Die fabelhafte Welt der Psychosomatik
Was können wir tun, wenn Seele und Körper SOS senden? Das ist die große Frage, die mich als Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie jeden Tag antreibt. Die Erzieherin, die sich wie betäubt fühlt, die Anwältin, die panische Angst vor Krebs hat, und der Maurer, der trotz zweifachen Herzinfarkts das Rauchen nicht aufgeben kann. Sie alle suchen, gemeinsam mit uns Ärzten und Psychotherapeuten, nach Lösungen.
Wir wollen uns in diesem Buch gemeinsam Antworten erarbeiten, wie Sie mit dem SOS umgehen können, das Ihre Seele oder Ihr Körper Ihnen womöglich sendet. Psychosomatik ist nicht die Einbahnstraße für psychische Einflüsse auf den Körper, für die sie oft gehalten wird. Sie ist auch kein Sammelbegriff für »hoffnungslose Fälle«. Psyche und Körper wirken bei allen Krankheiten – der einen mehr, der anderen weniger – zusammen. Deshalb kümmern wir uns im Fachgebiet Psychosomatik um all die Situationen, in denen es notwendig oder hilfreich erscheint, diese Zusammenarbeit zu betrachten oder auch zu verändern.
Weshalb könnte die Erzieherin eine Betäubung so dringend brauchen? Welche tief vergrabenen Erfahrungen hat die Anwältin mit Krankheit und Verlust? Gibt es etwas, das den Maurer innerlich zur Selbstzerstörung antreibt? Und gäbe es für die drei Beispielpersonen Wege, sich aus ihrem Leidensdruck zu befreien?
Wenn Patienten zu mir in die psychosomatische Sprechstunde kommen, besteht wie überall in der Medizin die Grundlage meiner Überlegungen in einer organisch-körperlichen Abklärung und Diagnostik. Aber viele andere Aspekte im Leben eines Menschen lassen sich nicht mit der körperlichen Untersuchung, Labor, Röntgen, Ultraschall usw. erfassen. Diese persönliche Ebene des Menschen, das Kennenlernen seiner eigenen inneren Wirklichkeit, seiner Subjektivität, ist aber essenziell, um ein Konzept oder eine Wanderkarte zu bekommen, um herauszufinden, wie der Weg aus der Symptomfalle aussehen könnte.
Und an dieser Stelle passiert etwas Fabelhaftes (wobei alle medizinischen Fächer ihre fabelhaften Eigenheiten haben): Hier kombinieren wir die objektive, klassische Sichtweise unserer Medizin mit dem Blick in die spannungsgeladene, widersprüchliche Psyche unserer Patienten. Blicke in eine subjektive Welt der Gefühle, Vorstellungen und Erfahrungen, die sich nicht vermessen lässt und für die es kein Richtig oder Falsch gibt.
Wir als Psychosomatiker sind als Person selbst das Untersuchungs- und auch Therapiegerät, weil es bisher keine technischen Geräte gibt, die das können. Da die Erzieherin, die Taubheit empfindet, nicht weiß, warum sie betäubt ist, die Anwältin sich und ihre Angst gar nicht verstehen kann und der Maurer eigentlich gar nicht mehr rauchen will, brauchen wir Wissen und Erfahrungen, um den Ursachen aus der inneren Welt der Leidenden näherzukommen. Dieses Wissen und diese Erfahrungen teilen sich auf in konkret mit dem Patienten Erlebtes oder vom Patienten Erzähltes einerseits und Konzepte, Schablonen und Theorien andererseits, die dem Psychosomatiker helfen, diese Informationen einzusortieren.
Etwas über die Konzepte, Schablonen und Theorien der Psychosomatischen Medizin zu erfahren kann bei Ihnen den Aha-Effekt auslösen. Häufig ist das die erste Erleichterung, die auch meine Patienten erleben, weil die Situation aus einer anderen Perspektive etwas mehr Sinn ergibt und auch wieder handhabbarer erscheint.
In diesem ersten Buchteil möchte ich mich deshalb mit Ihnen auf eine kleine Weltreise durch die Psychosomatik machen. Weltreisen haben die Eigenschaft, dass man nicht überall anhält. Das wollen wir auch nicht tun, aber ich möchte Ihnen meine Lieblingsplätze zeigen, die exemplarisch für das große Ganze stehen können, das aufgrund seiner Komplexität sowieso nicht zu erfassen ist.
Lassen Sie uns an den Anfang des menschlichen Lebens reisen, um zu schauen, wie Sie die oder der wurden, die bzw. der Sie sind (in Teil eins siehe hier). Machen wir dann einen Abstecher in die Welt der Gefühle (ab hier), die genau zwischen dem Körpererleben und dem psychischen Erleben beheimatet und damit der Stoff sind, aus dem psychosomatische Beschwerden gewebt werden.
Wer psychischen Stress erlebt, bekommt laut einer Studie nach Kontakt mit Schnupfenviren deutlich häufiger eine Erkältung2 als Menschen mit niedrigem Stresslevel. Wir werden ab hier der Frage nachgehen, ob und wie Psychosomatik funktioniert und welche Systeme Körper und Seele verbinden. Es wird gegen Ende unserer Reise darum gehen, was die Psyche krank macht (ab hier).
Wir beginnen unser Abenteuer mit einer kleinen Zeitreise und machen uns auf die Spuren der modernen Psychosomatik und der ewigen, nicht nur medizinischen, sondern auch philosophischen Frage, wie das Verhältnis zwischen Körper und Psyche beschaffen ist.
Körper und Seele: Eine Liebesgeschichte
Denken Sie bitte kurz über etwas nach: Wann hatten Sie zuletzt ein körperliches Symptom, das Ihnen nicht erklärlich war? Stellen Sie sich dieses Symptom vor. Vielleicht war es ein Schwitzen, Zittern, Herzrasen, Schwindel oder ein Kopfschmerz, dessen Ursache ein Rätsel blieb. Bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit eine Weile bei diesem Symptom und unterbrechen Sie kurz, bevor Sie weiterlesen.
Glauben Sie, dass dieses Symptom von Ihrer Psyche ausgelöst worden sein könnte? Oder würden Sie sagen, dass es so heftig war, dass Ihre Psyche dazu nicht in der Lage wäre?
Jetzt denken Sie bitte an Ihre letzte Grippe mit Schüttelfrost und Fieberträumen oder einen unangenehmen Zahnarztbesuch, vielleicht mit dem Ausgraben eines Zahnes, bei dem Ihre Kieferknochen richtig vibriert haben. Bleiben Sie wieder kurz bei dieser Erinnerung und versetzen Sie sich in diesen körperlich wirklich unangenehmen Zustand hinein.
Wie ging es Ihnen dabei psychisch?
Es ging Ihnen wahrscheinlich schlecht. Sie waren unwirsch und nörgelig. Aber wieso eigentlich? Ihre Psyche war doch gar nicht betroffen, es ging doch um Ihren Körper …
Woher die Trennung von Körper und Geist kommt
Über die Verbindung zwischen Psyche und Körper und ihre Auswirkung auf unser Leben haben die Menschen in allen Epochen nachgedacht. Auch wir kommen jetzt in den Genuss, über ein paar grundsätzliche Fragen rund um Körper und Psyche zu philosophieren.
Als ich vor einiger Zeit als Stationsarzt in einer großen Krankenhausabteilung für Psychosomatik gearbeitet habe, war es oft ein richtiger Balanceakt, zu einer guten und vernünftigen Diagnose zu kommen. Ob der Patient mehr psychische oder körperliche Ursachen für seine Symptome hatte, war häufig nicht ohne Weiteres herauszubekommen, manchmal gar nicht. Was bringt es denn auch einem Patienten zu hören, seine Beschwerden könnten psychisch bedingt sein, wenn er selbst nicht daran glaubt? Die einzige Folge wäre, dass er sich falsch verstanden fühlt, sich abwendet und den nächsten Arzt aufsucht. Es ist einfach logisch, dass Patienten das Weite suchen, wenn sie annehmen müssen, ihnen soll etwas ans Zeug geflickt werden, das nichts mit ihnen zu tun hat.
Daneben gibt es Patienten, die glauben, psychisch krank zu sein, und alle möglichen Gründe für ihre Körperleiden in der Psyche finden – die sich aber nie gründlich körperlich haben untersuchen lassen. Nicht selten treiben Patienten, die eine körperliche Krankheit haben, wie zum Beispiel Bluthochdruck, eine Magenentzündung oder Diabetes, zusätzlich durch Stress und Hektik sowie bestimmte Verhaltensweisen den Blutdruck oder den Zucker weiter in die Höhe. Man erkennt die Betroffenen gut daran, dass sie während der Visite E-Mails schreiben oder »unbedingt kurz mal eben den Anruf annehmen« müssen. Sie haben häufig nicht gelernt, dass sie selbst auch wichtig sind und dass sie sich um sich selbst kümmern können.
Ob nun mehr die Psyche oder mehr der Körper für eine Krankheit die Schuld haben soll, führte in meiner Zeit als Stationsarzt zu ständigen Reibereien zwischen dem Pflegepersonal, den Patienten, den Stationspsychologen, den Kreativtherapeuten und uns Ärzten. Es war manchmal wie Tauziehen: Wer hat die besseren Beweise? Auch ich selbst schwankte innerlich; mal war ich offener für die seelischen Gründe, mal mehr für die körperlichen. Meine Freunde konnten ein Lied davon singen, wie ich manchmal der rationale Arzt war, mich strikt an objektiven Befunden wie Labor und Ultraschall orientierte – und manchmal die Zwischentöne mehr an mich heranließ. Dann hatte ich das Gefühl, dass mir die subjektive Geschichte der Patienten und ihre innere Welt aus Gefühlen am ehesten einen Weg zur Heilung aufzeigen würde.
Psyche und Körper sind in unseren Köpfen oft Gegensätze – und auch in unserem Gesundheitssystem.
Woran liegt das?
Die Geschichte von Körper und Psyche ist eine, die immer wieder neu erzählt wird. Es ist eine Liebesgeschichte von zweien, die sich suchen, aber nie wirklich gefunden haben, weil die Kluft zwischen ihnen über Jahrhunderte tief in unsere Köpfe eingebrannt wurde.
Exkurs:
Das cartesianische Weltbild – wie Körper und Seele getrennt wurden
Der Philosoph René Descartes hat unser Denken über den Körper und die Seele geprägt – und prägt es bis heute. Er lebte von 1596 bis 1650 und beschäftigte sich angesichts des kirchlichen Machtverlustes und den dadurch ausgelösten Zweifeln an Gott, dem Gesetz und der Daseinsbegründung mit den Grundlagen seiner eigenen Existenz: Wenn kein Gott ihn auf die Welt gestellt hatte, wie konnte er überhaupt sicher sein zu existieren?
Weil er zu der Erkenntnis kam, dass die Sinne wie das Sehen oder Hören ihn täuschen konnten, und er keinen Beweis hatte, dass das, was er wahrnahm, auch objektiverweise real ist, richtete er den Blick nach innen. Dort, in seiner inneren Welt, waren seine Gedanken und seine Zweifel. Er beobachtete sich beim Zweifeln darüber, ob es denn wirklich irgendetwas Beweisbares auf dieser Welt gäbe. Dann der Gedankenblitz: diese Zweifel, diese Gedanken, dieses Suchen! Sie waren sicher. Die Existenz der Welt war nicht zu beweisen, aber es war für ihn zu beweisen, dass er zweifelnd über diese Welt nachdachte. Und so kam er auf die berühmte Erkenntnis: »Ich denke, also bin ich.«
Nun hatte das jedoch für seine Einschätzung des Körpers erhebliche Folgen. Dieser war nämlich aus seiner Sicht gar nicht nötig. Im Gegenteil: Dessen Existenz war gar nicht beweisbar. Wir existieren doch allein dadurch, dass wir denken! Der Körper gehörte für ihn, wie alles andere außerhalb des eigenen Bewusstseins auch, nicht wirklich zum »Ich« dazu. Den relevanten Teil des menschlichen Ichs nannte Descartes die »res cogitans«, die denkende Substanz. Den Körper verwies er an den Katzentisch, indem er ihn zur »res extensa«, der ausgedehnten Substanz, zählte. Zu dieser ausgedehnten Substanz zählte auch der Rest der materiellen Welt wie Bäume, Tische oder Bücher und schlicht alles, was man anfassen kann.
Körper und Gedanken wurden also zu zwei einander völlig fremden und substanziell verschiedenen Dingen erklärt. Das war der Startschuss für unser heutiges Denken.
Auch heute fragen noch nicht alle »Körperärzte« nach der Psyche und zu wenige »Psycho-Ärzte« nach dem Körper, wenn sich auf psychischer Ebene schon eine mögliche Erklärung offenbart. Das ist die Entweder-oder-Falle. Wir sind es immer noch gewohnt, in einer der beiden, fälschlicherweise als grundverschieden betrachteten Welten unterwegs zu sein.
Jetzt werden Sie sagen: »Na ja, das ist doch lange her, wir wissen das doch heute besser.« Ich würde widersprechen und kann belegen, dass sich unser tief verwurzeltes Denken auch in unserer Alltagssprache zeigt. Wir würden durchaus sagen: »Ich bin müde.« Aber wir sagen: »Mein Herz schlägt schnell.« Geistige Dinge tun wir aktiv, körperliche Dinge scheinen uns bloß zuzustoßen. Unsere Redewendungen funktionieren meist nach dem Muster »Ich und mein Körper«3. Demnach definieren wir uns als unser Bewusstsein, das ist unser Ich. Und wir haben einen Körper. Wir haben auch ein Gehirn, aber wir würden nie sagen, dass wir unser Gehirn sind.
Doch wir können dem Philosophen Descartes nicht die ganze Misere der Trennung von Körper und Seele anlasten. Die Verbreitung seiner Gedanken verdankt sich auch dem Umstand, dass die Medizin sich jahrhundertelang auf die naturwissenschaftliche Erkundung des Körpers konzentrierte, sprich auf die »res extensa« des Menschen. Die Seele wurde dabei einfach ausgeklammert. Diese Trennung führte schließlich zu beachtlichen Entdeckungen der Medizin, um nur ein Beispiel zu nennen: Der Pathologe Rudolf Virchow fand heraus, dass Störungen in den Körperzellen und mangelnde Hygiene Krankheiten beim Menschen auslösen können. Grandios!
Mit Eifer stürzten die Mediziner sich auf die naturwissenschaftlichen Ursachen, auf alles, was greif- und messbar war und brachten damit die Humanmedizin nach vorne. Die lästigen Seelen-Fragen überließen die Ärzte lieber den schöngeistigen Philosophen und den Priestern. Ich erinnere mich an den Beginn meines Studiums 2001: Leichen sezieren, Chemieexperimente und Physikkurs ließen wenig Raum, sich mit dem Dasein des Menschen als beseeltem Wesen zu befassen.
Eine ähnliche Situation wie zu Descartes’ Zeiten haben wir also in der Medizin auch heute noch. Es gibt Fachärzte für alle einzelnen Organe und dann auch noch ein paar für die Seele. Ganz häufig habe ich Patienten in der psychosomatischen Sprechstunde, also der Körper-Seele-Sprechstunde, vor mir sitzen, die entweder denken, sie sollten mir nichts über ihren Körper sagen (dann denken sie eher, dass ich ein Psychologe bin), oder sie sollten mir nichts über ihre Seele verraten – schließlich bin ich ja Arzt.
Wir sehen unseren Körper oft noch als eine bewundernswerte Maschine, die ihren Dienst tut. Nebenher leben wir unser Leben und laufen uns selbst allenfalls mal nackt in der Dusche über den Weg … oder in der Sauna.
Psychosomatik gibt es schon lange
Trotz dieser grundsätzlichen Trennung von Körper und Seele in der Geschichte gab es immer wieder Zweifel daran. Schon im Jahr 1818 äußerte der Arzt Christian August Heinroth, dass Krankheiten aus den sündhaften Leidenschaften der Menschen entstehen müssten. Nebenbei führte er den Begriff Psychosomatik ein; dieser Zweig wurde nach und nach zu einer Gegenbewegung der verbreiteten Trennung von körperlichem und seelischem Geschehen – blieb aber immer begrenzt.
Eine neue Zeitrechnung begann um das Jahr 1900 in Wien. Ein österreichischer Neurologe – Sie haben bereits von ihm gehört, es ist Sigmund Freud – hatte in Paris an der Salpêtrière beim bekannten Charcot Medizin studiert und gelernt, hysterische Patienten mittels Hypnose zu behandeln. Diese Patienten wiesen auffällige Bewegungsstörungen und Bewusstseinsveränderungen auf, ohne dass sich eine organische Ursache dafür vermuten oder finden ließ. Bei diesen nichtneurologischen Anfällen bildeten die Patienten einen Arc de cercle, einen stark nach hinten überstreckten Körper, was charakteristisch für sogenannte »hysterische Anfälle« wurde.
Exkurs:
Die Hysterie – damals und heute
Der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot ging zum Ende des 19. Jahrhunderts davon aus, dass die Hysterie eine vererbbare Nervenkrankheit sei, die vornehmlich Frauen befalle. Die Krankheit, die mit charakterlichen Auffälligkeiten und einer Art neurologischer Symptomatik wie bei einem Krampfanfall einherging, wurde mit martialischen Methoden behandelt. Die Verheiratung der leidenden Patientinnen war dabei noch die harmloseste. Das Ziel sollte es sein, die Frauen durch die Herbeiführung von Orgasmen zu beruhigen, auch öffentlich im Hörsaal, unter anderem mit einer »Eierstockpresse«. Heute ist der Begriff Hysterie aus der Medizin verschwunden, aber in der Alltagssprache wird er weiterhin verwendet für extravagantes Auftreten und eine gestellt wirkende Selbstinszenierung, oft begleitet von sexuell anzüglichem Verhalten.
Nachdem der Wiener Arzt Sigmund Freud bei Charcot studiert hatte, entwickelte er ein Hysterie-Konzept, das deutlich schonender und menschlicher war. Die Ursache für die Hysterie sah Freud in sexuell getönten Kindheitsereignissen, die die Hysterikerin nicht erinnern könne und die erst wieder zutage treten müssten, damit das Symptom verschwinden könne. Die moderne Psychotherapie war geboren. Heute wird in der Psychosomatik von »histrionischen« (selbstinszenierenden, theatralischen) Charaktereigenschaften gesprochen, was eine übers Ziel hinausschießende, instabile Emotionalität mit Selbstbezogenheit und mangelnder Authentizität meint, welche durch die Einflüsse der frühen Bindungen entstanden sein sollen.
Der junge Wiener Arzt Sigmund Freud entwickelte nach seiner Rückkehr aus Paris ein eigenes Verfahren, mit hysterischen Körpersymptomen ohne organische Ursache fertigzuwerden. Dieses Verfahren nannte er später die Psychoanalyse, also die »Zergliederung« der Seele. Hierbei handelt es sich um eine Behandlungsform, bei der der Patient sich einer Redekur unterzieht und über alles spricht, was ihm in den Sinn kommt.
Während Freud mit seiner Patientin den Blick in ihr Inneres richtete und über ihr Leben und ihre Gedanken sprach, stellte er eine Beziehung zwischen ihren Symptomen und den Traumata ihrer Vergangenheit her. Diese Wendung nach innen war es, die eine ganz neue Sicht auf den Menschen und seine Seele ermöglichte4.
Freuds Entdeckung des Unbewussten begründet unser heutiges Denken. Das Unbewusste ist all das, was wir wissen, an das wir uns aber nicht erinnern können oder wollen. So kann es sein, wie wir inzwischen aus der Psychoanalyse und Hirnforschung erfahren haben, dass dieses unbewusste Wissen dennoch Symptome auslöst oder ein bestimmtes Verhalten bedingt. Obwohl – oder gerade weil – der eigentliche Grund des eigenen Verhaltens gar nicht in das Bewusstsein dringt.
Die Erkenntnis, dass vieles eine Bedeutung hat, die beim ersten Blick nicht auf der Hand liegt, dass bestimmte Dinge uns tief berühren, auch wenn wir das gerade nicht bewusst fühlen, und dass wir von inneren, teils sich widerstrebenden Kräften motiviert werden, ist den bahnbrechenden Erkenntnissen der Psychoanalyse zu verdanken.
Immer mehr Ärzte, die eigentlich Internisten und praktische Ärzte waren, ergänzten ihre Methoden um Abwandlungen von Freuds Redekur, weil sie mit einer ausschließlichen Körpermedizin zunehmend an Grenzen stießen. Der Arzt Georg Groddeck zum Beispiel wurde um 1920 dafür bekannt, dass er chronisch körperlich Kranke mit Psychotherapie behandelte und das Kranksein darüber definierte, wie es der Betroffene selbst erlebte – und nicht nur nach von außen sichtbaren Befunden5.
Von solchen Perspektiven können wir heute – rund 100 Jahre später – noch immer zehren, denn diese Herangehensweise an von Krankheit Betroffene ist zutiefst menschlich und der manchmal noch fehlende Teil der zeitgenössischen Medizin.
Das Zeitalter der Verschmelzung
Derzeit haben wir genau das richtige Zeitalter, um die Mauer, die in unseren Köpfen Psyche und Körper voneinander trennt, endlich einzureißen.
Ausgerechnet jetzt, da seit etwa 20 Jahren die biologische Erforschung des denkenden Gehirns möglich geworden ist, die jahrtausendelang so rätselhaft war.
Illusion
Legt man einen Menschen mit seinem Gehirn in ein funktionelles Magnetresonanztomografiegerät (fMRT), sieht man, dass jedem Fühlen und Denken elektronische und biochemische Reaktionen im Gehirn vorausgehen. Psyche und Körper sind also gar nicht getrennt, denn jeder innere Zustand hat ein materielles Korrelat im Gehirn. »Res cogitans« und »res extensa« sind also nur zwei Seiten derselben Medaille.
Körper und Seele sind eigentlich eins!
In unserem Körper, vor allem im Gehirn, werden ständig seelische Erfahrungen zu Biologie gemacht, und die Biologie wird wieder zu Verhalten und Kommunikation. Ein Gespräch mit einem Freund verändert Ihr Gehirn – mit neuen neuronalen Verknüpfungen und einer veränderten Chemie. Das Lesen dieses Buches und der Dialog zwischen uns verändern Ihren Körper, weil Sie auf das, was Sie lesen, auf vielfältige Weise reagieren. Diese Veränderungen lassen Sie in späteren Situationen anders reagieren als in der Vergangenheit, sowohl seelisch als auch körperlich!
Seit Kurzem erst ist begreifbar geworden, dass wir mit zwischenmenschlichen Beziehungen, Gesprächen und Kommunikation nicht nur unser Denken verändern, sondern auch die neuronalen Verschaltungen und den biologischen Aufbau unseres Gehirns. Eine erfreuliche Nachricht.
Halten wir fest: Körper und Psyche arbeiten eng zusammen, um uns das Leben zu vereinfachen. Wir sollten das Potenzial nur mehr ausschöpfen – persönlich und in der Medizin. Die weiterhin, auch in diesem Buch, bestehende Trennung ist heute nur noch aus Gründen der Verständlichkeit aufrechtzuerhalten.
