Übergewicht, der Adipositas, nimmt das Risiko für Zuckerkrankheit, Herzinfarkt und Schlaganfall, Gicht, Demenz und viele andere Folgeerkrankungen mit ansteigendem Grad stetig zu.

Übergewicht und Essanfälle oder ein dauerhaftes Zu-viel-Essen sind charakteristische Merkmale für eine Esssucht oder Hyperphagie.

Ursachen können mit Blick auf die früher erworbenen und heimlich weiter wirkenden psychischen Muster Verwöhnung in der Kindheit als Ersatz für emotionale Zuwendung sein. Wenn Kindern bei allem Kummer schnell der »Mund gestopft« wird, weil die Eltern Angst hatten, dem Kind emotional nicht genug geben zu können, kann dies zum Muster werden. Menschen werden sich dann auch später mit einem reichhaltigen Essen beruhigen, anstatt sich mit ihren Problemen zu beschäftigen. Sie haben nicht gut gelernt, sich konstruktiv mit Anforderungen auseinanderzusetzen, eben weil so viel über das Essen geregelt wurde. So lässt sich auch eine familiäre Häufung erklären: Es gibt Familien, in denen Zuwendung und Füttern stark zusammengehören. Essen als Liebesersatz.

Übergewicht hat zudem eine genetische Komponente.

Weitere Risikofaktoren sind Bewegungsmangel, Schlafmangel und Stress, weil Stress zum Essen verführt und in diesem Zustand mehr vom Hormon Cortisol ausgeschüttet wird, das wiederum den Appetit und Hunger verstärkt. Auch viele Medikamente können als Nebenwirkung Übergewicht verursachen – sprechen Sie darüber am besten mit Ihrem Arzt.

Magersucht (Anorexie)

Anorexie (von griechisch orexis = Verlangen) ist das ausbleibende Verlangen. Die Erkrankung, die vor allem (jüngere) Frauen betrifft, bedeutet allerdings nicht, dass kein Hunger mehr da ist. Vielmehr steht der innere Drang im Vordergrund, das Körpergewicht zu verringern. Dies wird durch die Minderung der Nahrungsaufnahme, aber auch durch Maßnahmen wie übermäßige Bewegung oder die Einnahme von Abführmitteln erreicht. Betrachten wir die Magersucht, dann wird deutlich, wie das Erleben, das Verhalten, die Körperfunktionen und das soziale Umfeld miteinander zusammenhängen:

In dieser Spirale gibt es dann wiederum Rückwirkungen vom Körper auf die Psyche, die darunter leidet, wenn der Körper zu spärlich mit Nährstoffen und Energie versorgt wird. Das führt zu Erschöpfung, Konzentrationsstörungen und eingeengtem Denken, weil die Energie dazu fehlt – und das Gehirn benötigt viel Energie. Durch diesen Teufelskreis wird es immer schwieriger, der Magersucht zu entkommen.

Die Magersucht zeigt sich nur in Gesellschaften, in denen Lebensmittel im Überfluss vorhanden sind: der Mensch, das widersprüchliche Wesen …

Im Krankenhaus habe ich schwer kranke Patientinnen gesehen, die wie ihr eigenes Skelett im Bett lagen, völlig entkräftet, im Gehirn schon so unterversorgt, dass sie sich kaum auf ein Gespräch konzentrieren konnten. Wir haben zwischenzeitlich versucht, die Betroffenen mit Magensonden mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen, wobei sie sich die Sonden oft gezogen haben. Wenn die Erkrankung richtig ausgebrochen ist, läuft sie fast automatisch und unheimlich kraftvoll ab. Auch wenn die gesunden inneren Anteile an einer Besserung der Lebenssituation interessiert sind, schaffen es die Patientinnen oft nicht mehr umzukehren. Eine Seite in ihnen, zu der ihr Stoffwechsel und das Belohnungssystem gehören, ist so sehr auf das Magersein geeicht, dass sie es sich nicht mehr einfach anders überlegen können. Kaum vorstellbar, welche Kraft die Psyche dabei über den Körper hat.

Ich möchte unbedingt erwähnen, dass es, wie beim gesteigerten Essen auch, harmlosere Formen gibt: die anorektische Reaktion. Kommt es im Alter der Pubertät oder im Übergang ins Erwachsenenalter zu Schwierigkeiten in der Entwicklung des eigenen Rollenbildes oder zu sexuellen Problemen, kann es zu Phasen der Nahrungsverweigerung oder der Gewichtsabnahme kommen, ohne dass es in einer Katastrophe endet. Diese Form der Anorexie hat eine hohe Spontanbesserungsrate.

Mein Rat an Eltern ist daher, nicht gleich in Panik zu verfallen, sondern in Ruhe mit dem Haus- oder Kinderarzt darüber zu sprechen, natürlich ohne der oder dem Betroffenen Vorwürfe zu machen. Bei einer Magersucht können die Folgen des Nahrungsmangels neben dem sichtbaren Untergewicht sein: ausbleibende Regelblutung, Verschiebung der Blutsalze mit Herzrhythmusstörungen und Knochenabbau. Gründliche medizinische Untersuchungen des Körpers sind neben einem psychotherapeutischen Handeln nötig!

Für diese Krankheit gibt es neben genetischen Einflüssen gehäuft psychische Muster, wie jemand sich und die anderen wahrnimmt. Eine Kernthematik bei Patienten mit Essstörung kann die Ablehnung der biologischen und auch gesellschaftlichen Rolle der Frau sein. Diese Angst und Ablehnung werden aber ins Unbewusste verdrängt; sie zeigen sich im Symptom des Abnehmenwollens. Dünn zu sein steht dafür, nicht weiblich zu erscheinen und kindlich zu bleiben, was den Betroffenen aber meist nicht bewusst ist.

Gleichzeitig bekommt der junge Mensch durch die Magersucht die volle Kontrolle über seinen Körper und begrenzt die Einwirkung von außen (symbolisiert durch die Reduktion der Nahrungszufuhr), sodass sich die Betroffenen sehr unabhängig von anderen erleben können. Interessant ist, dass es dem Patienten in der eigenen Familie häufig nicht gut möglich war, sich von anderen zu lösen, ein wenig selbstständiger zu werden und das enge Band zwischen Eltern und Kind zu zerschneiden. Wenn Eltern aus verständlichen Gründen das Beste für ihr Kind wollen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um es »aufzufüttern«, stoßen sie beim Nachwuchs oft auf Gegenwehr und verstärken das heimliche Nichtessen. Diesen Teufelskreis aus Hilfsbereitschaft der Angehörigen und Verweigerung der Betroffenen musste ich schon häufig beobachten.

Essstörungen, die keine sind

Ich möchte Ihnen grundsätzlich empfehlen, mit Gewichtsabnahme immer zum Arzt zu gehen. Denn es gibt unheimlich viele Möglichkeiten, die zu einer Reduzierung des Körpergewichts führen können und teilweise speziell zu behandeln sind.

Da sind die depressiven Erkrankungen, bei denen die Appetitlosigkeit im Vordergrund steht. Dann gib es das Erbrechen aufgrund eines inneren Konfliktes, also eine Konversionsstörung, die sich direkt auf die Muskulatur des Magens, des Zwerchfells etc. auswirkt – ebenfalls mit Symbolcharakter. Daneben die schizophrenen Erkrankungen, also Psychosen, bei denen eine paranoide Angst wie beispielsweise ein Vergiftungswahn zur verminderten Nahrungsaufnahme führen kann. Auch eine Reihe von körperlichen Erkrankungen ziehen einen Gewichtsverlust nach sich, wie zum Beispiel Tumorerkrankungen oder auch Störungen des Stoffwechsels wie Schilddrüsenüberfunktion, daneben versteckte Infektionen und viele seltene Erkrankungen wie die Achalasie, bei der ein Speiseröhrenschließmuskel nicht mehr vernünftig funktioniert.

Das Erkennen von Essstörungen innerhalb der Familie, aber auch beim Arzt, ist schwierig, da Betroffene Symptome verheimlichen und Maßnahmen wie Erbrechen, Abführmittel oder auch Essanfälle bei der Esssucht verleugnen, was zur Krankheit dazugehört.

Was tun?

Die Magersucht ist eine gefährliche Krankheit. Von allen Essstörungen verzeichnet sie die höchste Sterblichkeitsrate durch Unterernährung oder Suizid und sollte sehr ernst genommen werden. Sie kann, wie die Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und die Binge-Eating-Krankheit (Esssucht), meist nur mittels einer Therapie aus mehreren Bausteinen in Zusammenarbeit von Kinderarzt, Hausarzt, Psychosomatiker, Internist sowie Psychotherapeuten behandelt werden. Oft sind sowohl Behandlungsabschnitte im Fachkrankenhaus für Psychosomatik oder in der Inneren Medizin notwendig, die mit einer langfristigen ambulanten Behandlung kombiniert werden sollten, wobei hier individuell ist, wie das im Detail auszusehen hat.

Essen ist ein Thema, das tief in unsere Kultur und jeweiligen Familiengeschichten hineinreicht. Durch folgende Maßnahmen kann es für uns möglich werden, etwas für uns zu verbessern.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 14: Die individuelle Bedeutung
von Essen erforschen

Die Depression: Mehr als traurig

Wo im Körper finden wir die Volkskrankheit Depression? Sowohl in der Psyche als auch im Körper. Depression ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Erkrankungen, die den ganzen Menschen in seinem Denken, in seinem Fühlen, Erleben und in seinem Handeln zutiefst beeinträchtigen. Deshalb habe ich die Depression in der Körpermitte, also im Zentrum, einsortiert.

Depressionen sind weltweit die Krankheit Nummer eins, die zu den meisten krankheitsbedingten Einschränkungen und zu Arbeitsunfähigkeit führen. Über fünf Prozent der Menschen in Deutschland sind im Laufe ihres Lebens von einer Depression betroffen (und etwa genauso viele von einer Angsterkrankung), wobei durch die steigende Lebenserwartung zunehmend auch alte Menschen an der Erkrankung leiden. Sie sind wie Jugendliche und Frauen nach der Geburt besonders gefährdet75.

Depression geht uns alle an

Seit mehreren Jahren unterrichte ich zum Thema Depression im Weiterbildungslehrgang »Psychosomatische Grundversorgung« Hausärzte, Frauenärzte, Urologen und Ärzte weiterer Fachgebiete. Meine Kollegen werden durch den Kurs qualifiziert, in ihren Sprechstunden eine schnelle, auf die bestehende Patient-Arzt-Beziehung aufbauende Hilfe bei psychosomatischen Krankheiten leisten zu können. Dabei treffen sich rund 50 Ärzte in meinem mehrstündigen Seminar. Oft ist es wirklich ergreifend, wenn wir diskutieren, weil klar wird, dass Depression ein Thema ist, das uns alle angeht. Entweder kennen wir es aus eigener Erfahrung oder durch mindestens eine Person im näheren Umfeld, die mit einer Depression zu kämpfen hatte oder hat. Viele Ärzte aus meinem Seminar, egal aus welchem Kerngebiet, haben sich schon rührend um Patienten gekümmert, denen durch eine Depression von heute auf morgen die Lebenslust abhandengekommen ist.

Unverbunden

Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird, ist, was eine Depression vom Gefühl der Trauer unterscheidet. Um uns der Antwort zu nähern, stellen wir uns zwei Menschen vor, die miteinander eine Straße entlanglaufen. Der eine trauert, der andere ist depressiv erkrankt. Der Traurige hat verweinte Augen und ist ein wenig langsam und wackelig auf den Beinen, während der Depressive starr und unbeteiligt in die Welt blickt und sich angespannt wie ein Roboter bewegt. Die beiden kommen an einem Restaurant vorbei. Im Restaurant ist einiges los, man hört Gespräche, es spielt Musik und der Duft einer frischen Kräutersoße zieht von der Terrasse herüber. Ein Kellner bittet den Traurigen und den Depressiven freundlich herein. Wenn wir uns das Innenleben der beiden anschauen, zeigt sich nun der Unterschied. Der Traurige beginnt zu überlegen: »Vielleicht lenkt es mich etwas ab, mich auf die Terrasse des Restaurants zu setzen. Eine Stärkung könnte mir guttun. Womöglich könnte ich mit jemandem über meine Trauer sprechen. Es riecht jedenfalls gut. Normalerweise würde mir solch ein Restaurant gefallen.« Der Depressive sieht zwar die anderen Gäste, riecht zwar die Soße, hört Musik und Gespräche, aber ihn erreicht davon nichts. Das Restaurant hat mit ihm nichts zu tun. Er erkennt, was es ist, das Ganze löst jedoch kein Gefühl bei ihm aus. Die Situation fordert ihn nicht zum Eintreten auf, und er kann sich nicht erklären, was anderen daran gefallen könnte.

Der Traurige ist also fähig, sich von einer Stimmung anstecken zu lassen, und fühlt sich durch bestimmte Situationen zum Handeln aufgefordert. Der Depressive spürt keine Lebendigkeit, für ihn haben die Welt und das Restaurant ihren Aufforderungscharakter verloren; er fühlt sich von der Welt isoliert, dem Soßenduft zum Trotz.

Beim Traurigen ist das Herz voll Traurigkeit; das kann er immerhin als inneren Kompass nutzen und sich daran orientieren, wohingegen der Depressive innerlich leer ist.

Mit einer Depression fühlen sich Betroffene bedrückt bis niedergeschlagen, antriebs- und wertlos und machen sich Selbstvorwürfe (»Ich würde die anderen Restaurantbesucher nur stören«). Nicht selten fühlen sie sich schuldig an Miseren, für die sie nun wirklich nichts können. Häufig resultiert aus einem Hilflosigkeitsgefühl heraus die Tendenz, sich blind an andere zu klammern.

Unsichtbar

Die gefürchtetste Folge einer Depression ist die Selbsttötung (Suizid). Einige Betroffene erleiden so starke innere Qualen, die so aussichtslos erscheinen können und jede Hoffnung rauben, dass das der letzte Ausweg scheint.

Das macht diese Erkrankung so furchtbar grausam, denn für jede noch so schwere Depression gibt es Therapien, die funktionieren. Wichtig ist, dass Betroffene zum Arzt gehen und die jeweilige Form der Depression erkannt wird. Denn das große Problem bei dieser Krankheit ist, dass wir damit nach außen ganz zufrieden oder sogar überangepasst wirken können und auch für den Arzt gesund aussehen, innerlich aber zerbrechen. Der Widerspruch zwischen dem, was man äußerlich sieht, und den tatsächlichen inneren Qualen macht die Depression mit aus.

