Ende der 70er Jahre begann eine Veränderung im demokratischen Kapitalismus der Vereinigten Staaten, die sich bald auch im Rest der Welt bemerkbar machte. Der Kapitalismus triumphierte, und nicht nur als Ideologie. Die Struktur der Wirtschaft in den USA und weltweit hat sich hin zu weit konkurrenzorientierteren Märkten gewandelt. Die Macht hat sich hin zu Verbrauchern und Anlegern verschoben.
Gleichzeitig schwanden die demokratischen Aspekte des Kapitalismus. Die Einrichtungen, die für die formelle und informelle Umverteilung des Wohlstandes, die Sicherung der Arbeitsplätze und Standortregionen sowie die Festlegung der egalitären Spielregeln zuständig waren, verloren immer mehr an Einfluss. Dasselbe galt für die gigantischen Oligopole, die großen Gewerkschaften, die Regulierungsbehörden und die Gesetzgeber mit ihrem besonderen Augenmerk auf die Regionalpolitik und Gemeinden. Heute bleibt Unternehmen keine andere Wahl, als erbarmungslos nach Profiten zu streben. Staatsmännische Unternehmensführer sind verschwunden. So gesehen hängen der Sieg des Kapitalismus und der Niedergang der Demokratie eng zusammen. Der demokratische Kapitalismus wurde durch den Superkapitalismus abgelöst.
Aber wie kam es dazu?
1
Auf kaum eine Frage werden mit solcher Überzeugung so viele falsche Antworten gegeben wie auf diese. Die einen behaupten, es sei |73|die galoppierende Inflation der späten 70er Jahre gewesen, die durch das Öl-Embargo der OPEC genährt wurde und den damaligen Notenbankchef Paul Volcker veranlasst habe, die Leitzinsen so weit zu erhöhen, dass die Wirtschaft beinahe zum Stillstand kam. Die Anhänger einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik erklären mit derselben Überzeugung, der Wandel zum Guten habe mit Ronald Reagans Steuersenkungen aus dem Sommer 1981 begonnen, mit denen er den kapitalistischen Geist genährt habe. Wieder andere sehen die Ursache in der Welle der Deregulierungen, die Anfang der 70er Jahre einsetzte. Oft hört man auch, die Globalisierung sei schuld, oder die Gier der Manager, die angeblich in den 80er Jahren die Führungsetagen der US-Unternehmen und Banken erfasst habe. Gern verweist man auch auf die Wirtschaftswissenschaftler, die den Theorien von Adam Smith neues Leben einhauchten. Schließlich wird oft behauptet, verantwortlich sei die politische Korruption, die mit der Watergate-Affäre im Jahr 1972 begonnen habe, oder die bürgerlichen Werte seien im Niedergang begriffen.
Viele dieser Erklärungen sind unsinnig. Die Veränderungen setzten schon früher ein, als die meisten dieser Theorien behaupten (so verlangsamten sich beispielsweise die großen Produktivitätszuwächse der 50er und 60er Jahre bereits Anfang der 70er Jahre spürbar, was darauf schließen ließ, dass eine dramatische Veränderung im Gange war) und setzen sich bis heute fort – durch Aufschwünge und Abschwünge, unter republikanischen und demokratischen Präsidenten, und unabhängig davon, wie genial oder dumm, anständig oder gierig die verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Führer gewesen sein mögen. Natürlich spielten Deregulierungen und die Globalisierung eine gewisse Rolle, doch das wirft die Frage auf, warum diese Entwicklungen sich in den 70er Jahren mit solcher Macht durchsetzten, aber nicht zuvor. Außerdem betrachtet keine dieser Theorien das Gefüge aus Wirtschaft und Politik als Ganzes und erklärt die Veränderungen innerhalb des demokratischen Kapitalismus. Vor allem sind diese Theorien zu sehr auf die USA fixiert und übersehen, dass sich ähnliche Veränderungen |74|auch in Europa und Japan abspielten und die meisten anderen Länder erfasst haben, die sich als kapitalistische Demokratien bezeichnen.
Die wahre Erklärung hat mit den Technologien zu tun, die es Verbrauchern und Anlegern ermöglichen, immer bessere Geschäfte zu machen – und damit, wie diese Geschäfte schließlich die Gleichheit und Stabilität sowie andere soziale Werte beeinträchtigen. Aber diese Behauptung bedarf einer ausführlicheren Erklärung.
Ab Mitte der 70er Jahre begannen die großen Oligopole, in denen das US-System verankert war, zu schwanken. Ihre Verkäufe, Profite und Arbeitsplätze wurden immer unsicherer. In den Jahrzehnten zuvor konnte ein Unternehmen, das unter den ersten fünf seiner Branche rangierte, fast sicher davon ausgehen, dass es diese Position halten würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass es diese Position innerhalb der folgenden fünf Jahre verlieren würde, lag bei weniger als 10 Prozent. Bis zum Jahr 1998 war diese Wahrscheinlichkeit auf 25 Prozent gestiegen.1 Große Unternehmen blieben auch weiterhin groß, viele wurden sogar noch größer. Doch ihre Wettbewerbsposition erwies sich als immer unsicherer. Zwischen 1970 und 1990 vervierfachte sich die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen aus der Liste der 500 größten Unternehmen verschwanden.2 Es passierten merkwürdige Dinge. Die größten Konzerne wurden immer anfälliger. Im Jahr 1993 überstieg der Börsenwert von Microsoft den von IBM, und das obwohl Microsoft mit einem Geschäftserlös von 3 Milliarden US-Dollar nur einen Bruchteil der Gewinne von Big Blue erwirtschaftete.
Einer der Gründe war, dass Verbraucher und Anleger plötzlich eine größere Auswahl hatten. Aus den drei großen Autofabrikanten, die während der 50er und 60er Jahre im Stillen ihre Preise, Löhne und Produktionsmengen abgesprochen hatten, waren sechs geworden, von denen drei ihren Sitz in Japan hatten, aber große Stückzahlen in den USA produzierten. Diese sechs standen untereinander in scharfem Wettbewerb. Aus den drei großen Fernsehanstalten, die in den 50er und 60er Jahren die Fernsehlandschaft |75|mit ihren öden Seifenopern und Sitcoms in eine Wüste verwandelt hatten, wurden schließlich Hunderte von Kanälen, die sich auf Themen wie Wetter oder Tiere spezialisierten, natürlich weiter jede Menge Seifenopern und Sitcoms produzierten und einander die Zuschauer abjagten. Die Hand voll großer Fluggesellschaften, die sich die wichtigsten Routen untereinander aufgeteilt hatten und feste Preise verlangten, verwandelten sich in Dutzende Unternehmen, deren Preise und Routen sich ständig veränderten und die untereinander in scharfem Wettbewerb standen. Die Gepflogenheiten in der Filmindustrie, die von wenigen Hollywood-Studios regiert worden war, hatten mittlerweile Ähnlichkeit mit einer Wildwest-Schießerei zwischen gigantischen Medienkonzernen, unabhängigen Produktionsfirmen und Internetanbietern. Das Monopol der Telefongesellschaft AT & T wurde zerschlagen, und die neu gegründeten regionalen Bell-Gesellschaften sahen sich zunehmender Konkurrenz durch Mobil- und Kabelanbieter sowie kostenlose Internettelefonie ausgesetzt. Die großen Pharmakonzerne, die sich früher den Markt untereinander aufgeteilt hatten, mussten sich nun mit Biotech-Unternehmen und ihren modernsten Produkten auseinandersetzen. Supermarktketten kämpften mit den neuen Megamärkten, und diese mit dem Online-Handel.3
Der Zugang wurde immer leichter. Mit Beginn der 90er Jahre verwischte die digitale Revolution die Grenzen zwischen den Branchen. Um Dienste, die online angeboten werden konnten – Nachrichten, E-Mail, Instant Messaging, Straßenkarten, Suchmaschinen, Filme, Fernsehen, Musik oder den Verkauf von fast allem – entbrannte ein Konkurrenzkampf zwischen Firmen aus unterschiedlichen Branchen. Wohldefinierte Branchen verwandelten sich in amorphe »Räume«, in denen fast jeder mitspielen konnte. Welche Branchenkategorisierung definierte etwa die Fusion von Telekommunikation und Information, wie sie beispielsweise Google, MySpace, MSNBC, AOL, YouTube, Yahoo, Microsoft, Disney oder Comcast anbieten? AOL wähnte sich in der Sicherheit eines festen Kundenstamms, bis Google auf den Plan trat. Bei Disney |76|ging man davon aus, man hätte den Zeichentrickmarkt für sich, bis Pixar mit eigenen Produktionen begann. Zeitungen waren sich des Anzeigenmarkts sicher, bis Internetanbieter ihnen das Wasser abgruben. Die Grenzen verschwammen zwischen Banken und Einzelhandel (Wal-Mart suchte den Zugang zum Bankwesen, Kreditkartenanbieter verlegten sich auf Internethandel), High Tech und Unternehmensberatung (IBM verkaufte Managementlösungen) sowie Anlageberatung und Unterhaltung (die Börsenwelle erfasste Bücher, Fernsehshows und VIPs). Und als der Einzelhandel die Grenzen der Fußgängerzonen und Megamärkte sprengte und seine Produkte auf der unbegrenzten Regalfläche des Cyperspace anbot, gingen die Kosten für die Einführung eines Nischenprodukts gegen null und die Auswahl gegen unendlich.4
Größe war kein Zugangshindernis mehr. Im Jahr 2006 war das durchschnittliche Fortune-500-Unternehmen dreimal so groß wie noch im Jahr 1980, und zwar inflationsbereinigt. Doch das spielte keine Rolle. Jedes Unternehmen, das Preise anhob oder die Qualität senkte, riskierte, von einem Konkurrenten verdrängt zu werden, der ein identisches Produkt billiger und besser anbot. Experten nahmen an, eBay sei unverwundbar, denn es hatte quasi im Alleingang den Markt der Internetauktionen erfunden. Doch als eBay seine Gebühren erhöhte, stellte das Unternehmen schnell fest, wie verwundbar es wirklich war. Händler, die über eBay verkauft hatten, richteten ihre eigenen Webshops ein und lenkten die Kunden durch Google-Stichworte auf ihre Seiten. Safa Rashtchy, eine Analystin von Piper Jaffray & Company warnte: »Das eBay-Auktionsmodell wird immer schneller immer unbeliebter.«5 Wie die meisten Analysten sah Rashtchy nur die Zahlen, nicht die strukturelle Entwicklung. Das Auktionsmodell an sich war völlig in Ordnung, und es wurde auch nicht unbeliebter. Bei eBay war man nur dem Trugschluss erlegen, die Kunden hätten keine Alternativen und würden die Preiserhöhungen des Unternehmens wohl oder übel akzeptieren müssen. Das Problem von eBay ist seine Arroganz: Man nahm an, das Auktionshaus könne in der Manier der früheren |77|Oligopole willkürlich seine Preise diktieren – doch diese Oligopole gehören der Vergangenheit an.
Die alten Mächte gründeten sich auf die Massenproduktion. Diese Unternehmen konnten die Festkosten der teuren Maschinen und Anlagen auf Tausende, oft Millionen von nahezu identischen Produkten umlegen, die ihre Maschinen und Fabriken ausspuckten. Auf diese Weise wurden die Kosten dramatisch reduziert. Daher konnten die zwei oder drei Marktführer Preise, Produktionsmengen, Stil und selbst Qualität festlegen, ohne sich um Konkurrenten oder neue Anbieter Sorgen machen zu müssen.
Heute lassen sich diese niedrigen Kosten auch von Anbietern erreichen, die nicht in Massen produzieren. Sie erledigen Rechnungsstellung, Einkauf und Inventarisierung per Computer, bieten Kundendienst via Internet und vergeben Produktionsaufträge in Internetauktionen an die günstigsten und verlässlichsten Anbieter. Die Produktion ist oft billig: DVDs oder Musik-CDs lassen sich beispielsweise mit einer Anlage und Software herstellen, die einige Tausend US-Dollar kostet, und nicht wie früher Hunderttausende. Sind tatsächlich teure Produktionsanlagen erforderlich, geben Jungunternehmer die Produktion bei Herstellern irgendwo in der Welt in Auftrag, die bereits ähnliche Produkte massenfertigen (möglicherweise im Auftrag von mehreren konkurrierenden Unternehmen gleichzeitig). Wenn Unternehmer ein Produkt tatsächlich selbst herstellen müssen, können sie Räume und computergesteuerte Maschinen anmieten und über ihre eigene Software programmieren, die sie von einem der zahlreichen Anbieter erwerben. Dienstleistungen lassen sich leichter kopieren, wie das Beispiel von eBay verdeutlicht. Hinzu kommt, dass die konkurrierenden Unternehmen nahezu denselben Zugang zum Kapitalmarkt haben, vor allem wenn sie sich bereits als verlässliche Kreditnehmer erwiesen haben oder als börsentauglich gelten. Die hohen Fixkosten von früher, die auf große Stückzahlen umgelegt werden mussten, lassen sich heute bei relativ geringem Risiko in variable Kosten umwandeln, die in Relation zur hergestellten Stückzahl steigen oder sinken|78|. Je eher sich ein Produkt oder eine Dienstleistung digitalisieren lässt, umso billiger ist es, mehr davon herzustellen.
