US-Bürger verlieren das Vertrauen in ihre Demokratie, so wie die Bürger vieler anderer Demokratien auch. Vor 35 Jahren war die überwiegende Mehrheit der US-Bevölkerung der Ansicht, die Demokratie diene allen Bürgern gleichermaßen. Doch seither ist diese Zuversicht stetig geschwunden. Heute ist die Mehrheit überzeugt, die Demokratie werde von wenigen mächtigen Interessengruppen gelenkt, die sich nur um sich selbst kümmern. Umfragen in anderen Ländern zeigen einen ähnlichen Vertrauensverlust.1 Was ist passiert?
Keine der gängigen Erklärungen ist überzeugend. Eine der wahrscheinlicheren Ursachen ist die zunehmende Bedeutung des Geldes in der Politik der USA und anderswo – vor allem das Geld der großen Konzerne.2 Dieses Geld ist ein Nebenprodukt genau jener Eigenschaft des Superkapitalismus, die dessen Erfolg ausgemacht hat: des verstärkten Wettbewerbs der Unternehmen um Anleger und Verbraucher. Dieser Wettbewerb findet seine Fortsetzung in der Politik, da Konzerne zunehmend versuchen, sich mit deren Hilfe einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. In der Folge ist die Demokratie immer weniger dazu in der Lage, auf die Bedürfnisse ihrer Bürger einzugehen.
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Über die Tatsachen herrscht weitgehende Einigkeit. Das Anschwellen der Geldströme aus den Unternehmenskassen nach Washington |175|ist unübersehbar. Für ein besseres Verständnis dieser Entwicklung ist ein Blick zu den Anfängen dieser Eskalation hilfreich.
Ehe die Konzerne den Geldhahn aufdrehten, galt Washington als heruntergekommene Stadt. John F. Kennedy beschrieb die US-Hauptstadt als »Mischung aus der Effizienz des Südens und dem Charme des Nordens«.3 Noch in den 70er Jahren, als ich bei der Federal Trade Commission anfing, wirkte die Innenstadt schäbig. Mit besonders hartnäckigen Lobbyvertretern ging ich gern in einen Imbiss schräg gegenüber vom Weißen Haus, in dem es vor Kakerlaken nur so wimmelte – danach war ich sie ein für alle Mal los. Doch als ich in den 90er Jahren nach Washington zurückkehrte, hatte sich die Stadt verändert. Der Imbiss war verschwunden, in den Straßen des Zentrums blitzten die Fassaden der renovierten Hotels, der feinen Restaurants und Szene-Bistros. Der Glamour reichte vom Capitol Hill bis nach Georgetown, die Straßen waren gesäumt von Bürokomplexen aus Glas, Chrom und polierten Edelhölzern. Es gab feine Apartmentkomplexe mit Türstehern, die die Namen und Wünsche sämtlicher Bewohner kannten; Hotels mit marmorgefliesten Eingangshallen, dicken Teppichen, sanfter Musik und Empfangsschaltern aus poliertem Granit; Restaurants mit Leinenservietten, in Leder geschlagenen Speisekarten und schweren silbernen Bestecken, die Steaks für 75 Dollar und französische Weine für 400 Dollar die Flasche servierten. Das Restaurant Charlie Palmer Steak am Fuße des Capitol Hill hatte einen Weinkeller mit 10 000 Flaschen. Das Bistro Bis neben dem Hotel George hatte mehlierte, knusprig gebratene Froschschenkel und Kalbsbries à la Zingara auf der Speisekarte. Das Restaurant Palm an der 19th Street bot noch exklusivere Kost, die selbst den abgekochtesten Politiker beeindruckte.
Mit dem Geldstrom hatte sich alles verteuert, nicht nur die Übernachtungskosten und die Preise der Restaurants waren gestiegen, sondern auch die Tarife von Anwälten, Lobbyisten und PR-Profis, die Immobilienpreise und selbst die Preise für Wohneigentum im Umland. Im Jahr 2005 waren alle sieben Umlandbezirke |176|von Washington DC unter den ersten zwanzig mit dem landesweit höchsten Einkommen.4
Die Wahlkampfspenden eskalierten zu Beginn der 80er Jahre. Mit dem Anschwellen des Geldstroms musste sich jeder Kandidat Sorgen machen, wie viel Geld sein politischer Gegner erhalten könnte, es sei denn, seine Wahlkampfschatulle war so gut gefüllt, dass er damit jeden Herausforderer abschreckte. Senatoren und Abgeordnete, die früher vor allem die pluralistischen Interessengruppen ihrer Staaten und Wahlbezirke umwarben, konzentrierten sich in der Folge immer stärker auf die Suche nach Wahlkampfspendern. Die lukrativsten Quellen waren sogenannte politische Aktionskomitees der Unternehmen, in denen Manager und Lobbyisten ihre Spenden bündeln.
Direkte Spenden sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs der politischen Einflussnahme, der über die letzten Jahrzehnte stark gewachsen ist, wie die Grafiken 4.1 bis 4.5 verdeutlichen.5
Grafik 4.1: Reale Zunahme der Wahlkampfspenden6
|177|Grafik 4.2: Zahl der eingetragenen Lobbyisten in Washington DC7
Grafik 4.3: Aufwendungen der Lobbyisten (in Millionen Dollar)8
Dies ist etwas anderes als eine aufgeblähte und teure Form des Pluralismus der Interessengruppen, wie ihn Politikwissenschaftler zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben. Der Zuwachs an Lobbyaktivitäten geht fast ausschließlich auf das Konto der Wirtschaft. Die Lobbyarbeit von politischen Organisationen ist im Vergleich dazu beinahe zu vernachlässigen. Im Jahr 2005 unterhielt beispielsweise der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gerade einmal sechs Lobbyisten in Washington DC. Die Liste der 100 aktivsten Lobbyisten wurde von der US-Handelskammer angeführt, der AFL-CIO fand sich auf Platz 74. Die meisten politischen Interessengruppen, die sich für Themen wie Umweltschutz, Kinder- oder Menschenrechte einsetzen, schaffen es nicht einmal auf diese Liste.10
|178|Grafik 4.4: Zahl der in Washington DC eingetragenen Anwälte9
Auch diese Entwicklung begann bereits in den 70er Jahren. Im Jahr 1950 unterhielten weniger als 100 Firmen ein Büro in Washington. Ab Mitte der Siebziger explodierte das Lobbywesen der Unternehmen. Der nationale Industrieverband verlegte sein Hauptquartier 1973 nach Washington, im gleichen Jahr wie der Business Roundtable, eine Vereinigung von Vorstandsvorsitzenden, die persönlich zu Lobby-Zwecken nach Washington DC reisen.11 Zu Beginn der 90er Jahre hatten mehr als 500 US-Unternehmen ständige |179|Vertretungen in der US-Hauptstadt und beschäftigten insgesamt 61 000 Lobbyisten und Anwälte. 12 Dazu kamen durch Unternehmen finanzierte Stiftungen, Zentren und Institute, die zahlreiche Politikexperten und Marketingfachleute beschäftigten, nicht zu vergessen Marketingunternehmen, die sich auf die Unterstützung der Unternehmen im Ringen um Einfluss auf der politischen Bühne spezialisiert hatten.13
Mit der Ausbreitung des Superkapitalismus in aller Welt werden in den letzten Jahren auch andere Hauptstädte von einer ähnlichen Lobby-Welle überflutet. Im Jahr 2005 waren in Brüssel, dem Sitz der Europäischen Kommission und anderer Einrichtungen der Europäischen Union, rund 10 000 Lobbyisten registriert, um die Interessen der Großkonzerne und Branchenverbände zu vertreten.14 Die Avenue de Cortenbergh hat verblüffende Ähnlichkeit mit der Washingtoner K Street.