Selbst ein gebrochener Arm in Gips, der gut und fast folgenlos wieder ausheilt, macht mehr her als eine gut versteckte Depression. Meiner Meinung nach eine Schwachstelle von uns allen: Es gibt Dinge, die uns gleichgültig sind, weil wir sie nicht sehen können und weil ihre Folgen für uns nicht unmittelbar erkennbar sind.

Es ist also gut, die Augen und Ohren offen zu halten und Mitmenschen Hilfe anzubieten, die sich zurückziehen und ihren üblichen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen oder Kontakte sogar gezielt vermeiden.

Eine Depression ist behandelbar. Sind Sie oder ein Freund, Angehöriger oder Ihr Nachbar in innerer Not und vielleicht sogar gefährdet, sich etwas anzutun, suchen Sie die Notaufnahme eines Krankenhauses auf, gehen Sie zum Arzt Ihres Vertrauens oder wenden Sie sich 24 Stunden am Tag an die Telefonseelsorge unter 0800/1110111. In dem von mir mitgegründeten und mitherausgegebenen Podcast PsychCast.de76, den ich mit meinem Freund, dem Psychiater Jan Dreher, gemeinsam produziere, besprechen wir Psycho-Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Da wir einmal eine Podcast-Folge über Suizidalität77 aufgenommen haben, hatte ich bereits Kontakt mit den Ansprechpartnern der Telefonseelsorge. Sie helfen verantwortungsvoll in der Not. Ich finde das eine richtig gute Sache.

Im folgenden Abschnitt möchte ich Ihnen – ganz im Sinne der versteckten Vorgänge – zeigen, was sich im Inneren des Körpers bei depressiven Erkrankungen vermutlich abspielt. Denn die Depression ist aktuellen Erkenntnissen nach78 keineswegs eine reine Kopfsache.

Körper und Psyche – in einem Boot

»Depressionen – das kommt doch alles von zwischen den Ohren!« oder »Alles psychisch« sind Aussagen, die man immer wieder hört. Viele würden das, ohne zu überlegen, unterschreiben.

Einige Interessengruppen wollen dieses Image der Depression fördern, um dann ihre nichtmedizinischen Fähigkeiten auf die Erkrankten anzuwenden. Leider ist das viel zu oft nicht zum Wohle der Patienten. Ich stelle folgende These auf und werde sie Ihnen gleich gut begründen:

Die Depression ist die typische psychosomatische Erkrankung – sie betrifft Körper und Psyche gleichermaßen.

Die Depression im Organismus

Wir psychosomatisch tätigen Ärzte haben in den letzten Jahren viel aus der Psychoneuroimmunologie gelernt. Diese junge medizinische Forschungsrichtung untersucht das Zusammenspiel von Psyche, Immunsystem und Nervensystem, dem größten Super-Organsystem, das wir haben.

Das Wort der Stunde in der psychoneuroimmunologischen Forschung ist »Allostatic Load«, das Konzept der Allostase. Es beschreibt, dass das Gehirn unser größtes Stressorgan ist. Entsprechend verschiedener Bedarfslagen steuert es ihm untergeordnete Systeme. Bei Vorliegen einer Depression ist dieser Mechanismus aus dem Gleichgewicht gekommen und signalisiert dem Organismus eine anhaltende Stressreaktion, die eine Veränderung zentralnervöser Strukturen nach sich zieht, zum Beispiel am Hippocampus (einer Hirnregion, die unter anderem für die Gedächtnisbildung wichtig ist). Als Auslöser einer allostatischen Last wurden vor allem soziale Stressoren wie Ausgrenzung, Herabwürdigung und Beschämung identifiziert.

Die anhaltende Stressreaktion führt in der weiteren Folge zu körperlichen Veränderungen79: Dazu gehören reduzierte serotonerge Neurotransmission, erhöhte Aktivität des Corticotropin-Releasing-Faktors (CRF), Störungen im Norepinephrin-Kreislauf, Minderaktivität im Dopamin-System, Aktivierung des Immunsystems, Hyperaktivität in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, Abweichungen in der Plättchenaktivierung, reduzierte Variabilität in der Herzfrequenz und noch mehr. Bitte sehen Sie mir die Sammlung an Fachwörtern nach – ich möchte damit zeigen: Es passiert dabei eine ganze Menge im Körper!

Die Symptome der Depression sind übrigens denen sehr ähnlich, die durch ein überaktiviertes Immunsystem entstehen (auch Cytokine-induced Sickness Behavior genannt): Krankheitsgefühl, Lustlosigkeit, erhöhtes Schlafbedürfnis, Appetitmangel, sozialer Rückzug, Konzentrationsmangel, erhöhte Schmerzsensibilität, Schwäche … Die Auswirkungen einer Depression schlagen sich ebenso körperlich nieder wie die derjenigen Erkrankungen, die wir direkt als »körperlich« oder »somatisch« bezeichnen.

Daher ist eine verschleppte Depression zum Beispiel auch ein unabhängiger Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit (»Verkalkung« der Herzkranzarterien) – und zwar genauso stark wie das Tabakrauchen.

Die Depression ist demnach keine rein psychische Erkrankung, weder »eingebildet« noch flüchtig, sondern eine medizinisch hochkomplexe Erkrankung der Psyche, des Gehirns und des Körpers mit lebensbedrohlichen Folgerisiken.

Weshalb wird man depressiv?

Wir haben besprochen, dass eine Depression auf körperlicher und auch psychischer Ebene das Leben durcheinanderbringt. Aber wie fängt man sich eine Depression ein? »Ist es Zufall, kann es jeden treffen und kann ich dem vorbeugen?«, fragen mich meine Patienten immer wieder.

Körpercheck

Das Allererste und wirklich Wichtige, wenn jemand depressive Symptome zeigt, ist es, diverse körperliche Ursachen auszuschließen, die genau diese Symptome verursachen können.

Denn wenn jemand depressiv wirkt, heißt das noch lange nicht, dass er eine Depression hat. Ich habe schon einen Patienten erlebt, der sich bereitwillig einer Depressionstherapie unterzogen hat, aber eigentlich unter einem Hirntumor litt. Auch eine Schilddrüsenunterfunktion, eine Hepatitis oder eine schleichende Entzündung können depressive Symptome hervorrufen. Ebenso kann eine Blutarmut, also ein Mangel an roten Blutkörperchen, ähnliche Beschwerden hervorrufen.

Oftmals spielen sowohl psychische wie körperliche Ursachen eine Rolle, und es ist wichtig, dass wir hier auch an beiden Hebeln ansetzen, an Psyche und Körper.

Die Depression ist als Erklärung für vieles in Mode. Daher ist es oberstes Gebot, hier gründlich körperlich abklären zu lassen, und zwar von einem Arzt.

Formen und Ursachen

Die Depression ist eine affektive Erkrankung, was so viel heißt wie Stimmungs- oder Gemütskrankheit. Es gibt mehrere Formen von Depressionen. Zu unterscheiden sind einmalige Phasen (Episoden genannt) und wiederkehrende Episoden. Es gibt leichte bis schwere Verläufe. Auf belastende Lebensereignisse wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Tod von nahestehenden Menschen reagieren einige von uns mit reaktiven Depressionen, bei denen jemand ein für ihn belastendes Ereignis nicht so bewältigen kann, dass er sich dabei wohlfühlt. Und es gibt die sogenannte chronische neurotische Depression, auch Dysthymia genannt, unter der Betroffene dauerhaft leiden, die aber die Lebensführung nicht zu sehr einschränkt. Ursächlich sind dabei oft psychische Muster, die in der Vergangenheit erworben wurden und das Erleben im Heute in einer ungünstigen Weise verzerren. Es gibt auch die Gruppe von endogenen Depressionen (altgriechisch für »von innen«), die ihren Namen tragen, da sich kein äußerer Zusammenhang mit einer Lebensveränderung finden lässt. Es wird daher schon lange angenommen, dass diese Form der Depression ihren Ausgang in Veränderungen des Serotonin-Systems (eines Neurotransmitter-Systems) im Gehirn hat. Die Wahrheit, welche Form der Depression jemand hat, liegt meistens irgendwo zwischen diesen Erklärungsmodellen – in einer Mischung.

Die Depression hat psychische, soziale und biologische Auslöser, die alle zusammenspielen. Auch die Genetik, also Verletzbarkeiten durch Vererbung, spielt eine Rolle80, wobei sich bisher in Studien keine eindeutigen Anhaltspunkte haben finden lassen, die nachweisbar für eine Erkrankung codieren81.

Wir wollen uns jetzt mit psychischen Faktoren beschäftigen.

Grundstein Kindheit

Die Art und Weise, wie ein Mensch die Welt erlebt, kann eine Depression wahrscheinlicher machen oder auslösen. Das hat mit Erlebnissen und Erfahrungen der Kindheit zu tun, wie emotionale Entbehrungen, Überbehütung oder sogar traumatische Verluste, die im Unbewussten abgespeichert wurden. Irgendwann können diese erworbenen Erfahrungsmuster durch schwierige Lebenssituationen oder auch nur Gedanken erneut aktiviert werden und sehr unvorhersehbar zum Ausbruch einer Depression führen.

Ein typisches Beispiel ist mein Patient Martin. Seine Eltern haben sich getrennt, als Martin sechs Jahre alt war, was seine Mutter in eine Krise gestürzt hat. Martin berichtete mir, dass er häufig früher als seine Mitschüler von seiner Mutter aus der Schule abgeholt wurde, da sie nach der Trennung nicht gut allein sein konnte. Martin erinnert sich jedoch nur an wenige Situationen, in denen es um ihn und seine kindlichen Wünsche und Ideen gegangen sei. Vielmehr sei er laut seiner Mutter der neue »Mann im Haus« gewesen.

Diese Episode aus Martins Kindheit ist sehr typisch für Depressionskranke. Kinder haben Bedürfnisse nach Zuwendung und Liebe. Wird dieser Wunsch frustriert und haben sie bereits früh so zu funktionieren, wie andere sich das vorstellen, entstehen Enttäuschung, Ärger und Aggression, manchmal sogar Hass. Weil Kinder wie Martin aber sehr schlaue und anpassungsfähige Wesen sind, lassen sie ihre Aggressionen nicht heraus oder poltern los. Warum sie das nicht tun? Weil sie dann auch das bisschen Zuneigung, das sie bekommen, noch aufs Spiel setzen würden. Kinder sind notgedrungen diplomatisch. Da sich aber Gefühle und Impulse wie Aggressivität und Enttäuschung nicht einfach neutralisieren lassen, wenden die Kinder diese unerwünschten Gefühle lieber gegen sich selbst. Das hat den kurzfristigen Vorteil, dass sie nicht mit ihren wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern weitere Probleme riskieren. Sie sagen sich also: »Ich bin es wohl nicht wert, dass Mama meine Bedürfnisse erfüllt« oder »Ich verlange von Mama zu viel«. So verlieren sie ihre Bezugspersonen nicht ganz und halten die spannungsgeladenen Gefühle aus der Beziehung fern.

Erkennen Sie schon die depressiven Denkmuster? Wertlosigkeit, das Gefühl, zu wenig zu bekommen oder zu viel zu verlangen, und die Frage, wofür man überhaupt aufstehen soll.

Mit diesem Muster gehen Menschen, die einen solchen depressiven Grundkonflikt in sich tragen, durch die Welt. Sie sagen meist nicht, was sie wollen, weil das in ihrer Kindheit besser war. Wenn andere aber nicht erkennen, was sie brauchen, ziehen sie sich enttäuscht zurück. Und hierin liegt sehr häufig der Auslöser für eine Depression.

So war es auch bei Martin. Als Verkäufer in einem Autohaus hatte er tolle Umsatzzahlen, viele zufriedene Kunden und eine klasse Beziehung zu seinen Kollegen. Doch als der Job des Verkaufsleiters neu zu besetzen war, erhielt sein Kollege Ingo den Zuschlag, der schon lange davon sprach, diese Herausforderung annehmen zu wollen. Martin hatte gehofft, in seinen Fähigkeiten erkannt zu werden und den Zuschlag zu erhalten, wie er in einer Kurzzeit-Psychotherapie mit mir herausarbeiten konnte. Am Tag von Ingos Ernennung bekam Martin eine Depression und wurde krankgeschrieben. Bereits zehn Tage später lernte ich ihn sehr gehemmt, leise und niedergeschlagen im Rahmen meiner Sprechstunde kennen. »Ich bin völlig unfähig in meinem Job«, konstatierte er und hatte seit zehn Tagen mit dem Gedanken gerungen, sich etwas anzutun, weil niemand jemanden wie ihn gebrauchen könne.

Martin ging es relativ schnell wieder besser, da es ihm gelang, sich auf die Erforschung seiner Depression einzulassen. Er begriff, warum er von anderen als so zögerlich wahrgenommen wurde. Er konnte nach und nach lernen, für sich selbst zu fordern und anderen auf die Füße zu treten, ohne gravierende Folgen, wie er es als Kind von seiner Mutter hatte befürchten müssen.

Später bekam er durch Nachfragen heraus, dass die Kollegen und Vorgesetzten nicht davon ausgegangen waren, dass er bereit gewesen wäre, die Verantwortung eines Verkaufsleiters zu übernehmen. Er hätte den Job bekommen können. Diese Erkenntnis ließ ihn sich viel freier fühlen. Er wollte nun endlich sein Leben in die Hand nehmen.

Was wirkt antidepressiv?

Ich setze Antidepressiva dann ein, wenn ein Zugang zum Problem durch Gespräche nicht möglich bzw. gewünscht ist oder die Symptome zu stark sind. Aber im Falle von durch bestimmte Erlebnisse ausgelösten depressiven Erkrankungen, zum Beispiel auch bei Martin, machen sie meist keinen Sinn. Martin hätte dadurch womöglich einen etwas gesteigerten Antrieb erreichen können, was allenfalls dazu geführt hätte, dass er sich wieder zur Arbeit hätte schleppen können. Aber das dahinterliegende Problem und damit der Motor der Depression, der jederzeit wieder hätte anspringen können, wäre völlig unberührt geblieben.