Daher stellt die Massenproduktion kein Zugangshindernis mehr dar. Dieses Hindernis verschwand bereits in den 70er Jahren, wie wir gleich näher betrachten werden. Dies schlug sich in der schwindenden Preishoheit der Konzerne nieder. Die gesamte Logik der Oligopole und ihres unternehmerischen Planungssystems wurde allmählich hinfällig. Diese Entwicklung verursachte die Verlangsamung der Produktivitätszuwächse, die bereits in den 70er Jahren einsetzte.6
*
Größe kann einem Unternehmen nach wie vor zugute kommen – aber nicht weil sie erlaubt, in großem Umfang zu produzieren, die Konkurrenz auszuschalten oder die Preise zu diktieren. Größe ist dann nützlich, wenn sie es dem Unternehmen ermöglicht, die Macht einer großen Zahl von Kunden hinter sich zu bekommen und damit Zulieferer unter Druck setzen zu können. Das beste Beispiel dafür ist Wal-Mart, das 1962 gegründet wurde. Wal-Mart wurde größer als seine Konkurrenten, weil Gründer Sam Walton eisern auf ein einziges Prinzip setzte: niedrige Verkaufspreise. Je größer Wal-Mart wurde, desto größer wurde der Hebel, den das Unternehmen bei Zulieferern ansetzen konnte, die ihre Produkte in der Megamarktkette verkaufen wollten. Indem Wal-Mart die günstigeren Einkaufspreise an seine Kunden weitergab und die eigenen Kosten so gering wie möglich hielt, konnte es die unterschiedlichsten Produkte bemerkenswert günstig verkaufen. Auf diese Weise konnte es Kunden gewinnen, weiter wachsen und noch günstigere Einkaufspreise erzielen.1*
|79|Doch die Größe erlaubt es Wal-Mart nicht, die Preise nach Belieben anzuheben. Würde Wal-Mart dies versuchen, würde es in dieselbe Falle tappen wie eBay. Die Kunden würden zu einem Megamarkt abwandern, wo sie die gleichen Produkte günstiger erhalten. Stattdessen erzwingt Wal-Mart dank seiner Größe bessere Konditionen von seinen Zulieferern, die es an seine Kunden weitergibt. Im Grunde bündelt Wal-Mart die Kaufkraft seiner zahlreichen Einzelkunden, so als hätten die Kunden eine Gewerkschaft gegründet, die für das Kollektiv bessere Konditionen aushandelt. Wie wir noch sehen werden, bewirken große Renten- und Investmentfonds Ähnliches für ihre Anleger: Sie bündeln die Kaufkraft ihrer Einzelkunden, um für die Gesamtheit ihrer Anleger höhere Gewinne zu erzielen.
Quer durch die gesamte US-Wirtschaft haben die großen Konzerne ihre Preishoheit weitgehend verloren. Ein Nebeneffekt war eine sehr viel niedrigere Inflationsrate. Der frühere Notenbankchef Alan Greenspan hatte Recht, als er in den 90er Jahren erkannte, dass das beschleunigte Wirtschaftswachstum und die niedrige Arbeitslosenquote keine Inflationsgefahr mehr darstellten, eben weil die Konzerne nicht mehr in der Lage waren, Preiserhöhungen durchzusetzen. Dies hat sich bis heute nicht geändert.
In der Geschichte des Superkapitalismus gibt es weder Helden noch Schurken, und sie entwickelt sich mehr oder weniger geradlinig. Sie beginnt in den 70er Jahren mit neuen Technologien, die zumeist mit Mitteln des Pentagon entwickelt worden waren. Sie setzt sich fort mit den neuen Lieferketten, die sich in alle Richtungen und über nationale Grenzen hinweg ausdehnen, und mit Produktionssystemen, die mithilfe der Computerisierung ihre Stückkosten senken. Beides führt dazu, dass die Massenproduktion |80|immer mehr an Bedeutung verliert. Die Geschichte geht weiter mit Unternehmern, die auf eine Deregulierung der Märkte drängen, weil sie besser, schneller und billiger sind als Unternehmen, die durch Regulierungen geschützt werden. Technologie, Globalisierung und Deregulierung verstärken den Wettbewerb der Unternehmen um Kunden und Anleger. Dieser Wettbewerb zwingt die Unternehmen wiederum, ihre Kosten zu senken. Da Löhne den größten Kostenfaktor darstellen, sehen sich Unternehmen gezwungen, Löhne zu senken und Arbeitsplätze zu streichen. Es folgt der Niedergang der großen Oligopole, Gewerkschaften und vieler Standorte, das Ende des staatsmännischen Unternehmensführers und die Auflösung des Verhandlungssystems, das den demokratischen Kapitalismus ausgemacht hatte. Verbraucher und Anleger gewinnen an Macht, die Bürger dagegen verlieren.
2
Viele der Erfindungen, die das stabile oligopolistische System der 50er und 60er Jahre ins Wanken brachten, stammten aus dem Verteidigungsministerium und der Raumfahrt. Während des Kalten Krieges war dies das innovative Zentrum des US-Kapitalismus. In einer Zeit, in der die großen Oligopole der Privatindustrie kein Interesse daran hatten, revolutionäre neue Ideen zu entwickeln, inspirierte der Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion das Pentagon und die NASA zu technologischen Großtaten. Diese gelangten schließlich auch auf den Markt.
Dabei ging es weniger um Sputnik oder den Wettlauf zum Mond, als um die prosaische, wenngleich nicht weniger komplexe Entwicklung von Raketen, die von einem U-Boot aus präzise in ein zehntausend Kilometer entferntes Ziel gelenkt werden konnten, von Tarnkappenbombern, Nachtsichtgeräten oder Allzweckpanzern. Diese und viele andere Geräte wurden von Planern im Pentagon und Futuristen der NASA ersonnen und in den Labors und Entwicklungszentren der gigantischen Rüstungsunternehmen verwirklicht|81|. Die kreative Energie Tausender Ingenieure richtete sich auf Ziele, die sehr viel ehrgeiziger und bedeutender waren als das Design eines neuen Toasters.
Eines dieser Ziele bestand darin, Waffen mit Gedächtnis zu entwickeln. Wer hatte je von so etwas gehört? Die Ingenieure begannen mit Vakuumröhren, erfanden Halbleiter, die sich zu integrierten Schaltkreisen auf Silikonplättchen entwickelten, die wiederum die Bausteine von Computern wurden. Da Pentagon und NASA höchste Präzision und Verlässlichkeit verlangten, waren sie bereit, beinahe jeden Preis zu bezahlen. Sie investierten große Summen in die Grundlagenforschung. Sie erlitten zahlreiche Rückschläge. Sie ermöglichten es Zehntausenden von Ingenieuren, unbezahlbare Erfahrung zu erwerben. Und wenn die Geräte fertig waren, kauften Pentagon und NASA sie, auch wenn die Herstellungskosten astronomisch waren. Im Jahr 1962 kostete ein einzelner integrierter Schaltkreis 50 US-Dollar. Nach Jahren der Forschung und der Experimente war der Preis bis 1968 auf 2,33 US-Dollar gesunken. Die Schaltkreise von exotischen Bauteilen modernster Waffensysteme verwandelten sich in etwas, das man in Haushaltsgeräte und Autos einbauen konnte, um deren Leistung zu verbessern. In diesem kurzen Zeitraum wuchs der Markt für Halbleiter von 4 Millionen auf 31 Millionen US-Dollar.7 Je kleiner und leistungsfähiger die Schaltkreise wurden, desto mehr veränderten sich die Computer. Im Jahr 1968 belegte ein typischer Computer ein ganzes Gebäude. Nur die Regierung, Universitäten und gigantische Unternehmen konnten sich die neue Technologie leisten. Zwanzig Jahre später war der Computer »persönlich« geworden.
Das Internet entsprang dem Bedürfnis des Pentagon nach Echtzeit-Kommunikation hochkomplexer Informationen. Das Netz, das wie ein Spinnennetz mit einigen wenigen Fäden begann, wurde ARPANET genannt, nach der Advanced Research Projects Agency des Verteidigungsministeriums. Niemand konnte damals vorhersehen, wie riesig dieses Netz eines Tages werden sollte oder welche |82|revolutionären Auswirkungen es auf den Handel haben würde. Dasselbe galt für die Software, die zur Steuerung von Raketen und Radargeräten entwickelt wurde, die Hunderte Millionen Dollar teuren Glasfaserkabel und Lasergeräte oder die extrem belastbaren, aber superleichten Metalllegierungen der Überschallflugzeuge. Wer hätte damals gedacht, dass diese Erfindungen schließlich in Industrieanlagen und Konsumgütern Verwendung finden würden? Pentagon und NASA führten den Kalten Krieg, sie entwarfen keine neue Wirtschaft.
Auch die gigantischen Oligopole ahnten nichts vom wirtschaftlichen Potenzial dieser neuen Entwicklungen. Selbst die Unternehmen der Luftfahrtindustrie, deren militärische und zivile Bereiche so eng beieinander zu liegen schienen – Flugzeuge sind schließlich Flugzeuge, oder? –, hielten die beiden streng auseinander und gaben ihnen jeweils eigene Bürokratien mit eigenen Managern und Ingenieuren. Es war beinahe so, als hätten die Topmanager intuitiv verstanden, dass das Pentagon und die NASA bei ihrem frenetischen Versuch, dem Sowjetkommunismus mit immer neuen Methoden beizukommen, gleichzeitig die Grundfesten der Technologie, Produktion und der gesamten Wirtschaft erschüttern würden. Diese Aufträge waren natürlich äußerst lukrativ für die Industriegiganten, und Unternehmen wie Boeing und McDonnell Douglas begrüßten sie begeistert.
Trotz der strikten Trennung zwischen den zivilen und den militärischen Abteilungen sickerten die Entwicklungen schließlich doch in den kommerziellen Sektor. Wissen lässt sich schlecht abschotten, die Ingenieure tauschten sich untereinander aus, und Begeisterung wirkt ansteckend. In der populären DC-8 von McDonnell Douglas steckten viele Details der Militärflugzeuge A-3D und A-4D. Das Design der Boeing 707 geht direkt auf die Bomber B-47 und B-52 zurück, und der Jumbojet Boeing 747 basiert auf Entwürfen für einen Militärtransporter, für den Boeing letztlich nicht den Zuschlag erhielt. Bis Ende der 70er Jahre finanzierte das Verteidigungsministerium 70 Prozent der Forschung und Entwicklung |83|der Luftfahrtindustrie – eine Tatsache, die Europäer bis heute anführen, um die Subventionen für den Airbus zu rechtfertigen.
Viele der High-Tech-Produkte, die in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts auf den Markt kamen, haben eine ähnliche Geschichte. Ende der 70er Jahre finanzierte die US-Regierung die Hälfte der Forschung und Entwicklung in der Kommunikationsindustrie, inklusive Glasfasertechnologie, Satelliten und automatischem Verbindungsaufbau. Aus Sorge, die gigantischen privaten Oligopole könnten mit veralteten Produktionstechniken die Rüstungsproduktion verlangsamen, investierten Air Force und NASA sogar 75 Millionen US-Dollar, um eine vollautomatische »Fabrik der Zukunft« mit computergestützten Herstellungstechniken zu entwickeln.8
Diese Forschung, diese vielen talentierten Ingenieure und die vielen neuen Erfindungen sollten schließlich das stabile oligopolistische System zum Einsturz bringen. Die Auswirkungen zeigten sich weder sofort noch direkt. Es wirkte eher wie ein Kieselsteinchen, das bei hoher Geschwindigkeit auf eine Windschutzscheibe trifft; der kleine Knacks breitet sich aus, bis das gesamte Glas zerstört ist und ersetzt werden muss. Die zivilen Bereiche der großen Oligopole fanden schließlich Verwendung für die neuen Erfindungen. Universitätslabors machten neue Entdeckungen. Unternehmer – Ingenieure, Geldgeber, Professoren und Universitätsabbrecher – entwickelten sie weiter. Kleine Firmen wurden gegründet. Nischenmärkte entstanden. Und innerhalb weniger Jahre verschob sich die gesamte Wirtschaft. Binnen zwei oder drei Jahrzehnten hatte das neue Wirtschaftssystem das alte ersetzt.