Subjektivität
Descartes dachte, wenn die Seele etwas ganz anderes ist als der Körper, muss sie zur Geburt von Gott in den Menschen gegeben werden und ihn nach dem Tod wieder verlassen, in Richtung Himmel. So kam es zu der Tradition, dass nach dem Tod die eine Hälfte über die Wolken und die andere unter die Erde kommt. Diese abendländische Vorstellung der unsterblichen Seele ist sicher tröstlicher als die Erklärung, die Seele als bloßen und dadurch auch sterblichen Teil des Körpers zu sehen. Ein Mensch, der lebt, bleibt trotz aller wissenschaftlicher Zerlegbarkeit auf eine Art auch überirdisch und einfach zum Staunen. Und der Gesundheit tut es ebenfalls gut, wenn man an höhere Kräfte glaubt, die einen übersteigen6. Wenn man es nicht übertreibt und fanatisch wird, jedenfalls. Somit ist auch die Frage nach der Spiritualität und Religion einerseits und nach der Hirnforschung andererseits in der Zukunft keine Entweder-oder-Frage, sondern die Körper-Seele-Frage bleibt eine Liebesgeschichte mit vielen Facetten.
Dazu gehört auch die Frage, warum wir die Welt so empfinden, wie wir es tun. Das kann kein Hirnforscher erklären. Die Subjektivität, also die »Meinigkeit« der eigenen Gefühle und Empfindungen, kann nicht wissenschaftlich genau und objektiv erfasst werden. Ich kann versuchen, Ihnen mit Worten zu beschreiben, wie sich meine Schmerzen anfühlen. Sie werden durch Ihre Fähigkeit zur Empathie ein wenig davon nachfühlen können, wenn auch abgeschwächt. Aber wie es für mich wirklich ist, werden Sie nie wissen. Das macht eine umfassende, wirklich den ganzen Menschen in den Blick nehmende Medizin so schwierig.
Dreierlei
Der Mensch als Maschine, die nahezu perfekt funktioniert und immer weiter verbessert oder sogar repariert werden kann, ist ein Modell vergangener Zeiten. Das biopsychosoziale Modell hat den »Maschinenmenschen« abgelöst. Dieses Modell regt an, Individuen nicht entweder nur als Organsystem, nur als Seele oder nur als Teil ihrer sozialen Umwelt zu betrachten. Es fordert dringend auf, die biologische Perspektive des Menschen, die psychische Dimension und auch die sozialen Beziehungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Wie drei Ebenen, die wie drei Bierdeckel direkt übereinanderliegen.
Exkurs:
Das biopsychosoziale Modell
Der Philosoph Spinoza brachte schon vor über 300 Jahren das Stichwort »Leib-Seele-Identität«7 ins Spiel, das besagt, wir seien nicht eine Seele, die einen Körper hat, sondern wir seien beides – dieses eine mache uns aus. Es gibt nach diesem Modell keine körperlichen oder psychischen Krankheiten, sondern ein Mensch ist ständig damit beschäftigt, ein gesundes Gleichgewicht wiederherzustellen. Dieses ganzheitliche Denken, das die Leib-Seele-Trennung überwinden möchte, wurde erst vor Kurzem in unser modernes, biopsychosoziales Modell integriert8. Es wird sich nicht durchsetzen, solange wir weiter reduziert an einzelne Krankheitsursachen glauben, statt an ein aus dem Gleichgewicht geratenes Netzwerk.
Tatsächlich kam in meiner Sprechstunde auch noch nie nur ein Körper oder nur eine Seele vorbei. Es kam auch nie ein Patient vorbei, der rein körperlich oder rein seelisch erkrankt war – das gibt es nicht. Beide Systeme reagieren, wenn ein Mensch krank wird.
Das biopsychosoziale Modell setzt sich nicht nur aus schöngeistigen Gedanken zusammen, sondern es hat eine wichtige Konsequenz für die Medizin: Diagnostik soll gleichzeitig stattfinden, parallel, ganz egal, ob es sich um die Untersuchung einer seelischen oder körperlichen Ursache handelt. Das ist wichtig, denn lange dachte man, erst gehört der Körper vernünftig untersucht. Und wenn der gesund ist, dann müsse man eben psychisch nachschauen, denn »dann ist das wohl psychosomatisch«. Diese Trennung wird jedoch den starken Wechselwirkungen bei Erkrankungen aller Art nicht gerecht. Auch die Therapie soll möglichst sowohl auf die Seele als auch auf den Körper und das soziale Leben Einfluss nehmen.
Wir sind eins
Mir ist wichtig, Ihnen das hier gesagt zu haben. Wir brauchen Ärzte, die nach dem biopsychosozialen Modell arbeiten. Aber: Wir brauchen auch Patienten, die verstehen, warum das gut für sie ist.
Viele haben aufgrund der leider immer noch bestehenden Stigmatisierung psychischer Aspekte von Krankheit einfach keine Lust auf eine ganzheitliche Herangehensweise. Merken wir uns, dass die Wörter »Körper« und »Psyche« in diesem Buch nur aus Verständnisgründen verwendet werden – um klarzumachen, welcher Teil dieser veralteten Zweiteilung gerade gemeint ist. In Wirklichkeit sind ihre Grenzen fließend. Wie bei Verliebten. Freud schreibt 1930 in seinem Buch »Das Unbehagen in der Kultur«, dass auf der Höhe der Verliebtheit die Grenze zu verschwimmen droht: »Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, dass Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich als ob es so wäre, zu benehmen.«9 Genauso tun es Körper und Seele.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 01: Dem Körper zuhören lernen
Wir alle sind per Skype mit der ganzen Welt verbunden. Aber wann haben wir zuletzt mit unserem Körper kommuniziert? Er sendet uns ständig seine Botschaften. Ich möchte Ihnen ein paar Hinweise dazu geben, wie Sie mehr davon mitbekommen könnten.
Je mehr Sie über Ihre Körperbetäubungsstrategie herausfinden, desto besser wird es Ihnen gelingen, auf die Signale Ihres Körpers zu hören und wichtige Botschaften über Ihren inneren Zustand zu entschlüsseln.10
Um uns weiter den Geheimnissen der Psychosomatik zu nähern, wollen wir uns ansehen, wie ein Mensch zu dem wird, der er ist. Wie reagiert er auf welche Herausforderungen? Was macht ihm Angst? Was löst Stress aus?
Die Anatomie der Psychosomatik liegt nicht in den Organstrukturen unseres Körpers, sondern in einem unsichtbaren Netzwerk aus Erinnerungen, das vor allem in Schlüsselsituationen unserer körperlich-seelischen Entwicklung entsteht.
Die Anatomie der Psychosomatik:
Warum wir sind, wer wir sind
Wir haben bereits gesehen, dass sich unsere spitzentechnologische Medizin prima entwickelt hat für Situationen, in denen wir akut körperlich krank sind, wie bei einem Herzinfarkt. Und je besser die Technik wurde, desto mehr haben wir angenommen, dass die Sprache und der persönliche Kontakt wohl nicht so wichtig sind und im Vergleich gar nicht so wirkstark sein können wie präzise mikrochirurgische Eingriffe. Bei akuten Krankheiten wie der Blinddarmentzündung oder dem Herzinfarkt stimmt das auch. Deshalb haben wir die »zweite Anatomie«, wie ich sie nennen möchte, lange vernachlässigt: die Anatomie der Psychosomatik, also den Aufbau unserer Seele und ihrer Verknüpfungen mit dem Körperlichen. Doch jetzt steigen die Diagnosen psychosomatischer Erkrankungen rasant an.
In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, wie zentral der Zustand unseres Stressverarbeitungssystems für die Entwicklung von Erkrankungen ist. Deshalb ist so bedeutsam, wie Stress ausgelöst wird – und wie wir ihn beeinflussen können. Deutlich wurde, dass das Erleben von Beziehungen und der damit verbundenen Gefühle für ein Kind während seiner frühen Entwicklung ausschlaggebend ist und die Biologie des Gehirns und anderer Organe intensiv prägt. Der Standpunkt führender Neurobiologen lautet: Nicht nur die Gene, sondern auch das vorgeburtliche Erleben im Mutterleib, die erste Bindung zu den Eltern und die Art und Weise der Verarbeitung von Stress machen den Unterschied, ob jemand krank wird.11
Weil die Neurobiologen als Gehirnspezialisten immer wieder betonen, wie relevant die Zeit im Mutterleib sei, betrachten wir kurz, was passiert:
Das Denken, Fühlen und Erleben ist neurobiologischen Erkenntnissen zufolge mit konkreten Neuronenaktivitäten im Gehirn verbunden. Und: Die Entwicklung der Persönlichkeit und des Charakters, wofür das limbische System im Inneren des Gehirns eine große Rolle spielt, wird sehr davon geprägt, was die ersten Erlebnisse sind, die das Gehirn zu verarbeiten hat. Die Gehirnentwicklung beginnt im Mutterleib. Das fetale Gehirn hat über die Plazenta und die Nabelschnur beispielsweise schon eine Menge Stress zu verarbeiten, die als Stresshormone von der Mutter an den Fetus weitergeleitet werden.
Die Gene wiederum liefern das Rohmaterial. Es gibt kein Gen, das für einen bestimmten Charakterzug oder eine Angststörung oder Depression einen Code bereithält. Vielmehr steht das Stressverarbeitungssystem des ungeborenen Kindes im Vordergrund, wenn man zu erklären versucht, weshalb ein Erwachsener empfindlich oder stabil auf Stress, Belastungen oder negative Emotionen reagiert.
Eine schwangere Frau, die während der Schwangerschaft von Kolleginnen ausgeschlossen oder sogar gemobbt wird, eine Trennung zu verkraften hat oder wegen Geldmangel um ihre Wohnung bangen muss, wird das Stresshormon Cortisol verstärkt ausschütten, womit sich dann auch das kindliche Gehirn auseinanderzusetzen hat. Der Botenstoff Cortisol wird in der Nebenniere gebildet und sorgt im Körper für Bereitstellung von mehr Energie, wenn körperliche und seelische Belastungen steigen. Sind wir ständig überfordert (»gestresst«), kommt es dauerhaft zu erhöhten Cortisol-Blutspiegeln und einer Überstimulation verschiedener Systeme im Körper. Das geht mit negativen Folgen für das Gehirn, das Immunsystem und das Herz-Kreislauf-System einher. Übersteigt die Menge an Stress die Verarbeitungsmöglichkeiten des Embryos bereits, wird er im späteren Leben leichter mit Stressreaktionen des Organismus zu rechnen haben, als wenn die werdende Mutter dem ungeborenen Kind gesunde Bedingungen hätte anbieten können.
Die frühe Kindheit sehen wir – wie inzwischen auch die vorgeburtliche Phase im Mutterleib – als eine für die spätere Gesundheit und Zufriedenheit sehr prägende Phase an. Wie wir erst das Herz verstehen müssen, um uns wirklich mit der Herzgesundheit befassen zu können, kommen wir um die Beschäftigung mit der Kindheit nicht herum, wenn wir die Psychosomatik verstehen wollen.
Die Psychosomatik, die Zusammenarbeit von Psyche und Körper, ist aus den Erlebnissen der Kindheit gebaut.
Aber: Nach der Kindheit ist die Entwicklung nicht abgeschlossen und fixiert, wie man früher annahm.
Wer eine Landkarte erstellt und herausfindet, durch welche inneren Bilder und Eindrücke womöglich das heutige Empfinden geprägt ist, hat die Möglichkeit, durch Veränderung der Sichtweise oder mithilfe von Beziehungen, die man an den entscheidenden Punkten anders führt, Heilung zu erlangen. Das Gehirn kann sich sehr intensiv verändern, bis ins hohe Alter hinein, der Neuroplastizität sei Dank. Neuroplastizität bedeutet, dass das Gehirn nicht fest ist wie ein Stein, sondern eher wie Knetgummi: Es lässt sich gezielt umformen, wenn jemand herausfindet, was er braucht, und neue Erfahrungen sucht.
Schauen wir uns also an, welche prägenden Phasen ein Mensch in seiner frühen und späteren Entwicklung durchläuft und welche Auswirkungen ungestillte Bedürfnisse oder ein Misslingen verschiedener Herausforderungen haben können. Ich habe in diesem Kapitel etwas gemacht, was wir Psychosomatiker auch im praktischen Alltag tun: Ich habe verschiedene Theorien und Denkmodelle zusammengewürfelt. Je nach klinischer Situation muss ohnehin individuell das herangezogen werden, was im konkreten Fall hilfreich und zugänglich erscheint. Sie finden im Folgenden vornehmlich Gedanken aus der Neurobiologie, den Bindungstheorien sowie aus der Theorie der psychosexuellen Entwicklungsphasen.
Unter null: Als Fetus in einer Blase
Sicherheitszone
Wir haben keine bewusste Erinnerung an unsere Zeit im Mutterleib und können sie auch niemals »hervorkramen«, aber wir verfügen in dieser Zeit über eine Form des Gedächtnisses, die vor allem in Gewöhnung besteht. Wiederkehrende Reize konnten so von uns als normal und somit als sicher gespeichert werden: die Stimme der Mutter, bekannte Rhythmen, Herztöne und andere Organgeräusche, wie die Pupse der Mutter oder auch das Getätschel des Vaters an der Bauchwand.
Kompetenzen
Bereits im Bauch können Embryos die Stimme ihrer Eltern von anderen Stimmen unterscheiden12, sich auf den Herzschlag der Mutter einstimmen13 und sich zum Beispiel vorgelesene Geschichten merken, die sie nach der Geburt wiederzuerkennen scheinen. Untersucht wurde dies, indem die Frequenz des Daumenlutschens bei unterschiedlichen Gedichten gemessen wurde. Bei den bekannten Gedichten fühlten die Kinder sich wohler und nuckelten mehr am Daumen14. Die Babys erkennen auch nach der Geburt ihre Muttersprache und fühlen sich behaglicher, wenn sie diese hören15. Über das Fruchtwasser merken die Kleinen sich den Geruch der Mutter und erkennen ihn nach der Geburt immer wieder.
Angst und Stress hingegen stecken den Fetus durch die Stresshormone Adrenalin und Cortisol an, auch verengen sich dadurch die Blutgefäße und es steht weniger Sauerstoff zur Verfügung. Stress in der Schwangerschaft steigert nachweislich das Auftreten einer späteren Depression16.
Schon mit acht Wochen und einer Größe von 2,5 cm nimmt der Fetus Reize wahr. Die Seele entwickelt sich ab diesem Zeitpunkt mit großen Schritten. Sie kommt nicht erst bei der Geburt in den »fertigen« Körper, sondern wächst über die Monate mit. Dies wird durch das Wechselspiel aus biologischen Schritten wie Synapsen- und Neuronaufbau einerseits und Beziehung zu den Mitmenschen andererseits ausgelöst. Und das einfach so, »aus dem Bauch heraus«!
Gehirnjustierung
Zum Verständnis der Psychosomatik sehr bedeutsam sind Untersuchungen, die zeigen, dass Stress während der Schwangerschaft die Bedingungen für das ganze Leben des Kindes formt. Gut untersucht ist die Wirkung von Stress und vor allem des Stresshormons Cortisol auf den Embryo. Etwa zehn Prozent des mütterlichen Cortisols passieren die Plazenta (den Mutterkuchen) und gelangen über die Nabelschnur zum Kind. Ist die Mutter sehr lange im Stress, justieren sich die Hirnregionen Hippocampus und Hypothalamus des Embryos auf diesen »Normalzustand«, während dann später vorschnell der Stresszustand aktiviert wird, um beste Leistungen zu bringen, anstatt ruhig und entspannt Aufgaben anzugehen oder bei Konflikten relaxed zu bleiben.17
Ein Embryo ist ein durch und durch psychosomatisches Wesen und unterscheidet gar nicht zwischen biologischen und psychischen Stressoren: Beim Blutzucker gilt das gleiche wie beim Stress. Auf einen erhöhten Blutzuckerspiegel stellt sich das ungeborene Kind genauso ein und macht zur Norm, was die Mutter ihm – als hormonelle Information weitergeleitet – vormacht. Insulin und Leptin helfen eigentlich, Nahrung zu verarbeiten und dem Organismus und der Psyche Sättigung anzuzeigen – doch durch die Prägung in der Schwangerschaft kann das Gehirn gegenüber diesen Botenstoffen abstumpfen. Die Kinder brauchen dann mehr Kalorien, um sich satt zu fühlen.
Dieses Wissen ist deshalb hilfreich, weil wir uns nicht noch mehr heruntermachen müssen, wenn wieder einmal eine Diät scheitert. Die Illusion, dass wir alles selbst in der Hand haben und nur umdenken und etwas bloß unbedingt wollen müssten, wird durch diese Erkenntnisse widerlegt.
Selbstakzeptanz
Dennoch haben wir ausdrücklich die Möglichkeit, viel zu verändern und langfristig neue Verhaltensweisen durch Wiederholungen zu verfestigen. Dazu ist es nötig, dass wir uns zunächst so annehmen und lieben lernen, wie wir sind. Aber was uns oft aus der Werbung oder den Erfolgsratgebern suggeriert wird, nämlich »Du musst es ganz stark wollen und dir den gewünschten Zustand innerlich vorstellen«, reicht meist nicht. Erst einmal gilt es zu erkennen, wie wir wirklich sind, und dies mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. Dazu später mehr, im dritten Teil »DIY – Ihre psychosomatische Gesundheit fördern« ab hier.
In der Lebensphase im Mutterleib kann für viele körperliche und psychische Krankheiten der Grundstein gelegt werden, wobei sich hier psychische und körperliche Einflüsse durch den Lebenswandel der Mutter tatsächlich nicht unterscheiden lassen – aus psychischen Belastungen wird Körperchemie, und aus Chemie werden beim Säugling Gehirnveränderungen und Empfindungen.
Die Zukunft liegt ganz sicher in der Prävention durch mehr psychosomatisches Wissen in der Bevölkerung und in der Aufklärung werdender Familien, insbesondere wenn sie unter psychischen Krankheiten oder Missbrauch, Überlastung und anderen Nöten leiden.
Nicht selten sehe ich in der Sprechstunde und auch in Psychotherapien schwangere Frauen, die ihre belastenden Einflüsse reduzieren möchten. Hier liegt ein riesiges Potenzial der Psychotherapie: durch positive Bindungserfahrungen und Verhaltensänderungen Krankheiten einer späteren Generation verhindern zu helfen.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 02: Körperliche Berührung und
tiefe Blicke
Um ein gesundes Empfinden für sich im eigenen Körper zu entwickeln, ist Berührung im Rahmen von Beziehungen gerade in den ersten Lebensjahren sehr wichtig. Durch Berührungen der Eltern entwickeln Kinder ein gesundes Bild von ihrem Körper. Je mehr die Eltern die Kinder an verschiedenen Körperstellen berührten, desto genauer können sie als größere Kinder und Jugendliche ihre Körpergefühle verstehen – auf Grundlage eines stimmigen Konzepts ihres Körpers. Aber: Die Berührungen der Mütter dürfen auch nicht zu lange dauern, denn dann schlägt der Effekt um18.
Das Gleiche gilt auch für Erwachsene. Wir berühren uns alle viel zu wenig, vor allem in Partnerschaften. Sich zu streicheln führt zur Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin, das das Vertrauen in andere Menschen stärkt und einen offener, entspannter und selbstbewusster macht19. Es senkt das innere Stresslevel und vermindert das Stresshormon Cortisol20. Emotionale Verhärtungen können durch Massagen oder Kuscheln gelöst werden, Gefühle kommen in Bewegung21. Auch gegenseitige lange Blicke in die Augen wirken bindungsfördernd und beruhigend.
Here I am: Das erste Lebensjahr
Bindung
Bindung, Bindung und nochmals Bindung ist das Lebensmotto nach der Geburt, und somit hat die oder der Kleine neben der Nahrungsaufnahme kaum etwas anderes zu tun, als Beziehungen herzustellen und mit den ihn oder sie umgebenden Menschen »Small Talk« zu halten. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat die Säuglingsforschung herausbekommen, dass Säuglinge cleverer sind, als lange bekannt war. Babys wollen viel mehr, als satt, sauber und trocken gehalten zu werden – sie sind von Geburt an beziehungsfähig und kompetent22.
Lust und Unlust
Bis in die 1980er-Jahre hinein dachte man – das war ein Erbe Freuds –, der Säugling empfinde entweder nur Lust (»Das will ich«) oder Unlust (»Das will ich nicht«). Er wolle bei sprudelnder Muttermilch an seiner lebenslang gepachteten Mutterbrust hängen, wobei er alles andere als eine Zumutung sähe, die Unlust erzeuge und tunlichst zu vermeiden sei. Tatsächlich erlebt der Säugling die Welt aber bereits kurz nach der Geburt sehr feinsinnig, verfügt über die sieben Grundemotionen Interesse, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht, für die er jeweils typische Gesichtsausdrücke im Repertoire hat23.
Allmachtsgefühle
Zusätzlich haben die kleinen Menschen alle Werkzeuge, um feinste Unterhaltungen zu führen: Laute und Gesten, die ihre Umwelt gut erreichen können – und mit denen sie ihren Eltern unmissverständlich deutlich machen, wenn sie etwas zu meckern haben. Was das Kind konkret meint, wenn es schreit – aus Müdigkeit, Hunger oder Langeweile, Schwitzen oder Angst –, obliegt teilweise der Intuition der Eltern. Diese versuchen dann instinkthaft, dem Baby in Babysprache widerzuspiegeln, was wohl gerade los sein könnte. So lernt sich – wenn die Interpretationen der Eltern die meiste Zeit passen – das Baby immer besser kennen und verinnerlicht später ein (möglichst) passendes Selbstbild von sich und seinen Bedürfnissen.
Der Säugling erlebt, auch über das erste Lebensjahr hinaus, seine Fähigkeit, die Eltern hin und her zu schicken, ihnen den Schlaf zu rauben und den Chef zu spielen, als eine große Macht. Macht, die Dinge in der Hand zu haben! Das kann man den »primären Narzissmus« oder Allmachtsgefühle nennen24. (Die stolzen Eltern unter Ihnen wissen sicher sehr genau, was ich meine.) Früher war es eine verbreitete pädagogische Überzeugung, dass genau das unterbunden werden müsse, weil uns ein Baby »ja wohl nicht auf der Nase herumtanzen darf«. In den ersten Lebensjahren ist das jedoch absolut gesundheitsförderlich (für das Baby jedenfalls).
Die innere Überzeugung, den Gang der Dinge beeinflussen zu können, ist für das Kind und den späteren Erwachsenen Gold wert. Das führt zu einem gesunden Selbstbewusstsein und vor allem zu Selbstwirksamkeit: der Überzeugung, die Umgebung verändern zu können – eine bessere Burn-out-Vorsorge kann es nicht geben.
Kleine Kinder lernen im »Spiegelbild« ihrer Eltern zudem, mit Angst und anderen zunächst einmal überflutenden Gefühlen umzugehen. Das ist nicht vorverdrahtet. Die Bedeutung innerer mentaler Zustände erlernt der Säugling erst, wenn er sie als Reaktion seiner Betreuungspersonen wahrnimmt, wenn er seine Angst oder seinen Schmerz, aber auch seine Freude in ihren Gesichtern oder anhand ihrer Reaktionen zurückgespiegelt bekommt.