Außerdem: Eine Depression hat etwas von einer geheimen Schutzfunktion. Sie hat Martin zunächst einmal aus der angespannten und für ihn unklaren Situation am Arbeitsplatz herausgenommen. Die Depressivität hat dazu geführt, dass er eine Vollbremsung hinlegt (um beim Autohaus zu bleiben) und sich zunächst einmal um seine Krankheit und sich selbst kümmert. Mit einem antriebssteigernden Medikament hätte ich ihm zwar neuen Treibstoff gegeben, aber wohin er damit fahren soll, wäre ihm weiterhin unklar geblieben. Auch hätte er die Pillen als Beweis interpretieren können, dass ich den Schlüssel zur Lösung seines Problems habe, nicht er.

Ich fürchte, das Beste an den Antidepressiva sind ihr Name, der nämlich weckt große Hoffnungen: dass eine Depression plus Antidepressiva gleich Gesundheit bedeutet. Und das hat sich in unseren Köpfen eingeprägt.

Es gibt auch Formen von Depressionen, bei denen sich keine Erklärung in den Denkmustern und verinnerlichten Beziehungserlebnissen der Patienten findet. Gerade in diesen Fällen sind medikamentöse Therapieversuche zu unternehmen. Wenn akute Symptome wie Schlafstörungen, Antriebsschwäche oder Todessehnsucht damit unterbrochen werden können und es dem Kranken möglich wird, neuen Mut zu fassen, sind antidepressive Medikamente und beruhigende Arzneimittel angezeigt.

First Aid – Erste Hilfe

Was könnte eine erste Maßnahme sein, um sich aus einem depressiven Zustand zu bewegen? Häufig ist ja die Rede von positiver Psychologie und dem Ersetzen negativer durch unterstützende Gedanken. Ist das realistisch und machbar?

Meine Antwort: nein und ja. Die neurobiologische Forschung zeigt uns inzwischen sehr genau, unter welchen Bedingungen positive Handlungen eine heilsame Wirkung entfalten. Listen mit 100 Stichwörtern wie kochen, spazieren gehen und Freunde treffen sind leider nur sehr begrenzt hilfreich. Sie sind zu allgemein und beschreiben oft Dinge, die man gerade wegen der Depression nicht als positiv erleben kann.

Wir können uns die verinnerlichten positiven Muster aus frühen Erfahrungen zunutze machen. Wir versuchen schließlich auch ungünstige psychische Muster und Beziehungserfahrungen zu verstehen, um uns den Ausbruch einer Depression zu erklären. Als erste Maßnahme zur Therapie ist daher natürlich naheliegend zu eruieren, welche Ressourcen, also hilfreiche Fähigkeiten und Auswege, wir bereits in der Vergangenheit gewählt haben, die momentan nur verschüttet und nicht erkennbar sind.

Durch den Aufbau des Gehirns bedingt und durch die Arbeitsweise seines Belohnungssystems ist es praktisch unmöglich, Dingen, die bisher keine besondere Bedeutung für uns hatten, plötzlich eine solche Bedeutung zu geben. Gerade wenn jemand depressiv ist, denkt und empfindet er ja nicht mehr flexibel und kann sich kaum für neue Aktivitäten begeistern. Anzuknüpfen an bestehende Ressourcen, das funktioniert dagegen. Bei meinem Patienten Martin war es so, dass er sich früher in die Welt von Elektronik-Baukästen geflüchtet und eigene Geräte zusammengelötet hatte.

Er konnte so in seine eigene Welt abtauchen und war nicht auf Zuspruch und Bewunderung durch seine Mutter angewiesen. Wenn er mit dem Löten fertig war, war er stolz, was seinen Selbstwert hob – so verstanden Martin und ich die Abläufe jedenfalls später.

Das Erste, was Martin während seiner Psychotherapie wieder mit Ausdauer und sogar ein bisschen Freude und Stolz machen konnte, war, einen Weltempfänger-Bausatz zusammenzubasteln.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 15: Fragen, die sich Depressive stellen sollten

  1. Was hat mir früher eigentlich Spaß gemacht: als Kind, als Schüler, als Auszubildender oder Student, als junger Erwachsener? Hier kann man anknüpfen!
  2. Für welchen nahe- oder fernstehenden Menschen würde es sich lohnen, die Depression zu überwinden, um bald wieder Zeit mit demjenigen verbringen zu können?
  3. Wer an einer Depression leidet, sollte sich unbedingt krankschreiben lassen. Das ist notwendig und absolut legitim. Wie lässt sich die Zeit nun nutzen, die man durch die Depression »gewonnen« hat? Gibt es etwas, das man schon immer einmal ausprobieren wollte, es aber aufgrund des stressigen Alltags nicht konnte? Was davon könnte man nun trotz der depressiven Symptome endlich tun?
  4. Betroffene sollten eine Liste machen, wie viel Alkohol, Nikotin oder andere Drogen sie zu sich nehmen, um sich selbst zu »helfen«. Tatsächlich verschlimmern diese Mittel die Depression. Es ist gut, sich zu fragen, ob man den Konsum reduzieren möchte und kann.
  5. Welche unangenehme Auseinandersetzung, welchen Streit, welchen Eklat, welche Katastrophen und welche Konfrontation möchte man durch die Symptome vielleicht vermeiden? Betroffene können mit Vertrauenspersonen darüber sprechen, ob sie ihnen die jeweilige Situation trotz der Depression zutrauen. Würde eine Klärung die Situation erleichtern?
  6. Und das Allerwichtigste: Bewegung. Ist es möglich, Nordic Walking zu beginnen? Eine Aktivierung des Körpers mithilfe von Nordic Walking wirkt fast genauso gut antidepressiv wie eine spezielle Bewegungstherapie82. Die Frage ist, ob es mit dieser Aussicht trotz der Symptome gelingen kann, sich dazu zu motivieren.

Und jetzt erst mal durchatmen.

Luftnot und Angst

Wir landen eine ganze Etage tiefer, bei der Lunge und einem Zitat von Theodor Fontane, der schrieb: »Es ist und bleibt ein Glück (vielleicht das Höchste), frei atmen zu können.«83

Die Lunge und die Freiheit

Wenn wir gesund sind, erachten wir es als eine Selbstverständlichkeit, frei atmen zu können. Wer Asthma oder eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) hat, weiß, dass Luftnot eine unheimliche Angst macht.

Zu spüren, nicht mehr genug lebensnotwendigen Sauerstoff zu bekommen, löst ein Gefühl von Panik aus. Ähnlich wie in einer Erstickungssituation unter Wasser möchte uns die Angst helfen, uns zu befreien und automatisch zu flüchten, ohne dass wir groß darüber nachdenken müssen: »Ich bekomme keine Luft, also weg hier!«

Luftnot, die durch eine Bronchien- oder Lungenerkrankung ausgelöst wird, führt per Aktivierung des Sympathikusnervensystems, das für Flucht zuständig ist, zu einer hohen Cortisol-, also Stresshormon-Ausschüttung sowie zu einer Erhöhung des Blutdrucks. Zu dieser automatisch gesteuerten Körperreaktion gehört wiederum eine höhere Erregung des Gehirns, das den Angstmodus des Organismus verstärkt. Kurz gesagt, sind Körper und Psyche in einem Angstkreislauf gefangen, was es Betroffenen, deren Angehörigen und auch deren Ärzten schwer macht zu helfen.

Einen Menschen mit Atemnot zu sehen ist schwer zu ertragen. Die Angst färbt auf die Menschen in der Umgebung ab. Die eigene Atemfrequenz steigt. Gerade bei chronischen Erkrankungen meiden Angehörige daher manchmal ihre Liebsten, weil es so schrecklich mit anzusehen ist. Das kann zum Wahrwerden der schlimmsten Befürchtungen – der Angst vor Isolation und Einsamkeit der Betroffenen – führen. In diesen Fällen ist ganz dringend die Einsamkeit und die Angst in der medizinischen Behandlung mitzuberücksichtigen. Betroffene oder Angehörige sollten sich auch um psychotherapeutische Unterstützung bemühen.

Panik verursacht Hyperventilation

Wenn wir im Bereich der Lunge und der Bronchien sind, gibt es einen psychosomatischen Mechanismus, den Sie vielleicht auch schon bei sich oder anderen erlebt haben. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich als Jugendlicher mehrmals mitbekommen habe, wie aufgebrachte Mitschülerinnen in eine vom Lehrer vor ihren Mund gehaltene Tüte geatmet haben; sie hatten dabei einen angstvollen Blick, ihre Hände waren in einer Art Pfötchenstellung verkrampft.

Dieses »Hyperventilationssyndrom« geht meistens schnell und folgenlos vorüber. Bestimmend dabei sind Angst, Unruhe, schnelle Atmung, Herzrasen, Kribbeln und Lähmungen oder auch Verkrampfungen. Es gehört zu den somatoformen Störungen, die den Eindruck einer körperlichen Erkrankung vermitteln, jedoch eigentlich in massiven psychischen Spannungen ihren Ausgangspunkt haben und sehr oft durch Ärger und Wut in zwischenmenschlichen Konflikten ausgelöst werden. Das Hyperventilationssyndrom tritt häufiger auf, wenn man ohnehin mit gesteigerter Ängstlichkeit oder einer Angststörung zu tun hat.

Die panische Angst vor den eigenen Gefühlen führt zu schnellem, hechelndem Atem, was eine vermehrte Abatmung von Kohlenstoffdioxid (eigentlich ein Abfallprodukt, das der Mensch ausatmet) zur Folge hat. Der pH-Wert des Blutes steigt, es wird alkalisch (das Gegenteil von übersäuert), woraufhin ein bestimmter Kalziumanteil im Blut abnimmt, was eine Übererregbarkeit der Nerven und der Muskulatur auslöst. Zu wenig von diesem Abfallprodukt führt also auch zu einer Schieflage des Stoffwechsels. Es kommt zu Muskelverkrampfungen und Empfindungsstörungen der Nerven, sodass sich Betroffene manchmal an Armen oder Beinen wie gelähmt fühlen – was wiederum die Angst und schnelle Atmung verstärkt, sodass ein Teufelskreis der Panik entsteht. Es ist in solchen Fällen wichtig zu verstehen, dass man zu viel atmet, nicht zu wenig.

Betroffenen kann auf zwei Arten geholfen werden: Sie können mit ihnen reden, sie trösten oder in den Arm nehmen und beruhigen; auch ein Plastikbeutel, den jemand mit Hyperventilationssyndrom bei Aus- und Einatmung mehrere Minuten vor den Mund hält, schafft Abhilfe. Bei der ersten Methode vermindern Sie die zugrunde liegenden Emotionen durch das ruhige Sprechen. Die zweite Methode führt zu einer erneuten Einatmung des ausgeatmeten CO2, was durch eine Normalisierung des Blutgas-Gleichgewichtes den Symptomkreislauf unterbricht.

Beruhigungsmittel sind hier eigentlich nicht nötig. Man muss ja nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen. Besser ist, falls das Hyperventilationssyndrom häufiger auftritt, die dahinterliegenden Emotionen verstehen zu lernen. Zu bedenken ist bei ausbleibender Besserung, dass auch körperliche Ursachen wie akute Lungenerkrankungen die Hyperventilation verursachen können.

Dieses Herz-an-Herz-Gefühl

Wir reisen nun von der Lunge zum Herzen.

Herz und Lunge haben auch deshalb eine so enge Verbindung, weil sie in gemeinsamer Mission unterwegs sind, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen – einem elementaren Baustein der Energiegewinnung. Diese zwei Organe nehmen wir als besonders wichtig wahr. Das liegt vielleicht daran, dass Herz und Lunge beide rhythmisch arbeiten. Ihr aus unserer Sicht einwandfreies Funktionieren können wir ständig überprüfen, indem wir in uns hineinhorchen, ob die beiden sauber arbeiten. Das geht – da werden Sie mir zustimmen – bei der Leber oder den Nieren nicht ohne Weiteres, obwohl sie ebenso lebensnotwendig sind.

Schon aus der Alltagssprache wissen wir, dass das Herz gemeinhin als Sitz unserer Emotionen verstanden wird. Wer kennt nicht das gebrochene Herz und hat nicht schon herzlich zum Geburtstag gratuliert? Den Song »Herz an Herz« haben die Interpreten Drafi Deutscher wie auch Blümchen als Symbol fürs Verliebtsein verwendet.

Das Herz ist aber zugleich oft mit Ängsten besetzt. Auch Sie haben wahrscheinlich schon von Todesfällen durch Herzstillstand, Herztod oder Herzinfarkt in Ihrem Umfeld gehört. Entsprechend häufig werden Herzbeschwerden in der Notaufnahme oder beim Kardiologen abgeklärt und behandelt. Durch die vielen »Ihr-Herz-ist-gesund-Befunde« von Patienten, die trotzdem Symptome haben, zeigt sich auch, dass das Herz ein Ort in unserem Körper ist, an dem wir nicht selten Kränkungen und Selbstwertprobleme körperlich erleben: durch Druck auf dem Herzen, Beklemmungsgefühle, Herzrasen, Herzstolpern oder Panik davor, dass das Herz stehen bleiben könnte.

Herz aus dem Takt

Viele Herzkrankheiten können auf körperlicher und psychischer Ebene Auslöser und Auswirkungen haben. Drei häufige möchte ich mir mit Ihnen näher ansehen.

Herzinfarkt

Der leider weitverbreitete Herzinfarkt ist das Endergebnis einer länger dauernden Krankheit, der koronaren Herzerkrankung. Damit ist die »Verkalkung« und Verfettung der kleinen Arterien gemeint, die den Herzmuskel mit Sauerstoff versorgen. Diese Krankheit entsteht zumeist schleichend und wird begünstigt durch Stress, aber auch durch Bewegungsmangel, Diabetes, Übergewicht, Fettstoffwechsel-Erkrankungen, Rauchen und Weiteres mehr. Dies sind alles schädliche Verhaltensweisen oder Vorerkrankungen, die unseren psychisch-mentalen Zustand widerspiegeln und sich über die Zeit immer mehr auf den Körper, auf das Herz auswirken.

Kommen dann noch akute emotionale Belastungen dazu, vielleicht Mobbing, Ausgrenzungserfahrungen, Verluste oder Existenzängste, kann die damit verbundene Stressreaktion im Körper den Infarkt mitauslösen: Eine Plaqueablagerung verstopft eine Arterie des Herzens84.

Forscher gehen von einer direkten Verknüpfung des subjektiven Stresserlebens des Betroffenen, im Hirnscan über die Aktivität der Amygdala als Emotionszentrum nachgewiesen, und einer Entzündungsreaktion der Arterien aus. Inzwischen wissen wir, dass auch bei bisher gesunden Personen, die weder rauchen noch Bewegungsmangel oder eine andere der oben beschriebenen Verhaltensweisen aufweisen, durch psychische Belastungssituationen ein Infarkt ausgelöst werden kann85! Nicht selten führt das Durchmachen eines Herzinfarktes zu einer zusätzlichen seelischen Erkrankung – in der Folge leiden Betroffene unter Selbstunsicherheit, Niedergeschlagenheit und einem verminderten Selbstwertgefühl. Nicht selten spielen Ängste vor einem erneuten Infarkt sowie dem Verlust der körperlichen Integrität eine Rolle.