Drei Entwicklungen, die alle indirekt mit dem Kalten Krieg zusammenhängen, verdienen eine besondere Erwähnung. Die erste ist heute unter dem Schlagwort »Globalisierung« bekannt. Die zweite ist die Entstehung neuer Produktionsprozesse. Die dritte ist schließlich die Deregulierung. Diese drei Entwicklungen beschleunigten den Niedergang der Massenproduktion und des demokratischen Kapitalismus der Jahrhundertmitte.
Wenn man den mythischen und äußerst befriedigenden Vereinfachungen der Globalisierung Glauben schenkt, verloren US-Unternehmen in den 70er Jahren ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Exporteure aus anderen Nationen drängten mit Produkten auf den Markt, die zu Billiglöhnen hergestellt wurden und damit den Niedergang der heimischen, gut bezahlten Fabrikarbeiterschaft einläuteten. Diese Geschichte stimmt jedoch so nicht. Sie erklärt nicht, warum der Arbeitsplatzabbau in den 70er Jahren begann und sich danach beschleunigte. Außerdem trifft es keineswegs zu, dass US-Unternehmen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren hätten.
Das Timing war kein Zufall und hängt mit den Anstrengungen der USA zusammen, die vom Krieg zerstörten Volkswirtschaften Europas und Japans wiederaufzubauen. Dieser Aufbau nahm zwei Jahrzehnte in Anspruch. Eine weitere wichtige Zutat der Globalisierung ist jedoch eine Vielzahl neuer Transport- und Kommunikationstechnologien aus der Zeit des Kalten Krieges, zum Beispiel Frachtschiffe, Transportflugzeuge, Überseekabel, Stahlcontainer und schließlich Satelliten, die zu einer drastischen Reduzierung der Transportkosten beitrugen.
*
Container – sechs bis zwölf Meter lange Metallkisten, von denen jede bis zu 28 Tonnen fasst – konnten leicht per Eisenbahn oder Lastwagen transportiert, auf Schiffe oder Flugzeuge verladen und am Zielort wieder auf der Straße oder Schiene weitertransportiert werden. Auf diese Weise entfiel das arbeitsintensive Be- und Entladen und die damit oft verbundenen Beschädigungen oder Diebstähle. Container waren seit Mitte der 50er Jahre verfügbar, fanden jedoch erst im Vietnamkrieg breite Verwendung, als die US-Armee ein riesiges Versorgungssystem benötigte, um ihre gewaltigen Bedürfnisse in den Urwäldern Südostasiens zu befriedigen. Die bis dahin üblichen Schiffskisten waren zu klein und unzuverlässig|85|, also richtete die Marine in der Bucht von Cam Ranh einen Containerhafen ein, vertiefte in den heimischen Häfen die Hafenbecken und errichtete spezielle Verladekräne sowie gigantische Ladebuchten, um Container verladen zu können.
Eine der nicht vorhersehbaren Folgen war eine Zunahme der japanischen Importe in die USA. Statt die Schiffe mit leeren Containern nach Hause zu schicken, entdeckten die Schiffseigner, dass sie sich etwas dazuverdienen konnten, wenn sie auf dem Rückweg in Japan Zwischenstation machten und tonnenweise japanische Uhren, Fernsehapparate und Küchengeräte in die USA mitnahmen. Im Jahr 1967 gab es noch keinen kommerziellen Containerverkehr zwischen Japan und den USA. Ein Jahr später hatten sieben Unternehmen den Markt für sich entdeckt.9 Von da an boomte der Containerhandel. Im Jahr 2005 fuhren 3 500 Containerschiffe auf den Weltmeeren, beladen mit rund 15 Millionen Containern. Zwischen 1970 und 2000 wuchs der internationale Containerhandel dreimal so schnell wie die Weltwirtschaft.10 In der Folge wurde es dramatisch billiger, Dinge von einem Ende des Globus zum anderen zu transportieren.
Die Transportkosten sanken weiter, weil die Produkte immer kleiner und leichter wurden. Winzige Halbleiterchips übernahmen immer mehr Funktionen in Fernsehapparaten, Haushaltsgeräten und anderen verbreiteten Konsumgütern. Neue, leichtere Kunststoffe ersetzten Stahl und Aluminium. Zwischen 1970 und 1988 ging das Gewicht der Importprodukte gegenüber ihrem realen Handelswert pro Jahr um 4 Prozent zurück.11 Die Folge war eine Flut von Produkten aus dem Ausland. Zwischen 1970 und 1980 stieg der Anteil der importierten Konsumgüter am US-Markt von weniger als 14 auf 28 Prozent an. Für jeden 100-Dollar-Schein, den US-Bürger 1986 für heimische Güter hinlegten, gaben sie 45 Dollar für ausländische Güter aus.12
Daraufhin begann in der Öffentlichkeit eine erregte Debatte über den angeblichen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der US-Industrie. Der Kongress gab zahlreiche Gutachten in Auftrag. |86|Think Tanks veröffentlichten Hunderte von Berichten. Unternehmerverbände organisierten Arbeitsgruppen. Gouverneure ernannten Beraterkomitees und richteten runde Tische ein. Die Medien überschlugen sich. »Der Verlust der Konkurrenzfähigkeit, wie ihn die US-Industrie im vergangenen Jahrzehnt erlebt hat, ist eine Katastrophe«, war im Juni 1980 in der BusinessWeek nachzulesen.13 Universitäten schätzten den Schaden. In seinem Bericht aus dem Jahr 1989 stellte die Kommission für Industrielle Produktivität des MIT sorgenvoll fest: »Bestimmte US-Branchen, die früher den Welthandel beherrschten, haben zu Hause und im Ausland ihren Marktanteil weitgehend verloren. Aus einigen Branchen sind US-Unternehmen nahezu verschwunden.«14
In Wirklichkeit ging es den US-Unternehmen gut. Sie waren einfach globaler geworden. Mithilfe neuer Transport- und Kommunikationstechnologien errichteten sie Fertigungsstätten im Ausland oder vergaben Produktionsaufträge an ausländische Hersteller. Anders gesagt, sie setzten Container und modernste Methoden der Telekommunikation ein (zu denen schließlich auch das Internet gehören sollte), um globale Lieferketten aufzubauen. Das alte Produktionssystem des Beinahe Goldenen Zeitalters wurde in Einzelteile zerlegt und rund um den Erdball neu aufgebaut, wo immer Teile am besten und billigsten hergestellt werden konnten. Diese Lieferketten wurden so komplex, dass Designer in einem Land dreidimensionale Prototypen eines neuen Produkts herstellten, Ingenieure in einem zweiten Land die erforderlichen Produktionsstätten und Maschinen entwickelten, um diese schließlich in einem dritten Land einzurichten.
Dies war der Prozess der Globalisierung, der den bloßen Zahlen der Handelsentwicklung nicht zu entnehmen war. Zwischen 1969 und 1983 stieg der Wert der Importe von ausländischen Firmen im US-Besitz real von 1,8 auf beinahe 22 Milliarden US-Dollar.15 Das war genau der Zeitraum, in dem US-Unternehmen angeblich ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren.
*
|87|Die globalen Lieferketten wurden immer länger und breiter. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeichneten US-Unternehmen mit ausländischen Fertigungsstätten für 45 Prozent aller Importe in die USA verantwortlich. Im Jahr 2006 war dieser Anteil nach Auskunft des Wirtschaftsministeriums sogar auf 48 Prozent gestiegen. Nehmen wir die Produkte hinzu, die mit ausländischen Bauteilen in den USA gefertigt wurden, oder Produkte, die von US-Unternehmen im Ausland gekauft und dann unter eigenem Namen vermarktet wurden, dann ist dieser Anteil sogar noch größer. Whirlpool ließ seine Mikrowellenherde in Schweden entwickeln und in China herstellen. General Electric verkaufte kompakte Triebwerke für Kleinflugzeuge, die von Bombardier in Kanada hergestellt wurden; etwa ein Viertel der Bauteile für diese Triebwerke kam aus Japan. Dell stellte eine direkte Verbindung zwischen seinen Kunden und seinen ausländischen Zulieferern her: Wenn sich ein Kunde im Internet einen bestimmten Rechner zusammenstellte, landete die Bestellung ohne Umwege bei einer Fertigungsstätte in China (die für das taiwanesische Unternehmen Quanta produzierte), wo das Gerät zusammengebaut und direkt an den Kunden ausgeliefert wurde. Die Eaton Corporation ließ in Brasilien Lkw-Getriebe herstellen, die unter anderem in Ohio in Navistar-Lastwagen eingebaut wurden. Die großen drei Automobilhersteller verwenden in ihren Fahrzeugen einen immer größeren Prozentsatz von im Ausland gefertigten Bauteilen. Selbst wenn diese in den USA zusammengesetzt werden, stammt inzwischen ein großer Teil der Innereien anderswoher.16
Ein größer werdender Anteil der Produkte, die US-Unternehmen im Ausland verkaufen, wird auch dort gefertigt. Zahlen der US-Exporte verzerren das Bild der Wettbewerbsfähigkeit von US-Unternehmen. Umgekehrt finden sich ausländische Lieferketten in den USA. Ein immer größerer Teil der Produkte, den ausländische Unternehmen in den USA verkaufen, wird in hiesigen Fabriken gefertigt. Toyota, Honda, Nissan und BMW errichteten große Fertigungsstätten in den Bundesstaaten Kentucky, Tennessee und Indiana|88|, die im Jahr 2006 rund 20 Prozent der Arbeitsplätze in der US-Automobilindustrie ausmachten.
Wer sind also »wir«? Wer »die andern«? Die US-Unternehmen verloren mit Beginn der 70er Jahre nicht etwa ihre Konkurrenzfähigkeit, sie wurden vielmehr internationaler. Es bestand kein direkter Zusammenhang mehr zwischen dem Wohlergehen der US-Unternehmen und dem der Bürger des Landes. Dies markierte einen bedeutenden Wandel. Im demokratischen Kapitalismus des Beinahe Goldenen Zeitalters waren die beiden untrennbar miteinander verbunden gewesen, wie der Chef von General Motors, »Engine Charlie« Wilson, es so schön auf den Punkt gebracht hatte. Die großen Oligopole hatten eine enge Verflechtung von Unternehmen, Gewerkschaften und Regierung dargestellt, sodass mit zunehmender Produktivität auch die Löhne und Sozialleistungen gestiegen waren. Dieses alte System wurde nun durch ein völlig neues ersetzt. Alte Verknüpfungen wurden gelöst und, zum Teil außerhalb der Landesgrenzen, neue geknüpft.17
Medien, Politiker und selbst viele Vorstandsvorsitzende taten weiterhin so, als sei die US-Wirtschaft das Produkt von großen Unternehmen mit Sitz in den USA, und als ob die Handelszahlen etwas über den Erfolg oder Misserfolg von Land und Unternehmen aussagen würden. »Globalisierung« galt als Wettbewerb zwischen einheimischen und ausländischen Unternehmen. Es war nichts dergleichen. Die Revolution, die zu Beginn der 70er Jahre begann, war technologischer Natur und hatte zur Folge, dass das frühere oligopolistische Produktionssystem in weltweite Lieferketten aufgebrochen wurde, das sich seine Bauteile oder Dienstleistungen dort holte, wo sie am besten oder günstigsten angeboten wurden. Diese globalen Lieferketten endeten beispielsweise im Wal-Mart, der mit Unterstützung der vereinten Kaufkraft der US-Verbraucher weltweit die besten Angebote suchte und sich nicht darum kümmerte, welcher Markenname auf einem Haushaltsgerät oder Kopfkissenbezug stand.
Die Massenproduktion wäre möglicherweise auch ohne die globalen Lieferketten verschwunden. Mitte der 70er Jahre wanderten die Erfindungen aus der militärischen Produktion allmählich in computergesteuerte Maschinenwerkzeuge, Roboter und computergestütztes Design und Produktion, was die Herstellung geringerer Mengen bei niedrigen Stückkosten erlaubte. Ingenieure konnten von Computerbildschirmen aus das Design in wenigen Sekunden ändern und Maschinen anweisen, Produkte in den benötigten Stückzahlen zusammenzusetzen oder herzustellen. Ende der 80er Jahre war die Software so weit, dass auch Kunden an der Entwicklung des Designs mitwirken konnten.18 Im Dienstleistungssektor hatten die neuen Technologien ähnliche Auswirkungen. Dienstleistungen der Banken, Versicherungen und Telefonanbieter konnten auf spezielle Kundenbedürfnisse zugeschnitten werden. Ende der 90er Jahre eröffnete das Internet neue Möglichkeiten, Dienstleistungen anzubieten und spezielle Gruppen direkt durch Werbung anzusprechen. Mithilfe von Suchmaschinen und Online-Zeitschriften fanden potenzielle Kunden Anbieter, die ihnen die gesuchte Ware zum günstigsten Preis verkauften. Umgekehrt konnten Anbieter virtuelle Unternehmen schaffen, die aus einer Kette bestanden, die in jedem Schritt den bestmöglichen Preis bot.