Und das Kind erfährt noch viel mehr: Mama spiegelt nicht nur wider, wie es ihm oder ihr, dem Baby, geht, sondern stößt wohlklingende Laute aus, hält die oder den Kleinen fest und seine oder ihre negativen Gefühle aus. So wird aus einem Gefühlschaos mit einem unverständlichen Körpergefühl und Verhalten irgendwann ein verstehbarer emotionaler Zustand, der idealerweise später zu einem stabilen Selbstgefühl führt.
Wenn diese Phase misslingt
Scheitern die Bindungsversuche des Kindes im ersten Lebensjahr, weil Eltern zum Beispiel wegen Süchten, Stress oder eigener Krisen wenig auf das Kind eingehen, und ist diese wichtige Bindung brüchig, kann dies ein Risikofaktor für spätere Krankheiten sein. Es können sich Persönlichkeitsstörungen mit emotionaler Instabilität oder auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln, auf deren Grundlage viele psychosomatische Symptome fußen.
Die zu überwindenden Ängste des Säuglings sind die Angst vor Vernichtung durch die Umwelt und die Angst vor der Selbstauflösung. Hat das Baby nicht ausreichend Urvertrauen erfahren dürfen, bleibt ein Misstrauen der ganzen Welt gegenüber bestehen. Genauso wie der Drang, auch einmal selbst die Situation zu lenken, selber als mächtig und wertvoll anerkannt zu werden. Später kann eine Psychotherapie helfen, besser mit diesen psychischen Ausprägungen leben zu lernen. Durch eine längere, korrigierende Bindungserfahrung kann die Welt umgedeutet und als ein sicherer und tröstlicher Ort erlebt werden.
Krabbeln und Anlecken: Das erste bis zweite Lebensjahr
Trennung
Noch während des ersten Lebensjahres beginnt der Säugling zu realisieren, dass er ein eigenständiges Wesen ist, das mit der Mutter und ihrer Brust zwar in einer engen Beziehung steht, aber sich auch abwenden kann. Wenn er krabbeln lernt, wird die Getrenntheit realisierbar; er zieht zwar noch nicht in die eigene Wohnung und surft im Netz, aber er kann sich selbstständig einige Meter entfernen, und feiert das auch – er kann sich (wenn die Bindung stimmt) schließlich sicher sein, dass er zurückgeholt wird.
Einverleiben
In dieser Phase beginnt noch etwas Neues: Der Kleine sabbert alles an und versucht, sich Interessantes einzuverleiben. Freud hat diese Phase, die etwa bis zum Ende des zweiten Lebensjahres dauert, die »orale Phase« genannt. In dieser Theorie steht der Mund nicht nur für »Essen wollen«, sondern dafür, etwas haben und sich einverleiben zu wollen. Der Mund als erogene Zone wird ja auch bei uns Erwachsenen gern zum Küssen und zu anderen erotischen Spielchen eingesetzt.
Durch die zeitliche Nähe zum Erleben von Allmacht, dem primären Narzissmus, hat der Mund zudem mit Wünschen nach Fürsorge und (auch emotionaler) Fütterung zu tun. Über den Mund fließt die Muttermilch und wird später der erste Brei angenommen – oder auch nicht. Somit hat sich der Mund als früher Regulator von Beziehungen in unserer Psyche verankert.
Wenn diese Phase misslingt
Misslingt diese Phase, kann das später eine Mitursache einer Magersucht (Anorexie) werden, bei der Nahrung verweigert wird, oder für eine Ess- und Brechsucht (Bulimie), bei der immer wieder abwechselnd eine Vereinigung mit und ein Loslassen von der Nahrung besteht. Ganz häufig sehen wir in der Psychosomatischen Medizin auch Patienten mit einer Fettleibigkeit (Adipositas), bei der durch die orale Zufuhr von Nahrungsmitteln, oft in Form von Essanfällen, ein Mangel an Selbstberuhigungsfähigkeit und Selbstwertgefühl ausgeglichen wird.
Ein Misslingen dieser Phase kann zudem eine scheinbar anspruchslose Haltung der Betroffenen fördern, hinter der sich aber schmerzhafte Entbehrungen und unerfüllte Bedürfnisse verbergen, was häufig bei depressiven Erkrankungen festzustellen ist.
Ich gehör nur mir: Das zweite bis vierte Lebensjahr
Kontrolle
In dieser Zeit geht es um die Loslösung aus der Abhängigkeit von der Mutter oder auch von beiden Eltern. Die Kinder entwickeln ein Ich, das einigermaßen stabil ist, und erleben sich klarer abgegrenzt von den anderen. Diese Phase der psychischen Entwicklung wurde früher durch die neue Kontrolle über die Darmfunktionen charakterisiert und demzufolge als »anale Phase« betitelt. Der Hintergrund ist, dass die Kinder die Windeln los- und damit ein Stück selbstständiger werden. Es kann einen richtigen Genuss bedeuten, Kontrolle über den eigenen Körper zu gewinnen, den Schließmuskel zu beherrschen und zu entscheiden, wann man loslässt und ein großes Geschäft macht.
Die Kinder geraten nun in ein Spannungsfeld aus Kompetenzen und Selbstständigkeit einerseits und der Notwendigkeit andererseits, sich den Vorstellungen der Erwachsenen beugen zu müssen. Daraus resultiert oft ein ganz schönes Theater, was wir »Trotzphase« nennen. Das wird diesem wichtigen innerseelischen Entwicklungsschritt aber eigentlich nicht gerecht. Das Wort Trotz höre ich von Eltern eher negativ konnotiert, als etwas Unerwünschtes. Bei Kindern gehört diese stürmische Phase starker Rebellion jedoch zu einer gesunden Entwicklung, und sie sollten unbedingt positive Erfahrungen damit machen – wir Erwachsene müssen diese Zeit einfach durchhalten.
Autonomie
Für die psychische Entwicklung – das bestätigen auch Kinderärzte25 – ist die Machterprobung ein wichtiger Punkt, damit Kinder autonom werden können. Das Kind erprobt, zornig und wütend zu sein, nicht zu kooperieren, und verlangt die Erfahrung zu machen, dadurch dennoch die Liebe der Mutter nicht zu verlieren. In der oralen Phase geht es noch um das Versorgt- und Behütetwerden – hier steht das Hinausgehen in die Welt nach eigenen Kräften und Impulsen im Mittelpunkt, ohne dafür von den Eltern abgewiesen zu werden.
Wenn diese Phase misslingt
Wenn Eltern ein wütendes Kind nicht aushalten, spürt das Kind dies. Die Entwicklung wird erschwert, und die Gefahr besteht, dass das Kind keine Sicherheit erlernt, seinem Willen nachzugehen. Im späteren Leben stehen diesen Menschen oft Hadern und Zaudern im Weg, um Entscheidungen zu treffen. Auseinandersetzungen werden häufig mehr hintenherum ausgetragen, da keine Sicherheit in etwas direktere Auseinandersetzungen besteht. Der psychische Hintergrund ist eine Verlustangst der Person gegenüber, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt.
Manche Betroffenen gehen auch in die Rolle, statt – wie früher – über ihre eigenen Bedürfnisse hinwegzugehen, sich gegenteilig zu geben, also machtvoll statt unterwürfig.
An Symptomen können zum Beispiel Zwänge, Grübeleien und hypochondrische Störungen (Angst vor Krankheiten) entstehen. Wie auch bei ungelösten Konflikten der anderen Entwicklungsphasen können damit nervöse Körperbeschwerden einhergehen.
Vorbild dringend gesucht:
Das vierte bis siebte Lebensjahr
Kein anderer psychoanalytischer Begriff hat sich einen so humorvollen Platz in den Köpfen der Menschen erobert wie der »Ödipuskomplex«. (Die nicht ganz Jungen unter Ihnen werden den Film »Ödipussi« von Loriot kennen, über das Leben in glücklicher Abhängigkeit von der Mutter.) Die Begriffe »Verdrängung«, »Freud’scher Versprecher« und »neurotisch« aus der Psychoanalyse sind zwar weithin bekannt, aber nicht ganz so prägnant und auch mit weniger unterhaltsamem Hintergrund.
Rivalität
Was hat es mit dieser Entwicklungsphase des vierten bis siebten Lebensjahres also auf sich?
Viele aufregende Entdeckungen des Kindes sollen beim Konzept der ödipalen Phase nach Freud eine Rolle spielen, die den jungen Menschen in der Familie und sozialen Gruppe in seiner geschlechtlichen Identität schließlich prägen. Das Kind entdeckt, dass die Personen um es herum, oft die Eltern, eine Beziehung zueinander haben, von der es ausgeschlossen ist. Laut Freud rivalisiert das Kind nun mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um den Partner, bis es merkt, dass das zu nichts führt, dass der Vater oder die Mutter einfach nicht auszustechen ist. Dann identifiziert es sich stattdessen mit dem gleichgeschlechtlichen Part, nimmt sich sie oder ihn zum Vorbild und ist bereit für neue Beziehungen außerhalb der Familie.
Exkurs:
Freuds Ödipuskomplex – revisited 2020
Bei Mädchen heißt die Rivalität mit der Mutter um den Vater (und deren Überwindung) »Elektrakomplex«.
In der homosexuellen Entwicklung wird, so Freud, der Ödipuskomplex in einer Identifizierung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil gelöst, welches manchmal irritiert reagiere, weil es die libidinösen Vibes nicht einschätzen kann. Diese sogenannte »psychosexuelle Inversion«, die die Homosexualität als biografisch mitbedingt beschreibt, gilt in der psychosomatischen Fachwelt als umstritten26. Die sexuelle Orientierung ist wahrscheinlich zu Teilen angeboren27.
Hat die Theorie des Ödipuskomplexes heute noch eine Relevanz? Das Konzept wirkt angestaubt, weil es zunächst einmal davon ausgeht, dass Mutter und Vater präsent und beide nah am Kind sind, was ja in vielen Familien gar nicht so der Fall ist. In dieser Starrheit kann man also nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass eine ödipale Situation entsteht. Was sich aber zeigt, ist, dass in dieser Phase der Identitätsfindung gefühlsmäßig sehr viel los ist bei Kindern und dass es sehr wichtig erscheint, aus der »ödipalen Liebe« zur Mutter oder zum Vater wegzukommen und neue Modelle zu finden: Menschen außerhalb der Familie, mit denen man sich identifizieren kann und die dazu verhelfen, die enge Dyade (Zweierbeziehung) zu öffnen, sodass daraus eher ein Dreieck wird. Ob das über Vater, Mutter, Erzieher, Nachbarn etc. funktioniert, scheint dabei weniger entscheidend zu sein.
Dreiecksgeschichten
Tatsächlich sind die Vorgänge jedoch komplexer, die einseitige Theorie der Rivalität mit dem Elternteil, die nach der griechischen Sage »Ödipus« benannt wurde, ist doch eine starke Vereinfachung und Überzeichnung.
Was sich in dieser Phase zweifellos entwickelt, ist das Verständnis für Beziehungen, die über eine Zweierkiste hinausgehen. Dieser Entwicklungsschritt nennt sich »Triangulierung«. Viele Menschen wissen noch als Erwachsene, wie schwer es ist, in einer Dreierkonstellation etwas zu unternehmen. Nicht selten führt das zu Konflikten und negativen Emotionen, weil einer sich oft ausgeschlossen fühlt. Und diese Erfahrung muss ein fünf oder sechs Jahre altes Kind in dieser Phase oft durchlaufen und auszuhalten lernen. Es fühlt sich wütend, enttäuscht und isoliert. Das ist die Entwicklungsherausforderung, um die es geht. Können die Eltern ihre Zweierbeziehung aufrechterhalten und den emotionalen »Sturm« des Kindes aushalten, kann das Kind seine Identität entwickeln und das nächste Level erreichen.
Wenn diese Phase misslingt
Gibt es in dieser Phase kein Happy End, sondern unlösbare Verstrickungen, kann es passieren, dass das Mädchen oder der Junge die eigene geschlechtliche Identität als schuldhaft erlebt, sich unerwünscht fühlt und Angst davor entwickelt, um das andere (oder auch das gleiche) Geschlecht zu buhlen.
Es können sich daraus später verschiedene psychosomatische Symptome und Beziehungsstörungen entwickeln, die nicht selten einen gewissen Symbolgehalt haben, der auf ein Problem mit der eigenen Identität hinweist.
Dazu gehören sexuelle Unlust und ein Anlehnungsbedürfnis an den Partner, ohne dass »sexuelle Aggressivität« den sicheren Hafen stören darf.
Es kann sich aber auch eine Übersexualisierung entwickeln, bei der Betroffene ständig mit anderen um sexuelle Abenteuer rivalisieren oder sich damit brüsten müssen, um ihr Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Der ganze Rest – und warum das alles wichtig ist!
Wackelzähne
Wenn es dem Kind gelingen konnte, sich mit der gleich- oder auch der gegengeschlechtlichen Eltern- oder Betreuungsperson zu identifizieren, kehrt Ruhe in das stürmische emotionale Leben der ersten sechs bis sieben Jahre ein.
Die nun folgende Latenzphase dauert bis zum Beginn der Pubertät und wurde von einer Fachautorin kürzlich »Das goldene Zeitalter der Kindheit«28 genannt, was wirklich treffend ist. Das Kind unterliegt nicht mehr so starken emotionalen Spannungen und sucht nach seinem Platz in der Welt. Im Gegensatz zu den teils zerstörerischen Trieben aus der früheren Kindheit ist es nun meist konstruktiv, malt, bastelt und erschafft etwas. Es bewegt sich gerne und viel, hüpft vor Lebensfreude und wackelt aufgeregt an den Schneidezähnen, die bald herausfallen werden. Stolz beobachtet es die eigene Muskelkraft.
Teenager
Die Pubertät ist den meisten von uns noch am nächsten, da wir uns daran bewusst erinnern können und die besten oder dramatischsten Szenen oft erinnert werden, eben weil sie so eine große Bedeutung für uns hatten.
Der Körper kommt mit der Pubertät in die Geschlechtsreife, die intellektuellen Fähigkeiten sind deutlich weiter entwickelt als die emotionale Welt. Diese ist nicht selten brüchig und spannungsgeladen, sodass innere und körperliche Unruhe bis hin zu psychosomatischen Symptomen auftreten können.
Groß werden
Es folgt das junge Erwachsenenalter, bei dem die Herausforderung ist, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen und sich in soziale Gruppen zu integrieren, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen sowie sich immer weiter von den eigenen Eltern zu lösen.
Die Adoleszenz (Zeit des Heranwachsens) ist eine Zeit heftigen Wandels, in der es zu vielen neuen gedanklichen und emotionalen Fähigkeiten und einem nochmaligen Wachstumsschub des Gehirns kommt29. Durch die Erfahrung von Partnerschaften und Sexualität entsteht ein neues Körperbild. Es ist auch eine Phase, in der die Körperideale der Gesellschaft von den jungen Menschen stark wahrgenommen werden, was Krankheiten begünstigen kann, die mit dem Körperbild zu tun haben, wie die Magersucht oder die körperdysmorphe Störung (die Überzeugung, dass am eigenen Körpers etwas missgebildet und sehr unpassend sei, was andere gar nicht nachvollziehen können).
Wachstum
Wurde Ihnen deutlich, dass einfach in jeder Lebensphase das Prinzip Wachstum und Entwicklung steckt? Deshalb sind die Psyche und der Körper dafür gemacht, sich immer neu mit der Umgebung auseinanderzusetzen und zu entwickeln. Wir haben allerdings in unserer kindlichen Entwicklung, die tief in der Psyche und somit auch im Gehirn im limbischen System und anderen Bereichen verankert ist, Stärken und Schwächen erworben.
Es kann passieren, dass wir manchmal in kindlichen inneren Mustern des Erlebens, Denkens oder Handelns festhängen, die später, als Erwachsene, gar nicht mehr passen und uns Probleme bereiten. Sie haben vielleicht schon erkannt, dass alle Entwicklungsherausforderungen in Bindung oder in Abgrenzung zu anderen stattfinden. Beziehung zu den Menschen um uns herum hat eine starke Wirkung auf Körper und Seele. Das bleibt übrigens lebenslang so, auch wenn der Drang nach Bindung nicht mehr so ursprünglich spürbar ist wie bei Kindern.
Exkurs:
Die eine Formel zum Glück
In was würden Sie investieren, um ein zufriedenes und gesundes Leben zu führen? In Ruhm, eine Karriere oder finanziellen Reichtum? 80 Prozent der Menschen sehen diese drei Punkte als besonders relevant an und verfolgen diese Ziele.
Seit über 80 Jahren wird in Boston an der Harvard University im Rahmen der Grant Study und der Glueck Study30 zu der Frage geforscht, was im Leben wirklich zufrieden macht und auch realistisch erreichbar ist. (Die meisten werden ja nicht berühmt oder reich.) Viele Hunderte Menschen aus Boston wurden seit 1939 Jahr für Jahr zu Hause über ihr Leben befragt und medizinisch untersucht, inzwischen auch bereits die folgende Generation. Aus den intensiv erhobenen und sehr persönlichen und intimen Aussagen der über 700 Amerikaner konnte die »Glücksformel« kondensiert werden: Gute Beziehungen machen uns glücklicher und gesünder. Die drei wichtigsten Erkenntnisse über gute Beziehungen aus den Untersuchungen sind:
Gute Beziehungen machen gesünder und verlängern das Leben, während Einsamkeit wie ein Gift auf den Körper wirkt (das Leben ist dann kürzer, sogar die Gehirnfunktion lässt früher nach).
Es kommt nicht auf die Anzahl der Freunde an, Facebook lockt uns auf die falsche Fährte. Die Qualität macht den Unterschied. Eine schlechte, sehr konfliktreiche Ehe kann viel schlimmer sein und zu mehr Einsamkeit führen als ein Leben als Single. Wer mit 50 die befriedigendsten Beziehungen führte, war mit 80 unter den zufriedensten Senioren (das war viel aussagekräftiger als der Cholesterinspiegel).
Gute Beziehungen schützen das Gehirn. Wenn Sie sich auf andere Menschen verlassen können, haben Sie auch im höheren Alter noch ein gutes Gedächtnis. Konflikte und Auseinandersetzungen sind dabei nicht problematisch, solange man im Kern auf den anderen zählen kann. Das ist die Bestätigung einer uralten Weisheit. Aber wir sind Menschen und lieben schnelle Lösungen. Das macht es manchmal so schwer, an unseren Beziehungen zu arbeiten, neue Dinge mit anderen auszuprobieren und auf andere zuzugehen. Wir sollten es aber unbedingt tun.
Im ersten Schritt kann es helfen, sich einmal anders zu betrachten. Jede Entwicklungsphase hinterlässt ihre neuronalen und psychischen Spuren, und wir sind immer auch das kleine Kind, das Bindung und gelingende Beziehung sucht, das gehört und verstanden werden will. Wir sind gleichzeitig das »orale« Kind, das sich Dinge einverleiben will, haben will, besitzen möchte. Wir sind daneben auch das trotzige Kind, das rebelliert und nicht auf Toilette gehen mag, wenn die Eltern es wollen. Und wir sind ebenso das aggressive Kind, das in Dreiecksbeziehungen mit anderen konkurriert, der Bessere sein will und ganz dringend ein Vorbild, eine Identifikationsfigur sucht.
Wenn wir beginnen, uns einzugestehen, dass wir in der Tiefe viel mehr sind, als an der Oberfläche erkennbar ist, haben wir einen wichtigen Schritt zu einem anderen Umgang mit uns getan. Einen Umgang mit uns, der großzügig ist, so wie man sich gute, entspannte Eltern in all diesen Entwicklungsphasen vorstellt, und einen Umgang mit uns, der all die Widersprüche stehen lassen kann und keine antreibenden, unrealistischen Forderungen und Erwartungen an uns formuliert. Wir sind es gewohnt, uns als den Verstandesmenschen zu sehen, der immer abgeklärt und logisch ist. Aber die inneren Spuren des hüpfenden Kindes, das Lust an Bewegung und Entwicklung hat und bei Rückschlägen einfach plärrt und Trost sucht, werden allzu gerne von uns Erwachsenen verleugnet. Wie wir mit den Bedürfnissen unserer kindlichen Anteile einen relaxten Umgang finden können, besprechen wir im dritten Teil »DIY – Ihre psychosomatische Gesundheit fördern« ab hier.
»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«
Christa Wolf31
Es gibt in der Medizin, aber auch in der Gesellschaft zunehmend die Tendenz, der Vergangenheit weniger Bedeutung beizumessen. Es sei gar nicht so wichtig, woher jemand kommt, welche frühen Gefühle ihn geprägt haben, wie er seine inneren Bilder entwickelt hat. Als sei all das eine Illusion, was nicht jetzt gerade passiert.
Dabei lernen wir aus der Neurobiologie, wie sehr die Vergangenheit in uns abgespeichert ist. Wie kann sich das Persönliche eines Menschen zeigen, wenn man an dieser Stelle wegschaut? Warum stellen wir uns fremd, wie Christa Wolf es treffend formuliert?
Im nächsten Kapitel werden wir uns mit Gefühlen beschäftigen. Gefühle sind nämlich der Stoff, aus dem psychosomatische Erkrankungen gewebt sind. Sie werden sehen, dass die in uns wirkenden Gefühle ebenfalls zu großen Teilen ein Produkt der Vergangenheit sind, wie auch unser Umgang mit ihnen. Die Vergangenheit lässt uns nicht los.
Warum Gefühle so kompliziert sind
Ich hatte in einer ersten Version dieses Kapitels die Gehirnphysiologie der Gefühlsregungen am Beispiel eines ängstigenden Ereignisses beschrieben – und wieder gelöscht. Die Erklärungen erschienen mir nicht ausreichend, um in das große Thema Gefühle einzuführen. Ich selber spürte dabei eine Art Versagensangst.
Vielleicht kennen Sie die wirklich abgegriffene Geschichte des Säbelzahntigers, der übrigens seit 28.000 Jahren gar nicht mehr in Europa lebt? Es geht darum, an diesem Beispiel deutlich zu machen, dass Gefühle angeboren sind und eine willkommene Funktion haben. Am Beispiel der Angst kann man durchdeklinieren, dass es historisch gesehen überlebenswichtig war und bis heute ist, dass man ein Gefühl bekommt, wenn ein Säbelzahntiger vor einem steht. Daraus folgt der direkte Impuls zu flüchten. Durch physiologische Anpassungen des Körpers (wie Herzklopfen zum vermehrten Sauerstofftransport und schnellere Atmung) wird die notwendige Energie zur Verfügung gestellt, um weglaufen oder aber gegen das Untier kämpfen zu können. Am Ende dieser Geschichte kommen wir zu der Erkenntnis, dass es uns jedoch nicht viel bringt, wenn wir im Büro Angstattacken bekommen oder im Urlaub an der Nordsee, im Strandkorb, weil es ja keine Säbelzahntiger mehr gibt. Statt mit Säbelzahntigern haben wir es mit zickigen Kollegen oder unfreundlichen Strandkorbvermietern zu tun, vor denen wir aber im Regelfall nicht einfach weglaufen oder gegen die wir auch nur selten mit vollem Körpereinsatz kämpfen können.
Wozu ist dann diese Angst noch gut?