Hoher Blutdruck

Bluthochdruck, eine Volkskrankheit, ist ebenfalls ein Risikofaktor für Herzinfarkte und Schlaganfälle. In Tausenden von Studien und bei fast jeder Blutdruckmessung in einer Arztpraxis ist die enge Verknüpfung zum autonomen Nervensystem und damit zur Psyche bewiesen. Der Anblick des Arztes in seinem weißen Kittel reicht vielen Patienten aus, um Stress zu erleben und den Blutdruck ungewollt in die Höhe schnellen zu lassen. Das nennt man »Weißkittel-Bluthochdruck«. Auch bei Alltagsstress geht der Blutdruck nach oben und bringt mit mehr Druck im Schlauchsystem der Arterien Sauerstoff und Nährstoffe zu den Zellen des Körpers. Bei Entspannung sinkt der Blutdruck, und der Körper kann sich erholen und Kräfte sparen. Da so viele von uns an chronischem Stress leiden, ist auch bei vielen der Blutdruck chronisch erhöht.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 16: Hoher Blutdruck fühlt sich
gut an – aber er schadet auch

Hoher Blutdruck wirkt auf unsere Psyche wie ein Antidepressivum und fühlt sich ganz und gar nicht schlecht an. Im Gegenteil, man fühlt sich besser als mit niedrigem Blutdruck.

Wenn bei Patienten der Blutdruck mit Medikamenten gesenkt wird, sind viele Menschen damit gar nicht zufrieden, weil sie matt und müde werden und sich viel antriebsärmer als vorher fühlen, als sie noch »angenehm« unter Spannung standen. Das führt dann oft dazu, dass Betroffene Tabletten schnell wieder absetzen oder ab und an »Drug Holidays« machen, in denen sie die Pillen einfach weglassen. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, wie schädlich der hohe Druck für die Blutgefäße und die Organe ist.

Andererseits ist auch die Gabe von Bluthochdruckmitteln zu hinterfragen. Je mehr der Druck gesenkt werden soll, desto mehr steuern das vegetative Nervensystem und die unbewusste Seite der Psyche dagegen – durch den hohen Druck bzw. die Stressreaktion soll ja dem Organismus mehr Sauerstoff zur Verfügung gestellt werden. Kommt es zum Druckabfall bei gleichbleibendem Stress, steuert der Körper natürlich dagegen – das ist sein Job. Gut ist es deshalb zusätzlich zur Medikation zu schauen, mit welchen natürlichen Mitteln der Blutdruck gesenkt werden kann. Dazu kommen wir später in diesem Kapitel.

Herzangstneurose

Die Angst um das eigene Herz hat, wenn sie zur echten Belastung und Einschränkung wird, viele Namen: Herzneurose, Herzangststörung, Herzphobie oder auch Herzhypochondrie. Besonders junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren sind davon betroffen, es gibt sie aber bei Patienten und Patientinnen jeden Alters.

Wenn ich Betroffene sehe, denke ich immer an die Kollegen vom Pflegepersonal während meiner Zeit in einer großen Notaufnahme: Wenn ein drahtiger junger Kerl sich mit »Verdacht auf Herzinfarkt« vorstellte, haben sie gerne die Augen verdreht, sobald sich der junge Mann mit großen Kulleraugen gewundert hat, dass es für ihn nicht gleich ins Herzkatheterlabor ging, wie man das vielleicht aus TV-Serien kennt. Betroffene haben oft Todesangst, halten sich den Herzbereich und berichten erschrocken über ihr Herzstolpern – »als wenn das Herz gleich stehen bleibt«. Oft hatten die Kollegen recht damit, dass es sich dabei um medizinisch harmlose Extrasystolen, also Herz-Extraschläge, handelte, die viele Menschen im Laufe ihres Lebens mal haben. Gerade Angst befeuert diese immer wieder oder erhält sie aufrecht.

Die ganze Sache ist allerdings schwierig, da ich auch schon genau solche jungen Männer gesehen habe, die tatsächlich mit 28 Jahren einen Herzinfarkt erlitten haben. Das kann man den Patienten leider nicht an der Nasenspitze ansehen, sondern nur anhand einer gründlichen Untersuchung mit EKG (Elektrokardiogramm), Blutuntersuchung und eventuell einer Herzkatheteruntersuchung. Parallel zur körperlichen Untersuchung kann die psychosomatische Diagnostik stattfinden.

Die seelischen Hintergründe der Herzangstneurose sind laut Michael Ermann, einem bekannten Psychosomatik-Professor und Lehrbuchautor, Kränkungserlebnisse, bei denen die Kränkungswut nicht wahrgenommen und nicht ausgesprochen werden kann, sondern verdrängt wird86. Im Folgenden entwickeln die Betroffenen eine ambivalente, also zweischneidige Beziehung zu ihrem Herzen. Sie widmen dem Herzen ihre ganze Aufmerksamkeit und Sorge, so wie sie sich endlich einmal die Aufmerksamkeit von anderen wünschen würden. Gleichzeitig befürchten sie ständig den plötzlichen Herztod. Ein Herzschlag – und sie wären einfach weg. In genau diesem Symptom kommt laut Ermann die ganze Kränkungswut – umgeleitet – doch noch an die Oberfläche, aber gründlich versteckt. Die Umlenkung der Wut führt außerdem dazu, dass die Betroffenen zum Arzt gehen und sich nicht mit dem eigentlich Kränkenden beschäftigen (müssen). Der Arzt gibt ihnen im Idealfall Aufmerksamkeit, denn es könnte sich ja wirklich um etwas Lebensgefährliches mit ihrem Herzen handeln.

Warum sind so oft junge Menschen von der Herzangstneurose betroffen? Hinter Herzängsten kann ein Ringen um Unabhängigkeit und Weiterentwicklung stehen. Kränkung und daraus resultierende Wut sind ein natürlicher Motor, um sich von den Eltern wegzuentwickeln und eigene Wege zu gehen, was bei den Betroffenen häufig aufgrund von Schuldgefühlen nicht gelingt. Sie müssen aufgrund der Herzangst eine gewisse Einengung in Kauf nehmen, erhalten aber auch Sicherheit – anstatt sich offen und frei auf die spannende Welt um sich herum mit all ihren Versuchungen und Risiken einzulassen. Denn wer sich sorgenvoll um sein Herz kümmert, bringt sich nicht in Gefahr.

In der Einleitung habe ich beschrieben, wie bei mir mit 18 Jahren mein ganz persönlicher Grundstein für das Interesse an der Psychosomatik gelegt wurde. Nach meinem Aufenthalt in der Lungenchirurgie kam von einem Moment auf den anderen das Herzrasen, überwältigend und beängstigend. Mein Herz war allerdings organisch gesund.

Bei mir selbst hat sich – wie ich erst später herausfand – die Theorie bestätigt: Unbewusst bestand das altersgemäße Bedürfnis, die Welt zu erkunden, zu experimentieren und Grenzen auszuloten. Doch war das mit einer frisch operierten Lunge überhaupt möglich, oder würde ich neue Probleme riskieren? Durch die Wendung nach innen, durch die Konzentration auf den Herzrhythmus, das Herzstolpern und die Angst davor musste ich mich nicht mit dem Konflikt beschäftigen, wie ich so lädiert und vernarbt meinen Autonomietendenzen nachgehen könnte. Die Herzbeschwerden lösten also vorübergehend ein Problem für mich, indem sie mich von meiner eigentlichen Lebensaufgabe in der Sturm-und-Drang-Zeit entbanden.

Was tun? Herz-Geschenke!

Was können Sie nun tun, wenn das Herz Ihr Sorgenkind ist? Wir können dem Herzen verschiedene Geschenke machen, über die es sich freut. Hier kommen einige bekannte und vielleicht noch unbekannte Ideen:

  1. Egal was mit dem Herzen los ist, der erste Schritt liegt im Akzeptieren und Annehmen. Was so leicht klingt, ist es in der Umsetzung meist nicht. Doch erst wenn wir Ja zu einer Herausforderung sagen, sind wir auch wirklich bereit, etwas dafür zu tun. An einer psychosomatischen Klinik, an der ich arbeitete, wurden »Herzsalbenlappen« bei Bedarf verordnet. Ein mit pflanzlicher Salbe bestrichener Waschlappen wurde auf die Herzregion gelegt und sollte dort seine beruhigende Wirkung entfalten. Auch wenn das Ganze nicht biologisch wirkt: Allein die liebevolle Geste, das gute Gefühl, dass sich etwas Schützendes um das Herz legt und das Sichkümmern, können heilsam sein, Linderung bewirken und Stress im Herz-Kreislauf-System verringern.
  2. Senken Sie Stress mittels der »Rauszoomen-Methode«: Wenn Sie sich tierisch über etwas aufregen, wie einen unfreundlichen Brief, einen unhöflichen Nachbarn oder eine wenig hilfsbereite Behördenmitarbeiterin, zoomen Sie aus der Situation heraus. Betrachten Sie einen größeren Ausschnitt der Situation und Ihres Lebens. Schauen Sie sich gleichzeitig die Situation auf Sachebene an und weniger auf der Beziehungsebene: besser »Was geschieht gerade?« statt »Was man mir hier schon wieder antut!«. Sehen Sie sich, wie Sie einfach ein Blatt Papier in der Hand halten, wie Sie einer anderen Person begegnen, die in der Wohnung neben Ihnen wohnt, oder wie Sie vor einem Schreibtisch eines anderen Menschen sitzen, von wo Sie gleich wieder weggehen. Versuchen Sie, die emotionale Besetzung der Situation loszulassen. Das ist gesund für das Herz, und Sie werden sehen, dass es mit Übung besser klappt. Der Trick ist, wie so oft, durchzuhalten und gleich zum Zoom zurückzukehren, wenn Sie merken, dass Sie wieder ins alte Schema zurückfallen. Zoom out!
  3. Sport ist sehr gut fürs Herz. Ganz nebenbei wirkt Bewegung gegen Depressionen und zwar etwa genauso stark wie antidepressive Medikamente87. Fangen Sie zweimal pro Woche mit jeweils 20 Minuten an. Je nach Knie- und Rückenfitness haben Sie die Wahl zwischen Joggen, Nordic Walking, Tanzen, Radfahren oder Schwimmen. Knüpfen Sie dort an, wo Sie schon einmal positive Erfahrungen gemacht haben. Wenn in Ihnen eine verborgene Leidenschaft schlummert, ist das viel effektiver, als wenn Sie sich in ein steriles Fitnessstudio quälen. Andererseits könnte das auch genau das Richtige sein, falls Sie nebenbei ein wenig flirten wollen.
  4. Entwickeln Sie Ihr eigenes Entspannungsprogramm. Wenn Sie schon herausgefunden haben, welches problematische Verhalten oder welche unbewussten Ängste mit Ihrer Herzsymptomatik zusammenhängen, richten Sie Ihr Programm danach aus. Vielleicht ist das Ziel, Ihre Aufmerksamkeit mehr nach außen zu lenken, weg vom Herzen. Dann sollten Sie sich passende Anreize schaffen, beispielsweise durch gemeinsame Unternehmungen mit Freunden. Vielleicht hilft Ihnen auch das Lesen eines guten und interessanten Buches. Vermeintliche Entspannungsmethoden wie Fernsehen oder im Internet surfen setzen uns dagegen ständig einer gewissen Informationsflut aus, für deren Verarbeitung wir nicht unbedingt geschaffen sind. Das Entspannende am Buchlesen ist, dass es einen Anfang und ein Ende hat, zwischen zwei Deckeln. Die Philosophin Ariadne von Schirach nennt die neueren Medien »Unendlichkeitsmaschinen«, da sie die Fähigkeit besitzen, uns endlos zu beschäftigen, ohne dass irgendetwas qualitativ Neues geschieht88.

Jedenfalls sollten wir überprüfen, wie wir die Dauer und Intensität von Anforderungen bewusster steuern können – so, wie sie uns guttun, und nicht wir ihnen.

SARS-CoV-2: Das Virus und wir

Die Corona-Pandemie mit ihrer ganzen Wucht macht uns etwas ganz deutlich: Wie sehr unser menschlicher Organismus beeinflusst werden kann – ohne dass es eine biologische oder physikalische Einwirkung gab oder gibt. Wir bleiben im Bereich von Nase und Mund als Eintrittspforten für Atemwegsinfekte, wie Covid-19. Betrachten wollen wir aber vor allem, was ein Virus mit Psychosomatik zu tun hat.

Infektionsangst

Erinnern Sie sich, wie sich Ihre Welt im Frühjahr 2020 verändert hat? Wie Sie zum Beginn der Pandemie das Virus auf jedem Türgriff erwarten mussten, und wir uns im Supermarkt misstrauisch beäugt haben? Am Anfang stand eine gesunde und prinzipiell lebensrettende Schutzfunktion: die Angst um die Gesundheit und die unserer nächsten Angehörigen. Als die Medien 24 Stunden am Tag über das »neuartige Coronavirus« berichteten und die italienischen Särge durchs Fernsehen rollten, blieb uns nur, unserem Instinkt zu vertrauen. Folglich vermieden viele von uns Situationen, in denen wir uns mit dem Virus anstecken konnten. Es zeigte sich, dass wir uns in diesem Zeitraum – noch vor dem Lockdown – am wenigsten bewegten.

Was danach geschah, und was ich bei meinen Patienten beobachten konnte, waren über die realistische, nachvollziehbare Angst hinausgehende Erlebensmuster und Reaktionen. Dabei spielt eine Rolle, welchen Umgang mit Bedrohungen Einzelne in ihrem Leben bisher kennengelernt haben. So gibt es eine Gruppe von scheinbar Unbesorgten, die gezielt keine Vorsicht einhielten. Sie liefen durch die Welt, als wenn es Corona nie gegeben hätte. Harte Maßnahmen der Regierung nutzten sie eher dafür, dagegen zu sein und auf ihre Freiheitsrechte zu pochen. Dieser Umgang kann eine Form der Angstabwehr sein: Das, was Angst auslöst, wogegen eine Phobie (Angst vor bestimmten Dingen) besteht, wird erst recht getan. Die Quelle der Motivation dazu bleibt jedoch unbewusst. Eine Schutzfunktion vor überflutender Angst kann sich dahinter verbergen, weil ein Risiko, das ich bewusst eingehe, kontrollierbarer erscheint.