Oligopole waren überflüssig geworden. Mittelgroße Unternehmen konnten mithilfe der neuen Technologien der Massenproduktion Paroli bieten. Branchen, die zuvor auf Massenproduktion gesetzt hatten, spezialisierten sich und verschoben sich in Richtung der Nischenproduktion. Der gute alte Edelstahl machte zahlreichen Spezialstählen Platz, die in der Automobil- und Geräteherstellung Verwendung fanden, Kleinbetriebe setzten Lichtbogen-Hochöfen und Abfallmetalle ein, um besondere Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Andere Standardmaterialien wurden durch neue Kunststoffe ersetzt, die zu komplizierten Teilen geformt werden konnten (wie sie etwa in Computern oder Telefonen Verwendung finden) und |90|außergewöhnlich hitzebeständig und belastbar waren. Einheitliche Woll- und Baumwollstoffe machten einer Vielzahl von neuen Kunstfasern Platz, die ganz nach Wunsch der Kunden beschichtet und gestaltet werden konnten. Einheitstelefondienstleistungen wurden durch kundenorientierte Stimm-, Video- und Informationsübertragung abgelöst, private Anbieter verbanden verschiedene Unternehmensstandorte miteinander.
Werbe- und Marketingunternehmen, die davon ausgegangen waren, dass sie ihre Kunden in der Tasche hatten, sahen sich einer Vielzahl von Konkurrenten gegenüber. Selbst Coca-Cola, das durch seine Geheimformel, sein riesiges Netz an Sirupherstellern und Abfüllanlagen und sein gewaltiges Werbebudget (und trotz Pepsi-Test), nahezu unangreifbar schien, verlor zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts gegenüber der scheinbar grenzenlosen Vielfalt an Mineralwässern, Fitnessgetränken, kohlesäurehaltigen Fruchtsäften, Eistees und Energy-Drinks an Boden. Billiges Breitband und digitale Lagerverwaltung schufen scheinbar grenzenlose Inventare und Vertriebskanäle für digitale Jukeboxen, Internet-Filme, digitale Fotoarchive und Kunstbibliotheken für Kenner jeden Geschmacks.19
Um es auf den Punkt zu bringen: Beginnend mit den 70er Jahren ersetzten neue Technologien immer schneller die früheren stabilen Produktionssysteme, und immer mehr Händler beteiligten sich. Das Ergebnis war ein ähnliches wie im Falle der globalen Lieferketten: Alte, stabile Oligopole wurden ausgehöhlt, und der Kampf um die Kunden verschärfte sich. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts verlor nach Angaben der Unternehmensberatung Bain&Company jedes Unternehmen alle vier Jahre die Hälfte seiner Kunden. Das bedeutete, dass es alles tun musste, um sich neue Kundenstämme zu erschließen und alte zu halten.20
5
Die wirtschaftliche Deregulierung, die spiegelbildlich zur Zunahme der Regulierung zwischen den beiden Weltkriegen verlief, wird |91|gern auf Ronald Reagans Begeisterung für den freien Markt zurückgeführt. Doch als Reagan 1981 ins Weiße Haus einzog, war die Deregulierung bereits seit einem Jahrzehnt im Gange. Sie war notwendig geworden, weil in den 15 Prozent der Wirtschaft, deren Preise von unabhängigen Regulierungsbehörden festgelegt wurden, neue Technologien neue Profitmöglichkeit geschaffen hatten. Unternehmen, die diese Möglichkeiten erkannt hatten, wollten sie für sich nutzen. Sie übten Druck auf die Behörden aus, betrieben Lobbypolitik im Kongress und in den Parlamenten der Bundesstaaten und ließen wissenschaftliche Gutachten über den Nutzen der Deregulierung für die Kunden anfertigen. Sie zogen vor Gericht und begründeten ihre Klagen damit, dass die regulierten Unternehmen die Innovation verhinderten und gegen das öffentliche Interesse handelten. Als der Druck zunahm, war es nur eine Frage der Zeit, ehe der Damm der Regulierung brach.
Im Bereich der Telekommunikation erkannten Gerätehersteller bereits 1968, dass der Direktverkauf von neuen Telefonapparaten an die Kunden ein lukrativer Markt war. Doch das Monopolunternehmen AT&T ließ diesen Verkauf nicht zu. Von seiner sicheren Warte hinter einem Schutzwall von protektionistischen Maßnahmen aus argumentierte man bei AT&T, dass Apparate anderer Hersteller nicht mit dem System verbunden werden konnten, ohne dessen Verlässlichkeit zu gefährden. Die Gerätehersteller zogen vor Gericht. Der Oberste Gerichtshof stellte sich auf ihre Seite, und die Windschutzscheibe von AT&T bekam den ersten Knacks.
Der Knacks wurde zum Riss, als neue Systeme der Informationsübermittlung via Satellit, Kabel und Glasfaser neue Möglichkeiten eröffneten. Als Konkurrenzanbieter MCI ein relativ günstiges Netzwerk auf Mikrowellenbasis entwickelte, mit dem sich die Kosten für Ferngespräche senken ließen, wollte das Unternehmen damit auf den Markt. AT&T sperrte sich. Nachdem die Aufsichtsbehörde MCI grünes Licht gegeben hatte, zerrte AT&T die Behörde vor Gericht und ging durch alle Instanzen, bis das Unternehmen endgültig verloren hatte. Im Jahr 1974 reichte das Justizministerium |92|eine Kartellklage gegen AT&T ein, mit der Begründung, es handele sich um ein rechtswidriges Monopol. Acht Jahre und viele Millionen US-Dollar an Anwaltskosten später kam es zu einer außergerichtlichen Einigung, in der sich AT&T von seinen Ortsnetzen trennte. AT&T war vermutlich nur deshalb zu dieser Zerschlagung bereit, da sich zu diesem Zeitpunkt neue Gewinnmöglichkeiten in anderen Geschäftsbereichen aufgetan hatten, etwa in der Datenverarbeitung und der Computervernetzung, in denen sich der Monopolbetrieb nicht hätte engagieren können.
Die Deregulierung des Flugverkehrs verlief nach ähnlichem Muster. Fortschritte in der Kommunikation und im Flugzeugbau (haltbarere Materialien, neue Aerodynamik und bessere Treibstoffausnutzung) eröffneten neue Gewinnmöglichkeiten außerhalb des stabilen alten Regulierungssystems. Anfang der 70er Jahre stellten neue Fluggesellschaften, die nicht den staatlichen Regulierungen unterlagen – etwa Pacific Southwest in Kalifornien oder Southwest Airlines in Texas – fest, dass sie mit günstigeren Preisen, kleineren Flugzeugen und einem schlankeren Service größere Gewinne erzielen konnten. Die ebenfalls unregulierten Chartergesellschaften kamen zu demselben Schluss. Sie drängten die Luftfahrtbehörde, Preise und Routen zu deregulieren. Die kränkelnden Oligopolisten Pan Am und TWA wollten dagegen mehr Freiräume, um ihre Preise anzuheben und United wollte mehr Flugrouten.21 Wissenschaftliche Untersuchungen schienen den Nutzen der Deregulierung zu bestätigen. Wenige der Marktteilnehmer hatten ein Interesse daran, am Status quo festzuhalten. Also entschied der Kongress 1978 die Deregulierung des Luftverkehrs und begann mit dem Abbau der zivilen Luftfahrtbehörde.
Speditionsunternehmen, die an der Containerrevolution teilnahmen, verlangten ebenfalls größere Spielräume bei der Routenwahl, der Preisfestsetzung und der Unternehmenskonsolidierung, weil sie sich von einer Abschaffung der Regulierung größere Gewinne erhofften. UPS und FedEx drängten in dieselbe Richtung. |93|Also deregulierte der Kongress 1980 den Fernlast- und den Eisenbahnverkehr und schaffte die entsprechende Aufsichtsbehörde ab.
Große Banken und Geldinstitute übernahmen die Führung bei der Forderung nach einer Deregulierung des Finanzmarktes. Mit Beginn der 70er Jahre hatten sie neue elektronische Zahlungssysteme und computerisierte Datenabfragesysteme zur Einzahlung und Kreditvergabe eingeführt. Doch da ihnen der Zugang zu den geschützten regionalen Märkten versperrt blieb, drängten sie auf Abschaffung der Regulierung. Auch Renten- und Investmentfonds sowie Versicherungsgesellschaften sahen neue Profitmöglichkeiten durch das technologiegestützte aktive Management der Einlagen, doch wie die Banken sahen sie sich durch die Regulierung des Finanzmarktes daran gehindert, tätig zu werden. Also schlossen sie sich der Forderung nach Deregulierung an.22
Die Regulierungen fielen eine nach der anderen. Nach langen Debatten verabschiedete der Kongress 1974 den Employee Retirement Income Securities Act, das vielleicht komplizierteste Gesetz, das dieses Gremium je passiert hatte und später Tausende von Anwälten in Lohn und Brot hielt. Dieses Gesetz erlaubte es Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften, ihre Einlagen nicht nur in Staatsanleihen und AAA-Anleihen (Anleihen mit dem geringsten Anlagerisiko) zu investieren, sondern auch am Aktienmarkt tätig zu werden. Im darauffolgenden Jahr verbot die Börsenaufsicht den Börsenmaklern die Absprache von Kommissionen, was Unternehmen wie Merrill Lynch nutzten, um ihren Kunden Scheckkonten anzubieten.23 Im Jahr 1980 erlaubte die Regierung den Geschäftsbanken, ihre Zinsen auf Einlagen und Anleihen selbst festzulegen. Banken durften sich zusammenschließen, konsolidieren und neue Filialen eröffnen, wann und wo sie wollten. Im Jahr 1982 erhielten selbst die Sparkassen, die Stütze des regionalen Hypothekenmarktes, größere Freiräume bei der Investition ihrer Einlagen.
Es gilt unter Wirtschaftswissenschaftlern als schick, jede Form der Deregulierung als uneingeschränkten Erfolg zu bezeichnen – abgesehen natürlich von bedauerlichen Einzelereignissen wie dem |94|Zusammenbruch der Sparkassen. (Es hätte niemanden überraschen sollen, dass die Sparkassen die neu gewonnene Freiheit nutzten, um in Junk-Bonds und andere gewinnträchtige, aber riskante Anlagen zu investieren, zumal die Spareinlagen nach wie vor durch staatliche Garantien gesichert waren, was dem Steuerzahler Kosten in Höhe von rund 600 Milliarden US-Dollar bescherte. Regelungen, die Gewinne privatisieren und Verluste verstaatlichen, verleiten beinahe zwangsläufig zu großem unternehmerischen Wagemut.) Im Hinblick auf die Effizienz der Privatwirtschaft war die Deregulierung tatsächlich ein Erfolg. Aus der weiteren Sicht des demokratischen Kapitalismus stellt sich die Sache jedoch etwas differenzierter dar. Die Regulierungsmechanismen hatten alle möglichen Quersubventionierungen enthalten und ein empfindliches Gleichgewicht der unterschiedlichen Interessen hergestellt. Diese Quersubventionierungen verschwanden mit der Deregulierung. Die meisten Verbraucher erhielten bessere Angebote, doch einige kamen schlechter weg, ebenso wie Kleinstädte, mittlere Führungskräfte in Monopoloder Oligopolbetrieben und deren Beschäftigte.
Vor der Zerschlagung von AT&T wurden beispielsweise unprofitable Dienstleistungen durch profitable quersubventioniert. Kunden in der Stadt subventionierten die Dienstleistungen auf dem Land, Ferngespräche die Ortsgespräche, Geschäftskunden die Privatkunden und Wenignutzer die Vielnutzer. Alfred Kahn, ehemaliger Regulierer und Wirtschaftsprofessor an der Cornell University, beschrieb AT&T als »Sozialstaat mit der Möglichkeit, Steuern zu erheben und mit dem Erlös Gutes zu tun«. 24 Nach der Zerschlagung und mit Beginn des Konkurrenzkampfes gab es keine Subventionen und guten Taten mehr.
Auch mit der Deregulierung des zivilen Flugverkehrs im Jahr 1978 begann eine Umverteilung. Bis zum Jahr 1983 hatten Hunderte von mittelgroßen Städten ihre Anbindung ans Flugverkehrsnetz verloren oder zumindest weitgehend eingebüßt. Braniff und eine Reihe kleinerer Fluggesellschaften waren verschwunden. Darunter zu leiden hatten die früheren Mitarbeiter (wenn sie keine |95|neue Arbeit fanden) sowie viele andere Menschen in den Städten, in denen diese Unternehmen angesiedelt waren. Continental hatte ein Konkursverfahren eröffnet und die richterliche Erlaubnis erhalten, die Arbeitsverträge außer Kraft zu setzen – eine Strategie, von der im folgenden Vierteljahrhundert noch zahlreiche Fluggesellschaften Gebrauch machen sollten. Eastern und Republic kämpften ums Überleben. United hatte seine Kapazität in etwa gehalten, hatte jedoch 20 Prozent seiner Mitarbeiter entlassen. In der gesamten Branche ließen sich die Gewerkschaften von Piloten, Flugbegleitern und Mechanikern auf flexiblere Arbeitsbedingungen ein. Vierzehn neue Fluggesellschaften nahmen den Betrieb auf, von denen kaum eine gewerkschaftliche Tarifverträge abschloss und nicht eine Verpflichtungen gegenüber Pensionären hatte.