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Man hört immer wieder, der Strom der Unternehmensgelder in die Politik sei das Ergebnis einer Abmachung zwischen Big Business und den Republikanern, der im Präsidentschaftswahlkampf von Ronald Reagan begonnen und sich bis in die Regierung von George W. Bush erhalten habe.15 Angeblich sicherten die Konzerne den Republikanern genug Geld zu, um ihre Mehrheit dauerhaft zu erhalten, während die Republikaner im Gegenzug eine wirtschaftsfreundliche Politik förderten. Viele Beobachter sahen den Beweis in dem berüchtigten »K Street Project«, mit dem der republikanische Fraktionssprecher des Repräsentantenhauses, Tom DeLay, und andere Republikaner Druck auf Unternehmen ausübten, nur der Partei genehme Lobbyisten anzuheuern.
Diese Theorie ist jedoch zu einfach. Sie liefert beispielsweise keine Erklärung dafür, warum die Wirtschaft in aller Welt ihre Lobbyaktivitäten verstärkt hat. Sie erklärt auch nicht, warum beide Parteien von den zunehmenden Wahlkampfspenden profitieren|180|. Als die Demokraten 1994 die Mehrheit im Kongress verloren, waren sie bereits weitgehend abhängig von den Zuwendungen der Unternehmen. »Die Wirtschaft muss mit uns zusammenarbeiten, ob sie das will oder nicht, denn wir sind die Mehrheit«, tönte der demokratische Abgeordnete Tony Coelho. Als Leiter des demokratischen Wahlkampfteams erreichte er in den 80er Jahren, dass die Demokraten ähnliche Summen aus den Unternehmensschatullen erhielten wie die Republikaner. Im Jahr 1990 teilte beispielsweise die Speditionsbranche ihre 1,51 Millionen US-Dollar an Wahlkampfspenden gleichmäßig unter beiden Parteien auf. Dieses Gleichgewicht hatte bis zum republikanischen Wahlsieg des Jahres 1994 Bestand und wurde nach dem Sieg der Demokraten 2006 wiederhergestellt.16 Coelhos Behauptung, die Unternehmen seien von den Demokraten abhängig, führte natürlich auch zu einer umgekehrten Abhängigkeit der Demokraten von der Großzügigkeit der Unternehmen. Das wurde deutlich, als im Jahr 1994, kurz vor der vernichtenden Niederlage der Demokraten bei den Kongresswahlen, viele demokratische Abgeordnete gegen Bill Clintons Gesundheitsreform stimmten, weil ihre Sponsoren aus den Unternehmen dagegen waren.
Trotz dieser geplanten Reform war die Clinton-Regierung, der ich angehörte, eine der wirtschaftsfreundlichsten in der gesamten Geschichte der USA. In seinen ersten beiden Amtsjahren setzte Clinton mit der Kongressmehrheit der Demokraten im Rücken die Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) und die Gründung der Welthandelsorganisation durch, die beide für die Konzerne von größter Bedeutung waren. Er bekannte sich zudem zu einem Abbau des Haushaltsdefizits, so wie die Händler der Wall Street dies wünschten. Nie hatte es die Wirtschaft so gut. Unternehmensgewinne explodierten, die Aktienkurse stiegen, und die Vorstandsbezüge erreichten astronomische Dimensionen.
Diese Tatsachen allein lassen noch nicht den Schluss zu, dass Präsident Clinton oder ein Mitglied seiner Regierung dem Big |181|Business in besonderer Weise verpflichtet gewesen wäre, oder dass die Unternehmen gar das Regierungsprogramm diktiert hätten. Doch es ist bemerkenswert, mit welchen Summen Unternehmen die Wiederwahl Clintons unterstützten und wie eifrig Clinton um Wahlkampfspenden der Unternehmen warb. Clintons großzügige Gastfreundschaft gegenüber Vorstandsvorsitzenden, die die Nacht im Lincoln Bedroom verbringen wollten, bestätigte das geflügelte Wort, nach dem das Weiße Haus das einzige Hotel ist, in dem die Gäste das Minzplätzchen aufs Kopfkissen legen. Geld öffnete die Türen, auch wenn es nicht unbedingt die erwünschten Resultate kaufen kann. Ölbaron Roger Tamraz spendete der Demokratischen Partei 300 000 US-Dollar, um sich mit Präsident Clinton zu treffen. Das veranlasste den republikanischen Senator Fred Thompson dazu, Tamraz bei einer Anhörung zur Reform der Wahlkampffinanzierung zu fragen, ob er der Ansicht sei, er habe »das verfassungsmäßige Recht darauf, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich ein geschäftliches Vorhaben vorzutragen«. Tamraz antwortet mit bemerkenswerter Offenheit: »Senator, ich gehe bis an die Grenzen. Warum auch nicht? Sie machen die Spielregeln, und wir halten uns daran. Das ist politics as usual.«17
Die Tatsache, dass Unternehmensspenden nicht parteigebunden sind, hat vielen Demokraten nach ihrer Karriere in Washington neue lukrative Verdienstmöglichkeiten in Großkonzernen eröffnet. Als sich abzeichnete, dass die Demokraten aus den Kongresswahlen des Jahres 2006 als Sieger hervorgehen würden, wurde das K Street Project endgültig begraben. In Erwartung des demokratischen Wahlsiegs übertrug DLA Piper, eine der wichtigsten Lobbyagenturen, die Führung vom Republikaner Thomas F. O’Neill III auf den Demokraten James Blanchard, einen früheren Gouverneur und Kongressabgeordneten aus Michigan. »Es war sicher kein Schaden, dass ich Demokrat bin«, meinte Blanchard gegenüber der Washington Post und fügte hinzu: »Dies wird ein großes Jahr für die Demokraten.«18 Bekannte Demokraten und selbst Hinterbänkler der Partei waren plötzlich sehr gefragt.
|182|Parteiübergreifende Lobbyarbeit ist für die Unternehmen eine praktische Notwendigkeit, denn um im Kongress eine Mehrheit für eine bestimmte politische Maßnahme zu bekommen, ist üblicherweise Unterstützung aus beiden Parteien erforderlich. Nachdem der demokratische Fraktionsvorsitzende Tom Daschle bei den Wahlen des Jahres 2004 sein Mandat verlor, wurde er vom früheren republikanischen Präsidentschaftskandidaten Bob Dole für die Lobbyagentur Alston & Bird angeheuert. »Er hat eine Menge Freunde im Senat und ich habe eine Menge Freunde im Senat«, witzelte Dole. »Zusammen kommen wir vielleicht auf 51 Prozent.«19
Parteiübergreifende Lobbyagenturen arbeiten für erstklassige Konzernkunden. Um George W. Bushs Medicare-Gesetzgebung zur Übernahme von Arzneimittelkosten durch den Kongress zu drücken, heuerten die Pharmaziekonzerne den demokratischen Abgeordneten Vic Fazio, Gore-Berater David Beier und Clinton-Berater Joel Johnson an.20 Die Hersteller von Generika holten sich die Unterstützung von Chris Jennings, einem der Architekten von Bill Clintons gescheiterter Gesundheitsreform, und Mark Isakowitz, der einer der führenden republikanischen Gegner dieser Reform gewesen war. Als die Vertreter der Tabakindustrie 1998 den Abgeordneten die Einigung über Schadensersatzansprüche verkaufen wollten, die sie mit verschiedenen Bundesstaaten erreicht hatten, ließen sie sich ebenfalls von republikanischen und demokratischen Lobbyisten vertreten, darunter Gore-Berater Peter Knight, die frühere demokratische Gouverneurin Ann Richards und der frühere demokratische Fraktionsvorsitzende im Senat George Mitchell.