Als ich das Kapitel fertig verfasst hatte, wurde ich mir immer unsicherer, ob das die Schwierigkeiten, die meine Patienten immer wieder mit ihren Gefühlen haben, überhaupt erfasste. Ich hatte eine scheinbar handfeste und altbewährte Story benutzt, um Ihnen zu erklären, wie Angst entsteht und wie die Reize von den Sinnesorganen über den Thalamus in die Amygdala, das Zentrum für negative Emotionen, wandern, um nach Abgleich mit den Vorerfahrungen im Hippocampus dann in der Hirnrinde bewusst wahrgenommen zu werden, während über Hypothalamus und das vegetative Nervensystem längst eine Körperreaktion ausgelöst wurde sowie die entsprechende Mimik, beispielsweise weit aufgerissene Augen, eine Abwehrhaltung oder eine Fluchtposition.
Doch dann wurde mir klar, dass ich Sie mit diesen Erklärungen auch ein wenig abgespeist und versucht hätte, nichts groß falsch zu machen, aber zugleich eine Chance verpasst hätte zu schreiben, worum es bei den Gefühlen eigentlich geht. Ich spürte erst nach einigen Tagen der Beschäftigung damit, dass ein Kapitel über Gefühle und ihren Weg durch den Körper nicht leicht zu schreiben ist. Und so schlich sich bei mir selbst folgendes Gefühl ein: Versagensangst.
Meine Angst war entstanden, weil das neurowissenschaftliche Wissen rund um die Emotionalität in den letzten zehn bis 15 Jahren wirklich riesig geworden ist und ich von Ihnen nicht für rückständig gehalten werden wollte, falls ich nicht fähig wäre, das alles in großem Umfang in dieses Buch einzubinden. Außerdem machte ich mir klar, dass das individuelle Erleben von Gefühlen etwas elementar Bestimmendes für unser Leben ist.
Schließlich hat mich die Angst vor dem Versagen dazu gebracht, das Kapitel neu zu schreiben, um es danach zum zweiten und zum dritten Mal erneut zu verfassen. Dann traf ich die Entscheidung, in der Ausrichtung dieses Kapitels auf mein Herz zu hören und Ihnen aus dem riesigen Thema »Gefühle« einfach das zu beschreiben, was mir besonders wichtig zu wissen erscheint. Und zwar ohne Garantie auf Vollständigkeit.
Und soll ich Ihnen etwas sagen? Meine Angst war weg, und während ich diese Zeilen schreibe, fühle ich mich Ihnen auf gewisse Weise verbunden und denke nicht mehr, dass Sie mich verurteilen werden.
Gefühle kommen viel zu schlecht weg
Sinn und Zweck
Damit komme ich zur ersten Theorie über Gefühle, mit der wir uns wirklich befassen sollten (statt nur mit dem Säbelzahntiger): Gefühle sind hilfreich. Sie zeigen uns ganz wichtige Dinge, die uns unsere Gedanken manchmal so direkt nicht verraten.
Die Scham zum Beispiel verhindert, dass wir peinliche Dinge tun oder ins Netz posten, auch wenn wir gerade Lust dazu hätten. Oder die Traurigkeit, die uns nach einem Verlust zwingt, uns zurückzuziehen und uns Zeit zu nehmen, um den Verlust zu verarbeiten. Auch Ekel ist hilfreich: Er lässt uns reflexartig alles wieder ausspucken, wenn wir vom Apfel abgebissen haben und eine Obstmade uns freundlich entgegengrinst.
Oft kommen Gefühle viel zu schlecht weg, besonders die negativen. Dabei haben sie die hilfreiche Funktion, uns auf etwas hinzuweisen, bei dem es Handlungsbedarf gibt: Wir sollen etwas verändern, verbessern oder eine Situation genauer bewerten. Die ersten Versionen dieses Kapitels über Angst waren deshalb nicht schlüssig, weil es zwar keinen Säbelzahntiger mehr gibt, wir aber heute wissen, wie gefährlich zum Beispiel soziale Ausgrenzung oder Beschämung für unsere Gesundheit sind. Zwar flüchten wir (zumindest in vielen Alltagssituationen) nicht mehr reflexartig, aber wir können die verschiedenen Gefühle weiterhin zum Anlass nehmen, die Situation zu eruieren und Handlungs- oder Veränderungsmöglichkeiten abzuchecken. Also hatte auch meine Versagensangst einen guten Grund, da sie mir signalisierte: Mit dem Kapitel bist du nicht im Reinen. Zudem hat das Gefühl der Versagensangst, das ich Ihnen ja nun freimütig mitgeteilt habe, auch eine kommunikative Funktion: Sie haben dadurch erfahren, wie es mir beim Schreiben ging, und das macht mich für Sie ganz anders erfahrbar.
Ich bin nicht sicher, ob das über ein gedrucktes Buch wirklich funktioniert, aber in der gestischen, mimischen und sprachlichen Kommunikation verbessert es in der Regel die Beziehungen deutlich, offen und ehrlich zu sein, weil wir uns dann in das Gegenüber hineinversetzen können. Und das gibt uns Sicherheit, unsere Mitmenschen und unsere Umgebung zu verstehen.
Anpassung
Gefühle haben also eine Schlüsselfunktion bei dem, was der Mensch ständig und automatisch tut: Anpassungsprozesse an veränderte Umgebungsbedingungen vorzunehmen.
Dabei sind die Gefühle weniger eine individuelle Sache, sondern Teil eines Systems von unsichtbaren Bindungen zwischen Menschen, bei denen sich zwei Zustände immer gegenüberstehen, zum Beispiel »Ich bin wütend, und der andere soll das sehen« oder »Der andere ist wütend, und mir macht das Angst«. Somit sind Gefühle das Kommunikationsmedium überhaupt – oder waren es jedenfalls, bis es Handys gab. Übrigens ist die verbreitete Kommunikation über Nachrichten wie SMS, WhatsApp etc. eine Herausforderung, weil wir dabei viel weniger die Gefühle des Gegenübers spüren und vielmehr kopflastig interpretieren müssen, wie eine Botschaft emotional unterlegt sein könnte. Ich habe schon eine Menge Menschen kennengelernt, deren Zufriedenheit in Beziehungen sich damit stark vermindert hat, die aber diese Illusion des ständigen Kontaktes nicht aufgeben wollen.
Ich habe Ihnen mitgeteilt, dass meine Ängste verschwunden waren, als ich den Mut gefasst hatte, dieses Kapitel ganz nach meinem Gusto zu schreiben und die Neurowissenschaften Neurowissenschaften sein zu lassen. So sind Gefühle angelegt: Das bewusste Erleben und Zulassen eines Gefühls bringen es zum Abklingen (!). Gefühle wollen auch nur ihren Dienst erledigen. Wenn sie ihren Zweck erfüllt haben, ziehen sie ganz unauffällig wieder von dannen – im Idealfall.
Der Umgang mit Gefühlen ist entscheidend
Die zweite Wahrheit über Gefühle ist, dass wir zwar die Basisemotionen Freude, Neugier, Angst, Ärger oder Wut, Traurigkeit, Ekel, Scham und Schuld von Geburt an in uns tragen32; aber unser ureigener Umgang damit ist das Entscheidende für unser Leben. Es gibt nämlich keine Gefühle, die wir jeder universell und »von allein« erhalten und die einfach »funktionieren«.
Babysprache
Vielmehr sind unser ganzes Wahrnehmen der verschiedenen Zustände und unser Umgang damit im Laufe des Lebens veränderbar. Gerade am Anfang des Lebens, die ersten zwei bis drei Jahre, erfährt das Kind durch die frühen Bindungspersonen eine bestimmte Umgangsweise mit Gefühlen und verinnerlicht diese erst einmal sehr stark. Das hat damit zu tun, dass das Gehirn im Wachstum besonders empfänglich für die ersten Erfahrungen ist. Hier ist entscheidend, wie die frühen Bezugspersonen mit dem noch – sagen wir – impulsiven und wilden Gefühlsleben des Säuglings umgehen.
Kennen Sie diese Babysprache, wenn Mamas plötzlich mit »Da-da« und »Jaaaaaa, mein kleiner Pups« abdriften? Unnötig, völlig unnötig möchte man vermuten, aber dieser hormonell bedingte Zustand hat einen guten Grund: In der Sprache der Mutter findet das Baby seinen eigenen emotionalen Zustand wieder. Da er keine Sprache versteht, nutzt die Mutter andere Wege, dem kleinen Zwerg eine Interpretation seines Gefühlszustandes zu spiegeln und auch: um ihn zu beruhigen und ihm zu vermitteln, dass er in Sicherheit ist.
Modernen Eltern sind dazu manchmal alle Mittel recht, auch in der U-Bahn oder beim Einwohnermeldeamt. Sie zeigen dadurch Interesse am Kind, bewegen sich deutlich auf es zu und geben zu jeder Tages- und Nachtzeit sehr viel körperliche Nähe, was beruhigend auf negative Gefühlsqualitäten wirkt und dazu führt, dass das Kind die Fähigkeit der Selbstberuhigung lernt, verinnerlicht und später selbst anwenden kann. Zu dieser Zeit wird im Umgang mit den Gefühlen ein allgemeines Urvertrauen oder aber eine Neigung zu Misstrauen verinnerlicht, was den Menschen später begleitet.
Bindungsorientierung
Das zeigt sich übrigens auch nachweislich im Gehirn: Wenn wir als Baby regelmäßig beruhigt worden sind, haben wir einen starken Hippocampus, eine Gehirnstruktur, die unter anderem für die Selbstberuhigung zuständig ist, sodass wir keine besondere Neigung zu überschießenden Gefühlsreaktionen zeigen. Haben wir in unseren frühen Beziehungen aufgrund von Gewalt oder Vernachlässigung viel Stress und somit große Mengen des körpereigenen Hormons Cortisol im Blut, schrumpft der Hippocampus und wird schwächer darin, zur emotionalen Beruhigung beizutragen33. Die Folge kann sein, dass wir später mit negativen, verwirrenden Gefühlen überflutet werden – diese jedoch oft gar nicht einordnen können, wie es zum Beispiel bei der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, dem Borderlinesyndrom, der Fall ist. Aber auch die körperliche Gesundheit kann von unsicherer Bindung und ungünstigen Lernerfahrungen betroffen sein: Autoimmunerkrankungen wie Diabetes Typ 1 können durch Einflüsse auf das Immunsystem vermehrt auftreten; die allgemeine Stressresistenz wird vermindert.
Es spricht aus Sicht der Neurowissenschaften also alles dafür, schreiende Babys sofort zu beruhigen und nicht »begleitet schreien« zu lassen, weil die Fähigkeit zur Selbstberuhigung noch gar nicht ausgebildet ist, sondern beim Säugling irgendwann Resignation einsetzen würde. Und Resignation ist etwas ganz anderes als Beruhigung.
Unterdrückung
In der Entwicklung vom Kleinkind bis zum Erwachsenen ereignet sich noch etwas für das Gefühlsleben Wichtiges. Wir lernen von unserer Umwelt Regeln kennen wie »Deswegen musst du doch keine Angst haben!« oder »Das ist kein Grund, traurig zu sein«. Aber auch Ansagen wie »Heulsuse!« oder »Ein Indianer spürt keinen Schmerz«. Das heißt, wir lernen in unserer Familie und weiteren sozialen Gruppen wie der Schule, welche Gefühle offenbar okay sind und welche man zu unterdrücken hat, weil sie angeblich nicht angemessen sind.
Diese Anpassung kann dazu führen, dass wir uns innerlich wegen mancher Gefühlsregungen falsch fühlen und lernen, diese zu übergehen oder zu ignorieren, was ein Grundstein für spätere psychosomatische Erkrankungen sein kann. Ein möglicher Erkrankungsauslöser ist dann eine Lebenssituation, in der das »verbotene« Gefühl sehr stark andrängt, wir aber unbewusst eine Konfrontation damit unbedingt verhindern wollen. Das kann uns gelingen, wenn wir den körperlichen Ausdruck des Gefühls als Symptom einordnen, den psychischen Teil verdrängen und von uns weisen. Dann haben wir die Auseinandersetzung mit dem verpönten Gefühl vermieden und suchen einen Arzt, der sich um unser umschriebenes Körpersymptom kümmert. Dieses Phänomen, das einen großen Teil der nicht näher einzuordnenden Beschwerdebilder in der Arztpraxis ausmacht, nennt sich »funktionelle Störung«, »nichtspezifische Körperbeschwerden« oder »somatoforme Beschwerden«: Der Arzt findet nichts.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 03: Gefühlsirrtümer
durchschauen
Vermischung von gestern und heute
Bevor ich Ihnen den dritten wichtigen Fakt über Gefühle verrate, der sich im Laufe meiner Odyssee um das ausreichend gute Gefühls-Kapitel herausgeschält hat, möchte ich die bisherigen Erkenntnisse über Gefühle zusammenfassen:
Haben Sie bereits eine Idee, welche Schwierigkeiten im Laufe eines Lebens durch die Kombination aus Punkt 1 und Punkt 2 auftreten könnten? Ich frage einmal anders: Wenn Sie mit der Bahn irgendwohin fahren wollen, nutzen Sie dann die aktuellen Fahrpläne oder die von vor fünf, zehn oder 20 Jahren?
Gefühle sind oft nicht bewusst
Kommen wir zum dritten Punkt, den Sie über Gefühle wissen sollten, um den Umgang mit ihnen verbessern zu können: Gefühle drücken sich einerseits im Körper aus, und sie haben andererseits eine psychische Seite, die wir bewusst wahrnehmen.
Highspeed
Vom emotionalen Zentrum im Gehirn aus, dem limbischen System, gehen die Signale blitzartig an die Muskulatur von Gesicht und Extremitäten, (über die Hirnrinde) an das vegetative Nervensystem – das für Entspannung oder Stressreaktion zuständig ist – und an die Hypophyse, die dem Gefühl entsprechend frische Hormone in den gesamten Blutkreislauf schickt. Es gibt noch viele weitere neurochemische Reaktionen, die dazu beitragen, dass ein Gefühl innerhalb von Millisekunden im Körper ankommt. Vielleicht erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie schlagartig eine deutliche Körperreaktion gespürt haben, nachdem ein Reiz bei Ihnen angekommen oder auch nur ein bestimmter Gedanke aufgetaucht ist.
Beim Gefühl Angst beispielsweise wird sich die Muskulatur sofort verhärten, die Augen öffnen sich weit und das Herz klopft schnell, während der Schweiß sich vermehrt, um auf der Flucht eine gute Abkühlung über die Haut zu ermöglichen. Sauerstoff und Energie werden in rauen Mengen bereitgestellt.
Schneckentempo
In einem deutlich langsameren Prozess kommen das Gefühl Angst und sein Auslöser im Bewusstsein an. Wir erkennen dann, welche Person, welches Tier oder welcher Gedanke die Angstreaktion ausgelöst hat. Das bewusste Empfinden des Gefühls hat einen ganz wichtigen Vorteil: Sie können künftig ähnliche Situationen vermeiden und sich auf ähnliche Vorkommnisse einstellen. Deshalb ist es so wichtig, die Gefühle auch bewusst wahrzunehmen und zu entschlüsseln und nicht nur die Körperreaktion zu registrieren. Das wird später entscheidend sein, wenn wir darüber sprechen, wie Sie psychosomatische Symptome abbauen können.
Gefühlsabwehr
Der entscheidende Punkt ist: Wir leben Säbelzahntiger-frei und nicht mehr in freier Wildbahn, sondern haben uns eine Kultur aufgebaut. Diese Kultur regelt das Zusammenleben der Menschen untereinander über Gesetze, Verträge und ähnliche Formalien. Um diese Gesetze einhalten zu können – die ja zum Teil Gefühlen wie Hass und Rache zuwiderlaufen –, haben wir ein mehr oder weniger ausgeprägtes Abwehrsystem der Seele etabliert, ähnlich dem Immunsystem des Körpers. Unschöne und störende Gefühle werden damit verdrängt, verleugnet oder auch auf etwas anderes verschoben, wie im folgenden Beispiel.
In der Seele geschieht dies, damit wir nicht so stark unter Spannungen stehen: Wenn ich bei der Arbeit mies behandelt werde, aber das Gehalt zum Überleben brauche, kann es angenehmer sein, den ganzen Ärger abzuwehren und in den Bereich des Unbewussten zu verlagern – denn ich kann ja nicht entsprechend meinem Gefühl handeln. Emotion heißt »Herausfließen«. Das hieße, mein Ärger oder meine Angst könnten im Fluss sein und sich auf mein Umfeld auswirken. Da das in dem engen Rahmen, in dem wir heute leben, oft schlicht nicht möglich ist, schafft die Seele sich Entlastung: Der Kompromiss heißt Gefühlsabwehr.
Der erste Haken dabei: Die Abwehr passiert meist aufgrund von Reflexen, die in der Psychoanalyse Angst-, Schuld- oder Schamreflex genannt werden. Bin ich also sauer auf meinen Chef und würde ihm am liebsten die Meinung geigen, kann es sein, dass völlig unbemerkt mein Schuldreflex anspringt (»Wenn du das machst, wirst du gekündigt und bist schuld, dass deine Familie dann ihre Wohnung verliert«). Die Wut auf meinen Chef wird ins Reich des Unbewussten verlagert. Und so kann es sein, dass ein fahles Schuldgefühl übrig bleibt, vom eigentlichen Wutimpuls aber nichts. Solche Gefühlsketten sind demnach kein Schmuckstück zum Umhängen, sie können einen dennoch eine lange Lebensphase begleiten.
Der zweite Haken der Gefühlsabwehr: Die Körperreaktion bleibt. Alles hat seinen Preis, und die Abwehr von unliebsamen Gefühlen, die dankenswerterweise vollautomatisch passiert, hat den Preis, dass das Gefühl trotzdem eine Körperreaktion auslöst. Diese Körperreaktion, wie Schwitzen oder Zittern, kann jedoch häufig gar nicht mehr zugeordnet werden und macht sich als störendes Symptom bemerkbar, um das sich der Betroffene dann nicht selten Sorgen macht. Wenn diese Sorgen beginnen, rückt die eigentliche Gefühlsqualität immer mehr in den Hintergrund und der innere Kompass, den die Gefühle eigentlich bieten, funktioniert nicht mehr. Wie in Watte gepackt macht man einfach weiter …
Hätte ich nicht nach einer Weile erkennen können, woher meine innere Furcht wegen der mich überfordernden Aufgabe des »Gefühls-Kapitels« kam, wäre dieses unangenehme Körpergefühl wohl geblieben, ich hätte aber nicht nachjustieren und diese Aufgabe für mich stimmiger gestalten können.
Exkurs:
Abwehrmechanismen –
so schützt sich unsere Psyche
Unsere Psyche hat unter anderem die Funktion, so wie das Immunsystem, ungewünschte Eindringlinge abzuwehren. Für die Psyche sind es keine Bakterien und Viren, sondern unangenehme Gefühle und Impulse, die für innere Spannungen und Konflikte sorgen würden, da sie mit einer inneren Maxime oder einer in der Kindheit erlernten Überzeugung nicht vereinbar wären. Jedoch wird dafür auch ein Preis gezahlt: Wir nehmen die Welt und uns selbst dadurch weniger so wahr, wie sie ist bzw. wie wir sind.
Einige Beispiele für verbreitete unbewusste Abwehrmechanismen sind:
Reichtum versus Fehlverknüpfungen
Gefühle haben eine eigene Schönheit, sie machen uns erst
lebendig und können uns ein reichhaltiges inneres Erleben schenken.
Mich fragen Patienten häufig, ob denn die Ängste oder die Traurigkeit oder die Schamgefühle auch wirklich weg sind nach der Therapie. »Auf gar keinen Fall«, ist dann meine Antwort, denn die Gefühle sind gar nicht das Problem. Sie sind gut für uns! Es geht darum, dass wir lernen, mit ihnen richtig umzugehen. Die Freude, den Stolz, die Liebesgefühle zu genießen und die Angst, die Trauer, die Scham und die Schuldgefühle auszuhalten, zu überprüfen und sie auf ihre eigentlichen Botschaften hin zu untersuchen.
Schwierigkeiten kann es geben, wenn wir Gefühle zu bestimmten Menschen oder Herausforderungen erleben, die in früheren Zeiten sinnvoll und schützend waren, es heute aber nicht mehr sind.
Wer als Kind zu wenig Zuwendung hatte oder sogar geschlagen wurde, neigt als Erwachsener oft noch zu Angst und Misstrauen in aktuellen Beziehungen, auch wenn andere es gut meinen. Wer als Kind beschämt wurde, traut sich hier und heute oft nicht, seine liebenswerten Seiten zu zeigen. Gefühle werden also dann zu einem Problem, wenn zu viel Altes von früher mit hineinspielt.
Das andere Problem kann sein, dass der erlebbare Teil des Gefühls als unangenehm abgewehrt und in das Reich des Unbewussten verbannt wird. Das hilft uns zwar für den Moment zu funktionieren, aber durch die körperlichen Symptome spüren wir oft, dass da etwas nicht stimmen kann.
Den Umgang mit Gefühlen verbessern
Bei einem anderen Umgang mit Gefühlen kommt es sehr darauf an, in welcher Form wir Probleme mit unserem momentanen Gefühlsleben haben.
Manchmal kann es schon hilfreich sein, sich bewusst mehr Gefühle zu erlauben, die vielleicht früher verboten waren (»Du hast keinen Grund, wütend zu sein!«). Wut, Ärger oder auch Gier und lustvolle Gefühle dürfen wir zulassen und innerlich erleben, auch wenn wir sie nicht unmittelbar in Handlungen umsetzen. Dies geht nämlich oft nicht, weil wir unsere Mitmenschen erschrecken und unsere Beziehungen teilweise gefährden würden.
Aber: Wir können lernen, Gefühle auszuhalten, ohne sie reflexartig abwehren zu müssen. Dafür müssen wir anerkennen, dass wir nicht perfekt sind – und einfach Menschen mit der gesamten Klaviatur der Gefühle, auch mit den eher unerwünschten und unfeinen. Manchmal hilft es auch, den Gefühlen einen Ausdruck durch körperliche Bewegung zu geben: bei Wut auf den Boden zu stampfen oder bei Freude die Arme hochzureißen und Luftsprünge zu machen.
Ich habe mir vorgenommen, in diesem Buch nicht ständig zu Psychotherapie zu raten. Sie kann bei Krankheit notwendig sein, aber es gibt viele Situationen, in denen es übertrieben wäre, wegen Gefühlschaos vorschnell auf der Couch Platz zu nehmen. Wenn allerdings unerträgliche Gefühle der Wut, der Verwirrung oder der Angst mit dem Impuls, sich oder andere zu verletzen, das Leben bestimmen, sollte unbedingt der Hausarzt oder ein Psychotherapeut zurate gezogen werden! Es gibt Situationen, in denen der Betroffene so leidet, dass es wirklich ein Gegenüber braucht oder manchmal sogar ein Medikament, um Besserung zu finden. In frühen Beziehungen sind viele Gefühlsprobleme entstanden. In professionellen Therapiebeziehungen können sie auch wieder gelöst werden.
Die Bandbreite der Gefühle
»Nun freu dich doch mal!« So funktioniert das ja nun gerade nicht mit der Freude. Sie kommt einfach, wir können sie nicht erzwingen. Wenn sie aber da ist, sollten wir sie genießen und schätzen – das tun wir, wenn wir bereit sind, im Moment zu verweilen und nicht versuchen, dem nächsten freudigen Ereignis oder Moment hinterherzujagen oder ganz viel Zeit in Gedanken in der Vergangenheit verbringen. Wir können lernen, die Freude aus dem Augenblick zu ziehen. Weil sich damit aber kein Geld verdienen lässt, legt uns die Werbung nahe, wir müssten erst etwas haben oder kaufen, um uns dann freuen zu können – in der Zukunft.