In den ersten drei Jahren nach der Deregulierung der Speditionsbranche meldeten rund 300 Unternehmen Konkurs an. Die meisten von ihnen waren von beachtlicher Größe gewesen. Ihr Bankrott betraf zahlreiche Menschen, die indirekt von ihnen abhängig gewesen waren. Andererseits wurden rund 10 000 kleinere Speditionsunternehmen gegründet. Vor der Deregulierung wurden die meisten Tarife von der Aufsichtsbehörde festgelegt. Nun wurden 90 Prozent zwischen der Spedition und den Auftraggebern ausgehandelt. Vor der Deregulierung waren die meisten Fahrer gewerkschaftlich organisiert gewesen. In den ersten Jahren nach der Neuregelung verlor etwa ein Drittel seinen Arbeitsplatz. Mitarbeiter kleinerer Unternehmen akzeptierten Lohnkürzungen zwischen 10 und 15 Prozent. Die Gewerkschaft stimmte einem Tarifvertrag zu, der eine Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen unterhalb der Inflationsrate vorsah.
Die Deregulierung der Speditionen und des zivilen Flugverkehrs eröffnete neue Möglichkeiten und schuf neue Formen des Wettbewerbs. UPS war eine Lkw-Spedition gewesen, doch unter dem Druck, schneller und effizienter zu liefern, kaufte das Unternehmen eine Flugzeugflotte dazu und wurde nun auch zur Fluggesellschaft. FedEx war dagegen eine Fluggesellschaft gewesen; unter dem Druck, |96|bis an die Tür zu liefern, kaufte das Unternehmen eine Lkw-Flotte dazu und wurde zusätzlich ein Speditionsunternehmen. Im Wettbewerb mit anderen Unternehmen wie DHL schufen sie zahlreiche Verbesserungen, wie etwa die Entscheidung von UPS, einen Über-Nacht-Service einzurichten. Damit zwangen diese Unternehmen sogar den staatlichen Postdienst der USA zu Innovationen.
Die Deregulierung des Finanzmarktes hatte gewaltige Auswirkungen auf den demokratischen Kapitalismus als solchen. An dieser Stelle reicht der Hinweis, dass in den drei Jahren nach der Deregulierung 22 000 Geldautomaten in Banken, Flughäfen und Einkaufszentren eingerichtet wurden und ein gewaltiges System der bargeldlosen Bezahlung und Datenabfrage entstand. Diese Technologie revolutionierte die Art und Weise, wie der Durchschnittsverbraucher seinen alltäglichen Verbrauch finanzierte. Außerdem kostete sie Tausende Bankangestellte den Arbeitsplatz.
Die Einführung der Hard- und Software hinter dieser Entwicklung sollte noch weitreichendere Konsequenzen haben. Im Jahr 1983 sagte der Bankberater Edward E. Furash vorher, das Land stünde vor einer Finanzrevolution. Die Deregulierung habe »die Psyche der Menschen, vor allem der jüngeren Generation« verändert: »Der Einzelne hat sich vom Sparer zum Anleger gewandelt. Die Wirtschaft steht vor einem heftigen Konkurrenzkampf um die Mittel dieser Anleger.«25 Er sollte in bemerkenswerter Weise Recht behalten.
6
Vor der Deregulierung des Finanzmarktes waren die amerikanischen Sparer äußerst duldsam. Die meisten brachten ihre Ersparnisse auf die Bank, wo sie die gesetzlich vorgeschriebenen 5,25 Prozent Zinsen erhielten. Investmentfonds galten als exotische Anlageform, an steuerbegünstigte private Rentenversicherungen oder Geldmarktfonds dachte noch niemand. Wenige kümmerten sich um die Entwicklung des Dow Jones Index, und noch weniger legten ihr Geld in Aktien an. Im Jahr 1970 waren nur 16 Prozent aller US-Bürger |97|Aktienbesitzer. Unternehmenseigentümer waren vor allem reiche Einzelpersonen, die ihre Aktien im Safe aufbewahrten. Großkonzerne schütteten ihre oligopolistischen Gewinne in der Regel nicht in Form von Dividenden an ihre Anleger aus, sondern investierten sie in neue Anlagen und Maschinen für immer größere Produktionsmengen (womit sie den Anlegern Kapitalgewinne verschafften) und verteilten den Rest an die Mitarbeiter. Dies war Teil des Gesellschaftsvertrages im Beinahe Goldenen Zeitalter.
Doch dann änderte sich alles. Während der 70er Jahre wurden aus Sparern Anleger, und diese Anleger wurden aktiv. Der Anteil der Aktienbesitzer stieg bis 1985 auf 20 Prozent, um dann rasant in die Höhe zu schnellen. Im Jahr 2005 war die Mehrheit aller Haushalte im Besitz von Aktien (wobei sich natürlich der größte Teil der Werte nach wie vor in der Hand der Reichen befand).26 Die Zahl der pro Tag gehandelten Aktien stieg von 3 Millionen in den 60er Jahren auf 60 Millionen Anfang der Achtziger, um dann ebenfalls sprunghaft anzusteigen.
Das Interesse der Menschen am Aktienmarkt wurde durch den längsten und stärksten Bullenmarkt der US-Geschichte beflügelt, der Anfang der 80er Jahre begann und erst im Jahr 2000 endete (mit einer kurzen, erschreckenden Unterbrechung im Oktober 1987). Die Ursachen dieses Bullenmarktes sind von großer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung.
Was sicherlich eine Rolle spielte, war der sich selbst erfüllende Prozess spekulativer Hoffnung. Je mehr Menschen Aktien kauften, umso teurer wurden diese, was wiederum die Anleger veranlasste, weitere Aktien zu kaufen – in der Hoffnung auf neue Kursanstiege. Der Markt blähte sich immer weiter auf, bis die Blase schließlich im Jahr 2000 platzte. Doch im Jahr 2006 hatte der Dow Jones seinen Höhenflug wieder aufgenommen. Also muss es noch einen anderen Grund gegeben haben als die Spekulation – etwas, das mit strukturellen Veränderungen in den US-Unternehmen hin zu höheren Gewinnen für die Anleger zu tun hat.
*
|98|So wie Wal-Mart und andere Megamärkte die Kaufkraft ihrer zahlreichen Einzelkunden bündelten, so bündelten die Investment und Rentenfonds die Macht der vielen einzelnen Anleger. Das Ziel bestand darin, diese Aktionärsgruppen anzulocken und zu halten. Daher mussten die Vorstandsvorsitzenden alles tun, um den Wert der Aktien ihres jeweiligen Unternehmens zu steigern. Sie hatten keine andere Wahl, als sich immer stärker auf die Steigerung des »Shareholder-Value« zu konzentrieren. (Im Jahr 2002 stellte sich zwar heraus, dass ein Teil dieses Wertes durch geschickte Buchhalter und skrupellose Finanzvorstände vorgetäuscht worden war, doch der größte Teil war echt.) Und so wie Verbraucher Druck auf Unternehmen ausübten, indem sie immer rascher zu günstigeren Anbieter wechselten (oder zumindest damit drohten), wurden auch die Anleger mithilfe der Fondsmanager immer geschickter bei der Jagd nach immer besseren Anlagen. In den 90er Jahren hielt der durchschnittliche Anleger seine Aktien rund zwei Jahre lang. Im Jahr 2002 war es weniger als ein Jahr, und im Jahr 2004 hatte sich der Zeitraum auf rekordverdächtige sechs Monate verkürzt.27
Wenn die Fondsmanager nicht die erwartet hohen Gewinne präsentieren konnten, wandten sich die Anleger auch von ihnen ab. Da der Bonus von Fondsmanagern üblicherweise mehr als die Hälfte ihres Gehalts ausmacht, wurden diese reichlich belohnt, wenn sie ihre Kunden zufriedenstellten und neue warben.
So wie Wal-Mart seinen Zulieferern die Daumenschrauben ansetzte, um bessere Preise zu erzielen, übten die Manager der größten Renten- und Investmentfonds Druck auf die Unternehmen aus, höhere Gewinne zu erzielen, die sich wiederum in steigenden Aktienpreisen niederschlugen (nicht immer direkt, doch mit recht großer Wahrscheinlichkeit). Vor 1980 war Wall Street der Handlanger der Industrie und unterstützte die großen Oligopole falls nötig bei der Aufnahme von Kapital. Nach 1980 wurde die Industrie zum Handlanger der Wall Street.
Man hört immer wieder, mit den 80er Jahren habe in den USA eine Ära der Gier begonnen, gerade so als wäre diese Eigenschaft |99|zuvor völlig unbekannt gewesen. Wie wir nun erkennen können, war es nicht die menschliche Natur, die sich veränderte, sondern die Struktur des Kapitalmarktes. Das Zusammenspiel der neuen Technologien und der Deregulierung eröffnete Wall Street zahlreiche neue Möglichkeiten, Geld zu bündeln und Menschen dabei zu helfen, ihr Geld so anzulegen, dass es immer größere Renditen erzielte. Und die Bürger kauften, sie steckten ihr Geld begierig in Investmentfonds, Rentenfonds, neumodische Finanzinstrumente, Schrottanleihen, steuerbegünstigte Anlageformen und kurzfristige Anleihen.28
Die Banker, die dieses Geld im Namen der Anleger investierten und bewegten, behielten ein großzügiges Stück des Kuchens für sich selbst. So verwandelte sich der US-Bankensektor in eine der profitabelsten Branchen der Welt. Seine Gesamtgewinne stiegen von etwa einem Fünftel der Gewinne des Nicht-Finanzsektors in den 70er und 80er Jahren auf etwa die Hälfte nach dem Jahr 2000.29
Um es noch einmal zu betonen: Es war nicht die Gier, die in den 80er Jahren feindliche Übernahmen, Zerschlagungen, Schrottanleihen, Übernahmeschlachten und Zusammenschlüsse motivierte, oder die im neuen Jahrhundert zur Gründung von Hedge-Fonds und Investmentfonds und zu einer weiteren Runde von Übernahmeschlachten führte. Es war nicht die Gier, die mit Beginn der 80er Jahre talentierte junge Männer und Frauen in die angesehenen Business-Schools trieb, um eine Anstellung in Investmentbanken, bei Finanzdienstleistern, Hedge-Fonds oder Fondsgesellschaften zu ergattern oder in den Vorstand von Großkonzernen aufzusteigen. Es war nicht die Gier, die so viel geistige Energie auf das trockene Gebiet der Unternehmensfinanzen führte. Und es war auch nicht die Gier, die Vorstandsgehälter in Form großzügiger Bonuszahlungen und Aktienoptionen an den Aktienkurs band.
In sämtlichen der genannten Fälle waren das auslösende Motiv vielmehr die neuen Möglichkeiten, die es in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Gier mit Möglichkeiten zu verwechseln bedeutet, Begierde mit Verfügbarkeit gleichzusetzen. Die Studenten sind heute nicht gieriger als vor vierzig Jahren, doch sie haben mehr Möglichkeiten, ihre Gier auszuleben.

|100|Grafik 2.1: Gewinne von US-Finanzunternehmen im Vergleich zum Nicht-Finanzsektor30
Vorstandsvorsitzende, die es versäumten, jede Möglichkeit zur Gewinnmaximierung für die Aktionäre zu nutzen, öffneten Finanzunternehmern Tür und Tor, die diese nur allzu gerne nutzten. In den 70er Jahren kam es zu 13 feindlichen Übernahmen im Umfang von mehr als einer Milliarde US-Dollar. In den 80er Jahren schoss diese Zahl auf 150. Als sich der Aktienmarkt zu Beginn dieses Jahrhunderts in der Krise befand, wiederholten sich diese Strategien: Hedge-Fonds, Investmentfonds und Aktionärsgruppen leiteten eine weitere Runde der Übernahmen ein. Die treibenden Kräfte waren oft dieselben, ihre Ellenbogen waren im Laufe der Jahre nicht stumpfer geworden. Carl Icahn etwa, der 1987 das Ölunternehmen Texaco und die Fluggesellschaft TWA in den Bankrott getrieben hatte, nahm 2006 den Kampf um die Kontrolle des glanzlosen Unternehmens Time Warner auf.31
Man könnte argumentierten, dass Angreifer wie Icahn Möglichkeiten erkannten, die den bequemen Vorstandsvorsitzenden aus |101|der alten Welt der Oligopole entgangen waren. Oder, dass sie bereit waren, rücksichtsloser (nicht unbedingt gieriger) vorzugehen, sich riesige Mengen Geld liehen, um eine feindliche Übernahme zu finanzieren, dann radikal die Kosten senkten, indem sie Zulieferern die Daumenschrauben ansetzten, Gewerkschaften den Kampf ansagten, Löhne kürzten und Aufträge an günstigere Hersteller in aller Welt vergaben. Beide Beschreibungen treffen gleichermaßen zu. Das Ergebnis waren höhere Unternehmensgewinne und damit steigende Aktienkurse.