Zwar haben es nicht-wirtschaftliche Interessen unter Demokraten leichter, sich Gehör zu verschaffen als unter Republikanern, doch die Wirtschaft hat unter beiden Parteien ausgezeichneten Zugang zur Macht. Nach ihrem Abschied aus der Regierung wechselte die Hälfte von Bill Clintons Mannschaft in die Lobby. Clintons erster Staatssekretär verließ seinen Posten schon nach weniger als einem Jahr, um Vorsitzender des Beratungsunternehmens Hill & Knowlton |183|Worldwide zu werden. Clintons stellvertretender Stabschef verließ sein Amt kaum ein Jahr später, um die U.S. Telephone Association zu leiten. Nach Auskunft des unabhängigen Centre for Public Integrity ließen sich zwischen 1998 und 2004 mehr als 2 200 hochrangige Beamte aus früheren demokratischen und republikanischen Regierungen sowie 200 frühere Kongressabgeordnete als Lobbyisten registrieren.21 Im Jahr 2003 stammte die Hälfte der früheren Kongressabgeordneten, die in Lobbyagenturen tätig waren, aus den Reihen der Demokraten. Die meisten arbeiteten für große Konzerne.
Der Vergleich zwischen Republikanern und Demokraten ist weniger aussagekräftig als der zwischen Politikern, die vor einigen Jahrzehnten in Washington tätig waren, und Politikern, deren Laufbahn weniger lange zurückliegt. In den 70er Jahren wechselte nur 3 Prozent der Kongressabgeordneten nach Abschluss ihrer politischen Laufbahn in die Lobby. Im Jahr 2005 waren es 30 Prozent, und zwar aus beiden Parteien. Frühere Regierungsbeamte und Berater arbeiten nicht deshalb heute häufiger für Lobbyagenturen, weil sie weniger Skrupel haben, ihre Kontakte und Erfahrungen aus der Regierungsarbeit gegen Geld zur Verfügung zu stellen. Es liegt vielmehr daran, dass die Lobbyagenturen heute erheblich größere Summen zahlen. Mit den Restaurant- und Immobilienpreisen explodierten auch die Bezüge der Lobbyisten, als immer mehr Geld aus den Unternehmenskassen nach Washington floss. Kassierten Lobbyisten 1995 noch 20 000 US-Dollar pro Monat von neuen Klienten, waren es 2005 schon 40 000. Im Jahr 2006 lagen die Einstiegsgehälter für ehemalige Funktionsträger aus dem Kongress oder dem Weißen Haus, die an die K Street wechselten, bei 500 000 US-Dollar pro Jahr. Frühere Vorsitzende von Kongressausschüssen kassieren bis zu 2 Millionen US-Dollar im Jahr, um auf die Gesetzgebungsverfahren in ihren früheren Ausschüssen einzuwirken.
Das Verhältnis zwischen republikanischen und demokratischen Abgeordneten war in den letzten Jahren etwas angespannt, vor allem in der Außenpolitik und in Fragen des sogenannten »Kulturkriegs|184|« um Fragen wie Abtreibung, Schwulenehe oder Stammzellenforschung. Diese Fragen machen Schlagzeilen und fesseln die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, so wie jede leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Doch das hat nichts mit der Alltagsarbeit im Kongress zu tun, zu der sich die Unternehmensgelder unabhängig von der Parteizugehörigkeit den Zugang erkaufen.
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Eine weitere Theorie sucht die Gründe für das Anschwellen der Geldströme in der zunehmenden Größe der US-Regierung. Wie Newt Gingrich, der frühere Sprecher der Republikaner im Repräsentantenhaus, erklärte: »Washington gibt 2,6 Billionen US-Dollar aus und reguliert damit jeden Aspekt Ihres Lebens. Da verwundert es nicht, dass Leute unerhörte Summen ausgeben, um Einfluss zu nehmen. Das eigentliche Problem sind Big Government und Big Money.«22
Auch diese Behauptung lässt nicht durch Tatsachen bestätigen. Die größten Zuwächse verzeichneten die staatlichen Ausgaben im Beinahe Goldenen Zeitalter zwischen 1947 und 1973. Im Jahr 1983 erreichte die Staatsquote mit 24 Prozent einen Höchststand und ging seither auf unter 20 Prozent zurück. Der Staat wendete immer mehr für Sozialversicherungen, Krankenkassen und Verteidigung auf, und verständlicherweise fallen die Lobbyisten über diese Bereiche her. Nicht-Verteidigungsausgaben, auf die sich besonders viel Lobbyaktivität konzentriert, weil diese Ausgaben von Jahr zu Jahr schwanken, erreichten im Jahr 1980 mit Aufwendungen in Höhe von 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ihren Höhepunkt und gingen seither zurück.23 Mit dem Wirtschaftswachstums haben auch die Staatsausgaben erheblich zugenommen. Doch der Strom der Unternehmensgelder nach Washington wuchs erheblich schneller.
Diese Zunahme lässt sich nicht durch ein Mehr an Regulierung erklären, wie Newt Gingrich dies tut. Wie wir gesehen haben, wurden |186|die meisten Regulierungsmaßnahmen in den vergangenen vierzig Jahren reduziert oder sogar ganz abgeschafft. Gemessen an der Zahl der Regeln des Federal Register nahm die Regulierung nach 1980 ab.
|185|Grafik 4.5: Entwicklung des US-Staatshaushaltes 1962 bis 201024
Grafik 4.6: Anzahl der im Federal Register veröffentlichten Dokumente 1976 bis 200425
Es kann auch keine Rede davon sein, dass die Unternehmen mit ihrer Lobbyarbeit der Macht der Gewerkschaften etwas entgegensetzen wollten. Wie wir gesehen haben, hat die Macht der Gewerkschaften im Laufe der vergangenen Jahrzehnte stetig abgenommen. Verglichen mit der wachsenden Zahl der Unternehmen in der Lobby sind die Gewerkschaften heute geradezu unsichtbar geworden.
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Eine dritte Theorie sieht hinter dem wachsenden Fluss von Unternehmensgeldern in die Politik eine Verschwörung von Big Business und Wall Street, mit dem Ziel, die Regierung zu kontrollieren und die politischen Parteien für sich einzunehmen. Absicht der Verschwörer sei es, die Löhne niedrig zu halten, Regulierung zu verhindern, die Steuern der Reichen zu senken, die Entwicklungsländer auszubeuten und sich dabei auf Kosten der Gemeinschaft zu bereichern. »Die regierende Klasse der USA schützt ihre privilegierten Klienten und überlässt den Rest einem unregulierten und deshalb brutalen und gnadenlosen globalen Markt«, schreibt Jeff Faux, Gründer und früherer Präsident des Economic Policy Institute. Und laut Lou Dobbs, Nachrichtensprecher des Fernsehsenders CNN, führten Big Business und die Regierung einen Klassenkampf gegen die arbeitenden Bevölkerung.26
So attraktiv diese Verschwörungstheorie klingt, so wenig lässt sie sich angesichts der Tatsachen halten. Unternehmen sind weit davon entfernt, einen konspirativen Zirkel zu bilden, sondern stehen im Gegenteil in immer schärferem Wettbewerb untereinander. Wie wir noch sehen werden, schlägt sich dieser Wettbewerb auch auf die Politik nieder. Bei den Auseinandersetzungen, die heute das tägliche Brot des Kongresses ausmachen, Staatssekretäre Wochen und Monate lang beschäftigen und heftigst unter Lobbyvertretern |187|und PR-Profis debattiert werden, handelt es sich üblicherweise um Streitigkeiten zwischen konkurrierenden Unternehmen, Wirtschaftszweigen und gelegentlich auch ganzen Branchen.