Trauer ist ein Gefühl, das uns dabei hilft, uns nach einem Verlust oder einer Niederlage Zeit zu nehmen, uns zurückzuziehen und uns neu auf die Welt auszurichten. Unsere Welt wird ständig schneller – unsere Seele wird es nicht! Sie braucht ihre Zeit zu trauern. Es ist außerdem von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, wie lange und wie intensiv gelungene Trauer abläuft. Kinder zum Beispiel trauern ganz anders als Erwachsene: Wie beim »Pfützenspringen« kommen sie nur begrenzt in das Trauergefühl und haben dazwischen Phasen, in denen sie sich ganz normal fühlen, was Erwachsene oft nicht verstehen. Familien müssen nicht zusammen trauern, das ist ein viel zu großer Druck. Traurigkeit ist wirklich für jeden sehr unterschiedlich!
Und was ist mit dem Gefühl Stolz? Worauf sind Sie stolz? Wer ist stolz auf Sie? Bitte nehmen Sie sich einen Moment, in Ruhe zu überlegen. Manche positiven Gefühle sind in unserem Kulturkreis nicht so gern gesehen, obwohl sie etwas sehr Gesundes haben. Stellen Sie sich selbst einmal als stolzen Menschen vor: Sie stehen gerade und aufrecht, Ihre Haut ist gut durchblutet und Sie fühlen sich warm, kräftig und lebendig. Und Sie dürfen sich so fühlen, weil Sie ganz bestimmt viele Dinge können und auch schon etwas wirklich Wertvolles für andere getan haben. Es ist Zeit, mal wieder stolz zu sein.
Wir haben uns im vergangenen Kapitel damit befasst, dass Gefühle eine wirklich gute Sache sind. Leider finden unsere ursprünglichen Gefühle manchmal gar nicht mehr den Weg in unsere Wahrnehmung und können ihren Zweck daher nicht erfüllen: uns mitzuteilen, wie wir uns anderen Menschen gegenüber fühlen und dies ihnen gegenüber auch zu kommunizieren. Diese Gefühle, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen, weil wir sie nicht wahrnehmen, können sich dann ungünstig auf den Organismus auswirken und zu unterschiedlichen Krankheiten führen.
Freud war einer der ersten modernen Ärzte, der sich mit dem Switch der Symptome vom Seelischen ins Körperliche intensiv beschäftigte. Freud glaubte beobachtet zu haben, dass aus seelischen Konflikten und unbewussten Gefühlen handfeste körperliche Symptome werden können – ohne dass der Betroffene von dieser Verbindung etwas mitbekommt.
Die häufigste Frage, die mir privat gestellt wird, hat genau damit zu tun. So auf einer Party hinter vorgehaltener Hand: »Sag mal, du arbeitest doch in der Psychosomatik. Wie kann es passieren, dass die Symptome vom Kopf in den Körper kommen? Geht das überhaupt?«
In den letzten 120 Jahren haben Ärzte Erklärungen gefunden, wie das funktionieren kann. Diesen Erklärungen liegt allen ihr eigener Denkansatz oder ihre ganz eigene Brille zugrunde, mit der der Mensch betrachtet wird. Auch wenn sie unterschiedlich sind, haben sie Gemeinsamkeiten. Einige können sehr gut neurobiologisch belegt und begründet werden, andere sind eher theoretisch, aber eignen sich gut zum Arbeiten an der Körper-Seele-Verbindung in einer Psychotherapie.
Um selbst etwas für Ihre psychosomatische Gesundheit tun zu können, ist es überaus wichtig, dass Sie einen Eindruck davon bekommen, wie die Gefühle in den Körper kommen. Zunächst sehen wir uns dazu sechs nachweisbar vorhandene Verknüpfungen an.
Die sechs Wege der Kommunikation zwischen
Psyche, Gehirn und Organismus
Glasfaserkabel – unser vegetatives Nervensystem
Das vegetative Nervensystem durchzieht den Körper vom Hirnstamm durch das Rückenmark bis hin zu allen wichtigen Brust- und Bauchorganen, an die Haut sowie die Sinnesorgane. Es gibt mehrere »Schaltkästen«, Ganglien (Nervenknoten) genannt, an denen die Infos weiterverschaltet werden. Das Glasfaserkabel funktioniert blitzschnell, mindestens so schnell wie das DSL-Netz der Telekom, und leitet vornehmlich eine Information weiter: Soll der Körper einen Ruhezustand einnehmen oder einen Alarmzustand? Das sind zwar streng genommen nur zwei Funktionen, aber die Weiterleitung geschieht so unverzüglich, dass das bewusste Gehirn, der präfrontale Kortex, nicht so rasch mitschneidet, was gerade vor sich geht.
Um den Vorgang perfekt zu organisieren, hat das »Glasfaserkabel« zwei Schenkel: Sympathikus (Alarmsystem) und Parasympathikus (Entspannungssystem). Im normalen Dauerbetrieb sind diese beiden optimalerweise ausgeglichen. Wenn jedoch Gedanken, Gefühle oder Belastungen dauerhaft bestehen, kann es zu einer chronischen Aktivierung des Sympathikus kommen, was bedeutet: Körper im Daueralarmzustand.
In den 1990er-Jahren war es noch viel ungewöhnlicher als heute, sich mit seinen Gefühlen und inneren Motivationen zu beschäftigen. Deshalb wurde häufig von »vegetativer Dysbalance« oder »Dystonie« beim Arzt gesprochen, was so viel heißt wie: »Das vegetative Nervensystem ist aus dem Gleichgewicht.« Heute wissen wir: Das vegetative Nervensystem ist vornehmlich mit der Psyche verbunden, und zwar mit dem limbischen System und dem Hirnstamm, die ohne Sprache funktionieren, bedrohliche oder aufwühlende Ereignisse oder auch sichere Umgebungen abspeichern und den Körper blitzschnell in den entsprechenden Modus versetzen.
Vielleicht kennen Sie das: Sie sind in einer sehr entspannten Situation, allein zu Hause, haben Zeit, keine Termine, müssen niemandem gerecht werden. Der Darm meldet sich und macht unmissverständlich deutlich, dass es an der Zeit wäre für eine ausgedehnte Sitzung auf der Toilette. Das ist eine vegetative Funktion Ihrer Psyche-Körper-Connection. Diese Information wird digital über das vegetative Nervensystem von der Psyche an den Darm weitergeleitet, und zwar über den Parasympathikus, den »entspannten« Teil des Netzwerkes.
Fernsteuerung – unser motorisches Nervensystem
Bitte heben Sie Ihren linken Arm kurz an. Dann pfeifen Sie einmal kurz und stampfen mit dem rechten Fuß auf den Boden. Kneifen Sie Ihre Augen fest zusammen und berühren Sie anschließend mit dem rechten Zeigefinger Ihre Nasenspitze. Prima, Ihre Fernsteuerung funktioniert. Sie arbeitet nicht wireless über Antennen, sondern kabelgebunden. Von der motorischen Hirnrinde (Rinde = äußerer Teil des Gehirns) gehen die elektrischen Impulse durch das Gehirn über das Rückenmark und die motorischen Nervenbahnen zu den gewünschten Muskeln.
Über die Basalganglien und über das Kleinhirn, die für die automatischen unbewussten Abläufe des Bewegungssystems zuständig sind, stabilisiert sich der Körper im Raum. Dabei können wir zwischen bewussten Bewegungen, die wir tätigen wollen, und automatisch ablaufenden Stabilisierungsmechanismen unterscheiden, die über Reflexbogen funktionieren, sodass wir, ohne uns ständig bewusst ausgleichen zu müssen, gerade stehen.
Sie erinnern sich womöglich an den bekannten Reflextest, bei dem der Arzt mit dem Reflexhammer auf die Patellarsehne direkt unter der Kniescheibe schlägt und das Bein ungewollt nach oben schnellt. Über diese Reflexe sorgt der Körper kontinuierlich dafür, dass wir stehen bleiben. Für einen koordinierten Gang und gleichmäßige Bewegungen ist das Kleinhirn zuständig. Wie es ohne Kleinhirn wäre, können wir erahnen, wenn wir zu viel Alkohol getrunken haben: »Hemmende Einflüsse« fallen weg, unsere Bewegungen werden unkontrollierter.
Auch mentale Zustände und Emotionen können auf die Dosierung von Kraft und die Art und Weise unserer Muskelbewegungen Einfluss nehmen. Manchmal ballen wir in der Tasche unsere Faust vor Wut oder sind nach anstrengenden Auseinandersetzungen am Abend völlig verspannt. In der Situation war die Spannungserhöhung der Muskulatur aber völlig unbewusst und ungewollt. In diese Reihe der unwillentlichen, emotional mitgesteuerten Muskelbewegungen gehört auch der Würgereiz, der in Kombination mit Ekel potenziell Vergiftetes automatisch wieder herauszuwürgen hilft.
Rohrpost – das Hormonsystem
In diesem System betrachten wir die Blutgefäße, also Arterien und Venen, einmal als ein Rohrsystem einer 1970er-Jahre-Rohrpost. Das Hormon Cortisol ist einer der wichtigsten Inhalte der Rohrpostbüchsen.
Nehmen wir einmal an, im Gehirn geht die Information ein, dass ein neuer, überraschender Zustand eingetreten ist. Das Emotionszentrum gibt das Signal, dass jetzt Leistung und Gesundheit vom Organismus benötigt werden. Das heißt unter anderem, dass das Immunsystem heruntergefahren und Zucker, auch Glucose genannt, als schnelle Energiequelle freigesetzt werden soll. Diese Info wird vom limbischen System an den Hypothalamus weitergeleitet; dieser gibt die Information durch ein zweites Mini-Rohrpostsystem (mittels des Hormons Corticoliberin) an die Hypophyse weiter, ein erbsengroßes Anhängsel des Gehirns, von dem schon Descartes sagte, dass darüber womöglich Psyche und Körper miteinander verbunden sein könnten.
Die Hypophyse sendet nach Erhalt der Corticoliberin-Nachricht viele kleine Rohrpostbüchsen mit dem Hormon Adrenocorticotropin los, mit dem Ziel Nebennieren. Die Nebennieren sitzen auf den Nieren und sind so etwas wie eine körpereigene Apotheke. Neben Hormonen wie Adrenalin und Noradrenalin produzieren sie auch Cortisol (alles Neurotransmitter und Stresshormone), das in den gesamten Blutkreislauf entsendet wird mit der Vorgabe, alle möglichen Organe mit der Rohrpost zu erreichen. Das Ziel ist es, einen Alarmzustand herzustellen, Energie bereitzustellen und keinen unnötigen Treibstoff zu verschwenden, der in Ruhephasen für die Funktion des Immunsystems verwendet wird.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 04: Nicht vorschnell den »Stress«
für alles verantwortlich machen
Auch die Kommunikationssysteme, die Psyche und Körper miteinander verbinden, können von Krankheiten befallen werden. Das kann zur Falle werden, da man von außen nicht erkennt, ob eine psychische Reaktion den Stress im Körper verursacht oder ein Defekt in der Übermittlung, also eine körperliche Störung. So kann die Hypophyse, die mittels Adrenocorticotropin über die Nebennieren einen Alarm an den gesamten Organismus weiterleitet, einen seltenen gutartigen Tumor haben: ein Adenom. Dieser führt zu einer Überproduktion von Adrenocorticotropin, sodass die Nebennieren die ganze Zeit angewiesen werden, Cortisol in den Organismus zu schicken, ohne dass es einen Anlass dafür gibt. Das Ergebnis können Körperfettzunahme, Verlust der Muskelkraft, Ängste, Depressionen, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit bis hin zum Knochenschwund sein.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass man bei unklaren körperlichen und psychischen Veränderungen nicht vorschnell auf »alles psychisch« setzen sollte. Denn auch die Rohrpost kann ganz schlicht falsche Botschaften erhalten.
Stille Post – das Immunsystem
Das gerade besprochene Cortisol als Stresshormon bremst zunächst, sobald es das Immunsystem erreicht, viele Bereiche der Immunabwehr, einige scheint es auch zu stimulieren. Da wir davon lange Zeit erst mal nichts mitbekommen, können wir die Psyche-Körper-Verbindung über das Immunsystem als unsere »stille Post« bezeichnen.
Angst, Ärger und Einsamkeit sind mentale Zustände, die sich schwächend auf das Immunsystem auswirken können. Auch Dauerstress bewirkt eine geminderte Leistung unserer Krankheitsabwehr. Bei akutem Stress mit Sympathikusaktivierung können die Entzündungsreaktion und die Immunabwehr vorübergehend gestärkt werden. Wir kennen das, wenn wir etwas Wichtiges wie ein Examen oder einen Urlaub vorhaben und es schlicht nicht möglich erscheint (und auch fast nie passiert), dass wir kurz vor der Prüfung oder dem lang ersehnten Wochenendtrip krank werden.
Das Ganze funktioniert auch umgekehrt, und eh man sichs versieht, hat sich das Immunsystem auf Gehirn und Psyche ausgewirkt. Bei Infekten wie ganz normalen Erkältungen werden aus den Immunzellen Botenstoffe (Interleukine) abgesondert, die das Gehirn aktivieren: Sie erzeugen Krankheitsgefühl, Fieber, Müdigkeit, Unlust und Appetitlosigkeit – bis hin zur depressiven Stimmungslage.
Einige der stärksten Förderer des Immunsystems sind übrigens das Kuscheln35 und Küssen36 – erwiesenermaßen tragen sie zu einer verbesserten Krankheitsabwehr bei. Das könnte ein guter Ausgleich für diejenigen sein, die nicht gerne gesund kochen.
Schneckenpost – Genetik und Epigenetik
Richtig langsam ist die Informationsvermittlung über unsere Schneckenpost, die Genetik. Diese Disziplin der Biologie beschäftigt sich mit dem Träger unserer Erbinformation, der DNS, und wie diese in Genen organisiert ist. Sie verfügt heute über ein recht gutes Bild darüber, wie sich Gene durch Mutationen verändern und so Krankheiten auslösen können und wie Gene (und die auf ihnen codierten Eigenschaften oder Merkmale) an spätere Generationen weitervererbt werden.
Immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt dabei die Epigenetik. DNS-Gruppen, die Erbinformationen enthalten, können je nach Einflüssen durch die Umwelt im Hier und Heute an- und abgeschaltet werden. Das funktioniert über eine chemische Veränderung der DNS, die Methylierung genannt wird. Ein Gen entfaltet seine Eigenschaft nur, wenn es angeschaltet ist. Das kann gefährlich sein, wenn zum Beispiel ein Gen abgeschaltet wurde, das die Zellteilung kontrolliert. Ebenfalls negativ kann es sich auswirken, wenn zum Beispiel ein Gen aktiviert wird, das besser nicht aktiv sein sollte, weil es im Verdacht steht, Krankheiten auszulösen. Umweltgifte, Ernährung, Drogen und Stress können auf die Oberfläche der Gene einwirken und dabei den On- oder Off-Schalter drücken. So wird unser Lebenswandel, auch die Art, wie wir Beziehungen führen oder uns ernähren, zum Bestandteil unserer Erbinformationen. Besonders frühkindliche Traumatisierungen, die auf die Amygdala im Gehirn einwirken, können bereits Gene an- und abschalten und so regelrechte Narben hinterlassen, die biologisch und psychisch verankert sind. Die Narben können später unter Belastung aufreißen und Erkrankungen auslösen. Ob sie vererbt werden können, ist noch nicht abschließend geklärt.
Das NR3C1-Gen codiert beispielsweise, wie empfindlich der Cortisol-Rezeptor auf Stresshormone anspricht. Es spricht derzeit einiges dafür, dass die epigenetische Information umkehrbar ist und durch eine Psychotherapie, die dem Patienten eine sichere Bindungserfahrung vermittelt, eine Stärkung der Stresstoleranz erreicht werden kann.37 Die Frage, ob eine Erkrankung genetisch oder durch Umwelteinflüsse wie Traumata und schädliche Beziehungserlebnisse ausgelöst wurde, lässt sich in vielen Fällen deshalb nur mit einem Sowohl-als-Auch beantworten.
Das Retourensystem
So, wie das Gehirn alle möglichen Informationen in den Organismus ausliefert, gehen auch ständig Informationen beim Gehirn und schließlich in der Psyche ein, und zwar aus allen eben besprochenen Kommunikationskanälen, zudem über unsere fünf Sinne Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Besondere Bedeutung kommt dem System für die Tiefensensibilität zu: Es liefert von überall aus dem Körper Informationen zur Lage im Raum, zur Geschwindigkeit, in der wir uns bewegen usw. Auch können wir über diverse sensible Nerven Schmerzen, Herzschlag, Muskelzustand und andere Zustände innerhalb des Körpers erfassen.
Beim Retourensystem ist das Entscheidende, wie wir die eingehenden Informationen bewerten. Damit meine ich, wie die erhaltenen Infos beim Abgleich mit dem unbewusst laufenden limbischen System bewertet werden, wo Teile unserer emotionalen Erinnerung sitzen. Je nach wachgerufener Erinnerung entscheidet sich, ob die Informationen aus dem Körper Gefahr bedeuten und Ängste oder andere Emotionen auslösen, die uns zu einer Veränderung bewegen sollen.
Auch bei entzündlichen Situationen im Körper, wie unter anderem bei einer Virusgrippe, wirken Entzündungsbotenstoffe wie Zytokine und Leukotriene auf das Gehirn ein und vermitteln ihm: »Schonung ist angezeigt, die ganze Kraft wird für das Immunsystem benötigt – bitte nichts für die Muskeln verschwenden.«
Später werden wir uns ausführlicher damit befassen, dass bei vielen psychosomatischen Krankheiten genau diese Entzündungsbotenstoffe im Körper der Betroffenen für Erschöpfung sorgen, zum Beispiel bei der Depression, die eine schwere körperliche Erschöpfung auslösen kann (siehe 2. Teil im Kapitel »Die Depression: Mehr als traurig« ab hier).
Nachdem Sie sechs wichtige Verbindungen zwischen Kopf und Körper kennengelernt haben, schauen wir uns einige klinische Konzepte an, die in der Psychosomatischen Medizin zur Erklärung von Krankheiten herangezogen werden. Diese Konzepte haben Ähnlichkeiten und Unterschiede und schließen sich nicht gegenseitig aus. Es sind Schablonen, die bei Patienten verschieden gut auf deren Erkrankungsbild passen.
Warum Sie abschalten lernen sollten: Das Stress-Modell
Stress ist für viele ein richtiger Alltagsbegleiter – für Sie womöglich auch. Aber was ist Stress überhaupt? Aus meiner Sicht als Arzt ist Stress etwas anderes als Hektik oder Eile – und auch nicht ein Begriff dafür, dass man viel zu tun hat. Stress ist für mich eine spezielle Reaktion des Organismus.
Anpassung
Stress ist der Name für einen sehr umfangreichen Prozess im menschlichen Organismus, der ständig ein bestimmtes Ziel im Auge hat: sich so gut wie möglich an Aufgaben und Herausforderungen anzupassen.
Wenn Sie um 18 Uhr Besuch zum Abendessen bekommen, obwohl Sie die Nacht zuvor nur fünf Stunden geschlafen haben, und jetzt ist es 15 Uhr und Sie müssen noch einkaufen, aufräumen und kochen, um dann abends pünktlich gute Stimmung zu erzeugen, passiert etwas in Ihrem Organismus. Dabei ist spannend, dass Sie sich das Wissen um die bevorstehenden Aufgaben nicht besonders vergegenwärtigen müssen. Die Info, was Ihrer Erfahrung nach bei solchen Events anfällt und an Energie benötigt wird, ist in Gedächtnisbereichen gespeichert, die gar nicht mit den Mitteln der Sprache arbeiten, nämlich im limbischen System. Dieses verborgene Wissen, welche Körperreaktion Sie in welcher Situation benötigen, um mit einer Anforderung zurechtzukommen, wird auch »Leibgedächtnis« genannt38. Ihr Wissen wird also unbewusst, ohne Ihr Zutun, über die Fernleitungssysteme des Körpers (autonomes Nervensystem, motorisches Nervensystem, Immunsystem, Hormonsystem) weitergeleitet. Die Reaktion heißt in vielen Fällen: Muskeln anspannen, Stuhlgang einbehalten – es ist wenig Zeit für unnötige Entspannungsphasen oder Unterbrechungen. Es muss stattdessen drei Stunden an einem gelungenen Abendessen gearbeitet werden, und dazu braucht der ganze Körper Sauerstoff. Das bedeutet, dass Herzschlag und Blutdruck zunehmen und die Muskeln und Organe besser mit Sauerstoff beladenen roten Blutzellen beliefert werden.
Was Sie spüren, ist eine gewisse Anspannung – Sie stehen unter Strom. Das Erstaunliche am Stress-Konzept ist, dass Stress in der einen oder anderen Situation als völlig normal und auch notwendig gesehen wird. Auch beim Sport hat der Körper eine Stressreaktion: Der Körper passt sich an eine erhöhte Anforderung an.
Wenn aber im Alltag eine Anpassung nach der anderen gefordert wird und dazwischen keine Gelegenheit besteht, wieder zur Ruhe zu kommen und sich gut zu fühlen, dann wird das Ganze schädlich. Dann läuft der Organismus immer auf Power-Boost und fährt die Belastung nicht mehr herunter, was eigentlich vorgesehen wäre und zur Regeneration wichtig ist. Und weil es keine Pause zur Wartung und zum Ölen gibt, läuft der Körper irgendwann »auf Verschleiß« und kann irreparable Schäden nicht mehr vermeiden.
Daueralarm
Genau das beschreibt das berühmte Stress-Konzept von Hans Selye39, einem österreichisch-kanadischen Mediziner, der den Begriff Stress prägte. Selye brachte die Bedeutung von Stress in die eigentlich »Maschinenmensch«-dominierte Medizin ein. Er ging davon aus, dass durch Stress ein Gleichgewicht im Körper wiederhergestellt werden soll. Somit sah er Stress als einen Anpassungsversuch. Wenn die »Alarmreaktion« nach dem anspruchsvollen Besuch zum Abendessen nicht nachlässt, weil irgendeine neue Anpassung erbracht werden muss, geht der Körper in die Widerstandsphase, in der die Belastungen irgendwann endgültig überwunden werden oder der Körper sich an das Stresslevel anpasst. Wenn auch das alles misslingt, entsteht ein chronisches Stresssyndrom (das kennen bestimmt zu viele von uns!), auf das die Phase der Erschöpfung folgt, in der der Organismus nachhaltig geschädigt werden kann – und der Mensch krank wird.
Leerlauf
Was heißt das für uns? Ständig Pausen oder Urlaub machen? Keinen erwartungsvollen Besuch mehr einladen?