Weil sich viele aus dem Lager der Besorgt-Vorsichtigen über diese Laissez-faire-Gruppe ärgerten, möchte ich klarstellen: Hinter dieser scheinbar extremen Sorglosigkeit kann genauso Angst stecken wie hinter dem übertrieben ängstlichen Verhaltensmodus. Auch die Besorgt-Vorsichtigen, die jeder Gefahr aus dem Weg gehen wollten, entwickeln zu der Realangst Ängste, die mehr mit ihrer vorherigen Prägung zu tun haben als mit der Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken. Sie vermeiden und verpassen durch die scheinbare Verhinderung einer Covid-19-Infektion zum Beispiel wichtige Aufgaben, lassen Kontakte auseinandergehen und flüchten nicht selten unbewusst aus ihrer Verantwortung – was natürlich entlastet. Erst einmal jedenfalls.

Das Problem an beiden durch Prägung und unbewusste Motive entstandenen Verhaltensweisen – der scheinbaren Angstfreiheit und der Übervorsicht – ist, dass es beiden Gruppen das Gefühl gibt, zu der moralisch besseren Gruppe zu gehören. So entstehen sich selbst bestätigende Gruppen, die dann immer weniger mit einem vernünftigen, ausgewogenen Verhalten zu tun haben. Das Problem an der Pandemie ist, dass lange Zeit keine allgemeine Vernunft entwickelt werden konnte, da niemand wusste, wie schwer und weitreichend die Folgen eines Ausbruchs und einer Infektion tatsächlich sein würden. Realität und Fantasie konnten kaum voneinander getrennt werden. Ein Zustand, den wir aus anderen Gebieten unseres täglichen Lebens gar nicht kennen.

In extremen Erscheinungsformen können Menschen so als potenzielle Gefahr angesehen werden, was schnell den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Ich konnte auch beobachten, wie Maßnahmen zum Infektionsschutz missbraucht wurden, um andere zu dominieren oder Grenzen zu setzen, diese also zu schikanieren. Die erste Welle der Corona-Pandemie 2020 hat ausgehend von einer Infektionsangst viele in den Menschen schlummernde Motive aktiviert: die allerbesten und umsichtigen, aber auch niedere und feindselige.

Infektionsangst oder auch Kontaminationsangst, also die Angst, sich Viren oder Bakterien nur durch Berührung zuzuziehen (nicht unbedingt Angst vor der Krankheit), ist eine sehr intensive Symbolik für die Psyche: »Etwas Fremdes, etwas, das ein anderer an oder in sich hat, dringt in mich ein.« Ängste, Ekel und Wasch- sowie Reinigungsrituale gehen oft damit einher. Beachtlich war in diesem Zusammenhang, dass meine zwanghaft-korrekten, zum Waschzwang neigenden Patienten sich plötzlich weniger gestört vorkamen, sondern sogar gesünder. Ihre eher übergenauen und korrekten Verhaltensweisen wurden das neue Idealbild: die Umkehrung der Verhältnisse.

Social Distancing und die Folgen

Neben der SARS-CoV-2-Infektionsangst kam durch den Lockdown das Herunterfahren von alldem hinzu, was uns Takt und Verlässlichkeit gegeben hatte. Neben der angstbedingten Isolation gab es eine verordnete Isolation, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Neben all den Bildungsfolgen durch ausgefallenen Schulunterricht, all dem wirtschaftlichen Schaden durch geschlossene Läden und Restaurants haben wir erkannt:

Für einen Lockdown sind wir Menschen nicht gemacht.

So spannend die Aktion in den ersten Tagen war: Es blieb eine Ernüchterung, ein Mangel und eine Leere im Leben vieler übrig. Die ersten reflexartigen Versuche waren es, dem übermächtigen Virus Kontrolle entgegenzusetzen durch Hamstern von Toilettenpapier und Nudeln. Doch dieses archaische Für-sich-Sorgen machte den Menschen nicht unabhängig. Wir sind Beziehungswesen, und die meisten meiner Patienten hatten daran zu knabbern, nicht eben am Kopierer im Büro oder am Kiosk jemanden zu treffen.

Aus meiner Arbeit kann ich ein ganz praktisches Beispiel nennen: Mit dem ersten Tag der Maßnahmen stieg ich mit vielen meiner Patienten auf eine Kommunikation per Videosprechstunde im Internet um, die Therapiestunde wurde in den virtuellen Raum verlegt. Und das funktionierte. Trotz Lockdown ging der Prozess auf eine veränderte Weise weiter, und die Patienten waren zufrieden, diese Form des Halts und der Stabilität in dieser Phase zu haben. Nach ein bis zwei Monaten wurde aber deutlich – alles hat seinen Preis –, dass die therapeutische Beziehung auf Reserve gelaufen ist und der Tank leer war. Die Akkus aufladenden, positiven Eigenschaften von Beziehungen scheinen nicht unendlich virtuell genauso weiterzufunktionieren. Sie brauchen ab einem Punkt die Präsenz, die persönliche Begegnung im realen Raum. Und als die ersten Patienten nach acht oder zehn Wochen erstmals wieder mit einem Mundschutz (und somit schwer erkennbarer Mimik) – alles hat wie gesagt seinen Preis – vor mir saßen, war das ein sehr erfüllendes Erlebnis für beide, obwohl wir uns wöchentlich auf dem Flimmerbildschirm gesehen hatten. Seither bin ich mir sicher, dass wir unser Leben in Beziehungsgeflechten, die wir uns gegenseitig durch reale Treffen bestätigen, niemals durch virtuelle Methoden werden ersetzen können. Jedenfalls nicht, ohne dies mit deutlich veränderten Erlebens- oder Bewusstseinszuständen zu bezahlen.

Die Krise als Motor: Rückwärts oder vorwärts?

Neben den zu beklagenden an Covid-19 erkrankten und verstorbenen Menschen hat die Krise für viel psychisches und psychosomatisches Leid gesorgt. Ich denke beispielsweise an Menschen, die sich seelisch darüber stabilisiert hatten, im altruistischen Sinne für andere da zu sein. Viele von ihnen haben ihr Geländer, an dem sie sich festhielten, in der Krise verloren. Nicht selten sind emotionale Einbrüche, Ängste, vermehrte Einsamkeit, aber auch depressive Episoden die Folge. Wenn Befriedigung durch Arbeit, soziale Anerkennung und das Ausfüllen einer beruflichen Rolle wegfällt, können ganze Lebenskonzepte ins Wanken geraten. Noch sind nicht alle Folgen der Krise sichtbar, und womöglich drohen uns erneute Verschlechterungen der Corona-Lage.

Glücklicherweise gibt es auch Wege, in der Krise vorwärtszugehen. Man kann auch versuchen, eine ganz andere Perspektive einzunehmen, und es als Chance sehen, dass ganz viele Routinen wegbrechen. Sie müssen jetzt weniger den von außen gestellten Erwartungen gerecht werden und können zum Beispiel hinterfragen, was Ihnen wirklich wichtig ist. Hierin kann die geheime Stärke von Social Distancing liegen: Sie orientieren sich weniger an den Bedürfnissen der anderen und mehr an ihren eigenen. In Teil 3 dieses Buches lesen Sie, wie Sie das dazu nötige Urvertrauen fördern können.

Was die allermeisten Menschen in dieser Situation brauchen, sind Beziehungen zu anderen. Jeder Einzelne von uns muss in dieser Krise ganz schön viel aushalten. Das strapaziert und kann uns neu zeigen, was wir doch alles aushalten können. Hat man keine Menschen um sich, mit denen man diese Zeit übersteht, kann auch in der Krise ein Psychotherapeut aufgesucht werden. Wir haben sehr viele neue Patienten in die Behandlung aufgenommen, die durch die Corona-Krise »schiffbrüchig« wurden. Mehr dazu, wie Sie einen Arzt und Therapeuten finden, lesen Sie in der Checkliste »Der psychosomatische Krankheitsfall – und nun?« hier.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 17: Über Corona hinausdenken

Weil die Corona-Phase für wohl alle von uns einen bedeutsamen Einschnitt in die sonstige Alltagsroutine gebracht hat, eignet sie sich dazu, sich selbst besser kennenzulernen. Sie haben vielleicht auch schon Menschen um Sie herum auf eine neue Weise kennengelernt, die ihnen vorher verborgen geblieben ist. Sie können sich zum Beispiel fragen:

Traumafolgestörungen: Zerstörte Sicherheit

Wenn wir durch den Körper reisen und uns von oben nach unten auf die Suche danach begeben, welche Folgen traumatische Erfahrungen dort hinterlassen, haben wir ein Problem. Deswegen habe ich das Kapitel in der Mitte des Körpers unter dem Herzen und der Lunge eingeordnet. Denn die Folgen von Gewalt, Unfällen oder Verlusten finden sich überall im Menschen: in seinen Zellen, seiner DNS, in den Strukturen der Organe, im Gehirn und in der Psyche.

Heute gibt es zahlreiche Studien über Traumatisierungen und viele Infos über deren Auswirkungen. Betroffene müssen sich weniger schämen und werden nicht mehr so häufig noch einmal geschädigt: erst durch das Trauma und dann durch die gesellschaftliche Stigmatisierung.

Es ist schwer, Traumatisierungen zu erkennen, und lange wurden die Folgen in der Medizin unterschätzt. Denn die schwersten Traumata sind manchmal die leisesten.

Unerkannte Angriffe auf Körper und Psyche

Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie »Wunde« oder »Verletzung«. Eine Traumafolgestörung ist eine Erkrankung, die aus einer Verletzung resultiert; diese Verletzung war so massiv, so tief greifend, dass sie nicht mit den einem Menschen zur Verfügung stehenden Abwehr- und Schutzmechanismen bewältigt werden konnte.

Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer häufigen Traumafolge, schließt sich auf die außergewöhnliche Bedrohung von katastrophalem Ausmaß eine Entfremdung von sich selbst und ein Gefühl der emotionalen Taubheit an. Eine Posttraumatische Belastungsstörung bringt Betroffene oft noch lange nach dem Trauma wieder zurück in die Schreckenssituation. Die furchtbaren Bilder, Geräusche, das Zittern und Schwitzen – alles kann ganz plötzlich wiederkommen, auch wenn längst wieder Sicherheit besteht. Die Sicherheit im Äußeren bringt den Betroffenen jedoch wenig, denn ihre innere Sicherheit ist zerbrochen. Sie vermeiden in der Folge vieles, was mit dem Trauma in Zusammenhang steht und was daran erinnern könnte. Traumatisierte Patienten leiden häufig an Erinnerungs- sowie Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen und einer sehr hohen Schreckhaftigkeit.

Bei Trauma-Patienten ist etwas Elementares verloren gegangen, was für andere so selbstverständlich ist wie das Atmen: die Fähigkeit, sich sicher fühlen zu können. Dies wirkt auf die Psyche und über das Immunsystem, das Stressverarbeitungssystem und das Schmerzgedächtnis (je nach Traumaereignis) auf praktisch alle körperlichen Vorgänge. Ein Trauma hinterlässt Spuren im Körper und in der Psyche.

Beziehungstraumata

Besonders wichtig ist es zu wissen, dass viele Traumata nicht auf ein großes Ereignis zurückgeführt werden können. Sie entstehen durch chronische Schädigung, oft für die Umwelt kaum erkennbar.

Nicht selten handelt es sich um Beziehungstraumata, die auf einen jahrelangen emotionalen oder körperlichen Missbrauch zurückzuführen sind, bei dem die einzelnen kleinen missachtenden Situationen nur in der Summe ihr giftiges Potenzial entfalten. Gerade wenn Kinder sehr früh »beziehungstraumatisiert« werden, haben sie keine Sprache für das Geschehene; sie bilden dann körperliche Symptome aus, ohne das Trauma rational verstehen und ergründen zu können. Das ist schrecklich und belastend für die Betroffenen. Sie entwickeln sehr starke Unsicherheiten über ihre Identität, wissen nicht, wer sie sind. Ihre Selbstzustände (als was für ein Mensch sie sich selber wahrnehmen) wechseln sehr stark je nach Situation, vieles erscheint ihnen surreal und unwirklich, sie sind kaum solide auf dieser Welt verankert, da ihre Unsicherheit sehr tief geht.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 18: Nicht alles Schlimme und Traurige ist ein Trauma

Der Begriff »Trauma« wird oft viel zu pauschal verwendet. Menschen, die etwas Furchtbares oder Trauriges erlebt oder eine große Ungerechtigkeit erfahren haben, meinen nicht selten, es sei ein Trauma gewesen. Sie suchen nun nach Hilfe bei Traumaspezialisten und erhalten keine Traumatherapie, was sie in der Bewältigung ihrer Symptome weiter zurückwirft. Oftmals wird ihnen der Zahn mit dem Trauma aber auch nicht gezogen, da dies für Konflikte zwischen Patient und Therapeut bzw. Arzt sorgen könnte. Dabei wäre es hilfreich, wenn Betroffenen jemand ehrlich sagen würde, dass es viele belastende Ereignisse gibt, die Menschen nicht grundsätzlich im medizinischen Sinne traumatisieren (im Einzelfall kann das aber natürlich anders aussehen). Die üblichen Verdächtigen sind: beleidigende Aussagen von Angehörigen, Todesfälle in der natürlichen Reihenfolge (Großeltern zuerst), den Job zu verlieren oder von der Freundin oder dem Freund verlassen zu werden.

Bei der Trauma-Diagnose liegt der Knackpunkt darin, dass das traumatische Ereignis objektiv katastrophal und lebensbedrohlich sein muss, um die Diagnose zu stellen. Bei vielen anderen psychosomatischen Krankheiten ist sehr viel mehr das subjektive Erleben des Patienten vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte von Bedeutung.

Wer das Gefühl hat, etwas Schlimmes erlebt zu haben, das er nicht selbst abzuschließen imstande ist, sollte sich erst einmal ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe suchen und sich möglichst nicht zu sehr auf das Vorliegen einer Traumatisierung versteifen. Auch die Vorstellung, dass Gefühle wie Trauer, Angst und Wut keine Krankheiten sind, sondern natürliche Heilungsprozesse begleiten, kann hier Druck aus dem Kessel nehmen.