Wenn wir es als Bürger heute schwerer haben, uns in Washington und anderen Hauptstädten der Welt Gehör zu verschaffen, dann nicht etwa, weil die Unternehmen als Machtblock auftreten, sondern im Gegenteil, weil der Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen härter geworden ist. Unternehmen werden politisch aktiv, um sich gegenüber ihren Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen oder zu erhalten. Das Ergebnis ist eine Vielfalt konkurrierender wirtschaftlicher Interessen, und dieses Durcheinander von Stimmen übertönt jede vernünftige Erörterung über das Gemeinwohl.
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Die Erklärung für diese Entwicklung findet sich in der strukturellen Veränderung der Wirtschaft, die mit Beginn der 70er Jahre einsetzte und einen immer schärferen Wettbewerb um Verbraucher und Anleger mit sich brachte. Der Superkapitalismus macht nicht an der künstlichen Grenze zwischen Wirtschaft und Politik halt. Das Ziel eines modernen Unternehmens – und seiner Verbraucher und Anleger – besteht darin, alles zu tun, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen. Das beinhaltet auch, sich auf jedes Schlachtfeld zu begeben, auf dem ein solcher Vorteil erreicht werden kann. Washington und andere Hauptstädte der Welt haben sich in ebensolche Schlachtfelder verwandelt: Politische Maßnahmen bedeuten häufig einen Vorteil für bestimmte Unternehmen oder Branchen, während sie für andere Nachteile mit sich bringen.27
Wenn Unternehmen in den letzten Jahrzehnten immer mehr Geld nach Washington pumpen, dann ist der Grund dafür das einfache Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das Angebot an Senatoren, Abgeordneten, Kabinettsmitgliedern und Beratern hat sich |188|im Laufe der Jahre nicht nennenswert vergrößert. Doch die Nachfrage der Unternehmen, die Einfluss auf den politischen Prozess nehmen wollen, hat mit der Verschärfung der Konkurrenzsituation zugenommen. Es ist wie ein Rüstungswettlauf: Je mehr ein Mitbewerber für den Zugang zur Macht hinblättert, umso mehr muss auch sein Gegenspieler bezahlen, um diesen Einfluss wieder auszugleichen.
Nehmen wir einen der Neuzugänge unter den Washingtoner Machtspielern: Google. Vor seinem Börsengang im August 2004 war das Unternehmen stolz auf seine Rolle als Außenseiter in der Welt der Internet-Software und setzte keinen Fuß nach Washington. Nach seinem milliardenschweren Börsengang musste es jedoch Teil des politischen Establishment werden. Im Jahr 2005 gab Google mehr als 500 000 Dollar für Lobbyagenturen und Berater aus und eröffnete einen eigenen Bürokomplex im Penn Quarter in Washington. Manager und Lobbyisten gaben Millionen an Wahlkampfspenden aus. Firmensprecher Alan Davidson erklärte: »Googles Wachstum als Unternehmen und als Faktor in der Branche hat unser Engagement in Washington erforderlich gemacht.« Und Lauren Maddox von der Lobbyagentur Podesta Mattoon ergänzte: »Sie sind geniale Techniker. Aber sie sind keine Politiker.«28 Podesta Mattoon versteht sich als parteiübergreifende Agentur, genau das, was Google braucht. Anthony Podesta ist langjähriger Demokrat und Bruder von Präsident Clintons früherem Stabschef John Podesta. Sein Partner Daniel Mattoon ist eng mit dem früheren republikanischen Fraktionssprecher Dennis Hastert befreundet. Lauren Maddox schließlich war früher eine der Topberaterinnen von Newt Gingrich.
Google hatte gar keine andere Wahl. Yahoo, Microsoft und eine Vielzahl von Telekommunikationsunternehmen sind bereits bestens in Washington vertreten. Allein im Jahr 2005 ließ sich Microsoft seine Lobbyarbeit 9 Millionen Dollar kosten, und die Manager des Unternehmens spendeten Millionen an Politiker beider Parteien. Yahoo gab nach Auskunft des unabhängigen Centre for |189|Responsive Politics rund 1,6 Millionen für seine Lobbyarbeit aus. Für Microsoft und Google stand in politischen Fragen wie Kartellbildung, geistiges Eigentum und internationaler Handel wirtschaftlich viel auf dem Spiel. Je nachdem wie die Entscheidungen ausfielen, konnte dies für Google einen Wettbewerbsvorteil oder -nachteil bedeuten und große finanzielle Auswirkungen haben. Daher wurde Google auch in Brüssel aktiv, wo die Europäische Kommission sich mit ähnlichen Fragen befasste und Microsoft und Yahoo bereits ihre Positionen eingenommen hatten.
Hier nur ein Beispiel, warum Google sich ins Washingtoner Getümmel stürzen musste. Im Jahr 2006 plante Microsoft, das rund 80 Prozent Anteil am Browsermarkt hat, eine neue Version seines Internet Explorer mit integrierter Suchbox, die den Benutzer automatisch auf den neuen Internetsuchdienst von Microsoft bringen sollte. Selbstverständlich wollte Google sicherstellen, dass Nutzer direkt zu Google kamen, wenn sie den Browser aufriefen. Und genauso selbstverständlich wollte Microsoft diese Möglichkeit unterbinden. Microsoft argumentierte, die Wahlmöglichkeit verwirre die Nutzer, doch in Wirklichkeit ging es natürlich nur darum, Google Nutzer abzujagen und diese für seine eigene Suchmaschine zu gewinnen.
Am April 2006 trug Google seine Sicht vor dem US-Justizministerium und der Europäischen Kommission vor. Dabei brachte es sein neues Team von Lobbyvertretern und Anwälten zum Einsatz, um den Kartellbehörden zu demonstrieren, wie ernst es ihm war und Microsoft zu signalisieren, dass es die Herausforderung ernst nahm. Die strategische Frage, die sich Microsoft angesichts dieses Auftritts stellte, war: Wie viel wollte Microsoft für Anwaltsgebühren, Gerichtskosten und Lobbyaufwendungen ausgeben, um einen Internet Explorer 7 zu vermarkten, der Google ausschloss? Microsoft war schon früher der Monopolbildung angeklagt worden. Google war ein sehr viel formidablerer Konkurrent als der Browser-Pionier Netscape, den Microsoft seinerzeit aus dem Browser-Markt drängen wollte. Damals war ein Gericht schließlich zu |190|dem Schluss gekommen, Microsoft habe wiederholt gegen die Kartellgesetzgebung verstoßen, und der Streit wurde in einer Einigung mit dem Justizministerium beigelegt. Google konnte sich einen weit teureren und vermutlich auch wirkungsvolleren Widerstand leisten.