Ein Anfang wäre sicher zu versuchen, in uns hineinzuhorchen, auf wie viel Dampf wir eigentlich laufen. Stress wird heute, wie das Rauchen, als dosisabhängiges Risiko gesehen. Entscheidend ist dabei, auch Zeiträume zu haben, in denen man nicht ständig am Limit ist. Sonst setzt eine Widerstandsphase ein. Typische Zeichen sind Neigung zu Ärger, Zynismus, Schlafstörungen, erhöhte Infektanfälligkeit, Beziehungskrisen und das Gefühl, nicht mehr viel empfinden zu können. Was akut helfen kann, ist Bewegung an der frischen Luft, ein selbst gekochtes Essen, in Ruhe und vielleicht ohne Besucher genossen, oder etwas machen, das ein vertrautes Wohlgefühl bietet, wie ein heißes Bad nehmen, Musik hören etc. Und einfach einmal Leerlauf, brachliegen und nutzlos sein dürfen.
Wo haben Sie Ihre Schwachstelle? Die »Organwahl«
Im Jahr 1950 hat der Psychosomatiker Franz Alexander sieben Krankheiten beschrieben, von denen er glaubte, sie würden aufgrund bestimmter innerer Konflikte und Gefühle entstehen40: Asthma, Magengeschwüre, Rheuma, Neurodermitis, Bluthochdruck, Schilddrüsenüberfunktion (Basedow-Krankheit), Morbus Crohn bzw. Colitis ulzerosa.
Auf dieser Grundlage ging man innerhalb der Psychosomatischen Medizin bis in die 1970er-Jahre zum Beispiel davon aus, dass hinter einem Asthma der »Schrei nach der Mutter« stecke, der als Kind nicht gehört worden sei. Alexander dachte, dass Kinder mit Asthma häufiger emotional vernachlässigt worden seien und so Frustrationen in sich tragen, die durch einen verkappten Schrei im Rahmen der Asthmasymptome ihren Weg in die Gegenwart fänden.
Von solchen Zusammenhängen zwischen bestimmten Gefühlen und dem Befall eines speziellen Organs ist man heute abgekommen. Es gibt keine klare Verbindung von kindlichen Erlebnissen und einer organischen Erkrankung. Aber wonach geht es? Welches Organ wird von einer psychosomatischen Symptomatik betroffen?
Sollbruchstelle
Nehmen wir einmal eine Person, die an chronischem Stress leidet und deren Körper dauernd in einem Alarmzustand ist. Wird das Herz, der Darm oder die Haut erkranken?
Das ist nach einem ursprünglichen Modell von Freud, welches inzwischen weiterentwickelt wurde, eine Frage des »körperlichen Entgegenkommens«41. Zum einen entsteht hier psychische Spannung, Energie, die sich als Stressreaktion auf den Körper auswirkt: durch Cortisol-Ausschüttung sowie Adrenalin- und Noradrenalin-Ausschüttung. Zum anderen kann eine Sollbruchstelle am oder im Körper entstehen, die der psychischen Problematik entgegenkommt und das Problem – wenn man so will – abnimmt. Wie entsteht aber eine solche Sollbruchstelle an einem Organ?
Dahinter steht meist eine frühere Krankheitserfahrung. Wer als Baby eine stark ausgeprägte Neurodermitis hatte, kann bei späteren Belastungen und Stress leichter wieder mit der Haut reagieren. Auch das Immunsystem hat nämlich die Sollbruchstelle Haut abgespeichert, genau wie die unbewusste Seite der Seele. Eine andere Möglichkeit ist die Folge eines Unfalles, wie ein früher gebrochener Arm, dessen Muskulatur bei Stress und Anspannung besonders stark reagiert und Schmerzen verursacht. Hier findet ein Wechselspiel zwischen dem Wissen des Gehirns – »Hier war mal ein verwundbarer Bereich« –, der Ansteuerung der Muskeln und wiederum der Wahrnehmung des Gehirns statt. Es reagiert schneller und übervorsichtig auf Warnsignale wie die Schmerzreize aus diesem empfindlichen Bereich.
Besetzungen
Eine weitere Möglichkeit der Organwahl sind psychoanalytischer Auffassung nach »Besetzungen«, also subjektive Zuschreibungen, die ein Organ im Laufe des Lebens bekommt. Damit meine ich, dass für die Psyche die einzelnen Organe einen bestimmten Charakter oder einen bestimmten Ruf haben, der sich aus den gemachten Erfahrungen ableitet.
Hat jemand mitbekommen, wie Mutter ständig auf alles Mögliche mit Kopfschmerzen reagiert hat, ist der Kopf für denjenigen auf eine bestimmte Weise besetzt, hat also seine Rolle weg – als Körperbereich, der Überlastung anzeigt und den Raum zum Beispiel ganz dunkel und ruhig braucht. Wir können im Rahmen früher Bindungserfahrungen auch die Organempfindlichkeiten anderer Menschen übernehmen.
Heilsames
Wie können wir selbst mit unseren Schwachstellen umgehen, seien sie seelisch oder körperlich? Der erste und wichtigste Schritt ist, dass wir sie wahrnehmen und dann vielleicht erkennen können, warum der Rücken oder der Magen oder das Herz unsere Schwachstelle ist. Dazu ist es häufig hilfreich, sich beim Denken treiben zu lassen und nicht übertrieben mit dem Verstand zu überlegen, ob etwas medizinisch möglich ist, sondern Eindrücken und Fantasien nachzugehen, die uns kommen. Uns zu erlauben, einfach draufloszufantasieren.
Wenn Sie eine Idee haben, was Ihr verwundbarer Bereich ist, geht es darum, dies anzuerkennen und anzunehmen und nicht unterdrücken zu wollen. Nur wenn wir unsere persönliche Prägung wirklich annehmen, können wir auch einen guten Umgang damit finden.
Und das ist der nächste Schritt: Pflege, und zwar liebevoll. Damit ist gemeint, dass der betroffene Körperbereich, der ja ein Teil unseres Selbst ist, Aufmerksamkeit und Liebe bekommt. Ja, das klingt komisch, aber wer mag das nicht? Ich habe in einem Krankenhaus gearbeitet, in dem Menschen mit Herzerkrankungen gelernt haben, täglich die Region der Brust – über dem Herzen – mit wohltuenden Cremes einzureiben. Wir kennen es ja aus der eigenen Kindheit: Wärmflaschen auf grummelnde Bäuche, viel zu große Pflaster auf winzige Ratscher haben einfach gutgetan, weil wir über unsere Verletzung Aufmerksamkeit und Fürsorge bekommen haben. Und das ist für jeden Menschen und jedes gekränkte Organ heilsam. Nur weil wir als Erwachsene eine härtere Schale entwickeln mussten, sind wir doch innerlich nicht weniger bedürftig.
Symbolhaftes
Um den »Sprung« eines Symptoms von der Seele in den Körper zu verstehen, ist es also notwendig, die Dinge der materiellen Welt, also auch Gegenstände und Körperteile, als etwas Abstraktes, Symbolisches zu begreifen. Wie ich das meine, möchte ich Ihnen an einem kurzen Beispiel erklären: Meine Tochter war im Alter von sechs Jahren todunglücklich, als sie durch ein Missgeschick einen Porzellanteller zerschmiss, den ihr der Opa zum vierten Geburtstag bemalt hatte. Sie weinte und war wirklich fassungslos, dass ihr geliebter Teller nun aus drei Scherben bestand. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte ich den Impuls, den Teller mit Sekundenkleber wieder zusammenzukleben, auch wenn alles aufgrund kleiner Absplitterungen nicht mehr so perfekt zusammenpasste. Meine Tochter wirkte sehr zufrieden mit dem unperfekten Werk, sie war geradezu wiederhergestellt. Sie fühlte sich selbst wieder ganz, wie ich dann verstand. Das war das Entscheidende: Dieser Teller, den sie lieb gewonnen hatte, stand für etwas, das mehr war als ein Teller. Sein Kaputtgehen erschütterte sie tiefer als kaputtes Porzellan.
Dieses symbolische Denken tragen auch wir Erwachsene in uns, wobei wir dazu neigen, die Symbolik hinter den Dingen nicht so stark wahrzunehmen, sondern uns auf das ganz Oberflächliche zu berufen: »Ist ja bloß ein Teller.« Allerdings liegen auf unseren Organen Besetzungen mit Symbolik aus früheren Erfahrungen; daher sind diese Organe besonders anfällig dafür, bei passenden Reizen von außen psychosomatische Symptome (wieder) auszulösen.
Körpersprache: Die Konversionshypothese
Bei der ursprünglichen Konversionshypothese handelt es sich um ein psychosomatisches Vintage-Modell des Neurologen Sigmund Freud und des Internisten Josef Breuer von anno 189542. Die Autoren haben versucht, ein Modell dafür zu entwickeln, wie seelische Spannungen und Konflikte in den Körper wandern und sich dort äußern können.
Besonders im Bereich der Psychosomatik stimmen einige der alten, verstaubt anmutenden Theorien doch sehr mit zeitgemäßer Forschung überein – auch wenn es manchmal frische Wörter gibt, um einen althergebrachten Zusammenhang zu beschreiben.
Abgespalten
Ein gutes Beispiel ist die »dissoziative Bewegungsstörung«, bei der ein Teil des Bewusstseins abgespalten wird. Es handelt sich dabei um einen Schutzmechanismus, um die Seele vor heftigen Emotionen abzuschirmen.
Weil die seelische Energie sich jedoch ihren Weg an die Oberfläche bahnt, zeigt sich die heftige Emotion, die vom Bewusstsein abgespalten wurde, in einem scheinbar neurologischen Körpersymptom. Dieses Symptom wird von der motorischen Hirnrinde (Fernsteuerung) in Zusammenarbeit mit dem emotionalen Gedächtniszentrum, was vornehmlich unbewusst arbeitet, ausgelöst. Das heißt, das neurologische Symptom ist eigentlich gar kein neurologisches (durch eine Nervenkrankheit ausgelöstes) Symptom, sondern es ist ein von der Seele durch die motorischen Nervenfasern – die sonst Arme, Beine und die Mimik bewegen – weitergeleiteter Ausdruck für einen unerträglichen Gedanken, ein unerträgliches Gefühl oder ein nicht zu verarbeitendes Trauma. Ein konkretes Beispiel ist eine psychisch ausgelöste Stimmlosigkeit: Jemand verliert seine Stimme. Er kann die Stimmmuskulatur nicht mehr bewegen, nachdem ihm ein erschreckendes Geheimnis anvertraut wurde.
Ausdruckskrankheiten
Genau diesen Vorgang beschrieben die Ärzte Sigmund Freud und Josef Breuer 1895 unter dem Namen »Konversionsneurose«43. Konversion (von lateinisch conversio = Umwendung, Umwandlung) meint die Umwandlung von einem seelischen in einen körperlichen Ausdruck, Neurose (von altgriechisch neuron = Nerv) ist eine Bezeichnung für eine durch miteinander in Konflikt stehende Gefühle, Gedanken oder Wünsche ausgelöste psychische Störung.
Ich möchte Ihnen gleich einen typischen Fall aus einer meiner Psychotherapien schildern, weil das Konzept der körperlich zum Ausdruck gebrachten Gefühle heute weiterhin aktuell ist und auch künftig erforscht werden wird. In einer Übersichtsarbeit konnte gezeigt werden, dass Emotionen ein wichtiger Faktor bei der Entstehung neurologischer Symptome »ohne Befund« sind. Gerade Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu spüren und in Form von Sprache zum Ausdruck zu bringen, können dazu neigen, durch die Zusammenarbeit zwischen dem emotionalen Gedächtnis und der motorischen Hirnrinde ihre Probleme durch die Muskulatur des Körpers auszudrücken.44
Der bekannte Psychosomatiker Thure von Uexküll nannte diese Erkrankungen »Ausdruckskrankheiten«, weil die Funktion hier ganz eindeutig zu sein scheint, den Menschen um sich herum einen inneren Konflikt zu zeigen – mit der Sprache des Symptoms.
Auf eigenen Beinen
Ich erinnere mich sehr lebhaft an eine unheimlich freundliche Patientin, die mir in meiner Zeit als Stationsarzt in der Klinik für Psychosomatische Medizin aus der Neurologie überwiesen wurde. Erika saß im Rollstuhl. Umfangreiche neurologische und internistische Untersuchungen hatten keine Erklärung für die Lähmung ihrer Beine gebracht. Die Patientin stand kurz vor der Rente und zeigte sich relativ unbeeindruckt davon, nicht mehr laufen zu können. Ihr Umfeld wiederum war wirklich geschockt. Täglich war ihr Ex-Partner für mehrere Stunden auf der Station und fuhr Erika in die Cafeteria, um lange Gespräche mit ihr zu führen. Auch ihre Schwester, die den Kontakt vor langer Zeit abgebrochen hatte, kam zu Besuch. Erika genoss die Unterhaltungen mit dem Pflegepersonal, war freundlich und dankbar und brachte sich in den Gruppentherapien insbesondere damit ein, anderen bei der Überwindung ihrer Probleme weiterzuhelfen.
Als ich Erika zu den Einzelgesprächen in mein Arztzimmer rollte, stand ich – als recht junger und unerfahrener Arzt – durchaus unter Druck, bald schon eine Ursache und Lösung für das schwerwiegende Problem finden zu müssen. Doch Erika beruhigte mich und hatte eine ganz andere Sorge: nämlich, bloß nicht so bald wieder aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Mit dem Rollstuhl könne sie zu Hause ja nicht zurechtkommen, erklärte sie mir nachvollziehbar.
In den Arztgesprächen beschrieb Erika unter anderem, wie sie ihre Kindheit erlebt hatte: Als nicht geplante Nachzüglerin habe sie – so ihr Wortlaut – ihre Eltern in finanzielle Probleme gebracht, die meistens damit beschäftigt gewesen seien, an Geld zu kommen oder bei Krisen tagelang im Alkoholrausch steckten. Sie habe ganz früh »auf eigenen Beinen stehen« müssen, erzählte sie mir. Im Laufe ihres Lebens sei sie sehr von ihren jeweiligen Partnern unterstützt worden, auch ihr Job als Pförtnerin einer Firma habe ihr gutgetan. Die letzte Partnerschaft sei jedoch etwas Besonderes gewesen, niemals zuvor habe sie sich so angenommen und geschätzt gefühlt: »Micha hat mir wirklich alles von den Lippen abgelesen«, so Erika.
Als ihr Partner sich einige Wochen vor Beginn der Beinlähmung getrennt habe, habe Erika das einfach hingenommen; sie könne es ja nicht ändern, dass Micha das alles zu eng geworden sei. Als sie zu ihrem 63. Geburtstag ihre Schwester, Micha und einige Freunde einlud, aber alle verhindert waren und Erika allein zu Hause saß, wurde sie noch am gleichen Tag in die Notaufnahme eingeliefert wegen akuter Beinlähmung. Man nahm sie in die Neurochirurgie auf, dann in die Neurologie und schließlich in die Psychosomatik. Die Trennung von Micha nahm sie zwar äußerlich hin, aber ihre Weigerung, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, symbolisierte sie womöglich durch das Körpersymptom der Beinlähmung.
Ich möchte dabei ganz deutlich machen, dass dies nur eine Interpretationsvariante dieses Beschwerdebildes ist. Der Zugang des Patienten zu einem Modell entscheidet letztlich über die Tauglichkeit.
Erika verließ das Krankenhaus nach vier Wochen in der Psychosomatik im Rollstuhl. Kleine Wege machte sie allein, vor allem an Orte, wo der Rollstuhl nicht hindurchpasste. Sie beschäftigte sich mit den positiven Seiten ihrer Krankheit, beispielsweise so viele Begleiter ihres Lebens um sich zu versammeln. Sie übte, allein durch Worte, Gesten und Einladungen Menschen an sich zu binden und um Hilfe zu bitten, sodass sie nicht mehr nur auf eigenen Beinen stehen und alles allein schultern musste.
Für mich als Arzt ist es eine Herausforderung, mit Krankheiten an der Schnittstelle von Körper und Psyche umzugehen. Der Körper meiner Patientin muss gründlich untersucht werden; und gleichzeitig möchte ich natürlich die seelischen Aspekte mit ins Gespräch bringen und in den Topf der möglichen Ursachen werfen.
Alle Symbolik, alle Wünsche und Aufforderungen an die Mitmenschen, die man im Symptom von Erika sehen kann, sind nur dann hilfreich, wenn die Betroffene damit etwas anfangen kann. Nur dann, wenn Dinge aufgedeckt werden, die so vorbewusst sind, dass sie demjenigen einen Erkenntnisgewinn bringen und dabei helfen, von der Körpersymbolik einen Weg zurück in die Formulierung zu finden. Es ist dabei wichtig zu sehen, dass das Symptom eine Schutzfunktion der Psyche beinhaltet, sich vor noch mehr Frust, noch mehr Einsamkeit zu schützen. Die möglichen anderen Abwehrmöglichkeiten der Psyche sind womöglich überlastet.
Dass der Sprung vom psychischen Impuls in die Muskulatur funktioniert, und das völlig ungewollt, zeigt sich bei Lachkrämpfen. Ich gehe fest davon aus, dass Sie das kennen. Gerade gestern passierte es mir (mal wieder), dass mein Sohn am Abendbrottisch mit einer Käsescheibe herumblödelte und sie auf sein Gesicht legte, was mich nervte, da ich keine Lust hatte, am Abend noch ein Kind von oben bis unten zu reinigen. Aber ich bekam dann – obwohl ich nicht wollte – einen Lachkrampf, die Situation war so komisch. Ich zeigte also über mein Zwerchfell und die sonstige Atemmuskulatur meine Zustimmung und meine Freude daran, obwohl der Erwachsene in mir lieber zur Vernunft ermahnt hätte. Das Unbewusste äußert sich also sehr wohl durch muskuläre Bewegung, ohne dass wir es wollen.
Mein Körper fühlt, was ich nicht fühle: Die Somatisierung
Es gibt noch eine zweite, ganz andere Art und Weise, wie unbewusst abgewehrte Emotionen sich den Weg in den Körper bahnen können. Sie nennt sich Somatisierung (von altgriechisch soma = Körper), was auf Deutsch Verkörperlichung bedeutet. Damit ist gemeint, dass eine ursprünglich seelische Belastung sich in der Fehlfunktion eines Organs widerspiegelt und dies dann seine Funktion nicht mehr ordentlich ausführt. Der psychosomatisch versierte Arzt nennt das Krankheitsbild dann »somatoforme Störung«.
Vielleicht hatten Sie selbst – zumindest vorübergehend – auch schon einmal so ein Symptom. Betroffen sein können beispielweise das Herz, der Darm, die Haut, der Magen, die Blase und – ganz wichtig – die Geschlechtsorgane. Übrigens hat mindestens jeder vierte Patient, der eine Hausarztpraxis betritt, ein Symptom, das durch eine somatoforme Störung entsteht45 und somit seelischen Ursprunges ist. Etwa fünf Prozent der Deutschen sind von einer handfesten somatoformen Störung betroffen46.
Körperwesen
Wie entstehen Symptome per Somatisierung wie Herzrasen, Durchfälle, Schmerzen, Potenzstörungen oder Lustlosigkeit?
Zunächst müssen wir wissen, dass Säuglinge und Kinder praktisch alle Emotionen sehr direkt über den Körper empfinden und diese auch ihren Mitmenschen gegenüber ausdrücken. In der Wahrnehmung von Kindern ist es eine gute Art der Beziehung, wenn sie gefüttert oder gestreichelt werden und eine schlechte Form der Beziehung, wenn sie Bauchschmerzen haben. Dann fühlen sie sich schutzlos und sind ihrem Umfeld nicht wohlgesinnt. Kleine Kinder haben keinen fertigen »virtuellen Raum« in ihrer Psyche, in dem sich ihr Zustand abbildet und von ihnen betrachtet werden kann. Sie reagieren, anstatt Emotionen zunächst zu empfinden und dann zu reflektieren, sehr direkt, praktisch wie aus einem Reflex heraus, mit körperlichen Zustandsänderungen: Sie weinen, knötern, laufen weg oder machen sich in die Windel, wenn sie erschrocken sind; oder sie sabbern Dinge an, wenn sie neugierig sind. Während diese Körperreaktionen stattfinden, werden sie in einer Art Körpergedächtnis abgespeichert, das auch als »somatische Erinnerung« bezeichnet wird. Da diese somatische Erinnerung sich vor dem Spracherwerb entwickelt, werden diese Erfahrungen niemals sprachlich begriffen, also werden keine Worte diese Gefühlszustände beschreiben können. Wohl aber speichert sich ein Gefühl ab dafür, wie die Welt ist, wie die anderen sich verhalten und was das in einem auslöst.
Körper-Seele-Trennung
Während wir größer und schlussendlich erwachsen werden, erreichen wir – wenn unsere Kindheit halbwegs gut verläuft jedenfalls – immer mehr die Fähigkeit, Gefühle getrennt von der Körperreaktion zu erleben. Also können wir, wenn wir Angst erleben, bei der auch das Herz rast und wir stärker schwitzen, das Gefühl der Angst erkennen, benennen und uns damit auseinandersetzen.
Oft werden die Körperreaktionen, die eine Emotion ausmachen, dann in das Reich des Vorbewussten (unbewusst, aber bewusstseinsfähig) verbannt. Unsere Handlungen beim Autofahren sind ein gutes Exempel für vorbewusstes Handeln: Wir tun Dinge, ohne bewusst darüber nachzudenken, aber wir haben die Möglichkeit, uns klarzumachen, welche Handgriffe wir gerade tun. Bei besonderen Verkehrssituationen wird das Bewusstsein dann zugeschaltet; Kupplung oder Bremse können wir dann bewusst bedienen, um einen Unfall zu verhindern.
Körperrückkehr
Ähnlich verhält es sich bei Erwachsenen mit sehr starken oder überflutenden Gefühlen. Wenn zu viel andrängt an Konflikten, an Kränkungen, an Einflüssen, die verarbeitet werden müssen, kann es passieren (das beschreibt das Modell der Somatisierung jedenfalls), dass die Entkoppelung von Seele und Körper teilweise aufgehoben wird: Bei starker Angst nehmen wir das pochende Herz bewusst wahr, die Aufmerksamkeit wird darauf gebündelt. So geht die Konzentration weg vom Auslöser der Angst hinein in den Körper und seine Reaktionen. Die meisten kennen so eine Somatisierung und erleben sie ab und an im Alltag – der Vorgang selber ist nicht krankhaft.
Dadurch können aber Schlafstörungen, Herzangststörungen, eine nervöse Blase oder vieles andere mehr ausgelöst werden. Es handelt sich um eine Wiederbelebung alter, erlernter Reaktionsweisen. Das Ganze wird auch »Resomatisierung« genannt, weil wir (im besten Fall nur für eine Weile) in einen früheren körperlicheren Zustand zurückkehren. In diesen Phasen sind wir also wieder ein bisschen Kind, das seine Sprache nicht hat, oft weil uns etwas so beschämt oder uns solche Schuld- oder Angstgefühle bereitet, dass unsere Sprache dafür keine Worte bietet. Dann entwickeln wir uns – oft nur in einem Teilbereich – psychisch zurück; die Körperreaktion steht wieder im Mittelpunkt, während das eigentliche Gefühl zunächst weggeschoben wird. Dabei wird das Organ angesprochen, das früher in der »körperlichen Erinnerung« zu dem jeweiligen Gefühl abgespeichert wurde47. Deshalb reagieren wir auch individuell sehr unterschiedlich auf starke Emotionen oder Herausforderungen im Leben.