Notfallkapseln zum Überleben

Jetzt lernen Sie ein Notfallprogramm des menschlichen Organismus kennen, anhand dessen wir verstehen können, warum viele Menschen ein Trauma auch ohne Therapie gut überstehen.

Die Vorgänge innerhalb der Psyche können wir uns modellhaft etwa wie folgt vorstellen: Durch einen komplexen körperlich-psychischen Vorgang verfügt der Mensch über die Möglichkeit, »dissoziative Kapseln« zu bilden89. In diesen abgekapselten Bereich unseres Selbst werden in unerträglichen Situationen einzelne sensomotorische Botschaften (Sinnesrückmeldungen des Körpers über seinen Zustand) wie Gefühle, Bewegungen und Emotionen verschoben und abgespeichert. Sie können durch eine an das Ereignis erinnernde Situation reaktiviert werden, sodass Herzklopfen, Zittern oder ein Betäubungsgefühl aus heiterem Himmel wieder da sind – ohne dass der Betroffene auch nur eine Ahnung davon hat, wieso, warum und was hier ausgelöst wurde.

Dieser Vorgang heißt Dissoziation (von lateinisch dissociatio = Trennung). In schwächerer Form erleben ihn auch Gesunde im Alltag. Vielleicht haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie etwas Wichtiges zu tun hatten und dabei so vertieft in Ihre Aufgabe waren, dass Sie Gespräche im gleichen Raum tatsächlich nicht mitverfolgen und auch nicht hören konnten. Oder dass Sie während einer Autofahrt so tief in einen interessanten Radiobeitrag vertieft waren, dass Sie sich nach einigen Minuten fragen mussten, wer das Auto gefahren hat. Natürlich sind Sie automatisch gefahren, während Ihr Bewusstsein ganz bei den Worten des Radiosprechers war. So ähnlich, nur noch stärker, können Sie sich die Traumakapseln vorstellen. Sie führen dazu, dass der Betroffene meint, er war gar nicht dabei, das Schlimmstmögliche sei gar nicht passiert.

Die Bildung dieser Kapseln und die Verbannung schrecklicher Sinneseindrücke ist oft die einzige Möglichkeit, weiterleben und funktionieren zu können. Sie kann gelingen, sie kann aber auch zu einer Traumafolgestörung führen, die dann eine spezielle Traumatherapie notwendig macht.

Denn Traumafolgestörungen sind Erkrankungen, die den Körper, die Psyche und die Beziehungen des Opfers stark beeinträchtigen. Viele Patienten gehen mit quälenden Körpersymptomen zu Ärzten, die manchmal das dahinterliegende Trauma nicht erkennen oder Diagnosen stellen, die die Fixierung auf den Körper bestätigen, aber keine Linderung bringen. Hier ist eine moderne Medizin, die sowohl Körper als auch Psyche berücksichtigt, gefragt, die die körperlichen wie seelischen Folgen von Traumatisierungen zu erkennen und behandeln versteht.

Volle Kontrolle

Was Betroffene selbst tun können, ist, zunächst für ihre äußere Sicherheit zu sorgen. Bei menschgemachten Traumatisierungen heißt das, jeglichen weiteren Täterkontakt zu verhindern. Das Opfer muss auch entscheiden, ob es die Strafverfolgung einleitet, was in den meisten Fällen unbedingt zu empfehlen ist.

Security-Team

Alles Weitere sollte den Profis, also ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, überlassen werden. Im halbprofessionellen Bereich herrscht manchmal die Überzeugung, man müsse so bald wie möglich wieder »in das Trauma hineingehen« und es nochmals durchleben. In bestimmten Fällen kann das auch im Laufe einer Therapie eine Rolle spielen, doch ist dafür entscheidend, dass man bereits Fähigkeiten erworben hat, das traumatische Material anders zu verarbeiten (zunächst einmal sicher in der Psyche zu verstauen) und die Geschehnisse mit einer anderen Konnotation zu überschreiben: Es geht um Kontrolle. Kontrolle ist der Gegenspieler des Traumas, das immer mit Kontrollverlust zu tun hat.

Ich erinnere mich an meine Patientin Nina, die von ihrem Ex-Partner zur Prostitution gezwungen wurde und merkwürdige Körperzustände erlebte, wenn sie zu den Freiern gefahren wurde. Sie war ausgeliefert und hatte in der Abhängigkeit von dem Täter keine Möglichkeit, ihre Situation zu verändern. Für sie war zunächst nicht wichtig, wieder ins Trauma – in die Schädigung, in die Gewalt – einzutauchen, sondern an der Selbstregulation und Selbstberuhigung zu arbeiten – und zwar eine sehr lange Zeit. Dazu gehören Techniken zur Distanzierung vom Geschehenen, mit deren Hilfe Patienten eines Tages, beim innerlichen Betrachten der Erinnerungen, einen mentalen Sicherheitsabstand einhalten können. Als inneres Hilfsteam hatte die Patientin eine ganze Bande an in der Therapie ausgedachten Fantasiewesen90 an ihrer Seite. Ausgedachte Sesamstraße-Wesen, die sie sich jederzeit vor ihrem inneren Auge aufrufen konnte, standen ihr bei verschiedenen Problemen bei, ehe sie sich ganz vorsichtig in Gedanken wieder mit der schrecklichsten Zeit ihres Lebens beschäftigte.

Übungsraum

Sicherheit und Kontrolle haben ihre Grundlage in der Beziehung zum Therapeuten. Er sollte dafür sorgen, dass der Patient immer die volle Kontrolle hat und auch im Rahmen der Therapie stets für seine Sicherheit und sein Wohlbefinden sorgen kann. Ganz im Gegensatz zum Trauma sollte alles, was passieren wird, gründlich vorher besprochen werden und von beiden Seiten gewünscht sein. Der Patient sollte richtig ins Üben kommen, die Situation und die Bedingungen so zu modifizieren, bis sie für ihn angenehm und sicher sind.

Einweben

Ein weiterer ganz wichtiger Faktor in einer Traumatherapie ist die Einarbeitung oder das Einweben des Traumas in den Stoff der eigenen Biografie und in den Blick auf die Welt, auch wenn das nicht zum eigenen Wunschdenken passt.

Das ist keine einfache Aufgabe und kommt ein wenig einem Trauerprozess gleich. Es muss verarbeitet werden, dass das, was geschehen ist, und das, was man sich gewünscht hätte, zwei Paar Schuhe sind. Der Betroffene lernt zu betrauern, dass er zu einem Opfer wurde, dass etwas passiert ist, das niemals hätte passieren dürfen. Das ist eine Erkenntnis, die richtig wehtut – und gleichzeitig kann diese Wahrheit unheimlich befreiend sein, wie ich mit meinen Patienten immer wieder erlebt habe.

Somatoforme Störungen: Darm mit Scham
(oder wenn die Ärzte einfach nichts finden)

Zumindest in geringer Ausprägung hatten wir alle wahrscheinlich schon einmal somatoforme Beschwerden. Etwa fünf Prozent der Deutschen sind sogar ernsthaft daran erkrankt91. Viele meinen genau diese Gruppe von Erkrankungen, wenn sie von psychosomatischen Krankheiten sprechen.

Wenn wir einen psychosomatischen Flagship-Store aufbauen würden, stünden die somatoformen Störungen zentral im Erdgeschoss, imposant inszeniert, wie der große Brachiosaurus im Berliner Naturkundemuseum.

Die weiter oben besprochenen Herzängste können auch als somatoforme Erkrankung eingeordnet werden.

Medizin-Missverständnis

Bei somatoformen Störungen ist die Rede von den »Hilfe-ich-hab-nichts-Krankheiten«. Der Hausarzt gibt sein »Sie haben nichts« oder »Alles in Ordnung so weit« an etwa jeden dritten Patienten heraus92. Auch bei anderen Fachärzten und vor allem in den Notaufnahmen findet sich dieses Störungsbild zuhauf.

Soma (aus dem Altgriechischen) bedeutet Körper – es werden also körperliche Krankheiten nachgeformt: Die Symptome, die Heftigkeit der Beschwerden, der plötzliche Beginn – alles fällt wie bei einer körperlichen Erkrankung aus. Es handelt sich dabei, auch wenn viele das insgeheim immer noch denken, nicht um eingebildete Krankheiten, sondern um Beschwerden und Funktionsstörungen, die tatsächlich vorhanden sind. Hier liegt ein großes Missverständnis vor, vielleicht das größte Missverständnis der modernen Medizin. Wenn ein Arzt nämlich sagt: »Sie haben nichts«, meint er damit, dass er beim Patienten keine spezielle Erkrankung gefunden hat, die er seinem Fachgebiet zurechnet. Er will damit meist sagen, dass kein Defekt an der Struktur des Organs, also an dem Gewebe, vorliegt. Das kann bedeuten, der Herzmuskel und die Herzklappen sind so beschaffen, wie sie sein sollten. Oder die Darmwand ist nicht verdickt, sieht nicht entzündet aus und hat keinen Tumor. Aber dass das Organ problemlos seinen Job tut, ist damit noch lange nicht gesagt. Somatoforme Störungen bringen die Betroffenen gerade dadurch in Not, dass sie »nichts« haben. Paradox, oder?

Ärzte-Hopping

Beschwerden zu haben wie Durchfall, Bauchschmerzen, Verstopfung, Husten, Herzjagen, Schlaflosigkeit oder Hautausschlag, bei denen der Arzt abwinkt und beruhigend sagt: »Sieht alles gut aus« – das ist auf Dauer eine große Belastung. Der Beruhigungseffekt, keine schlimme Diagnose gestellt bekommen zu haben, hält meist nur kurz an. Dann nehmen die Beschwerden dem Betroffenen wieder jegliche Geduld. Dazu gesellt sich die Frage, ob der Arzt womöglich etwas übersehen hat. Denn die Wahrnehmung, dass da etwas im eigenen Körper so gar nicht stimmt, passt mit der medizinischen Einschätzung nun mal nicht zusammen.

Schließlich wird der Leidende zum Ärzte-Hopper und sucht nach dem großen Wurf, also einem Arzt, der ihm klipp und klar sagen kann, was mit ihm los ist. Denn er hat durch seine Symptome einen extremen Leidensdruck. Da der Arzt wieder und wieder durch die Brille seines Fachgebiets nur ein in seiner Struktur gesundes Organ sieht, sucht der Patient weiter. Heute hier, morgen dort, der Terminkalender füllt sich mehr und mehr. Der Betroffene wird immer unzufriedener und will endlich den richtigen Arzt finden.

Diesen Kreislauf nennt man das »Koryphäen-Killer-Syndrom«, denn am Ende dieser Versuche steht praktisch immer die Entwertung und der Fall des zuerst über den Klee gelobten Experten. Nicht selten steuern Ärzte mit viel Diagnostik, manchmal auch mit unnötigen Prozeduren und Eingriffen gegen den Druck, den sie spüren, an, um den Patienten für seine Nervereien zu bestrafen und am Ende sagen zu können: »Wir haben alles gemacht, sehen Sie – alles unauffällig.« Patienten versuchen sich mit schlechten Jameda- oder Google-Bewertungen wegen der fehlenden klaren Diagnose zu rächen. So wird schnell ein Kampf statt einer Kooperation entfacht.

Gefühlsabwehr

Wenn Menschen mit ihren somatoformen Beschwerden schließlich in meiner psychosomatischen Sprechstunde landen, weil sie aus der Not heraus die Möglichkeit einer psychischen Mitverursachung zuzulassen beginnen, ist das meist eine interessante Begegnung. Mein medizinischer Zugang ist nämlich ein anderer als in den medizinischen Fächern, die das einzelne Organ in den Mittelpunkt stellen. Zwar frage ich die Einzelheiten zu den Symptomen genau ab und benötige auch die ärztlichen Vorbefunde, um zu sehen, was bereits alles untersucht wurde. Aber das Drängen auf eine Diagnose und eine schnelle Besserung der Beschwerden zusammen mit der Enttäuschung über mich, der ich auch keine Wunderpille anbieten kann, betrachte und behandle ich als Teil der Erkrankung – und nehme sie nicht persönlich.

Oft steckt hinter den langwierigen Symptomen eine Gefühlsabwehr. Das heißt, dass die Symptome ursprünglich aus Gefühlen entstanden sind: Schmerzen durch Schuldgefühle, Erschöpfung durch Traurigkeit oder Durchfall durch Ängste.

Weil die Gefühle und ihre eigentlichen Auslöser aber so schwer zu ertragen waren, wurde ihre psychische Komponente abgewehrt und ins Unbewusste verschoben. Die Körperreaktionen aber bleiben und ziehen unsere Aufmerksamkeit vom Grundproblem ab, das im Seelenleben liegt. Unsere Konzentration ist jetzt auf den Körper bzw. die Organe und ihre Symptome gerichtet. Der Betroffene ist zunächst einmal psychisch entlastet: Er hat jetzt körperliche Beschwerden! Zusätzliche Entlastung bringt es, von Arzt zu Arzt zu rennen und die abgewehrten Gefühle wie Ärger oder Angst in dieser Beziehung auszuleben – während es eigentlich um etwas ganz anderes, emotional schwer »Verdauliches« geht.

Wenn Durchfall die Psyche entlastet

Vielleicht hat es Sie überrascht, dass das Körperliche und das Psychische eng zusammenhängen, und die Trennung zwischen Materie und Nichtmaterie nur in unseren Köpfen existiert.

Wenn wir nach aktuellem Wissensstand die Einheit von Gefühl und Körpergefühl, von früheren Erfahrungen und deren Bedeutung für die Gesundheit des Körpers heute anerkennen, ist es weniger verwunderlich, dass ein großer Teil der Krankheitsursachen sich in der Psyche finden lässt und sich psychische Spannungen im und über den Körper ausdrücken.

Ich denke an meine Patientin Denise, eine junge Frau von knapp unter 20 Jahren, die unter Durchfällen litt. Das Problem war so groß geworden, dass sie meinte, manchmal ihre Freunde nicht treffen zu können, da es jederzeit passieren konnte. Auch am Arbeitsplatz als auszubildende Fotografin hatte sie reichlich damit zu tun, darauf zu achten, wann sie besser die Toilette aufsuchen sollte, damit nichts danebenging. Sie war voll und ganz auf ihren Darm konzentriert und versuchte, mit veränderter Ernährung entgegenzuarbeiten.