Microsoft war seit 1996 in Washington aktiv, als die Staatsanwaltschaft die ersten Kartellklagen gegen das Unternehmen einreichte. Microsoft investierte auch in Brüssel, wo Beamte der Europäischen Union Microsoft des Verstoßes gegen die Monopolgesetzgebung beschuldigten. Zuvor hatte Bill Gates mit seinem angeblichen Desinteresse an politischen Fragen das Unternehmen aus Washington und Brüssel ferngehalten. Danach jedoch begannen Microsoft-Manager, große Summen für den Wahlkampf von Demokraten und Republikanern zu spenden – allein im ersten Halbjahr 1999 beliefen sich die Spenden auf 621 000 Dollar. Microsoft heuerte neue Lobbyagenturen an und richtete in Washington eine eigene Niederlassung mit zehn Lobbyisten und einer Vielzahl von PR-Experten ein. Nur wenige Monate später bedrängten Microsofts Lobbyvertreter den Kongress, für das Jahr 2000 eine 16-prozentige Anhebung des Etats der Kartellabteilung im Justizministerium zu verweigern, die nötig war, um den Prozess gegen Microsoft voranzutreiben. Die Bemühungen scheiterten, und Microsoft stand als just die Sorte Ungeheuer da, derentwegen die Kartellgesetze gemacht wurden. Doch an einer anderen Front hatten die Lobbyisten mehr Erfolg: Der Kongress verringerte die Exportbeschränkungen für Verschlüsselungssoftware, wie Microsoft sie herstellte, und half dem Unternehmen damit, in diesem Jahr seine Zahlen zu erreichen.29
Nachdem Richter Thomas P. Jackson im Jahr 2000 gegen Microsoft entschieden und das Unternehmen als »raubtierhaften Monopolisten« bezeichnet hatte, ließ es seine Lobbyisten und PR-Leute auf jeden los, der einen wie auch immer gearteten Einfluss auf die Entscheidung des Justizministeriums haben konnte. Zwei Tage nach der Verkündung des Urteils waren in der Presse Fotos |191|von Bill Clinton zu sehen, der seinen Arm um Bill Gates legt und dessen gemeinnützige Tätigkeiten lobt. BusinessWeek beschrieb diesen PR-Coup als »unerfreulichen Anblick für Joel Klein«, den Leiter der Kartellabteilung im Justizministerium.30
IBM, Oracle und Sun Microsystems unterstützten die Klagen gegen Microsoft in den Vereinigten Staaten und vor der Europäischen Kommission. Oracle ging sogar so weit, eine private Washingtoner Detektei zu beauftragen. Diese fand heraus, dass Microsoft eine Untersuchung der New York University bezahlt hatte, die behauptete, eine Kartellklage gegen Microsoft schade den staatlichen Pensionsfonds. Außerdem habe Microsoft heimlich eine Anzeige in großen Tageszeitungen finanziert, in der 240 Wissenschaftler das Unternehmen in einem offenen Brief verteidigten. Oracles Spionageaktivitäten flogen auf, als die Detektive einen Hausmeister bestechen wollten, um Abfalleimer nach belastendem Material zu durchsuchen. Daraufhin veröffentlichte Microsoft eine zornige Stellungnahme, in der es hieß, die Konkurrenten führten »eine organisierte Kampagne zur Unterstützung der Regierungsintervention« durch. Oracles Vorstandschef Larry Ellison beschrieb die Aktivitäten seines Unternehmens dagegen als »Dienst an der Öffentlichkeit«.31
Google, Microsoft, Yahoo, IBM, Sun und Oracle überweisen jährlich zig Millionen Dollar nach Washington, weil sie wissen, »dass die Politik eine Fortsetzung des Wettbewerbs mit anderen Mitteln« ist, wie Lauren Maddox es ausdrückt.32 Die Motivation für das politische Engagement der Unternehmen ist derselbe immer schärfer werdende Wettbewerb, der sie zur Entwicklung immer besserer Produkte und Dienstleistungen antreibt. Wenn sie Erfolg haben, wachsen ihre Gewinne, steigen die Aktienkurse, ihre Topmanager verdienen jede Menge Geld und nehmen die Huldigungen der Wall Street und der Wirtschaftspresse entgegen. Wenn sie dagegen scheitern, sinken die Gewinne und stürzen die Aktienkurse ab, und die Topmanager verlieren ihre Jobs (wenngleich sie großzügig abgefunden werden). Also pumpen sie mehr und mehr |192|Geld nach Washington, weil es der Rüstungswettlauf mit den Konkurrenten verlangt.
Bis 1999 hatte auch Wal-Mart, das sein Hauptquartier im US-Bundesstaat Arkansas hat, keine eigene Vertretung in Washington. Das Unternehmen unterhielt lediglich ein kleines politisches Büro, das im Jahr 1998 gerade einmal 148 250 Dollar für Wahlkampfspenden ausgab. Der frühere Senator Dale Bumpers aus Arkansas kann sich nicht daran erinnern, dass in den 24 Jahren seiner Zeit als Abgeordneter im US-Senat Wal-Mart jemals in einer Angelegenheit auf ihn zugekommen sei: »Sie achteten einfach nicht auf das, was in Washington passierte. Es passte nicht in ihre Kultur, Lobbypolitik zu betreiben und Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen zu wollen.«33 Und Blanche Lincoln, die Nachfolgerin von Bumpers, berichtete, Abgeordnete mussten bei Wal-Mart in Bentonville anrufen, um sie vor Gesetzesinitiativen zu warnen, die dem Unternehmen schaden konnten: »Ich ermunterte sie, sich in Washington sehen zu lassen, denn ich dachte, dass ihnen doch daran gelegen sein musste, ihre Seite der Geschichte nicht nur mir und anderen Abgeordneten aus Arkansas darzustellen.«
Dann erlebte Wal-Mart seinen eigenen Kartellschock. Wal-Mart hatte bereits seit langem geplant, ins Bankgeschäft einzusteigen, in der Annahme seine zig Millionen Kunden würden es begrüßen, gleich bei Wal-Mart ihre Bankgeschäfte abwickeln zu können – ganz zu schweigen von den großen Gewinnen, die sich das Unternehmen von den Bankgebühren erhoffte. Wal-Mart wollte sich eine Lücke im Gesetz zunutze machen, die es Handelsunternehmen zwar verbot, Banken zu übernehmen, aber unabhängige Sparkassen ausnahm. Im Jahr 1999 fand Wal-Mart eine Sparkasse in Oklahoma, die das perfekte Objekt zu sein schien. Doch die Banken verfolgten Wal-Marts Aktivitäten mit Argusaugen. Als das Unternehmen erste Schritte zur Übernahme der Sparkasse in die Wege leitete, ließ die Branche eine Horde von Lobbyisten auf den Kongress los, der die Gesetzeslücke prompt schloss.
Wal-Mart sollte diese Lektion nicht vergessen. Beinahe postwendend |193|erhöhte das Unternehmen seine Zuwendungen an Abgeordnete, Senatoren und Präsidentschaftskandidaten. Im Präsidentschaftswahlkampf 2004 gab das Unternehmen 2,2 Millionen US-Dollar für Wahlkampfspenden aus. Obwohl Wal-Mart vor allem für Republikaner spendet, überwies es 2006 auch rund 30 Prozent seiner Spenden an Demokraten. »Wir wollten auf beiden Seiten bessere Beziehungen und politische Unterstützung herstellen, vor allem aber zu den Demokraten«, erklärte Lee Culpepper, Leiter des Washingtoner Lobby-Büros von Wal-Mart. Und Ron Ence, Vizepräsident der Unabhängigen Gemeinschaftsbanken erklärt: »Sie haben viel dazugelernt. Sie sind auf jedem Spenden-Event und auf allen Fluren anzutreffen.«34
Im Juli 2005 suchte Wal-Mart bei der Bankenaufsicht des Staates Utah um Erlaubnis an, eine sogenannte Industriebank zu übernehmen, die laut Gesetz von einem Handelsunternehmen geführt werden durfte. Das war zwar noch kein direkter Zugang zum Bankwesen, doch immerhin ein Anfang. Wal-Mart versicherte den Aufsichtsbehörden, die fragliche Industriebank solle lediglich dazu dienen, die Kreditkartenkäufe der Wal-Mart-Kunden abzuwickeln. Andere Banken befürchteten jedoch, es könne sich um ein Trojanisches Pferd handeln, mit dessen Hilfe Wal-Mart sich den Zugang zum Markt der Kundenbanken verschaffen wollte. Lobbyisten von Banken, Supermärkten, Kaufhäusern und Immobilienmaklern stürzten sich auf die Mitglieder der Bankenausschüsse im Senat und im Repräsentantenhaus. Sie forderten die Bankenaufsicht mit mehr als tausend Beschwerden auf, den Antrag von Wal-Mart abzulehnen. Im November 2005 warnte die American Bankers Association, die mehr als 4 000 Kreditinstitute vertritt, ihre Mitglieder, es sei ein Gesetz erforderlich, um Nicht-Bankunternehmen wie Wal-Mart daran zu hindern, Banken zu übernehmen. Wal-Marts Einfluss werde bedeutend sein, schrieb der Verbandspräsident: »Wir müssen dringend etwas unternehmen.«35
Beide Seiten erklärten, sie handelten im Dienste der Öffentlichkeit. Die Gegner warnten, Wal-Mart werde mit seiner Bank die Armen |194|ausbeuten. Wal-Mart erklärte, seine Übernahme werde dafür sorgen, dass in einer Branche, die mehr Wettbewerb nötig habe, die Gebühren sinken würden. Doch in der Auseinandersetzung ging es nicht um das Interesse der Öffentlichkeit, sondern um den Wettbewerbsvorteil. Im Juli 2006 verhängte die Bankenaufsicht eine beispiellose Sperre für alle Übernahmen von Industriebanken durch Handelsunternehmen und legte Wal-Marts Antrag auf Eis. Wal-Mart zog sich schließlich zurück. Die Banken hatten gewonnen.