Einige der Krieger und Schrottanleihen-Könige, die in den 80er Jahren heftig verurteilt wurden, gelten heute als Helden, die zur Leistungssteigerung der US-Wirtschaft beigetragen haben. Das ist nicht ganz unberechtigt, auch wenn ihre Strategien nicht immer funktionierten wie geplant. Als Ende der 80er Jahre die Preise für Schrottanleihen in den Keller gingen, verloren viele Kleinanleger ihr letztes Hemd. Der Tabak- und Lebensmittelkonzern RJR Nabisco, das größte Übernahmeobjekt der 80er Jahre, wurde 1999 ohne viel Aufhebens zerschlagen. Außerdem bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack, wenn Topmanager, die an Übernahmen beteiligt sind, anschließend Maßnahmen zur Steigerung des Aktienkurses ergreifen, die sie genauso gut auch vorher hätten durchführen können, um auf diese Weise selbst hohe Gewinne einzustreichen. Allgemein hat die Besessenheit der Vorstandsvorsitzenden, die von der Wall Street geschätzten Quartalszahlen zu erreichen oder gar zu übertreffen – eine Entwicklung, die schon in den 80er Jahren begann –, zu einem übertrieben kurzfristigen Denken in den Vorstandsetagen und zu einer Reihe von Missbräuchen und Verzerrungen geführt. Wie Kathryn Ruemmler, Staatsanwältin im Prozess gegen die Enron-Manager Kenneth Lay und Jeffrey Skilling, den Geschworenen erklärte: »Sie sorgen dafür, dass die Zahlen genau das aussagen, was sie wollen.«32
Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Anleger erheblich profitiert haben. Auch die Verbraucher haben etwas davon gehabt, als US-Konzerne Kosten einsparten und effizienter und innovativer |102|wurden. Ihre anhaltende Profitabilität, von der die Aktienkurse abhängen, gründete sich schließlich auf eine wachsende Anzahl zufriedener Kunden. Man könnte sogar behaupten (wie dies US-Wirtschaftswissenschaftler gern tun, wenn sie Europäern, Japanern und Chinesen predigen), dass die Disziplin, die der große und transparente Kapitalmarkt den mächtigen US-Konzernen auferlegte, die Effizienz und das Wachstum der gesamten US-Wirtschaft beflügelte. Doch selbst wenn wir diese positiven wirtschaftlichen Auswirkungen einräumen, bedeutet dies noch lange nicht, dass das Wachstum und die Macht des Finanzsektors gut für den demokratischen Kapitalismus war.
7
Für staatsmännischen Unternehmensführer, die ihre Rolle darin sahen, die unterschiedlichen Interessen der Mitarbeiter, der Standortgemeinden und der Nation als Ganzer gegeneinander abzuwägen, war kein Platz mehr. Robert C. Goizueta, der frühere Vorstandvorsitzende von Coca-Cola, brachte die neue Logik auf den Punkt: »Unternehmen sind dazu da, wirtschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn sie versuchen, allen alles zu sein, müssen sie scheitern. Wir haben eine Aufgabe: unseren Eigentümern einen fairen Gewinn zu erwirtschaften. Wir müssen uns auf unsere Kernaufgabe konzentrieren: die Wertschöpfung.«33 Mit anderen Worten: Maximiere die Aktienwerte.
Die Vorstandsvorsitzenden von heute können sich den Luxus nicht mehr leisten, sich auch um andere Dinge zu kümmern. Verfehlen sie ihre »Zahlen« – einen bestimmten Gewinn pro Aktie, wie ihn die Manager von Investmentfonds, Rentenfonds und Hedge-Fonds erwarten –, dann werden sie ausgetauscht. In den 50er und 60er Jahren musste sich ein Vorstandsvorsitzender nicht mit Aktionären oder Fondsmanagern treffen. Er saß sicher auf seinem Posten. Jährliche Aktionärsversammlungen waren Routineveranstaltungen, auf denen der Vorstandsvorsitzende in wohlgesetzten |103|Worten eine kurze Rede hielt, ein paar Fragen beantwortete und sich dann verabschiedete. Vorstandsvorsitzende von heute sind dagegen dauernd damit beschäftigt, persönlich, am Telefon, in Meetings und Vorträgen wichtige Investoren bei Laune zu halten, Analysten der Wall Street zu beeindrucken und die sorgenvollen Banker zu beschwichtigen.
Die Wirtschaftswissenschaftler Margarethe Wiersema und Mark Washburn gingen der Frage nach, was in den Jahren zwischen 1996 und 2000 mit dem Vorstandsvorsitzenden eines Fortune-500-Unternehmens passierte, wenn Analysten ihre Bewertung der Aktie änderten. Sie fanden heraus, dass selbst eine geringfügige Veränderung, zum Beispiel von »kaufen« zu »halten«, die Wahrscheinlichkeit um rund 50 Prozent erhöhte, dass der entsprechende CEO in den darauffolgenden sechs Monaten gefeuert wurde. Eine solche Herabstufung hatte sogar größere Auswirkungen auf die Verweildauer eines Vorstandsvorsitzenden als der Rückgang der Gewinne oder ein sinkender Aktienkurs.34
Vorstandsvorsitzende wechselten immer schneller, und eine Rekordzahl wurde zum Rücktritt gezwungen. Die Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton stellte fest, dass die jährliche Wechselrate in den 2 500 größten Unternehmen der Welt von 9 Prozent im Jahr 1995 auf 15,3 Prozent im Jahr 2005 anstieg – und das nicht, weil Vorstandsvorsitzende freiwillig gingen. Die Wechselrate beschleunigte sich vor allem, weil die CEOs die Erwartungen nicht erfüllten. Über den fraglichen Zeitraum von zehn Jahren vervierfachte sich die Zahl der leistungsbedingten Entlassungen in diesen Unternehmen. Im Jahr 2005 »erreichten die leistungsbedingten Entlassungen in Nordamerika einen neuen Rekord, als 35 Prozent der wechselnden CEOs zum Rücktritt gezwungen wurden. Auch in Europa und Japan erreichten die Entlassungen annähernd Rekordniveau.«35
Dieser Trend zeichnete sich schon 1990 ab, als sich das Wirtschaftswachstum verlangsamte. In diesem Jahr rollten die hochbezahlten Köpfe bei AT&T, General Motors, Xerox, Coca-Cola, |104|Aetna und anderen Blue Chips in den USA. Diese Enthauptungen erfolgten rasch und ohne viel Aufhebens, manchmal nach einer Beschäftigungsdauer von nur wenigen Monaten. Während der Krise des Aktienmarkts in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts nahmen die CEO-Entlassungen wieder zu. Zwischen 2004 und 2006 mussten die Vorstandschefs von AIG, Pfizer, Boeing, Fannie Mae, Hewlett-Packard, Kraft, Disney, Merck, Morgan Stanley und Bristol-Myers Squibb die Koffer packen. Der Trend zur fristlosen Entlassung ging einher mit einer immer kürzeren Beschäftigungsdauer von Vorstandsvorsitzenden. Im Jahr 2006 hielten 60 Prozent der Topmanager von Fortune-500-Unternehmen ihren Posten seit sechs oder weniger Jahren – ein Rekordtief.
Einige Vorstandsvorsitzende legten sich ins Zeug, wie etwa Hank McKinnell vom Pharmariesen Pfizer, der den Business Roundtable, einen CEO-Verband in Washington, geleitet hatte. Doch nach einigen Jahren sinkender Aktienkurse (während der er selbst 148 Millionen US-Dollar einsteckte) war im Sommer 2006 auch seine Zeit abgelaufen, 19 Monate vor dem eigentlichen Ende seines Vertrages. Die Leidensfähigkeit der Anleger hat ihre Grenze.36
Im Jahr 2006 traf sich die Mehrheit der Verwaltungsräte zu Ausschusssitzungen ohne den Vorstandschef. Das hatte nichts mit der neuen Gesetzgebung zu tun, sondern mit der zunehmenden Macht der Anleger beziehungsweise der großen Fondsgesellschaften. Je anspruchsvoller die Anleger waren, umso aktiver wurden die Fondsmanager. Und je aktiver die Fondmanager waren, umso unabhängiger mussten die Verwaltungsräte werden, um deren Interessen zu befriedigen.
Vorstandsvorsitzende, die zu einem Anstieg der Aktienkurse beitrugen, wurden dagegen mit Lob überschüttet. Jack Welch, der legendäre frühere CEO von General Electric, der vom Wirtschaftsmagazin Fortune zum »Manager des Jahrhunderts« gekürt wurde, hatte das Glück, seinen Posten im Jahr 1981 und damit zu Beginn des langen Bullenmarktes anzutreten. Natürlich leistete auch er seinen Beitrag zur Senkung der Kosten und zur Steigerung der Aktionärsgewinne|105|. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte General Electric einen Börsenwert von weniger als 14 Milliarden US-Dollar. Als Welch sich im Jahr 2001 in den Ruhestand verabschiedete, war es 400 Milliarden US-Dollar wert. Der Wert der Aktie des Unternehmens war dreimal so schnell gestiegen wie der des gesamten Aktienmarkts.
Vor Welchs Amtsübernahme arbeiteten die meisten Mitarbeiter ihr gesamtes Berufsleben lang bei General Electric und wussten, dass sie nach ihrer Pensionierung gut versorgt werden würden. Welch bereitete dem ein Ende. Zwischen 1981 und 1985 entließ er jeden vierten Mitarbeiter, insgesamt 100 000, was ihm den Spitznamen »Neutronen-Jack« einbrachte. Selbst in guten Zeiten – und Welch stand dem Unternehmen fast nur in guten Zeiten vor – forderte er seine Führungskräfte auf, jedes Jahr 10 Prozent ihrer Mitarbeiter auszutauschen, um die Konkurrenzfähigkeit von General Electric zu gewährleisten. Dazu schrieb er: »Manche mögen es für grausam oder gefühllos halten, die untersten 10 Prozent unserer Leute zu entlassen. Das Gegenteil ist der Fall. Gefühllos ist meiner Ansicht nach die ›falsche Freundlichkeit‹, mit der wir Leute behalten, von denen wir wissen, dass sie nicht wachsen und sich nicht entwickeln werden.« Er teilte seine Manager in die Kategorien A, B und C ein und sortierte die Cs regelmäßig aus.37
Welch tat alles, um zusätzliche Ausgaben bei General Electric zu streichen oder zu kürzen, darunter auch die Kosten für die Reinigung der mit giftigem PCB belasteten Abwässer, die das Unternehmen in den Hudson River pumpte. Er führte eine Lobbyinitiative zur Lockerung der Umweltauflagen zur Reinigung giftiger Anlagen und zur Begrenzung der Kosten für die Beseitigung von Umweltschäden an. Im Jahr 1997 erfuhren die Bewohner der Stadt Pittsfield in Massachusetts, dass der Erdboden um die Wohnhäuser in der Nähe einer GE-Anlage mit PCB verseucht war. Sie erfuhren außerdem, dass General Electric seit Beginn der 80er Jahre um das Problem wusste, es aber nicht für nötig befunden hatte, sie zu informieren.38 Aber was soll’s, Welchs Aufgabe bestand schließlich darin, den Shareholder-Value zu maximieren, und nicht darin, als |106|staatsmännischer Unternehmensführer aufzutreten. Dafür wurde er ja auch zum »Manager des Jahrhunderts« gekürt.