Wir verabredeten uns, nachdem ich Denise in meiner psychosomatischen Sprechstunde kennengelernt hatte, für eine psychosomatische Diagnostik. Nachdem wir viel über die körperliche Seite gesprochen hatten und der Gastroenterologe (Magen-Darm-Spezialist) alles an Infektionen und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen ausgeschlossen hatte, schauten wir uns Denise’ Leben genauer an. Mit Beginn der Gespräche konnte sie endlich aufhören, immer neue Gastroenterologen aufzusuchen und Darmspiegelungen zu verlangen. Wir konnten gemeinsam herausfinden, dass Denise, als sie mit 18 Jahren zu Hause auszog, noch recht abhängig von ihrer Mutter war. Die Mutter beschrieb Denise als sehr ängstlich. Sie hatte eigentlich alles für ihre Tochter gemacht, vom Kochen über den Shuttleservice zu den Freunden bis hin zur Auswahl der besten Aktivitäten und Hobbys. Erst nach und nach wurde deutlich, dass Denise heute, so allein in ihrem Einzimmerapartment und völlig frei in ihrer Freizeitgestaltung, mit vielem überfordert war. Das war ihr sichtlich unangenehm, denn sie wirkte nach außen sehr selbstständig und kompetent. Weil die Angst so schamhaft besetzt war, äußerte sich der »Schiss« über den Darm. Das wurde auch nachvollziehbar, weil Denise früher in der Schule bereits eine schwierige Zeit gehabt und darauf mit Bauchschmerzen reagiert hatte. Ihre Mutter hatte sich damals große Sorgen gemacht und sie wieder und wieder beim Kinderarzt vorgestellt.

Hier sehen wir die Wiederholung des Symptoms und dessen, was es bewirkt: Der Durchfall schützt Denise vor anstrengenden Herausforderungen, zum Beispiel in der Gruppe Gleichaltriger Fuß zu fassen; gleichzeitig führen die Beschwerden immer weiter dazu, den Anschluss zu verpassen. Körperliche Symptome können die Psyche von Spannungen entlasten, das hilft erst mal. Langfristig verselbstständigt sich das Problem aber weiter, da wichtige Entwicklungsschritte dadurch verpasst werden.

Somatoforme Störungen überwinden

Brillenwechsel

Falls Sie dieses Buch lesen, weil Sie unter unerklärlichen körperlichen Beschwerden leiden, haben Sie bereits einen großen Schritt gemacht. Denn es ist der erste Step, das übliche Bewertungsmuster zu verlassen. Dies lautet meistens: »Mit meinem Körper stimmt etwas nicht, ich muss zum Arzt gehen, die Ursache muss endlich gefunden werden.« Sich mit der Psyche-Körper-Verlinkung zu beschäftigen ist wirkungsvoll, weil Sie beginnen, das Problem durch eine andere Brille zu betrachten – und das ist entscheidend.

Vertrauen

Der zweite Schritt besteht darin, anderen vertrauen zu lernen. Vertrauen zu haben, wenn Ärzte Ihnen sagen, dass sie keine Anzeichen einer schweren Krankheit gefunden haben. Die »Hilfe-ich-hab-nichts-Krankheiten« sind meistens Beziehungskrankheiten, weil wir ein gelerntes Beziehungsmuster auf den Körper übertragen bzw. dort wieder inszenieren. Und dieses Muster hat mit Misstrauen zu tun: Im Moment der Sorge und mit dem Kreisen um die eigenen Beschwerden sind wir weit entfernt vom Glauben, dass unser Organismus von selbst das Richtige tun könnte. Daher ist es keine große Überraschung, dass wir genau das beim Arzt fortsetzen und auch ihm nicht zu hundert Prozent glauben. Zunächst verständlich, aber nach der Drittmeinung würde ich sagen: Es reicht. Natürlich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, und eine Garantie, dass es nicht doch etwas Körperliches ist, gibt es sowieso nicht.

Aufmerksamkeitsumkehr

Wir haben darüber gesprochen, dass es die somatoforme Störung aufrechterhält, wenn wir ständig in sorgenvoller Innensicht auf das Organ, auf den Körper, auf das Symptom schauen, das uns von belastenden Gefühlen und Konflikten ablenkt.

Wir können aber etwas dazu beitragen, diesen Mechanismus umzukehren – und zwar mit einem Hausmittel: sich eine Aufgabe suchen und in den Dienst dieser Sache stellen. Ob diese Tätigkeit der eigenen Unterhaltung dient oder sogar einen höheren Zweck verfolgt, ist nicht so entscheidend, wobei es in der Regel besser funktioniert, etwas Sinnvolles für andere zu tun. Es geht darum, sich um etwas zu kümmern, das nicht zum eigenen Ego gehört. Man schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe, denn bei somatoformen Störungen ist meist auch der Selbstwert vermindert, also das innere Gefühl des eigenen Wertes und der Wichtigkeit. Genau das können wir mit einer sinnreichen Aufgabe pushen.

Wenn es übrigens nur einige Minuten gelingt, sich nicht um den eigenen Darm, das Herz oder die Rückenschmerzen zu kümmern, ist das schon viel. Man sollte die Ziele realistisch halten, sonst enttäuscht man sich selbst. Erwartungen sind meiner Erfahrung nach heutzutage insgesamt oft viel zu hoch gesteckt – keine Ahnung, wie es früher war.

Körpergespräche

Die letzte Erste-Hilfe-Maßnahme bei »Hilfe-ich-hab-nichts-Krankheiten« kann sein, sich auf die Story, die der Körper uns erzählt, einzulassen und die Ebene des Kampfes gegen die Krankheit zu verlassen. Es gibt dafür keine Schablonen; »die Nase voll haben« bedeutet nicht einfach, irgendetwas nicht mehr zu wollen, der Hexenschuss bedeutet nicht zwangsläufig, dass man »kein Rückgrat mehr« hat. Diese klassischen Zuschreibungen aus dem Volksmund sind zwar aufgrund ihrer Einfachheit verlockende Übersetzungen, doch entscheidend ist die individuelle Geschichte des Menschen, vor deren Hintergrund der Körper spricht.

Überlegen Sie, ob das betroffene Organ in Ihrer Familie oder für die Menschen in Ihrer aktuellen Lebensumgebung eine besondere Bedeutung hat, die über die mechanisch-biologische Funktion – wie Blut zu pumpen beim Herz oder die Nährstoffe der Nahrung aufspalten beim Darm – hinausgeht. Auch können Sie überlegen, welche Situationen oder Tätigkeiten Ihnen aufgrund der Symptome nicht mehr möglich sind und ob darin eine eigentlich wichtige Lebensherausforderung steckt, deren Bewältigung Sie sich derzeit nicht zutrauen – und mithilfe der Symptome vermeiden.

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 19: Somatoforme Störungen
ernst nehmen

Wer psychosomatisch erkrankt ist, braucht einen Arzt. Das gilt auch für die hier besprochenen, oft unerkannten und völlig zu Unrecht belächelten Krankheiten. Die gerade aufgeführten Überlegungen können ein Anfang sein, aber eine gute organmedizinische und psychosomatische Diagnostik mit – wenn angezeigt – anschließender Psychotherapie sind die Methoden der Wahl.

Die Haut: Unsere Körpergrenze

Was ist das schönste Geschenk ohne Geschenkpapier? Das gilt auch für unsere Haut als Verpackung des Körpers. Sie schmückt uns – aber das ist noch lange nicht alles.

Über die Haut haben wir uns alle zu einer Zeit, die noch ohne Sprache funktionierte, die Welt erfühlt: Die ersten Berührungen unserer Eltern, das erste Baden. Die Haut war unser Schutz, als die Gebärmutter uns vor die Tür setzte, obwohl wir noch ganz zerbrechlich waren.

Sie ist lebenslang unser Schutzorgan gegen Austrocknung, gegen Chemikalien, Erreger, Verletzungen oder UV-Licht. Sie hilft uns bei der Temperaturregulation durch das Schwitzen und Veränderung der Durchblutung und stellt so jederzeit unsere Homöostase (altgriechisch für Gleichstand), also unser inneres Gleichgewicht, sicher.

Außerdem ist die Haut ein Sinnesorgan. Sie gibt zuverlässig Berührung, Wärme, Zärtlichkeit oder auch Schmerzen an unser Empfindungszentrum im Gehirn weiter. Auch an unsere Mitmenschen meldet sie unseren emotionalen Zustand durch das bekannte Rotwerden oder eine unverkennbare Blässe weiter. Mithilfe der Hautmuskeln kann sie Gefühlszustände sehr pointiert über die Mimik offenbaren. Mit Blick auf die seelische Innenwelt, die Psychodynamik, trennt sie Innen und Außen und hält unser Selbst zusammen, während sie gleichzeitig für Abgrenzung und die Regelung von Distanz steht. Was uns im Kern emotional berührt, geht allerdings auch schon mal unter die Haut.

Ihre vielen Beziehungsfunktionen machen die Haut zu einem Organ, das häufig psychosomatisch reagiert. Bei etwa einem Viertel aller Patienten in der Hautarztpraxis liegt eine psychische Störung vor93, als häufigstes körperliches Symptom wird in diesem Zusammenhang Juckreiz genannt94.

Sieh mich (nicht) an!

Meine Patientin Anja wurde mir von ihrer Hautärztin überwiesen mit der Bitte, sie psychosomatisch zu untersuchen. Sie hatte seit einigen Wochen starken Juckreiz, und ihre Haut war vom Kratzen bereits in vielen Bereichen sehr wund. Teilweise gab es schon infizierte Stellen. Erst nach einer Weile begriff ich, was ihr Job im »Entertainment-Bereich« wirklich bedeutete. Anja arbeitete als Stripperin in einem Club. Seit vier Wochen war es ihr wegen der entzündeten Haut vor allem im Intim-, Bauch- und Gesäßbereich nicht mehr möglich zu arbeiten. Sie bat mich, ihr schnell zu helfen, denn ihr Chef, der Clubbetreiber, werde langsam ungeduldig.

Sie kennen das Symptom bestimmt in geringerer Ausprägung von Mückenstichen: Durch das Kratzen wird das Jucken schlimmer, denn die Haut schüttet dadurch noch mehr Histamin aus, was wiederum dem Juckreiz Vorschub leistet, wodurch wir uns mehr kratzen – ein Teufelskreis, der auch Juckreiz-Kratz-Zirkel genannt wird.

Kontraphobisch

Anja und ich konnten uns einigen, mehrere Termine zu verwenden, um zu überlegen, welche psychischen Einflüsse ihre Krankheit mitbedingen könnten oder zumindest den Juckreiz – wie auch immer er entstanden war – am Laufen hielten.

Wir fanden heraus, dass das Strippen vor Publikum eine »kontraphobische Abwehr« meiner Patientin sein könnte. Das komplizierte Wort beschreibt etwas, das viele von uns kennen: Man tut etwas, was einem eigentlich besonders schwerfällt, um sich unbewusst ein kleines Hochgefühl zu besorgen. Anja wurde als kleines Mädchen dauernd von ihren Eltern zur Strafe nackt vor die Tür ihrer kleinen Etagenwohnung gestellt, mal fünf, mal zehn, mal 15 Minuten. Mit dieser Art von Strafe reagierten die Eltern, wenn sie das als sehr rege beschriebene Intimleben der Eltern störte. Über das Strippen gegen Geld, die kontraphobische Abwehr, gelang es Anja endlich, das freiwillig und kontrolliert zu tun, worüber sie früher keinerlei Kontrolle hatte: sich nackt zu zeigen.

Anjas Biografie zeigte mehrere solcher unbewussten Lösungsversuche für ein innerlich starkes und nicht integrierbares Gefühl, das in diesem Fall die Scham war. Schamgefühle können sehr überwältigend sein, auch für Kinder. Anja ging unbewusst dagegen an, indem sie der Situation jede Scham nahm und sich freiwillig auszog.

Näheabwehr

Interessant war, dass das Hautjucken begann, als Anja eine private Einladung von ihrem Chef bekommen hatte und ihr klar wurde, dass dieser sich womöglich an sie heranmachen wollte. Die Steuerbarkeit und Kontrolle der Situation, die sie bisher bei der Arbeit genossen hatte, wären weggefallen. Eine neue Abhängigkeit drohte. Dass Juckreiz eine als bedrohlich wahrgenommene Nähe abwehrt, ist in der Psychosomatischen Medizin nicht selten zu beobachten. Einen handfesten Beweis im medizinischen Sinne kann es dafür allerdings nicht geben: Nähe-Distanz-Konflikte sind etwas sehr Subjektives und kaum wissenschaftlich zu erheben. In Versuchen nachweisbar ist, dass Stress im Allgemeinen Neuropeptide freisetzt, die als Signalstoffe des Nervengewebes in das Immunsystem eingreifen, das unter anderem in der Haut seinen Sitz hat – und hier Symptome wie Juckreiz auslösen können95.

Als Anja sehr bewusst keine nähere Beziehung zu ihrem Chef einging und dies auch freundlich nach außen kommunizieren konnte, ließen ihre Beschwerden nach. Der somatoforme (psychisch bedingte) Juckreiz verschwand.

Wenn die Haut Beziehungen beeinflusst

Bei Anja konnten wir für das Hautjucken Gründe in ihrem kindlichen Erleben, in der verdrängten Gefühlswelt und einer schwierigen Situation in der Jetztzeit finden.

Es gibt viele weitere körperliche Hauterkrankungen, die seelisch mitbeeinflusst werden.

Bei der Neurodermitis, einer chronischen Hauterkrankung, unter der etwa fünf Prozent der Menschen in Deutschland96 leiden und die mit schubweise verlaufenden, stark juckenden Hautentzündungen einhergeht, werden verschiedene Auslöser angenommen: erbliche Anlage, immunologische Faktoren, allergische Auslöser und psychosomatische Einflüsse mit Aufflammen oder Besserung der Erkrankung abhängig von der psychischen Verfassung. Sie beginnt meist im Alter bis zu fünf Jahren und bildet sich in über 80 Prozent der Fälle bis zum jungen Erwachsenenalter zurück.

Spannend ist, dass die Neurodermitis bei späteren Schwellensituationen wie der Hochzeit oder dem ersten Job mit ihren jeweiligen Herausforderungen wieder aufblühen kann. Meist geht es in diesen Situationen um Fragen von Nähe und Distanz.

Psychisch sind diese Krankheitsphasen oft von Depressionen und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit sowie manchmal von Angst oder Aggressivität begleitet. Das ewige Kratzen führt zu Konzentrationsmangel und Schlafstörungen. Die Betroffenen schämen sich häufig für die aufgekratzten Stellen und ziehen sich zurück. Insgesamt sind hier über die lange Krankheitsdauer – wie bei vielen anderen chronischen Erkrankungen auch – einschneidende Belastungen (wie häufiger nächtlicher Juckreiz) wirksam, die die Persönlichkeit der Betroffenen verändern können.