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Wie beim Streit um Wal-Marts Einstieg ins Bankgewerbe geht es bei vielen Auseinandersetzung, die auf den ersten Blick im Interesse der Öffentlichkeit geführt werden, bei genauerem Hinsehen nur um einen Vorteil beim Wettlauf um Unternehmensgewinne. Jedes scheinbar noch so neutrale Gesetz schafft Gewinner und Verlierer unter den Unternehmen, da bereits geringe Kostenunterschiede bei der Umsetzung große Wirkung haben können. Daher sind die »Stakeholder«, die in Washington und anderen Hauptstädten vor der Verabschiedung eines Gesetzes oder einer Regulierungsmaßnahme konsultiert werden wollen, immer häufiger Unternehmen oder Branchen, die durch die neue Maßnahme in ihrer Wettbewerbsposition betroffen sind. Immer seltener handelt es sich um Gewerkschaften, Umweltverbände oder Bürgerinitiativen.
Wenn wir einige der Fragen näher ansehen, mit denen sich der 109. Kongress zu beschäftigen hatte, der von 2004 bis 2006 tagte, wird das Muster erkennbar. In dieser Periode hatten die Republikaner noch die Mehrheit im Kongress, doch die Demokraten waren an den meisten der folgenden Kontroversen beteiligt. Üblicherweise finden sich in beiden Lagern Demokraten und Republikaner.
Eine der strittigeren Fragen war, ob der Kongress die Beschränkungen für Probebohrungen in den Gewässern vor allem vor der kalifornischen Küste und im Golf von Mexiko aufheben sollte. Es |195|überrascht vermutlich nicht, dass sich die Koalition der Befürworter überwiegend aus Vertretern der großen Ölkonzerne, der American Gas Association und der energiepreissensiblen Branchen zusammensetzte. Umso überraschender war es jedoch, dass der erbittertste Widerstand nicht etwa aus den Reihen der Umweltverbände kam. Diese waren zwar ebenfalls gegen das Vorhaben, doch ihre Stimme hatte wenig Gewicht, da sie weder über Lobbymacht noch über ausreichend Geld verfügten, um eine wichtige Rolle zu spielen. Außerdem waren sie mit so vielen Themen beschäftigt und hatten dafür so wenig Kräfte, dass sie kaum jemanden für diese Auseinandersetzung abstellen konnten. Stattdessen wurde die Opposition von der Tourismusbranche angeführt. Große Hotel- und Restaurantketten befürchteten, dass eine Ölkatastrophe die spektakuläre Küste von Kalifornien oder die weißen Strände von Florida zerstören und sie Milliarden Dollar kosten könnte. Zwei republikanische Gouverneure, Jeb Bush aus Florida und Arnold Schwarzenegger aus Kalifornien, sprachen sich gegen die Bohrungen aus. Auch viele der Abgeordneten aus Küstenregionen waren dagegen. Die neue Gesetzgebung begrenzte die Bohrungen schließlich, um die möglichen negativen Auswirkungen auf den Tourismus zu minimieren.
Selbst in Auseinandersetzungen, in denen es scheinbar um gesellschaftliche oder kulturelle Fragen geht, können sich überraschende Fronten bilden. Im Oktober 2006 verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Bezahlung von Internetwetten mit Kreditkarten verbot, was in der Praxis einem Verbot des Online-Glücksspiels gleichkam. Auf den ersten Blick ging es den Gesetzgebern darum, die Öffentlichkeit vor Aktivitäten zu schützen, die als unmoralisch gelten und von denen eine Suchtgefahr ausgehen könnte. Doch die Initiative gegen die Online-Anbieter wurde von Spielkasinos angeführt, von denen es in den Vereinigten Staaten über 900 gibt und die das rasche Wachstum des Online-Glücksspiels mit Sorge betrachteten. Die Kasinos sahen ihre Gewinne in Gefahr, hatten aber keinerlei Interesse daran, das Glücksspiel insgesamt |196|zu beschränken. Je einfacher das Online-Glücksspiel, desto geringer der Anreiz, einige Hundert Kilometer zum nächsten Spielkasino zu fahren. Die Verabschiedung des Gesetzes war ein Sieg für die American Gaming Association, den Verband der wichtigsten Kasinobetreiber. In der Diskussion um die Gesetzesvorlage verzeichneten auch die Betreiber von Pferdewetten, die in den USA einen Jahresumsatz von 1,5 Milliarden erzielen, einen Erfolg, denn es gelang ihnen, eine Ausnahme für Pferdewetten zu erwirken (nicht umsonst hatten sie seit dem Jahr 2000 mehr als 3 Millionen US-Dollar an Politiker beider Parteien überwiesen).36 Lobbyisten der Baseballliga erreichten, dass auch virtuelle Sportwetten nicht betroffen waren, denen sie einen großen Teil der Baseball-Renaissance der letzten Jahre verdanken. Und die Lobbyisten der Supermarktketten und der Bundesstaaten stellten sicher, dass das Thema Lotterie gar nicht erst auf die Tagesordnung kam.
Die großen Verlierer waren die Online-Kasinos, die ihren Sitz vor allem im Ausland haben. Einige sind Aktienunternehmen, die an der Londoner Börse registriert sind. Zu den Anlegern gehörten unter anderem Goldman Sachs und Investmentfonds in den Vereinigten Staaten, sodass auch US-Anleger Geld verloren. Es ist zu bezweifeln, dass die Gesetzgebung irgendeinen Einfluss auf die Summen hat, die US-Bürger Jahr für Jahr verwetten. Doch das war ohnehin nur ein Vorwand. Es ging vor allem darum, die Gewinne einer bestimmten Gruppe von Wettanbietern auf Kosten anderer Wettbewerber zu mehren.
Ein weiteres heiß diskutiertes Thema war die Frage, ob die Preise für Erdgas manipuliert wurden, und wenn ja, was man dagegen unternehmen könne. Ende 2005 verabschiedete das Repräsentantenhaus ein Gesetz, das es der Handelsaufsicht erlaubte, Gaspreise zu untersuchen und von Erzeugern und Lieferanten verlangte, über ihre Preise genau Buch zu führen. Bei Verstößen sah das Gesetz schwere Strafen vor. Es klang wie der Kampf frierender Bürger gegen die gierigen Energiekonzerne. Doch das Gesetz trug die Handschrift der Industrial Energy Consumers of America, des |197|Verbandes der gasverbrauchenden Unternehmen, zu denen vor allem große Industriekonzerne und Düngemittelhersteller zählen. Sie waren verärgert, dass die Gasknappheit des Jahres 2005 den Spekulanten Tür und Tor geöffnet hatte.