Andere Vorstandsvorsitzende wetteiferten darum, »Neutronen-Jack« sogar noch zu übertreffen. »Kettensägen-Al« Dunlap entließ in seinen zwei Jahren bei Scott Paper 11 000 Mitarbeiter und 71 Prozent aller Führungskräfte. Wall Street war beeindruckt, die Aktie stieg um 225 Prozent. Dunlaps Wechsel zu Sunbeam brachte den Aktionären dagegen weniger Glück, obwohl allein sein Ruf als harter Knochen die Aktie zu seinem Amtsantritt kräftig steigen ließ. Börsenanalyst Andrew Shore von PaineWebber gab im Oktober 1997 eine Kaufempfehlung für die Aktie ab und erklärte den Investoren: »Sunbeam verfügt über einen unschlagbaren Wert, den Dunlap-Faktor.« Dunlap entließ prompt die Hälfte der 6 000 Mitarbeiter von Sunbeam. William Kirkpatrick, der sowohl bei Scott als auch bei Sunbeam Dunlaps Betriebsleiter gewesen war, erklärt dessen Managementtheorie so: »Wenn Sie Ihre Zahlen nicht erreichten, zerriss er Sie in der Luft.«39 Leider musste der Verwaltungsrat von Sunbeam 1998 feststellen, dass Dunlap seine Zahlen erreichte, indem er sie frisierte – eine Praxis, die die Manager von Enron und WorldCom später begeistert übernahmen – und dem Unternehmen in diesem Jahr tatsächlich einen Verlust von 898 Millionen US-Dollar beschert hatte. Dunlap wurde entlassen und zog nach Australien, wo er eine Reihe von Vorträgen über Unternehmensmanagement hielt und die Australier mit einprägsamen Bonmots wie diesem beglückte: »Wenn Sie einen Freund suchen, schaffen Sie sich einen Hund an. Ich habe zwei.«
Natürlich gab es durchaus auch moderatere Ansätze als die legale Aggression von »Neutronen-Jack« und die illegalen Aktivitäten von »Kettensägen-Al«, doch letztlich ging es immer um Verschlankung und Kosteneinsparungen. Carlos Ghosn wurde als Vorstandschef des Automobilherstellers Nissan fast zur Legende. Als er im Jahr 2001 die Zügel übernahm, hatte das Unternehmen Schulden in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar, sein weltweiter Marktanteil war 27 Jahre in Folge rückläufig gewesen. Ghosn ergriff |107|eine sehr unjapanische Strategie, schloss Betriebe und entließ Tausende von Mitarbeitern. Innerhalb eines Jahres brachte er Nissans Betriebsrentabilität auf einen Rekord von 10,6 Prozent.
*
Aber auch ein Rückzug von der Börse verringerte den Druck auf den Vorstandsvorsitzenden nicht. Private Beteiligungsgesellschaften pochten auf dieselben Kosteneinsparungen und Gewinnsteigerungen. Sie hatten im Grunde sogar höhere Erwartungen, denn sie planten zumeist, das Unternehmen später gewinnbringend weiterzuverkaufen. War der Kauf über Kredite erfolgt, stand der CEO unter zusätzlichem Druck, denn nun musste er Gewinne erwirtschaften, um die Zinszahlungen zu bedienen.
Selbst traditionelle Familienunternehmen waren nicht immun. Malden Mills in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts war drei Generationen lang in der Hand der Familie Feuerstein und einer der letzten Textilfabrikanten in Neu-England. Nachdem im Winter 1995 ein Brand den größten Teil seiner Fabrik zerstört hatte, hätte Aaron Feuerstein mit der Versicherungssumme eine neue Anlage in North Carolina errichten können, wo die Löhne niedriger waren, oder er hätte Aufträge nach China vergeben können. Stattdessen entschied er sich, die Fabrik mit rund 450 Millionen US-Dollar in Lawrence wiederaufzubauen und währenddessen seinen rund 4 000 Mitarbeitern die Löhne weiterzubezahlen, was ihn zusätzliche 15 Millionen US-Dollar kostete. Später erklärte er: »Die Beschäftigten brauchen mich. Die Stadt braucht mich. Meine Kunden brauchen mich. Und meine Familie auch.« Peter Jennings, damals Sprecher von ABC News, erklärte Feuerstein zum »Mann der Woche« und NBC-Nachrichtensprecher Tom Brokaw beschrieb ihn gar als »Heiligen der Neunziger«. US-Präsident Clinton erwähnte ihn einige Wochen später in seiner jährlichen Regierungsansprache. Feuerstein schien ein modernes Beispiel für den staatsmännischen Unternehmensführer, der sich aus Überzeugung um seine Mitarbeiter und seine Stadt kümmert.
|108|Doch nach dem Wiederaufbau saß Malden Mills auf einem Schuldenberg von 150 Millionen US-Dollar. Ein Bankenkonsortium, darunter GE Capital, bürdete Feuerstein einen straffen Rückzahlungsplan mit hohen Zinsen auf, da diese Banken eine Menge anderer Möglichkeiten hatten, ihr Geld mit weniger Risiko und höheren Erträgen zu parken. Feuerstein gab sich größte Mühe, die Raten pünktlich zu zahlen, doch es gelang ihm nicht. Im November meldete Malden Mills schließlich Konkurs an. Nach Abschluss des Verfahrens im Jahr 2003 entließen die Gläubiger Feuerstein und setzten einen neuen Vorstandsvorsitzenden ein, der prompt zwei Fertigungsanlagen in China errichtete. Obwohl der neue CEO zusagte, den Standort in Lawrence nicht ganz aufzugeben, war es zweifelhaft, ob dort noch mehr als die Uniformen für die US-Armee hergestellt würden, die lediglich 15 Prozent des Jahresumsatzes von insgesamt 175 Millionen US-Dollar ausmachten.40
Dies ist jedoch kein Grund, sich wegen der Sorgen und Nöte der modernen Vorstandsvorsitzenden graue Haare wachsen zu lassen. Trotz des immensen Ergebnisdrucks, trotz der Arbeitsplatzunsicherheit, trotz der dauernden Furcht, Konkurrenten könnten ihnen Marktanteile wegschnappen, führen sie im Großen und Ganzen doch ein recht angenehmes Leben. Ihre Privatjets sind gut in Schuss, ihre Mitgliedschaft im Golfclub wird automatisch erneuert, und ihre Bezahlung liegt weit über der eines Normalsterblichen. Und sollten sie tatsächlich entlassen werden, fällt das Trostpflaster großzügig genug aus.
8
Im Jahr 1955 war mehr als ein Drittel aller Arbeitnehmer der US-Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert. Im Jahr 2006 waren es gerade noch 8 Prozent. Die praktische Folge: eine dramatisch geschwächte Verhandlungsposition der Arbeiter beim Kampf um höhere Löhne und Sozialleistungen. In den Jahren von 1945 bis 1980 sahen Tarifabschlüsse zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern |109|fast immer Lohnerhöhungen vor, in den Folgejahren dagegen häufig Zugeständnisse der Arbeiterschaft und Lohnabschläge. Auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer waren betroffen. Die Gewerkschaften hatten nicht mehr genug Schlagkraft, um in ihren Verhandlungen Lohnerhöhungen für die gesamte Branche durchzusetzen.
Einer verbreiteten Ansicht unter Gewerkschaftlern nach war der Mitgliederschwund eine Folge der aggressiv gewerkschaftsfeindlichen Politik der Unternehmen und Vorstandsvorsitzenden, die begonnen habe, als Präsident Reagan am 5. August 1981 die streikenden Fluglotsen (die gar kein Streikrecht besaßen) entließ und ihnen ein lebenslanges Berufsverbot erteilte. Dieser Meinung nach fassten die Konzerne Reagans Entscheidung als Freifahrtschein auf, um die großen Gewerkschaften zu bekämpfen, was sie dann auch gründlich taten.
Diese Theorie hat einen entscheidenden Haken: Ihr zeitlicher Ablauf stimmt so nicht. Die Grafik 2.2 zeigt deutlich, dass der dramatische Mitgliederschwund der Gewerkschaften bereits Mitte der 70er Jahre unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter einsetzte. Als Reagan die streikenden Fluglotsen entließ, hatte der Rückgang bereits die Ausmaße einer Massenflucht angenommen.41 Vorstandsvorsitzende betrieben in der Tat eine immer gewerkschaftsfeindlichere Politik, doch dies begann bereits in den 70er Jahren, nicht in den Achtzigern. Im Jahr 1962 stimmten Arbeitgeber bei 46,1 Prozent der gewerkschaftlichen Wahlen vorbehaltlos zu. In der 70er Jahren begannen sie, Widerspruch gegen diese Wahlen anzumelden, und im Jahr 1977 wurden nur 8,6 Prozent nicht von Arbeitgebern angefochten.42 Zur gleichen Zeit fingen Arbeitgeber an, streikende Arbeitnehmer zu entlassen oder schon im Vorfeld von möglichen Streiks mit Aussperrungen zu drohen. Sie begannen auch mit der Entlassung von Arbeitern, die für die Gewerkschaften warben, obwohl dies deren gutes Recht war. In den 50er Jahren registrierte das Arbeitsministerium bei jeder zwanzigsten Gewerkschaftswahl illegale Entlassungen. Diese |110|Zahl nahm in den 70er Jahren zu. In den Neunzigern reagierten Arbeitgeber auf jede vierte Gewerkschaftswahl mit illegalen Entlassungen.43

Grafik 2.2: Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in der US-Privatwirtschaft, 1929 bis 200544
Die beschriebene Sichtweise ist auch aus einem weiteren Grund nicht stimmig. Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ging nämlich nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa und Japan zurück. Sämtliche Industrienationen erlebten einen Strukturwandel, als das System der stabilen Massenproduktion sich auflöste. Dieser Wandel begann in den USA. Früher waren die Oligopole in der Lage gewesen, Lohnerhöhungen aufzufangen oder in Form von Preiserhöhungen an die Verbraucher weiterzugeben, doch mit der Intensivierung des Konkurrenzkampfes und dem Zerfall der alten Oligopole war dies nicht mehr möglich.
Die Verbraucher hatten größere Auswahl und mussten keine Preise mehr bezahlen, in denen die großzügigen Tarifvereinbarungen |111|der Gewerkschaften enthalten waren. Sie konnten in aller Welt nach günstigeren Angeboten suchen. Gleichzeitig verlangten Anleger höhere Aktienkurse von den Vorstandsvorsitzenden und drohten, ihr Geld andernfalls in gewinnträchtigere Unternehmen zu investieren. Mit den neuen Investmentfonds und Handelserleichterungen hatten auch diese Anleger größere Auswahl. Vorstandsvorsitzende, die sich darum bemühten, den Anforderungen der Verbraucher und Anleger gerecht zu werden, standen zunehmend unter Druck, Kosten zu sparen. Da Löhne und Sozialleistungen der größte Einzelposten in der Bilanz waren und rund 70 Prozent der laufenden Betriebskosten ausmachten, setzten die Manager hier den Rotstift an. Dies führte zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Arbeitnehmervertretern und zu Anti-Gewerkschafts-Kampagnen. Ronald Reagan mag diesen Unternehmen seine Sympathie signalisiert haben, doch er war nicht der Verantwortliche für diese Politik.

Grafik 2.3: Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in Industrienationen weltweit45
|112|Die Vorstandsvorsitzenden der großen Konzerne legten sich zwar mit den Gewerkschaften an, doch dies war nicht der Hauptgrund für deren Verlust an Mitgliedern und Einfluss. Seit den 70er Jahren wuchs der gewerkschaftsfreie Sektor der US-Wirtschaft erheblich schneller als der gewerkschaftlich organisierte, da Verbraucher und Anleger ihr Geld dort ausgaben beziehungsweise anlegten, wo sie am meisten dafür bekamen.46 In den USA und zunehmend auch in anderen Industrienationen waren Verbraucher und Anleger immer weniger bereit, die gewerkschaftlich ausgehandelten Löhne und Lohnnebenkosten mitzutragen. Unternehmen, die an gewerkschaftliche Tarifverträge gebunden waren und ihre Lohnkosten nicht senkten, verloren Anteile an Unternehmen, die trotz der Tarifabschlüsse ihre Lohnkosten senkten. Doch beide verloren Verbraucher und Anleger an Unternehmen, die nicht an gewerkschaftliche Tarifverträge gebunden waren.
Nach der Deregulierung des zivilen Luftverkehrs sahen sich die großen Fluggesellschaften zunehmend der Konkurrenz durch neue Anbieter ausgesetzt, die entweder nicht an gewerkschaftliche Tarifabschlüsse gebunden waren oder keine der teuren Pensionszahlungen tragen mussten, zu denen sich die alten Gesellschaften verpflichtet hatten. Frank Lorenzo, Vorstandsvorsitzender von Continental Airlines, leitete daher 1982 ein Konkursverfahren ein und gab damit das Muster vor, das sich für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in den nächsten Jahren zum Albtraum entwickelte. Lorenzo kündigte die Arbeitsverträge auf, entließ Tausende Mitarbeiter und sperrte streikende Piloten und Flugbegleiter aus. Den neuen Mitarbeitern zahlte er die Hälfte dessen, was die früheren gewerkschaftlich organisierten Angestellten erhalten hatten und ließ sie länger arbeiten. Natürlich wurde Lorenzo als Bösewicht dargestellt, doch unter ihm hob Continental wieder ab. Im Jahr 1993 drohte Northwest Airlines mit dem Konkurs und forderte prompt Lohnzugeständnisse von seinen Flugbegleitern und dem Bodenpersonal. Ein Jahrzehnt später, als rund 4 000 Mechaniker von Northwest streikten, vergab die Gesellschaft die Wartung |113|ihrer Flugzeuge an Fremdfirmen. Rund 500 Mechaniker brachen den Streik, um ihre Arbeitsplätze nicht zu verlieren. Im Jahr 2002 schließlich meldete United Airlines Konkurs an. Piloten und Flugbegleiter mussten Lohnkürzungen zwischen 8,5 und 11,8 Prozent hinnehmen. Als das Konkursverfahren 2006 beendet wurde, waren die Analysten der Wall Street skeptisch, ob die Kürzungen ausreichten, um United wieder konkurrenzfähig zu machen.