Symptomfalle
Problematisch wird das dann, wenn das Symptom eine eigene Kraft entwickelt und wir nicht wieder davon loskommen. Gehen wir damit zum Arzt, findet dieser oft nichts. Oder er findet eine Kleinigkeit, die unser Sorgenkarussell weiter antreibt. Wenn sich das eigentliche Gefühl in einem Organ verfestigt und keine Ruhe mehr gibt, kann man richtig krank werden: einfache somatoforme Störungen betreffen dabei nur ein Organsystem, beispielsweise den Magen-Darm-Trakt. Bei Somatisierungsstörungen wandert das Problem im Körper über Jahre umher, betrifft mal das eine, mal das andere Organ oder Organsystem.
Das Problem bei Somatisierungen entsteht häufig dann, wenn wir zum Hausarzt gehen, dessen Kernkompetenz es ist, in den Körpersystemen nach Fehlern zu suchen. Dann wird das auslösende Gefühl immer weiter aus der Wahrnehmung verschwinden, während man eine Lösung für ein ganz anderes Problem will, nämlich den verstopften Darm oder das stolpernde Herz – die ja letztlich nicht die Ursache, sondern nur das Symptom sind.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 05: Ein Gefühl hinter dem
Symptom suchen
Natürlich muss bei körperlichen Beschwerden gründlich körpermedizinisch untersucht werden, ob alles in Ordnung ist. Parallel dazu tut man sich aber einen Gefallen, auch über die eigentlich »kindlichen« Ursachen von Bauchweh und Herzklopfen nachzudenken: Welches Gefühl könnte dahinterstehen, und woher könnte es kommen?
Achtung, Gegenverkehr: Psychosomatik umgekehrt
Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit und zum Beispiel Gedächtnisstörungen können ihre Ursachen in körperlichen Erkrankungen haben. Es handelt sich dabei um psychische Symptome, deren Ursachen aber gar nicht in der Psyche liegen. Ein häufiges Beispiel ist die Grippe, die Niedergeschlagenheit und oft auch eine depressive Stimmung auslöst, was unter anderem mit Entzündungsprozessen und ihrer Wirkung auf das Gehirn zu tun hat. Das Unpraktische daran ist, dass man selbst normalerweise nicht unterscheiden kann, ob ein Symptom durch einen Auslöser im Körper oder in der Psyche entsteht.
Für einen Psychosomatiker ist das eine der größten Herausforderungen im Alltag, und manchmal gibt es auch keine klaren Antworten. Insbesondere wenn jemand körperliche und psychische Vorerkrankungen hat und womöglich noch Medikamente einnimmt, wird es sehr unübersichtlich. Denn viele Medikamente – und übrigens auch Drogen – können als Nebenwirkung zum Beispiel depressive Beschwerden oder auch Ängste auslösen. Außerdem gibt es über 6.000 seltene Erkrankungen, die in einer normalen Arztpraxis gar nicht ausgeschlossen werden können; spezielle Zentren an den Unikliniken übernehmen hier eine Diagnosestellung.
Häufige körperliche Erkrankungen, bei denen die Psyche mitreagiert, sind: Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion, Tinnitus, Rücken- oder Gelenkschmerzen, Multiple Sklerose, Herzinfarkt, Leberentzündungen, Rheuma, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, Grippe und Asthma, aber auch viele andere mehr.
Medikamente, die häufig psychische Beschwerden auslösen, sind Blutdrucksenker, starke Schmerzmittel wie Opioide, die Antibabypille, Schlafmittel, Antiallergika und Kortison.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 06: Schilddrüsenkrankheiten bei Depression oder Angst erkennen
Unser kleines Stoffwechselorgan namens Schilddrüse liegt am Hals vor der Luftröhre und direkt unter dem Kehlkopf. Auch wenn sie klein ist, kann sie große Wirkungen im Körper entfalten. Die Schilddrüse speichert Jod und bildet daraus hauptsächlich das Schilddrüsenhormon Thyroxin (T4), zu einem geringeren Teil auch Trijodthyronin (T3). Diese Schilddrüsenhormone sind über einen komplexen Regelkreis für den Energiestoffwechsel der Körperzellen von großer Bedeutung. Ein weiteres von der Schilddrüse gebildetes Hormon ist Calcitonin, welches eine Rolle bei der Regulierung des Knochenstoffwechsels spielt. Werden diese Hormone beispielsweise aufgrund extremen Jodmangels, durch bestimmte Medikamente, autoimmune Entzündungen oder Tumore verstärkt oder vermindert an die Blutbahn abgegeben, entsteht das Syndrom einer Unter- oder Überfunktion der Schilddrüse.
Unabhängig von der Ursache kann eine Über- oder Unterfunktion auch die Symptome einer Angsterkrankung oder einer Depression zeigen. Dann ist ein wichtiger Behandlungsschritt, dem Schilddrüsenstoffwechsel durch die Einnahme von Hormonen, Hormonblockern oder durch eine OP zu seinem Gleichgewicht zu verhelfen. Bei Schilddrüsenerkrankungen bestehen überdurchschnittlich häufig psychische Beschwerden, sodass eine Behandlung auf körperlicher und psychischer Ebene notwendig ist48. Das bedeutet, dass der Schilddrüsen-Stoffwechsel in Ordnung gebracht werden muss und eine womöglich gleichzeitig bestehende Depression oder Angststörung parallel psychotherapeutisch oder medikamentös behandelt wird.
Wichtig ist eine Schilddrüsen-Diagnostik auch, wenn der Stoffwechsel in einem groben Screening (mittels TSH-Messung) normal erscheint. Die recht verbreitete Hashimoto-Krankheit kann nämlich aufgrund der Entzündungsreaktion auch emotionale Veränderungen bewirken, selbst wenn der Schilddrüsen-Stoffwechsel noch völlig normal scheint; das haben Versuche an Mäusen gezeigt49.
Bei allen körperlichen Symptomen lassen Sie sich bitte unbedingt gründlich untersuchen – hinter allen scheinbaren psychisch bedingten Beschwerden können Organkrankheiten stecken. Ihr Hausarzt ist Ihr Ansprechpartner.
Wir haben über das Leib-Seele-Problem gesprochen, über unsere psychische Entwicklung, über die Bedeutung der Gefühle und über den Zusammenhang von Körper und Seele. Nun möchte ich mit Ihnen den Blick auf die Psyche lenken und die Frage stellen: Was genau kann die Psyche eigentlich krank machen?
Wie die Psyche funktioniert und
was sie krank macht
Wir können psychische Einflüsse von körperlichen Einflüssen auf die Organfunktionen nicht klar trennen. Sobald jemand einen Schreck bekommt und sein Herz zu rasen beginnt, ist das Herzrasen ein Körpersymptom und kein psychisches Symptom mehr. Um das Herz zum Rasen zu bringen, braucht der Schreck unser Bewusstsein auch gar nicht zu erreichen. Blitzartig wird das Ganze über die Amygdala (das Angstzentrum) und dann über das »Glasfaserkabel« Sympathikusnerv zum Herzen weitergeleitet, wie wir bereits gesehen haben – erst danach wird uns bewusst, was eigentlich passiert ist.
Kein Symptom ist nur körperlich oder nur psychisch.
Ich möchte Sie jetzt in ein Konzept einweihen, das sich mit den psychischen Anteilen von Krankheitsauslösern befasst. Ich nenne sie die »unsichtbaren Auslöser«, weil sie sich nicht nachweisen oder beweisen lassen, wie Hormone oder Entzündungszellen im Blut es tun. Sie sind Schubladensysteme, also Hilfskonstrukte, die eine Annäherung an die in der Seele herrschenden Kräfte ermöglichen sollen.
Ja, nein – jein! Die Theorie der inneren Konflikte
Menschen haben innere Konflikte, und sie interessieren sich für Konflikte. Sie dürfen über einen Roman Ihrer Wahl nachdenken, und ich verrate Ihnen, warum der Roman spannend war: wegen des Konflikts des Protagonisten. Er hat Sie für den Moment des Lesens mit Ihrer eigenen konflikthaften Innenwelt in Kontakt gebracht, aber nicht zu sehr – es war ja nur ein Buch …
Konflikte sind deshalb so anregend für uns, weil sie ein Lebenselixier sind, sie bedeuten Lebendigkeit und (im gesunden Fall) Entwicklung. Freud erwähnt in seiner »Triebtheorie«50 bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee der inneren Konfliktpole von Aggression und Liebe, die seiner Ansicht nach einerseits der Selbsterhaltung und andererseits der Arterhaltung dienen. Auch die Begriffe »Lebenstrieb« und »Todestrieb« als inneres Spannungsfeld werden Ihnen vielleicht bekannt vorkommen.
Zuerst möchte ich die Gelegenheit nutzen, mit einem verbreiteten Irrtum über Konflikte aufzuräumen. Häufig hört man: »Du musst deine Konflikte lösen, um gesund zu werden!« oder »Du musst lernen, in Konflikten ›Nein‹ zu sagen«. Im Alltag meinen wir mit Konflikten solche zwischen Menschen, zwischen Gruppen oder sogar Staaten. Im Rahmen der Psychosomatik ist mit den inneren Konflikten etwas ganz anderes gemeint: die Konflikte innerhalb der Psyche einer Person. Das klingt natürlich etwas abstrakt, weil wir uns ja meistens in Konflikten mit anderen wie Kollegen, Familienmitgliedern oder mit einer Hotline-Mitarbeiterin wiederfinden. Was soll also ein innerer Konflikt sein – wir sind doch einfach wir, oder?
Unbewusst unlösbar
Als psychodynamisch ausgebildeter Psychotherapeut gehe ich davon aus, dass in der menschlichen Psyche ständig Wünsche, Anforderungen und Erfordernisse miteinander im Widerstreit stehen. Wenn in der frühen Kindheit – wir hatten in einem vorherigen Kapitel darüber gesprochen – Bedürfnisse oder natürliche Triebe aus Angst oder Scham oder Schuld ins Unbewusste verdrängt werden mussten, kristallisiert sich so etwas wie ein chronischer und scheinbar unlösbarer Grundkonflikt für die betreffende Person heraus.
Ich denke an Patienten von mir wie einen Lehrer, der nicht auf den Tisch hauen konnte, wenn ihm etwas nicht passte, oder eine Studentin, die sich nicht von ihrem Freund trennte, obwohl sie eine Liste mit 27 Gründen gegen eine Fortsetzung der Partnerschaft verfasst hatte. Sie litten unter einem unbewussten und unlösbaren Konflikt. Warum lösten sie diesen nicht einfach?
Um uns tagtäglich nicht zu sehr zu überanstrengen mit den Auswertungen von Sinneseindrücken und Vorerfahrungen, arbeitet unsere Psyche zu etwa 95 Prozent unbewusst. Das Gehirn läuft auf Autopilot und spart sich so eine Menge Energie. Sie haben richtig gelesen, nur fünf Prozent von dem, was sich in uns abspielt, nehmen wir bewusst wahr als Gedanke, Bedürfnis, Gefühl oder Impuls51.
Unsere Psyche hat Schutzmechanismen, die unerwünschte, weil unlösbare Konflikte und die daraus resultierenden Spannungen in den unbewussten Bereich abdrängen. Darüber haben wir bereits gesprochen. Die Psyche kann lästige Regungen unter anderem verleugnen (»Nein, mir geht es doch total gut!«), auf andere Personen projizieren (»Der ist immer so gierig!«) oder auch gegen ein Ersatzziel tauschen (Sublimierung). Hierher passt das Beispiel mit dem teuren Ferrari, wenn sexuelle Bedürfnisse auf der Strecke bleiben. Das Ganze bleibt meist unerkannt und wird erst dann schwierig, wenn diese Schutzmechanismen, die psychische Abwehr, so stark und unflexibel sind, dass ständig die Automatik läuft. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, wann diese Automatik zum Problem werden kann.
Automatik und Konfliktspannung
Wahrscheinlich entscheiden Sie sich nicht jeden Morgen bewusst, ob (und zu welcher Zeit) Sie Ihre Arbeitsstelle aufsuchen. Womöglich haben Sie auch nicht jeden Morgen Lust, arbeiten zu gehen, aber Sie tun es trotzdem. Warum?
Die Interessenabwägung wird automatisch und unbewusst durchgeführt, Ihre Psyche belastet Sie erst gar nicht damit. Gegen die Arbeit steht vielleicht, dass Sie müde sind und keine Lust haben. Für die Arbeit spricht, dass Sie Geld dafür bekommen und Ihre Kollegen Sie erwarten. Ohne Sie aktiv damit zu belästigen, überwindet Ihre Psyche die Unlust, schickt Sie zum Duschen, Anziehen und zum Frühstücken – und Sie verlassen das Haus in Richtung Arbeit.
Vielleicht denken Sie jetzt: »Es muss ja sein, ich muss zur Arbeit.« Aber stimmt das?
Nein, natürlich nicht. Sie malen sich gar nicht zu Ende aus, was passieren würde, wenn Sie nicht bei der Arbeit erschienen. Durch das »Ich muss ja« nimmt Ihnen Ihr Autopilot die Last ab, alle Aspekte erneut zu beleuchten, und macht es Ihnen einfach mit dem Müssen.
In Wahrheit ist es aber eine ständige unbewusste Entscheidung, die Sie auf der Grundlage Ihrer inneren Ziele und Lebenserfahrungen treffen. Sie hätten es womöglich durchaus in der Hand, Nein zu sagen und im Bett liegen zu bleiben.
Doch der Autopilot der Psyche schützt uns vor einem Zuviel an Entscheidungen.
Es kann aber auch passieren, dass die Sache mit dem Autopiloten sehr schiefläuft! Stellen wir uns einmal vor, Ihre Arbeit macht Ihnen seit Monaten keinen Spaß mehr, die Wertschätzung fehlt, die Aufgaben sind nicht zu bewältigen und die Arbeitsabläufe kaum von Ihnen beeinflussbar: Burn-out-Risiken pur!
Warum machen Sie trotzdem einfach weiter? Warum dringt die Entscheidungsmöglichkeit, arbeiten zu gehen oder zu Hause zu bleiben, nicht in Ihr Bewusstsein vor?
Genau das passiert gar nicht so selten: Menschen tun lange Zeit Dinge, mit denen es ihrer Gesundheit schlechter und schlechter geht. Die Ursache ist ein innerer Konflikt, der unbewusst vom Autopiloten ständig gelöst wird, um uns die Konfliktspannung zu ersparen. Die Einstellung des Autopiloten erfolgte bereits in früheren Situationen, oft in der Kindheit. Wenn das Kind in der Phase der Autonomie und Machterprobung im zweiten bis vierten Lebensjahr lernt, nicht aufmüpfig sein zu dürfen und immer gut mitzumachen, hat der Erwachsene später die Neigung, eigene Bedürfnisse wegzudrücken und alles für andere, beispielsweise den Arbeitgeber, zu tun. Das kann so stark ausgeprägt sein, dass die Idee, ein Gespräch mit dem Chef oder einen besseren Job zu suchen, nicht einmal ins Bewusstsein vordringt.
Das nennt man eine Neurose: Sie treffen eine Ihnen nicht bewusste Entscheidung, bekommen aber die Gründe dafür gar nicht mit. Sie empfinden es so, als ob Sie keine Wahl hätten.
Sie können sich ausmalen, dass das die Freiheit, selbstbestimmt zu leben, erheblich einschränkt und es dazu führt, dass Betroffene hinter ihren Möglichkeiten bleiben, ihr Leben ausgeglichen zu gestalten.
Die Folgen sind nicht selten psychosomatische Beschwerden, Ängste und Depressionen, weil sich die unterdrückte Konfliktspannung körperlich durchaus zeigt. Wir haben die sechs dafür nötigen großen Verbindungswege zwischen Psyche und Körper bereits im Kapitel »Die sechs Wege der Kommunikation zwischen Psyche, Gehirn und Organismus« ab hier betrachtet.
Verhandlungssache
Als Prototyp der konflikthaften Psyche hat Sigmund Freud 1923 das »Instanzenmodell« veröffentlicht52. Heute gibt es zahlreiche Weiterentwicklungen dieses Modells. Freud sagte damals, unsere Psyche habe drei innere Instanzen, die so etwas wie Verhandlungspartner seien. Wie an einem runden Tisch sitzen das »Es«, das für die Triebe, also alles Lustvolle und Spaßige, aber auch Aggressive eintritt, das »Über-Ich«, das die moralischen Werte, Verpflichtungen und Verbote vertritt, und schließlich das »Ich«, das ständig zwischen den beiden Interessensvertretern abwägen und vermitteln muss, beisammen. Das »Ich« ist somit das Realitätsprinzip, das sich darum kümmern muss, welche Wünsche gerade realisiert werden können und welche Notwendigkeiten unausweichlich sind.
Krankheitsanfällig ist man dann, wenn das »Über-Ich« als Gewissen alles Schöne und Entspannte verbietet oder das Lustprinzip des »Es« eine durchzechte Partynacht nach der anderen fordert. So kann das »Ich« überfordert werden, was Angst erzeugt und zur Verschiebung des Konfliktes ins Reich des Unbewussten wirkt. Dann ist man in einer Endlosspirale gefangen.
Psychosomatische Symptome entstehen nun, wenn der lustvolle Anteil immer zugunsten des Gewissens verliert und die Konfliktspannung so groß wird, dass wir krank werden. Ohne dass wir bewusst verstehen, weshalb wir plötzlich unruhig, niedergeschlagen oder von Körpersymptomen geplagt sind, steht nicht selten ein psychischer Konflikt dahinter. Gefühle zeigen sich dann als körperliches Symptom, während sich durch die Verdrängungsmechanismen die Bedeutung des Gefühls unserer Wahrnehmung entzieht – das hat der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms recht überzeugend dargelegt53. Er hat in Untersuchungen herausgefunden, dass in diesen Fällen verstärkt die Amygdala im Gehirn gehemmt wird, was mit der Verdrängung von emotionalem Erleben aus dem Bewusstsein übereinzubringen ist.
Ausgleich und was ihn schwierig macht
Wobei kann uns das Konflikt-Modell der Psyche helfen?
Ich möchte Ihnen dazu sagen, wie es mir gerade geht: Draußen sehe ich durch mein Fenster einen wunderbaren Herbsttag mit goldenem Laub und dem Licht der blauen Stunde. Aber mein »Über-Ich« sagt mir unmissverständlich, dass ich hier am Schreibtisch zu bleiben habe, um Ihnen als Leser, dem Buch und dem Abgabetermin beim Verlag gerecht zu werden. Ziemlich viele gute Gründe also, trotz des Sogs der Berliner Flanierlust sitzen zu bleiben und weiterzuschreiben. Aber was ich tun kann, ist, im Auge zu behalten, dass mein »Es«, mein Amüsierzentrum, spätestens morgen seinen Ausflug und sein Croissant mit Kaffee bekommt. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ausgleich zwischen sich widerstrebenden Zielen, von denen beide wichtig sind, lautet die Devise. Es hilft schon, einmal in sich zu horchen und sich zu vergegenwärtigen, dass da diese beiden Seiten, also »Über-Ich« und »Es« sind, und beide ihre Berücksichtigung wünschen.
Es bleibt die Frage offen, warum bestimmte Menschen bestimmte gegensätzliche Tendenzen schlecht moderieren können.
Auch hier hat die Psychoanalyse früh ein Konzept vorgelegt, das heute von der Hirnforschung untermauert wird: Auf den verschiedenen Stufen der frühkindlichen Entwicklung – siehe dazu auch das Kapitel »Die Anatomie der Psychosomatik« ab hier – gibt es unterschiedliche Bedürfnisse: das Bedürfnis, gehalten und gestillt zu werden, dann das Bedürfnis nach Bindung und Nähe, darauf das Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Entdeckung der Welt usw. Keine Eltern der Welt sind perfekt, und wenn eines dieser Bedürfnisse nicht oder nur zum Teil erfüllt wird, wird der Grundstein gelegt, bei inneren Konflikten einseitig auf das eine oder andere zu achten. Beispielsweise wird jemand, der in der Phase der Selbstbehauptung, also der Trotzphase, stark eingeschränkt und bevormundet wurde, später vielleicht stark in der Abhängigkeit zu anderen bleiben, da er gelernt hat, dass Impulse nach Selbstbehauptung und Unabhängigkeit zu nichts Gutem führen. Er könnte dann die Elternrolle auf die Rolle seines Arbeitsgebers übertragen und besonders gehorsam sein. Oder das Gegenteil: Derjenige wird bei jeder Gelegenheit aus der Reihe tanzen, weil es als Erwachsener endlich möglich ist, und es seinen »Eltern« endlich mal zeigen. Das kann im Laufe des Lebens zur dauerhaften Missachtung bestimmter Grundbedürfnisse und Motivationen führen, was nicht selten krank macht.
Außerdem entwickeln wir durch die frühe Prägung unbewusst die Tendenz, Beziehungen immer wieder im Sinne unseres Grundkonfliktes zu führen. Im Beispiel mit der Arbeit hieße das, immer wieder überfordernde, nicht glücklich machende Arbeit zu wählen, weil bei jemandem früh der Fokus auf Pflicht, Müssen und Durchhalten gelegt wurde. Das Gehirn liebt das Bekannte. Und ist es für uns persönlich auch noch so hinderlich und ungesund: Das Gehirn schüttet in bereits bekannten Situationen deutlich mehr vom Motivationshormon Dopamin aus, um uns – wie bei einer Sucht – zu signalisieren: Du tust das Richtige! Ganz einfach, weil es früher auch richtig war. In der Psychotherapie nennen wir das den »Wiederholungszwang«. Manche Menschen bleiben dadurch sehr lange Zeit in verhärteten inneren Konflikten gefangen, ohne davon Notiz zu nehmen. Das Einzige, was sie bemerken, sind einschränkende, quälende Symptome – psychisch oder physisch. Ich habe bereits erwähnt, dass sich das Neurose nennt.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 07: Symptome nicht nur
negativ sehen
Wenn Sie plagende Rückenschmerzen haben, wenn Sie wegen Schwindel kaum gerade laufen können oder aufgrund schweißiger Handflächen anderen nicht die Hände schütteln möchten, sind Sie sicher unzufrieden mit Ihren Symptomen. In meiner psychosomatischen Sprechstunde antworten die meisten meiner Patienten auf die Frage, was eine gute Fee mit drei freien Wünschen im Angebot für sie tun dürfte: »Die Symptome wegmachen!«
Ich kann das gut verstehen, muss jedoch hier meistens bremsen. Wenn die Symptome aufgrund innerer Konflikte entstehen, haben sie häufig auch eine Funktion: Sie bringen einen Konflikt zu einer vorübergehenden Lösung, um Schlimmeres zu verhindern.
Das Symptom kann Sie vor zu heftiger Entladung aufgestauter Wut an der falschen Stelle schützen, vor weiterer Erniedrigung durch die Kollegen oder vor noch einer Aufopferung für andere. Auch depressive Symptome und der Rückzug von der Welt können zu Beginn ein natürlicher Schutz sein. Wer ein Symptom hat, kann meist etwas Bestimmtes nicht mehr tun – und das kann eine Notlösung in einer Situation sein, die es erst mal zu verstehen gilt. Sehen Sie die Situation später klarer, können Sie freier entscheiden, was Sie daraus machen – und das Symptom wird oft nutzlos und verschwindet. Kompromisse sind heute nicht immer gerne gesehen, aber auch der menschliche Organismus funktioniert dank Kompromissen, um sein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Kommen wir im nächsten Kapitel zu den Einschränkungen des »Ichs«, das doch eigentlich alles fest im Griff haben soll.