Man könnte annehmen, dass die Gegner des Gesetzes vor allem die Öl- und Gasproduzenten waren, doch der lautstärkste Protest kam aus den Reihen der Finanzspekulanten, die durch den instabilen Markt große Summen verdienten. Unterstützt wurden diese durch die Lobby der Finanzdienstleister. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, damit dieses Gesetz nicht verabschiedet wird«, erklärte Robert Pickel, Direktor der International Swaps und Derivatives Association, die von zahlreichen anderen Branchenverbänden der Finanzdienstleister unterstützt wurde. Alle argumentierten, die neue Kontrolle würde dafür sorgen, dass sich der Gasmarkt in weniger regulierte ausländische Märkte verlagern würde.37 Das Gesetz verlief schließlich im Sande.
In einer weiteren hitzigen Debatte ging es um die Frage, ob ausländische Investoren die Kontrolle über US-Fluggesellschaften bekommen dürften. Das klingt zunächst nach einem Thema von breitem öffentlichen Interesse, in dem Aspekte wie die nationale Sicherheit und die Arbeitsplatzsicherung eine Rolle spielen. Tatsächlich wurde die Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern innerhalb der Branche selbst geführt. United Airlines befürwortete die Öffnung für ausländische Investoren, vermutlich weil sich das Unternehmen seinerzeit in einem Konkursverfahren befand und auf ausländisches Kapital angewiesen war. Auf der Seite der Gegner fand sich unter anderem Continental Airlines, dessen finanzielle Lage ausgezeichnet war und das davon profitiert hätte, wenn United vom Markt verschwunden wäre.38 Die Gewerkschaften schlossen sich Continental an, und am Ende wurde nichts aus dem Gesetz.
Dafür gehörten die Lobbyisten von Continental in einer anderen wichtigen Frage zu den Verlierern. Es ging um ein Gesetz, das Unternehmen verpflichtete, ausreichende Reserven zu bilden, um |198|ihre Betriebsrenten in vollem Umfang zu decken. Auch diese Debatte wurde auf den ersten Blick im breiten Interesse der Öffentlichkeit geführt. Sie wurde jedoch nur zwischen Unternehmen ausgetragen, die von der Regelung unterschiedlich betroffen waren. Die Lobbyisten der Fluggesellschaften handelten zehn Jahre Zeit heraus, um ihre Betriebsrentenkassen in Ordnung zu bringen, während die meisten anderen Branchen nur sieben Jahre Zeit erhielten. Der Grund war, dass United und U.S. Airways in ihren Konkursverfahren ihre Betriebsrenten gekündigt und dem staatlichen Garantiefonds aufgebürdet hatten. Andere Gesellschaften drohten nun, ähnlich zu verfahren, wenn sie nicht mehr Zeit erhielten. Doch den Lobbyisten für Delta und Northwest gelang es, eine weitere Klausel in das Gesetz einzuschmuggeln, die einer Fluggesellschaft 17 Jahre Zeit gab, wenn sie ihre Rentenzahlungen einfror und keine neuen Mitarbeiter mehr in die Betriebsrentenkasse aufnahm. Delta und Northwest hatten während ihrer Konkursverfahren genau dies getan, sodass sie automatisch in den Genuss der verlängerten Frist kamen. Continental hatte dagegen die Koffer voller Geld, und die Gewerkschaft würde einer Einfrierung nie zustimmen. Aus diesem Grund musste Continental seine Finanzen eher in Ordnung bringen als seine Konkurrenten.39
Selbst in Auseinandersetzungen, bei denen man die Gewerkschaften an vorderster Front vermuten würde, weil es um Arbeitsplätze und Löhne geht – etwa bei der Frage, ob die Vereinigten Staaten das internationale Handelsabkommen Central American Free Trade Agreement (CAFTA) unterzeichnen sollten –, verlief die Front tatsächlich zwischen verschiedenen Branchenorganisationen. In diesem Fall waren die lautstärksten Gegner die American Manufacturing Action Coalition und der National Council of Textile Organizations, zwei Branchenverbände von Textilfabrikanten, die nach wie vor in den USA produzieren. Sie befürchteten, das internationale Handelsabkommen könnte ihre Position gefährden. Die Koalition wurde von Roger Milliken, dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Milliken & Company, einem privaten Textil- und Chemiefabrikanten |199|aus South Carolina angeführt. Milliken und seine Verbündeten traten mit Geld und Scharen von Lobbyisten gegen das CAFTA-Abkommen an, das schließlich, trotz republikanischer Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat, zu einer der knappsten Entscheidungen der letzten Jahre wurde. Schließlich wurde es mit zwei Stimmen Mehrheit im Repräsentantenhaus und zehn Stimmen Mehrheit im Senat verabschiedet.
Unlängst verhinderten die beiden Branchenorganisationen jedoch ein Gesetz, das es Haiti erlaubt hätte, mehr billig im Ausland hergestellte Textilien in seinen Exportprodukten zu verwenden, und diese zollfrei auf den US-Markt zu importieren. Sechzehn republikanische Abgeordnete aus dem Süden der Vereinigten Staaten stellten sich hinter die Textilverbände. Außerdem erreichten sie die Zustimmung des Weißen Hauses, Importe aus Vietnam streng zu kontrollieren und setzten Zölle für Importe durch, die mit ihren Billigpreisen der heimischen Industrie schadeten. Verlierer dieser Auseinandersetzung war der Verband der Textilimporteure, der verschiedene Kaufhausketten angehören, die billigere Waren importieren wollten.40
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Unternehmen oder Zusammenschlüsse behaupten gern von sich, sie verträten das öffentliche Interesse, wenn es ihnen in Wirklichkeit vor allem darum geht, sich gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Eine der großen Auseinandersetzungen des Jahres 2006 war die Umsetzung der Medicare-Gesetzgebung, die im Jahr 2003 verabschiedet worden war. In der Öffentlichkeit ging es um die Frage, ob und wie Senioren günstigere Medikamente bekommen konnten. Für die widerstreitenden Armeen der Lobbyisten ging es jedoch darum, welche Produkte von der staatlichen Versicherung übernommen werden würden, und ob die Originalhersteller oder die Konkurrenz der Generika einen größeren Teil des Kuchens abbekommen würden. Die Auseinandersetzung ging nach der Unterzeichnung des Gesetzes weiter, als die Beamten von Medicare sich Gedanken darüber machten|200|, wie das Gesetz umgesetzt werden sollte. So sah die Regelung beispielsweise vor, dass Medicare die Kosten für »im Grunde alle« Antidepressiva übernehmen sollte. Sie überließ es jedoch der Behörde, die Entscheidung darüber zu treffen, welche Produkte sie tatsächlich bezahlte. Als die Beamten entschieden, das Antidepressivum Lexapro auszunehmen, das unter anderem alten Menschen oft verschrieben wird, engagierte der Hersteller Forest Laboratories ein Team von Lobbyisten, die darauf drängen sollten, die Entscheidung rückgängig zu machen. Forest erhielt breite Unterstützung von Kongressabgeordneten und Vertretern von Bürgerinitiativen. Hersteller anderer Antidepressiva, die von Medicare bezahlt werden sollten, machten gegen eine neue Entscheidung Front. Am Ende setzte sich Forest durch.