Stress als Auslöser

In einer großen Studie97 im japanischen Kobe wurden nach dem Erdbeben von 1995 dort lebende Neurodermitis-Patienten daraufhin untersucht, ob die Erkrankung nach der schrecklichen Zerstörung wieder ausgebrochen war. Tatsächlich hatten 38 Prozent der Probanden, deren Haus stärkere Schäden erlitten hatte, in der Zeit nach dem Beben einen Neurodermitis-Schub. Das belegt, dass eine Krankheit wie Neurodermitis und die psychischen Faktoren sich in beide Richtungen beeinflussen und die Hautgesundheit von der psychischen Gesundheit nicht zu trennen ist. Allerdings hatte sich bei neun Prozent der Erdbebenopfer mit Hausschäden die Neurodermitis gebessert. Wie also bestimmte Ereignisse erlebt werden und was dies über das Immunsystem auslöst, ist immer noch eine große Frage. Meiner Ansicht nach ist das nur durch das Sicheinfühlen in den Betroffenen und das gemeinsame Verstehen mit psychotherapeutischen Mitteln zu ergründen.

Was der Haut guttut

Wir haben gesehen, wie stark sich Haut und Psyche beeinflussen. Erkrankungen wie die Schuppenflechte ziehen beispielsweise oft eine Depression oder Angststörung nach sich. Betroffene leiden unter den Blicken der anderen, wenn ihre Haut mit Rötungen und Schuppen übersäht ist, und ziehen sich von Aktivitäten zurück, die ihnen eigentlich gutgetan haben.

Es ist also wichtig, neben den Hautläsionen auch noch die eigene Psyche und mögliche Belastungen oder Konflikte unter die Lupe zu nehmen, sich selbst Gutes zu tun (mehr dazu im dritten Teil »DIY – Ihre psychosomatische Gesundheit fördern« ab hier) und sich – wenn nötig – psychosomatisch behandeln zu lassen. Um mögliche Auslöser oder Folgen von Hautsymptomen besser zu identifizieren, kann es hilfreich sein, für eine Weile in ein Symptomtagebuch zu schreiben, wann sich welche Symptome verstärkt haben, was gerade im eigenen Leben passiert und welche Gefühle dazu hochkommen.

Weil ich Ihnen in diesem Kapitel so viel über Juckreiz erzählt habe, merke ich selbst schon ein leichtes Kribbeln. Sie auch? Juckreiz ist eines der häufigen psychosomatischen Symptome. Bei akut nässenden Entzündungen der Haut und lästigem Juckreiz helfen Bäder oder Umschläge mit Eichenrinde, die man in der Drogerie oder im Reformhaus bekommt. Vier bis fünf Teelöffel zerkleinerte Eichenrinde sollen etwa eine Viertelstunde in einem halben Liter Wasser gekocht und dann mit getränkten Umschlägen auf die betroffenen Stellen gelegt werden – natürlich kann man die Lösung auch als Bad verwenden. Bei trockenen Entzündungen muss eine fettigere Pflege her, am besten mit antientzündlichen Wirkstoffen98.

Das Vorgehen in der Psychosomatischen Medizin ist immer ein Spagat: auf der einen Seite Linderung zu verschaffen, auf der anderen Seite Symptome zu verstehen und Erklärungen aus dem Unbewussten zu heben.

Fußfetisch und Co.: Sexuelle Vorlieben

Schweren Herzens habe ich mich dazu entschlossen, die Sexualität im Sinne der Fortpflanzung in diesem Buch auszuklammern, obwohl ihre Bedeutung für unser innerseelisches Gleichgewicht sicher genauso wichtig ist wie die Lust. Viele sexuelle Probleme, die sich vordergründig um die Libido drehen, offenbaren sich in meiner Sprechstunde als Fragen der Verhütung und letztlich der Möglichkeit, schwanger zu werden oder eine Frau zu schwängern. Und damit ist die oft sehr ambivalent besetzte Frage eines Kinderwunsches auf dem Tisch. Meist ist das den Beteiligten vorher nicht klar.

Sexualität wird meiner Ansicht nach von vielen Menschen falsch verstanden. Ich würde sogar sagen, dass wir als Gesellschaft den Sex völlig klischeehaft sehen, als ein Rein und Raus oder eine schmuddelige Nebensache, die wir möglichst unauffällig hinter uns bringen wollen, als sei Sex einfach ein körperliches Bedürfnis. Dabei übersehen wir eine ganze Welt, die dahinterliegt und die sehr viel mit uns selbst und unserer Persönlichkeit zu tun hat. Wir denken meist nur an die genitale Sexualität, die mit unseren Geschlechtsteilen zu tun hat. Sexualität ist aber aus psychosomatischer Sicht viel mehr.

Doktorspiele

Kinder sind bereits seit ihrer Zeit im Mutterleib sexuelle Wesen. Ihre Sexualität unterscheidet sich jedoch ganz erheblich von der der Erwachsenen. Kinder sind völlig unbefangen und trennen nicht zwischen Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und vielleicht unangemessenen körperlichen Berührungen. Sie suchen nur die maximale Lust und wollen so viele schöne Gefühle wie möglich erleben. Dabei verfolgen sie keine Ziele mit Kuscheleinheiten, sie wollen damit keinem zeigen, dass sie ihn mögen, sondern das ergibt sich alles aus dem Spiel oder der Situation heraus und folgt ihren natürlichen Impulsen.

Über Doktorspiele erforschen sie sich und andere Kinder, finden heraus, was die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs sind, und üben sich als Puppeneltern in Erwachsenen-Rollen, die sie in ihrer Umgebung kennengelernt haben. Ihre naive kindliche Sexualität kann sie gegenüber Erwachsenen zu Opfern werden lassen, die pädophile Neigungen haben oder auf der Suche nach Ersatzbefriedigungen sind und Grenzen nicht einhalten können oder wollen.

Libido

Was wir in der Psychosomatik gerne von unseren Patienten kennenlernen möchten, sind ihre »perversen« Neigungen. Das klingt überraschend – wir können es auch »besondere Vorlieben« nennen. Das Ganze ist überhaupt nicht abwertend gemeint.

Bereits Freud – ich muss ihn hier noch einmal bemühen – hat beschrieben, dass Kinder »polymorph pervers« seien99. Er meinte damit, dass Kinder bereit sind, aus allem Möglichen Lustgewinn zu ziehen und sogar darauf ausgelegt sind. Es kann der glatte Legostein im Mund sein, das wilde Spiel mit dem Schaukelpferd oder das Gefühl in ein Bällebad einzutauchen: Kinder suchen körperlich betonte Erlebnisse, die ihnen gute Gefühle geben und Lust machen. Diesen Trieb nannte Freud Libido und unterschied dieses komplexe Entwicklungsspiel deutlich vom sexuellen Instinkt der Tiere, der ziemlich einfach und schematisch angeboren ist100: Sie haben ein bestimmtes Beuteschema und gut. Freud war für diese Gedanken verschrien, weil sie bis heute oft falsch verstanden werden. Der Kern der Überlegung ist eigentlich, dass Kinder, im Gegensatz zu Erwachsenen, noch vielseitige Lustgewinne haben (an Bewegung, Berührung, Erkundung, die Freud alle als sexuell bezeichnet) und erst mit dem Eintreten in die Pubertät die deutliche Betonung der Geschlechtsteile in Sachen Sexualität entsteht.

Der Erwachsene strebt also die genitale Sexualität mit einem Partner als Gegenüber an und verfügt über einen reifen Sexualtrieb, der sich auf einen anderen Menschen bezieht. Das ist aber nur die Theorie!

Du bist so pervers!

Da wir nicht alle psychosexuellen Entwicklungsphasen gleichmäßig durchlaufen und zwangsläufig erfolgreich abschließen, haben wir perverse Anteile in uns bewahrt. Das kann eine erogene Zone sein, die bei Berührung sexuell stimulierend wirkt, die nicht Vagina oder Penis ist. Vielleicht ist es der Anus, der Bauch oder der Fuß. Oder die sexuelle Lust bezieht sich nicht auf eine Person, sondern auf Objekte wie Strapse, Stiefel, Lederhosen oder – in schwereren Fällen – zum Beispiel auf Nachbars Katze Minky. Das Objekt der Begierde kann also harmlos oder problematisch von reifen Geschlechtspartnern abweichen.

Außerdem kann das Ziel der Sexualität verändert sein. Statt Lust und Freude können Schmerz und Erniedrigung im Vordergrund stehen, wie beim Masochismus. Die ganze sexuelle Lust kann zudem größtenteils auf die eigene Person gerichtet sein, wie bei der Selbstbefriedigung. Allerdings wird sie auch oft als Ersatzbefriedigung gewählt, weil derzeit keine anderen Optionen zur Verfügung stehen. Eine weitere Variante, die in der Psychoanalyse unter die Perversionen fällt, ist der Voyeurismus sowie der Exhibitionismus. Die Lust, jemanden heimlich zu beobachten und dabei sexuell erregt zu werden, genauso wie die Lust, durch das Beobachten anderer erregt zu werden, lässt sich recht einfach mit Kindheitserlebnissen und deren Fixierungen erklären. Welches Kind wird nicht in einer seiner Entwicklungsphasen gerne angesehen, angehimmelt und empfindet Stolz und auch Lust, wahrgenommen und beachtet zu werden? Gleichzeitig sind die meisten Kinder gute Beobachter und empfinden ein Prickeln, wenn sie Dinge heimlich beobachten, die sie besser nicht sehen sollten. Einige, bei denen sich dieses Muster verankert hat, merken sich das und erzählen mir davon in Therapien. Voyeurismus, die Lust am Beobachten, wird mir ziemlich oft beschrieben.

Auch der Fußfetisch, die sexuelle Stimulation durch Füße, Zehen, durch die Fußsohle, typische Gerüche oder besondere Schuhe, gehört in dieses Kapitel. Es handelt sich bei dieser Vorliebe wahrscheinlich um alte Bruchstücke der Erinnerung als Kind, verbunden mit lustvoller Erregung beim Blick auf die Füße Erwachsener – diese Perspektive hat man als Krabbelkind gar nicht so selten.

Was all die genannten Fetische gemeinsam haben, ist, dass diese Bruchstücke der kindlichen Identität uns helfen, Lust zu erleben, ohne uns unseren größten Ängsten stellen zu müssen. Das nämlich sind meistens Beziehungsängste: uns einem gleichberechtigten Gegenüber hinzugeben, loszulassen und uns damit abzufinden, die Situation nicht kontrollieren zu können.

Sexualität ausleben

All diese Vorlieben sind, solange man bei ihrer Befriedigung keinem anderen Lebewesen schadet, völlig lupenrein und moralisch anstandslos. Sie sind normal.

Die meisten Menschen leben eine Mischung aus, also teils perverse Ideen und teilweise normalen Geschlechtsverkehr – was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Manchmal sind die Anforderungen der reifen, erwachsenen Sexualität und des Partners, der einem da mit seinen Wünschen gegenübersitzt, so groß, dass Erektionsstörungen bestehen oder eine Lustlosigkeit den ganzen Spaß minimiert. Spätestens dann, aber auch wenn die eigenen Wünsche für andere so anstoßend sind, dass sie die soziale Integration oder die körperliche Gesundheit gefährden könnten, sollte man sich Hilfe holen. Dazu wendet man sich an einen Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder an einen Sexualmediziner. Gerade für den Bereich der Pädophilie, also für die auf Kinder gerichtete Lust, gibt es an mehreren deutschen Standorten das Projekt »Kein Täter werden«, das dabei hilft, mit dieser Vorliebe eine Tat gar nicht erst zu begehen.

In allen anderen Fällen, in denen perverse Spielchen erregen und auch der Partner Neugier auf die ein oder andere neue Spielart bekommt, kann das Credo nur lauten: Spaß haben und sich ausleben. Wenn es Ihnen und keinem anderen schadet, dürfen Sie großzügig mit sich sein – es gibt Sie eben nur einmal, so wie Sie sind.

Ich höre, ohne zu übertreiben, zumindest jede Woche von neuen Fetischismen und sexuellen Vorlieben. Deshalb finde ich daran nichts, aber auch wirklich gar nichts, was mich Negatives oder Peinliches über die jeweilige Person denken lässt. Ist es nicht schön, dass wir als Menschen komplex sind und in uns mehr als nur ein Instinktreflex schlummert?

Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 20: Sex – Vom Leistenmüssen
zum Erkundenwollen

Wir können nach diesem Kapitel festhalten, dass die im gesellschaftlichen Blick stehende erwachsene Sexualität mit einer Fokussierung auf die Geschlechtsteile Penis und Scheide eigentlich stark eingeschränkt ist. Das Kind erlebt seine Lust noch überall am Körper, sehr unmittelbar und viel weniger zweckgebunden. Kinder sind eigentlich wahre Genussmenschen. Es wundert im Vergleich, dass Erwachsene so schnell unter Leistungsdruck geraten, einen klitoralen oder vaginalen Orgasmus zu bekommen oder mit ihrem Penis auslösen zu können oder den Partner besonders gut zu befriedigen. Für viele artet es schon in Stress aus, überhaupt sexuelles Verlangen zu spüren und eine Erektion oder eine feuchte Vagina zu bekommen. Dass man im Sex-Hamsterrad landet, in dem es nur noch um Leistungsdruck geht, passiert schnell und häufig.

Aber es gibt Abhilfe: Sexverbot. Immer dann, wenn Sex zum Leitungssport verkommen ist, eignet sich diese Maßnahme und führt die Betroffenen schnell in einen neuen Raum aus Möglichkeiten, Zärtlichkeit und Neugier. Es ist wirklich sehr heilsam, wenn Paare sich eine Zeit vornehmen, sich miteinander körperlich zu beschäftigen, aber keinen Sex zu haben. Eine Patientin berichtete mir, sie sei unbefriedigt, da ihr Partner sie zwar erotisch berühre, aber keine verlässliche Erektion mehr bekomme. Durch ein Sexverbot konnte die Frau es völlig anders betrachten und sich auf das konzentrieren, was zwischen den beiden lief: sehr gutes Petting. Am Ende war es den beiden gar nicht mehr so wichtig, wann »es« denn endlich wieder »so richtig normal« klappt. Es gibt beim Sex nämlich kein Richtig und kein Normal.