Wenn die Entwicklung hakt: Störungen der Ich-Struktur
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind mit einer Bekannten auf einen Kaffee verabredet. Sie kommen gerade vom Hausarzt, bei dem Sie wegen einer beginnenden Zuckerkrankheit nun häufiger vorbeischauen, und freuen sich schon sehr auf das Treffen. Als Sie gemeinsam in der Nachmittagssonne sitzen, bestellt sich Ihre Bekannte einen großen Schokoladen-Sahne-Becher. Sie denken, Sie hören nicht richtig. So einen großen Eisbecher? Sie wissen ja, wie schädlich der Zucker bei Ihnen war, was er angerichtet hat. Ihr Herz beginnt zu pochen, und Ihnen wird richtig übel bei dem Gedanken an einen Supersize-me-Eisbecher. »Sag mal, hast du sie noch alle?«, hauen Sie vor lauter Ekel heraus. Weil Sie Diabetes haben, fühlen Sie sich von ihr unverstanden und ignoriert. Sie springen auf, lassen die Bekannte sitzen und laufen nach Hause. Dort angekommen zittern Sie am ganzen Leib, und es dauert eine Weile, bis Ihr Ärger nachlässt.
Vielen Dank, dass Sie kurz in die Rolle der emotional wenig stabilen Frau mit dem beginnenden Diabetes geschlüpft sind. Sie haben einen Eindruck bekommen, wie es sein könnte, die Welt schwarz-weiß zu sehen und sehr stark wechselnde Stimmungslagen zu haben. Instabile Persönlichkeiten können Impulse nicht gut kontrollieren und haben überhöhte Erwartungen an andere: Diese mögen sich immer auf die eigenen Wünsche einstellen.
In dieser Beispielszene war Ihre mentale Vorstellung davon, was die Bekannte motivieren oder auch abhalten könnte, einen Eisbecher zu bestellen, undifferenziert und eindimensional. Ihre Reaktion war sehr einseitig auf Sie selbst bezogen. Diese und ähnliche Mechanismen spielen unter anderem bei Persönlichkeitsstörungen, schweren Essstörungen, Süchten und Selbstschädigungen wie dem Ritzen an Armen oder Beinen eine Rolle.
Nachbeelterung
Die »Ich-Funktionen« sind ein Netz aus mentalen Strukturen, die in Resonanz und Spiegelung durch andere gelernt werden und zur Fähigkeit führen, mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen.
In unserem Beispiel dürften sich die realistische Wahrnehmung anderer sowie die Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung problematisch entwickelt haben, was sich aufgrund der neuen Diabetes-Diagnose verschärft haben könnte. Selbstkontrolle und das Unterscheiden zwischen Eigenem und Fremdem wären hier konkrete Herausforderungen, an denen ich in einer Therapie mit der Patientin arbeiten würde.
Bei gestörten Ich-Funktionen geht es um das Nachholen von Resonanz für die Bedürfnisse der Patientin. Ich würde mich um Wertschätzung, Spiegelung ihrer Gefühlszustände, aber auch um die Korrektur ihrer verzerrten Wahrnehmung im Zweierkontakt der Therapie kümmern. Die Patientin könnte lernen, für ihre Defizite Verantwortung zu übernehmen, und gemeinsam mit mir ihre Ressourcen herausarbeiten, denn – ganz sicher – hat sie an anderer Stelle erhebliche Stärken, die sie noch viel besser zum Ausgleich ihrer Probleme nutzen kann.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 08: Die eigenen Stärken vor
Augen führen
Wir sind im Alltag viel zu oft auf unsere Defizite fokussiert, auf das, was wir nicht können. Auch die Psychotherapie von heute ist manchmal noch zu stark auf Defekte gerichtet, die »repariert« werden sollen. Störungen der Ich-Funktionen lassen sich oft nicht vollständig verbessern, können aber meistens mit Stärken ausgeglichen werden, vor allem wenn man diese Stärken fördert. Das können kleine Dinge sein, wie aufrichtiges Zuhören, Freundlichkeit, Zurückhaltung oder einfach ein Freund zu sein, der keine treulose Tomate ist, sondern ein echter Lebensbegleiter.
Aus der Therapiearbeit weiß ich, dass die meisten Menschen in viel mehr Dingen gut sind, als ihnen bewusst ist. Erinnern Sie sich an den Autopiloten des Gehirns? Alles, was funktioniert, macht das Gehirn automatisch. Das spart Energie, aber Sie sind dann gar nicht mehr stolz darauf. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier (kein Smartphone) und einen Stift und schreiben Sie alles auf, was Sie können. Alles! Was Ihnen selbstverständlich erscheint natürlich auch, denn es ist ja nur eine Illusion mit der Selbstverständlichkeit.
Hier ein paar Vorschläge: andere gut einschätzen, schreiben, Gefühle wahrnehmen, Beziehungen eingehen, sich trennen, dem eigenen Körper zuhören, die Fantasie nutzen, sich freuen, Bücher lesen, andere verstehen, sich durchsetzen, die Natur genießen … Überlegen Sie bitte weiter, was Sie noch alles können. Am Ende schauen Sie sich den Zettel an und konzentrieren sich auf all diese Fähigkeiten – vielleicht können Sie morgen eine davon gezielt einsetzen.
Die Angst in der Kapsel: Psychische Traumata
Nehmen wir einmal an, die Funktionen unseres Ichs, also Beziehungen einzugehen und zu lösen, Gefühle wahrzunehmen und Impulse herunterzuregeln, hätten sich gut ausgebildet. Es gab für uns ausreichend gute Beziehungen während unserer seelischen Entwicklung. Unsere inneren Konflikte führen immer wieder zu einem passenden Ausgleich unserer sich widerstrebenden Interessen. Wir führen ein Leben, mit dem wir zufrieden sind.
Gepachtet haben wir die Sicherheit dennoch nicht. Durch ein Trauma – egal in welchem Lebensabschnitt – kann viel von dem zerstört werden, was uns innere Stabilität gibt.
Dabei werden zwei Arten von Traumata unterschieden.
Es gibt das einzelne Trauma im Rahmen einer konkreten Traumatisierung (Banküberfall), das beschrieben wird als »Situation (…) außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde«54.
Außerdem gibt es komplexe Traumatisierungen, bei denen mehrere Traumata aufeinander folgen, die dann zusammengenommen ein zerstörerisches Ausmaß für die Betroffenen annehmen. Beispiele dafür sind Verwahrlosung, Gewalt oder Missbrauch. Das Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht in der inneren Welt der Betroffenen spielt hier eine entscheidende Rolle. Die Opfer können sich häufig nicht von den Geschehnissen distanzieren und mit den aufkommenden Gefühlen wie Ärger, Wut und Angst nicht umgehen. Ihre Ich-Funktion der Regulationsfähigkeit ist überlastet, was zu Wutausbrüchen, Selbstverletzung oder Selbstberuhigungsversuchen mit Alkohol oder anderen Drogen führen kann.
Oft sind Kinder die Opfer. Meistens im Verborgenen erleiden sie beispielsweise emotionalen Missbrauch. Dabei werden Grundbedürfnisse des Kleinen missachtet, für die es selbst nicht sorgen kann, wie die Ernährung. Wutausbrüche und andere verzweifelte Gefühle des Kindes werden bestraft. Zudem werden unrealistische Erwartungen an das Kind gestellt, oder es wird durch Vergleiche abgewertet (»Du bist wie dein Vater«). Besonders schwerwiegend kann es für ein Kind sein, in die Auseinandersetzung um eine Trennung der Eltern mithineingezogen zu werden, während das Erleben des Verlassenwerdens ohnehin oft tief greifende Ängste aktiviert und nicht selten zu einer späteren Angst vor erneuten Verlusten führt.
Es gibt viele weitere Formen des emotionalen Missbrauchs, die häufig mitten in der Gesellschaft stattfinden und auch von den Opfern lange unausgesprochen bleiben.
Traumafolgen
Weil traumatische Ereignisse so überflutend und bedrohlich sind und für den Betroffenen eigentlich eine Art Selbstzerstörung bedeuten, können Traumata meist nicht in die Seele integriert werden. Sie werden dann vom übrigen Denken und Fühlen wie in einer Blase abgespalten – ein Fremdkörper, der nicht in den Organismus integriert wird. Das hat auch eine Schutzfunktion, da es dem Traumatisierten erst einmal ein Weiterleben ermöglicht. Allerdings bleiben die körperlichen Anteile der unerträglichen abgekapselten Gefühle. Dies kann dann, manchmal erst eine ganze Weile nach dem traumatischen Ereignis, zu schweren psychosomatischen Symptomen führen.
Typische Traumasymptome sind »Intrusionen«, also einschießende Erinnerungen oder Bausteine der Erinnerung, die plötzlich an die Oberfläche kommen und so heftig wirken, als wenn das Ereignis gerade nochmals ablaufen würde – mit allen körperlichen Begleitsymptomen.
Meist leiden die Betroffenen auch unter einem Vermeidungsverhalten, sodass sie sich von allem, was an das Trauma erinnern könnte, intuitiv fernhalten. Zusätzlich leiden Betroffene an einer nervlichen Übererregbarkeit des ganzen Körpers, genannt »Hyperarousal«, sowie an einer ständigen Alarmbereitschaft. Die meisten Opfer entwickeln in der Folge ein sehr negatives Selbstbild.
Traumata können nicht nur psychisch krank machen, sondern auch körperlich: Sie schädigen das Immunsystem, steigern die Anfälligkeit für Autoimmunerkrankungen wie Diabetes und machen empfindlicher gegenüber Stress55.
In der Psychotherapie ist es bei einer Erkrankung mit Traumaursache vor allem wichtig, erst einmal eine neue Sicherheit, einen neuen »Schutzraum« aufzubauen – und erst später das Geschehene zu betrachten, es zur Sprache zu bringen und es in das übrige seelische Leben zu integrieren.
Exkurs:
Die ACE-Studie – körperliche Krankheit durch psychische Traumata
Der oft verkannte, weil unsichtbare Zusammenhang von schlechten Erfahrungen in der Kindheit und späteren körperlichen Krankheiten ist eindeutig belegt56. Forscher haben im Rahmen der ACE-Studie (ACE = Adverse Childhood Experience = negative/ungünstige Kindheitserfahrungen) ab den 1990er-Jahren über 17.000 Erwachsene in den USA bezüglich Traumatisierungen interviewt. Sie suchten nach körperlichen Misshandlungen, sexuellem und emotionalem Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt gegenüber der Mutter, Trennung und Suchtmittelgebrauch der Eltern. Bei zwei Dritteln der untersuchten Probanden aus der Mittelschicht mit guter Bildung und festem Job wurde mindestens ein Trauma gefunden, bei 12,5 Prozent lagen vier und mehr Traumata in der Vergangenheit. Die Verknüpfung mit der Gesundheitssituation als Erwachsener zeigte eine starke Erhöhung des Risikos für körperliche Erkrankungen wie Leber-, Herz- und Lungenkrankheiten, Krebs, Knochenbrüche, spätere Totgeburten, aber auch für Nikotinabhängigkeit, Depressionen, Selbstmordversuche und Geschlechtskrankheiten. Überaus erstaunlich an dieser Untersuchung ist: Für die meisten Erkrankungen und Spätfolgen steigt das Risiko recht gleichmäßig mit der Summe der Traumata an. Das heißt, dass auch bei negativen Kindheitserlebnissen die Dosis das Gift macht.
Wir sehen daran, wie sehr es sich lohnt, überall, wo wir können, auf die Jüngsten achtzugeben. Doch wir können auch als Erwachsene verlorene Sicherheit zurückgewinnen und Spuren von Abwertung und Vernachlässigung teilweise überschreiben – dazu mehr im dritten Teil »DIY – Ihre psychosomatische Gesundheit fördern« ab hier.
Trauma aus Sicht der Neurobiologie
Die Annahme, dass das Trauma in einer Blase, getrennt vom übrigen Gedächtnis, abgelegt wird, lässt sich auch in neurobiologischen Modellen wiederfinden57. Die Traumatisierung kann eine langfristig erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol auslösen, das auf den Hippocampus im Gehirn einwirkt. Diese Gehirnstruktur sorgt eigentlich für die Speicherung von Sinneseindrücken wie Bilder, Geräusche oder Gerüche als ganz klar benennbare Gedächtnisinhalte. Durch den traumatisch bedingten Stress wird das Erlebte ohne sprachliche Verknüpfung gespeichert, sodass die Erlebnisse nicht verarbeitet werden können. Die Folgen von Misshandlungen brennen sich über die Methylierung (Epigenetik) sogar in die Gehirnzellen im Hippocampus ein. Außerdem kann der mediale präfrontale Kortex die Amygdala nicht mehr herunterregulieren, die nun auf alle möglichen Sinneseindrücke, die in der Traumasituation vorkamen, völlig ungehemmt mit Alarm reagiert. Dies passiert, weil verschiedene, eigentlich ungefährliche Eindrücke als Bedrohung interpretiert werden und ein SOS an den Organismus gemeldet wird. Mit einer Psychotherapie ist dieser Prozess abzuschwächen, und Sicherheit kann zurückgewonnen werden.
Beziehungsmedizin
Beziehungen – ob zu frühen Bezugspersonen oder zu Menschen im Hier und Heute – stehen für unsere körperliche und psychische Gesundheit viel mehr im Mittelpunkt, als lange gedacht.
Wer traumatische Erfahrungen mit anderen gemacht hat, begegnet seinen Mitmenschen daraufhin anders: misstrauisch und mit Angst. Bei der Überwindung psychosomatischer Beschwerden, die auf Traumata beruhen, können wir an unserem heutigen Beziehungsgeflecht ansetzen, um ungünstige oder destruktive Entwicklungen mithilfe von psychotherapeutischen, aber auch anderen haltgebenden Beziehungen überwinden zu können. Menschen, die Traumatisierungen erlebt haben, müssen ein neues Gefühl der Zugehörigkeit lernen. Oft brauchen sie dazu die Unterstützung eines Therapeuten – sie und die Menschen in ihrem Umfeld können aber auch selbst einiges tun.
Raus aus der Psychosomatik-Falle
Nr. 09: Wie wir Zugehörigkeit und Sicherheitsgefühl fördern
Körper an Seele: Somatopsychische Störungen
Eine unterschätzte Herausforderung für unsere Psyche ist es, körperliche Krankheiten zu verarbeiten. Ganz besonders trifft dies für chronische Krankheiten zu, mit denen der Betroffene fortan leben muss. Aber auch Krankenhausaufenthalte, Operationen oder Dialyse als Ersatz der Nierenfunktion sind Situationen, die uns eine große Anpassungsleistung abverlangen.
Bewältigung intensiver Gefühle von Angst und Bedrohung, aber auch Sorge um den Verlust der bisher bedienten Rolle als Mutter, Vater oder Mitarbeiter kosten psychische Kraft.
Gelingt die Anpassung an eine körperliche Krankheit oder einen körperlichen Schaden, können Betroffene ein neues Selbstbild entwickeln, vielleicht mit einer anderen Zukunft und ganz anderen Prioritäten. Dafür ist meist ein Trauerprozess nötig. Körperliche Krankheit kann aber auch zu intensiven Scham- oder Schuldgefühlen bis hin zur Depression führen – typische somatopsychische Störungen. Die Erkrankten verleugnen dann häufig viel von ihrem Leid, das die Menschen in ihrem Umfeld oft sehr intensiv erleben.
Wenn Sie körperlich krank sind und sich belastet oder innerlich leer und hoffnungslos fühlen, ist eine psychosomatische Diagnostik unbedingt anzuraten. Eine somatopsychische Störung kann mit Psychotherapie behandelt werden.
Gesellschaftliche und kulturelle Gründe
Durch unsere gesellschaftliche Prägung werden wir erst zu den Wesen, die wir sind. Freud beschrieb unsere Sozialisierung in seinem kulturkritischen Werk »Das Unbehagen in der Kultur«58 als einen in das psychische Leben stark eingreifenden Prozess, bei dem ein Teil unserer Sexual- und Aggressionstriebe in Schuldgefühle umgewandelt werden müsse, damit wir als Gemeinschaft funktionsfähig seien.
Klar – wir finden, wie wir leben, normal, doch geben wir tatsächlich einiges an Freiheit auf, um Schutz und Versorgung durch die Gesellschaft zu erhalten. Wir ordnen uns unter, um unsere Energie auf andere, als höher anerkannte Ziele umzulenken, statt den instinkthaften Trieben nachzugeben. Wir sind Teil eines Systems, und das System ist ein meist nicht hinterfragter Teil von uns. Ein ganzes Stück bewusster haben wir das Machtmonopol des Staates zu Beginn der Corona-Pandemie und des Lockdowns spüren können. Es gab viele neue Regeln wie die Mundschutzpflicht im Supermarkt. Uns wurde vor Augen geführt, dass wir regelmäßig eigene Impulse (sich den Mundschutz vom Gesicht zu ziehen, um frei atmen zu können) zugunsten gesellschaftlicher Erwartungen (unsere Mitwirkung am Schutz anderer vor Tröpfcheninfektion) unterdrücken müssen. Das ist der Preis, um uns unsere Akzeptanz in der Gesellschaft zu sichern.
Ich möchte zumindest Spotlights auf drei bedeutsame gesellschaftsbedingte Krankheitsmotoren unserer Zeit werfen, die uns als Individuen schädlich beeinflussen können.
Beschleunigung
Dass alles schneller wird, gilt als Fortschritt. Vielleicht kennen Sie das auch, dass Sie gar nicht mehr bereit sind, mehr als 48 Stunden auf eine Internetbestellung zu warten? Wer sich für etwas entschieden hat, will es sofort – bei mir ist das jedenfalls so. Und gleichzeitig ist das kein großes Problem, denn wenn mir irgendetwas an meinem neuen Produkt nicht gefällt, sende ich es wieder zurück. Ich finde, das hat Vorteile. Andererseits ist das, glaube ich, für Mitarbeiter moderner Service- und Online-Unternehmen wirklich aufreibend – sie müssen sich als Sklave von Algorithmen und anonymer Erwartungshaltung fühlen. Schnelles Reagieren, Preiskämpfe und das Wecken von Begehrlichkeiten spielen mit unseren unbewussten Wünschen und Bedürfnissen. Leider werden diese, je schneller gehandelt wird (und geklickt, gekauft, bewertet wird), immer weniger verstanden. Die Gefahr ist, dass wir so zu Spielbällen der Ökonomie werden, und unsere menschlichen Stärken, wie das Reflektieren und Verstehen, eher zu einem Nachteil gegenüber den exakteren und schnelleren Computer-Brains.
Nicht selten sehe ich auch »schnelle« Patienten, die es kaum aushalten, für einige Minuten zu bremsen und nur zu sein – und in der Zeit nichts zu tun. Die Seele ist kein D-Zug, die Gefühlswelt lässt sich nicht beschleunigen und braucht ihre Zeit. Einige Patienten sind richtig enttäuscht darüber. Gleichzeitig leiden sie unter körperlichen Beschwerden, die auf eine ständige Aktivität des Stresssystems hindeuten: Schlafstörungen, Herzrasen, Schwitzen, Durchfall und Konzentrationsmangel.
Wir sollten uns wieder mehr auf den Rhythmus des Lebens besinnen, in dem alles seine Zeit hat und Geduld erfordert – das Lachen, das Trauern, das Suchen, das Schweigen, das Sprechen, das Warten, das Klagen.
Auflösung
Vielleicht ahnen Sie, dass ich mich beim Ende des vorausgehenden Abschnitts auf die Bibel bezogen habe, in der es heißt: »Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: (…)«59.
Genau das ist der nächste Punkt: Viele Sinnzusammenhänge, die die Menschheit über Jahrhunderte oder Jahrtausende gewohnt war, lösen sich auf. Das sind nicht nur religiöse Gemeinschaften, die Sicherheits- und Zugehörigkeitsgefühl bedeuteten. Geborgenheit entsteht auch durch Beziehungen und Vertrauen, die durch schnellere Jobwechsel, Partnerschaftswechsel bis hin zur Flexibilisierung des Wohnortes kaum noch wachsen können. Wirtschaftliches Wachstum benötigt Beschleunigung, und Beschleunigung benötigt Flexibilität. Auf mangelnde Geborgenheit reagieren Menschen allerdings mit Angst. Und tatsächlich haben wir einen erheblichen Anstieg von diagnostizierten Angsterkrankungen – sie sind die häufigsten psychisch-psychosomatischen Krankheiten überhaupt60.
Als neues Konzept steht der teilweisen Auflösung alter Strukturen wie den Sportvereinen, den Kegelklubs und den Jugendhäusern die digitale Vernetzung gegenüber, die uns unendliche Freiheiten und Möglichkeiten suggeriert – und vielleicht auch tatsächlich bietet. Bei allen Vorteilen ist womöglich ein Nachteil, dass das Internet nie zu Ende und ausgelesen ist. Es gibt nie eine Sinneinheit, die ich beiseitelegen kann. Auch nach Feierabend strömen Informationen und Newsletter auf mich ein. Dieses Buch können Sie zuklappen und später an der gleichen Stelle weiterlesen – ohne dass Sie etwas verpassen. Es hat einen Anfang und ein Ende. Wenn es Ihnen nicht gefällt, verschenken Sie es. Das Internet wächst ständig, entwickelt sich immer weiter. Das hat ja auch sein Gutes, aber unsere Psyche braucht ihrer Natur nach Strukturen und Grenzen, vor allem wenn sie gesund bleiben will – und da ist der Umgang mit dem Internet eine Herausforderung.
Polarisierung
Die Polarisierung unserer Gesellschaft ist wahrscheinlich der am meisten öffentlich debattierte Faktor für psychische Belastungen.
Für die psychische Gesundheit sind Extreme eher schwierig: Jemand ist gut oder böse, links oder rechts, ein Flüchtling oder kein Flüchtling, ein Populist oder kein Populist. Diese Etiketten dienen auf unbewusster Ebene auch dazu, sich nicht mit dem Fremden auseinandersetzen zu müssen und sich als besserer Mensch abgrenzen zu können. Bei jeder Polarisierung, die wir für uns übernehmen oder bei der wir uns zuordnen, wird eine innere Tür zugeschlagen, die einen Raum zur Selbsterkenntnis verschließt.
Die Wahrheit ist, dass wir unheimlich viele Facetten und innere Anteile haben, auch aggressive und bösartige. Je mehr wir diese Anteile nur den anderen zuschreiben und ganz und gar nichts damit zu tun haben wollen, desto größer ist die Chance, dass wir diese Seiten irgendwann unbewusst ausleben (ausagieren) müssen. Je mehr wir uns erlauben, damit in Kontakt zu treten und sie anzuerkennen, desto mehr Verständnis haben wir auch für andere – und ihre unschönen Persönlichkeitsanteile.
Bei stark polarisierenden Patienten ist es oft nicht möglich, bestimmte Eigenschaften, die sie nur ihren Feinden zuschreiben, bei ihnen selbst zu betrachten. Die Folgen sind verzerrte und unrealistische Welt- und Selbstbilder.
Das war unsere Reise durch die Grundlagen, Theorien und Zusammenhänge der Psychosomatischen Medizin. Im Folgenden möchte ich Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie diese Erkenntnisse in der praktischen ärztlichen Arbeit angewendet werden.