*
Am dramatischsten war der Mitgliederschwund in den größten Industriegewerkschaften. Bis Ende der 70er Jahre war der Tarifvertrag der Automobilgewerkschaft United Auto Workers so etwas wie der Goldstandard gewesen: die großzügigste und sicherste Bezahlung mit den besten Sozialleistungen im ganzen Land. Eine Stelle in einem der großen Automobilwerke war die Eintrittskarte zu mittelständischem Wohlstand. Mit anderthalb Millionen Mitgliedern waren die United Auto Workers die Könige der Straße. Doch ab Ende der 70er Jahre änderte sich dies.
Die drei großen Automobilhersteller waren nicht mehr in der Lage, die Preise zu diktieren. Viele Verbraucher entschieden sich für die günstigeren Modelle von Toyota, Honda und anderen ausländischen Herstellern, die selbst dann noch billiger waren, wenn deren Fahrzeuge in den USA gefertigt wurden. Die Profite der »großen Drei« schmolzen dahin, und Anleger wurden zunehmend unzufrieden. Das Problem waren nicht nur die hohen Löhne und Lohnnebenkosten. Jahre der oligopolistischen Stabilität hatten die Vorstandsetagen eingeschläfert, das Management war träge geworden. Viele der Modelle waren hässliche Kisten. Doch Ende der 80er Jahre war das Management wieder aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und lernte von den Japanern. Anfang der Neunziger hatte es deren Vorsprung an Qualität und Zuverlässigkeit beinahe wieder wettgemacht. Trotzdem waren die »großen Drei« nach wie vor nicht konkurrenzfähig, ihre Kosten viel zu hoch. Die Gewerkschaft war vor allem darauf bedacht gewesen, |114|die Löhne und Sozialleistungen ihrer Mitglieder so weit wie möglich zu erhalten, vor allem diejenigen älterer Mitglieder, die aufgrund ihrer langen Betriebszugehörigkeit Kündigungsschutz genossen.
Im Jahr 2006 verdiente ein gewerkschaftlich organisierter Fließbandarbeiter in einem der großen drei Automobilkonzerne im Durchschnitt rund 60 US-Dollar pro Stunde, inklusive der Sozialleistungen, was im Vergleich zu den nicht organisierten Arbeitnehmern noch immer sehr viel ist. Japanische Autobauer zahlten ihren nicht organisierten Mitarbeitern in US-Werken 40 US-Dollar pro Stunde. Für die »großen Drei« kamen Belastungen durch eben jene Verpflichtungen dazu, die sie in guten Zeiten ihren gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern gegenüber eingegangen waren, also die großzügigen Renten- und Krankenversicherungszahlungen an Pensionäre. Die japanischen Autobauer in den USA hatten diese Kosten nicht. Kein Wunder, dass die »großen Drei« weiter schrumpften, während die US-Ableger von Toyota, Honda und Nissan weiter wuchsen.
Im Jahr 2006 waren die Belegschaftszahlen der »großen Drei« gegenüber den glorreichen Tagen um die Hälfte zurückgegangen. Ein weiterer Stellenabbau stand bevor. General Motors kündigte die Schließung von einem Dutzend Werken und die Streichung von 30 000 Arbeitsplätzen an, Ford wollte 75 000 Stellen abbauen, und Chrysler gehörte schon gar nicht mehr zu den »großen Drei«, sondern hatte sich in DaimlerChrysler verwandelt und wurde von Stuttgart aus gemanagt. Toyota unterhielt dagegen 15 Werke mit 38 000 Mitarbeitern in Nordamerika und war damit auf dem Weg, Ford hinsichtlich der Zahl der Mitarbeiter zu überholen. Nur 60 Prozent aller Autokäufer in den USA entschieden sich für ein Modell der »großen Drei«, darunter kaum noch junge Käufer. Wall Street investierte nur widerwillig. Die Aktien von GM und Ford wurden als Schrottanleihen eingestuft. Daran änderten auch Pläne zu weiterem Stellenabbau nichts. »Wie oft hat GM in den letzten zwanzig Jahren strukturelle Veränderungen angekündigt, |115|ohne sie umzusetzen und höhere Aktienkurse zu bewirken?«, fragte David Sowerby, Fondsmanager von Loomis Sayles, einem Fonds mit einem Volumen von 70 Milliarden US-Dollar.47
Andere Branchen mit gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern folgten den »großen Drei« auf dem Weg nach unten. Delphi, ein riesiger Automobilzulieferer, der ursprünglich zu General Motors gehört hatte, zahlte seinen gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern 2006 durchschnittlich 27 US-Dollar pro Stunde, plus 38 US-Dollar Sozialleistungen. Den Arbeitern in seinem chinesischen Werk zahlte Delphi dagegen nur 3 US-Dollar pro Stunde. Robert Miller, ein Sanierungsspezialist, der 2005 den Vorstandsvorsitz von Delphi übernahm, versprach, er wolle zwei Drittel der 34 000 Stellen in den USA abbauen und die Stundenlöhne auf 10 US-Dollar drücken. Die United Auto Workers stellten sich stur. Also leitete Miller ein Konkursverfahren ein, um die bestehenden Arbeitsverträge kündigen zu können. Er warnte, alles andere gefährde sämtliche verbleibenden Arbeitsplätze bei Delphi.48
Es spielte keine Rolle, ob ein Unternehmen schwarze Zahlen schrieb: Wenn Anleger anderswo höhere Renditen und Kapitalgewinne erzielen konnten, war es trotzdem in der Schusslinie. Es spielte auch keine Rolle, ob ein Produkt verhältnismäßig preisgünstig und qualitativ hochwertig war, wenn Verbraucher anderswo ein besseres Angebot bekamen. Der Traktorhersteller Caterpillar wies für das Jahr 2006 ordentliche Gewinne in seiner Bilanz aus, doch die Anleger verlangten eine höhere Rendite. Die Gewerkschaft wollte dagegen die guten Löhne und Sozialleistungen ihrer Mitglieder sichern. Um sowohl die Wall Street als auch die Gewerkschaft zufriedenzustellen, teilte Caterpillar seine Belegschaft: Bestehende Mitarbeiter erhielten 42 US-Dollar pro Stunde an Lohn und Sozialleistungen, neue Mitarbeiter dagegen nur 22 US-Dollar. Douglas Oberhelman, Präsident von Caterpillar, erklärte der New York Times: »Wir müssen einen Ausgleich finden zwischen unserer Wettbewerbsfähigkeit und der Zugehörigkeit zur Mittelschicht.«49
|116|Mitarbeiter von kleinen Dienstleistungsbetrieben – Einzelhandelsgeschäften, Restaurants, Hotels, Kindergärten, Altenheimen, Krankenhäusern und Transportunternehmen – standen vor einer anderen Herausforderung als ihre Kollegen in den großen Konzernen. Ihre Jobs waren nicht in Gefahr, denn sie konnten nicht an Fremdunternehmen im Ausland outgesourct oder wegrationalisiert werden. Im Gegenteil, die Zahl der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor wuchs stetig. Das Problem war jedoch, dass die Arbeitgeber ausgesprochen niedrige Löhne und kaum Sozialleistungen zahlten und wenig Aufstiegsmöglichkeiten boten. Die wenigsten Betriebe waren gewerkschaftlich organisiert, sonst hätten die Mitarbeiter vermutlich eine bessere Verhandlungsposition gegenüber ihren Arbeitgebern gehabt. Die verschiedenen Dienstleistungsgewerkschaften, wie etwa die Service Employees International Union (SEIU), die Teamsters, die Hotel Employees and Restaurant Employees International Union und die United Food and Commercial Workers, verließen den Dachverband der AFL-CIO. Diese Entscheidung war strategischer Natur, wenngleich die Presse von angeblichen persönlichen Auseinandersetzungen der Gewerkschaftsführer berichtete. Die Dienstleistungsgewerkschaften sahen ihre Aufgabe weniger darin, bestehende gute Löhne und Sozialleistungen zu erhalten. Sie hatten es sich vielmehr zum Ziel gesetzt, die Aussichten von Beschäftigten zu verbessern, die mit schlechten Löhnen und Sozialleistungen abgespeist wurden. Ihre Zukunft hing davon ab, wie viele Mitarbeiter von Dienstleistungsunternehmen sich der Gewerkschaft anschließen würden, und wie schnell. Organisationsarbeit war eine zentrale Aufgabe.
Doch es war ein harter Kampf, denn die Verbraucher hatten große Auswahl: von Online-Händlern bis hin zu Megamärkten wie Wal-Mart. Wal-Mart geht bis heute aggressiv gegen Gewerkschaftsbildung vor und ging sogar so weit, eine Filiale in Kanada zu schließen, weil deren Mitarbeiter sich mehrheitlich für den Anschluss an eine Gewerkschaft entschieden hatten. Als Wal-Mart in den Apotheken- und Lebensmittelsektor einstieg, reagierten Apotheken |117|und Supermärkte mit Preissenkungen. Die Reaktion war vorhersehbar: Im Sommer 2003 streikten in Kalifornien rund 60 000 Mitarbeiter von Lebensmittelmärkten. Nach einer langen Aussperrung errangen sie einige Zugeständnisse. Im Sommer 2005 streikten in Chicago mehr als eintausend Mitarbeiter der Apothekenkette Walgreens. Der Streik brach zusammen, als mehr als die Hälfte der Streikenden an die Arbeit zurückkehrte.
Auf diese Weise haben Verbraucher und Anleger, die auf der Suche nach dem besten Angebot sind, den Niedergang der Gewerkschaften bewirkt. Für Arbeitnehmer war das Ergebnis jedoch wenig vorteilhaft.
9
An dieser Stelle ist eine Zusammenfassung angebracht. Der Weg zum Superkapitalismus begann mit Technologien aus dem Kalten Krieg: Container, Frachtschiffe, Transportflugzeuge, Glasfaserkabel und Satellitenkommunikation. Diese ermöglichten die Entstehung globaler Lieferketten. Außerdem förderten sie die kommerzielle Entwicklung von Computern und Software, mit deren Hilfe Güter auch ohne Massenfertigung günstig hergestellt werden konnten, und schließlich den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen über das Internet. Diese Entwicklungen brachten das alte System der Massenproduktion zum Einsturz und verschärften den Wettbewerb dramatisch. Sie ermöglichten es Megamärkten, die Kaufkraft ihrer Kunden zu bündeln und Zulieferer zu Preissenkungen zu zwingen. Außerdem eröffneten sie Unternehmern neue und gewinnträchtige Möglichkeiten, die Regulierungen in der Telekommunikation, im zivilen Luftverkehr, dem Speditionswesen, dem Schiffsverkehr und dem Finanzmarkt abzuschaffen, was zu einer weiteren Verschärfung des Wettbewerbs führte. Die Kombination aus neuen Technologien und der Deregulierung des Finanzmarkts ermöglichte es Anlegern, ihre Ersparnisse in gigantischen Fondsgesellschaften anzulegen, die wiederum Unternehmen unter |118|Druck setzten, höhere Renditen zu erwirtschaften. Vorstandsvorsitzende, denen dies gelang, wurden großzügig belohnt, die anderen wurden gefeuert. Der verschärfte Wettbewerb um Verbraucher und Anleger zwang die Unternehmen schließlich, ihre Lohnkosten zu senken, was nicht gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter besonders hart traf.
Die zentralen Institutionen des demokratischen Kapitalismus im Beinahe Goldenen Zeitalter – die gigantischen oligopolistischen Konzerne, die großen, nach Branchen organisierten Gewerkschaften und die Regierung, die mithilfe von Regulierungsbehörden die regionalen Interessen und kleineren Gemeinden schützte – lösten sich auf. Die sogenannten staatsmännischen Unternehmensführer verloren jede Möglichkeit, die Interessen ihrer Standortgemeinden und Mitarbeiter einzubeziehen. Die Macht verschob sich hin zu Verbrauchern und Anlegern. Der Superkapitalismus löste den demokratischen Kapitalismus ab.
Sind wir einverstanden mit diesen Entwicklungen? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir vermutlich zugeben, dass zwei Herzen in unserer Brust wohnen.