Hersteller von Generika bedrängten Medicare, ein elektronisches Verschreibungssystem einzuführen, das Ärzte automatisch daran erinnerte, welche preisgünstigeren Generika sie anstelle eines teuren Originalproduktes verschreiben konnten. Markenhersteller mobilisierten ihre Lobbyisten gegen dieses System. Medicare stellte sich auf die Seite der Generika. Die Anlageberatung Moody’s Investor Service warnte ihre Klienten, diese Entscheidung könne Gewinneinbußen der Markenfabrikanten zur Folge haben. »Wir erwarten, dass die Auswirkungen negativ sind, da ein größerer Hebel auf Käuferseite die Pharmazieunternehmen zu größeren Rabatten zwingen oder die Verschreibungspraxis hin zu billigeren Produkten gehen könnte«, erklärten die Analysten trocken.41
In viele dieser Auseinandersetzungen kann eine staatliche Behörde nach der anderen verwickelt werden, da Lobbyisten und Anwälte beider Seiten an jedem möglichen Punkt um Vorteile ringen. Wenn sie im Repräsentantenhaus verlieren, gewinnen sie vielleicht im Senat und behalten anschließend im Vermittlungsausschuss die Oberhand. Wenn sie auch dort den Kürzeren ziehen, können sie möglicherweise beim Präsidenten wieder Boden gutmachen, der mit einem Veto drohen könnte, für den Fall, dass der Kongress seine Entscheidung nicht überdenkt. Hilft auch das |201|nichts, bleibt immer noch die Behörde, die mit der Umsetzung des Gesetzes beauftragt wird. Schließlich bleibt die Möglichkeit, bei den Verbündeten im Kongress vorstellig zu werden und diese zu bewegen, Druck auf diese Behörde auszuüben oder mit dem nächsten Haushaltsentwurf eine großzügige Finanzspritze für die Behörde zu erwirken. Solche Auseinandersetzungen können sich über Jahre hinziehen.
Die Diskussion um die Bezeichnung »organisch« auf einer Lebensmittelverpackung ist ein treffendes Beispiel. Im Jahr 2006 waren die organischen Lebensmittel mit einem Jahresumsatz von 12 Milliarden US-Dollar noch ein Nischenmarkt, verglichen mit dem Jahresumsatz von 500 Milliarden der gesamten Lebensmittelindustrie. Doch angesichts eines Wachstums von 20 Prozent pro Jahr wurde selbst Lee Scott von Wal-Mart hellhörig und rief seinen Aktionären zu: »Wir freuen uns besonders über organische Lebensmittel, die am schnellsten wachsende Sparte auf dem Lebensmittelmarkt.« Diese Auseinandersetzung wurde nicht zwischen kleinen Biobauern aus Vermont und gierigen Agrarriesen aus dem Mittleren Westen geführt, sondern zwischen zwei Bereichen des Agrarbusiness. Viele der organischen Produkte wurden von Konzernen wie Cascadian Farm hergestellt, der seit 1999 zu General Mills gehört.42 Auf der anderen Seite standen traditionellere Hersteller wie Kraft und die Erzeuger von konventionellem Mais, Soja und anderen Früchten und Gemüsesorten.
Die Auseinandersetzung geht zurück auf das Jahr 1990. Damals fingen Bauern damit an, als Reaktion auf die wachsende Nachfrage nach naturbelassenen Lebensmitteln verstärkt natürliche Farbstoffe und Pestizide zu verwenden. Sie forderten das Landwirtschaftsministerium auf, ihre Erzeugnisse als »organisch« anzuerkennen. Die konventionellen Erzeuger verlangten einen weniger strengen Standard, um auch ihre Produkte mit dem zunehmend populären Etikett »organisch« versehen zu können. Als das Ministerium schließlich dem niedrigeren Standard nachgab, klagte die erste Gruppe, die sich inzwischen zu einem Verband namens Organic |202|Consumers Association zusammengeschlossen hatte, um das Ministerium zu zwingen, den ursprünglichen Standard wiederherzustellen. Wie immer ging die Auseinandersetzung durch zahlreiche Instanzen. Nachdem ein Richter der Organic Consumers Association zugestimmt und eine Wiedereinsetzung des ursprünglichen Standards angeordnet hatte, schmuggelte die zweite Gruppe, die inzwischen unter der irreführenden Bezeichnung Organic Trade Association auftrat, eine Ergänzung in den Haushalt des Jahres 2006. Diesem Zusatz nach war es erlaubt, auch konventionellen Mais, Sojaöl, Tomaten und andere Erzeugnisse bei der Herstellung von »organischen« Lebensmitteln zu verwenden, wenn die nach dem strengeren Standard angebauten »nicht verfügbar« seien.
Der Rechtsstreit entspann sich, da wirtschaftlich viel auf dem Spiel stand, obwohl die Öffentlichkeit wenig davon mitbekam. Lobbyvertreter beider Seiten fielen über Abgeordnete und deren Mitarbeiter her. Charles Sweat, Vorstandsvorsitzender von Earthbound Farm, dem größten Hersteller organischer Erzeugnisse nach dem strengen Standard, erklärte, die Ergänzung werde dazu führen, dass ein Unternehmen, das nicht bereit war, die Preise für natürlich angebaute Erzeugnisse zu zahlen, einfach im Ministerium vorstellig würde, um eine Ausnahme zu erwirken.43 Trotzdem wurde die strittige Ergänzung schließlich verabschiedet. Dabei kann es nicht geschadet haben, dass eine der Lobbyvertreterinnen für Kraft die Ehefrau des Fraktionsvorsitzenden der Republikaner in Repräsentantenhaus war.
Die Auseinandersetzung um das Etikett »organisch« setzte sich in der Molkereiindustrie fort. Um 2005 wurde derart viel »organische« Milch nachgefragt, dass sie doppelt so teuer war wie reguläre Milch. Die Vorschriften des Landwirtschaftsministeriums sahen vor, um Milch als »organisch« bezeichnen zu dürfen, müsse die Kuh »Zugang zu Weideflächen« haben. Da offen blieb, was sich genau hinter dieser vagen Beschreibung verbarg, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Molkereien, deren Kühe Zugang zu großen Weideflächen hatten, und industrieartigen Betrieben |203|mit begrenztem Zugang. (Wal-Mart kaufte beispielsweise seine »organische« Milch bei Großbetrieben mit 4 000 Kühen und extrem begrenztem Zugang zu Weideflächen.) Lobbyisten der ersten Gruppe reichten eine Petition im Ministerium ein, in der sie sich beklagten, die Industriebetriebe stellten zu viele Kühe auf zu kleine Weideflächen, wo sie nie grasten, sondern in der Hauptsache proteinhaltiges Industriefutter bekamen. Die Industriemolkereien hielten dagegen, ihre Kühe seien »glücklich und gesund«. Lobbyisten beider Seiten bestürmten Kongressabgeordnete, Druck auf das Ministerium auszuüben. Eine Entscheidung steht noch aus.
Ein Ergebnis dieser Lobbyaktivitäten und der nicht-öffentlichen Auseinandersetzungen um Regulierungen, die sich oft Jahre über hinziehen und oft vor Gericht entschieden werden, sind immer kompliziertere Vorschriften, mit denen Begriffe wie »Zugang zu Weideflächen« oder »im Grunde alle Antidepressiva« erläutert werden. Konservative Ideologen schäumen ob der unüberschaubaren Vielzahl von Vorschriften (deren Zahl jedoch seit 1980 abgenommen hat) und übersehen dabei geflissentlich, dass die Mehrzahl festgeschrieben wird, weil sie von Lobbyisten und Unternehmensanwälten durchgesetzt wurde.
Im Beinahe Goldenen Zeitalter, als der Konkurrenzkampf weit weniger scharf war, gab es keinen Grund für derartige Auseinandersetzungen. AT&T hatte damals beispielsweise ein Quasimonopol. Im Zeitalter des Superkapitalismus ist der Telekommunikationsmarkt dagegen weit offen, AT&T und andere Telefonanbieter konkurrieren mit Kabelgesellschaften, Satellitenanbietern und Internettelefonie, und diese wiederum mit Internetunternehmen, die Unterhaltung, Verkauf, Internetsuche, Information und andere »Inhalte« anbieten.
Dieser Konkurrenzkampf greift immer auch auf die Politik über. Im Jahr 2006 wollten Telefon- und Kabelgesellschaften großen Internet-Contentprovidern wie eBay, Google und Yahoo höhere Zugangsgebühren abverlangen, wogegen sich diese Unternehmen natürlich wehrten. In der anschließenden Auseinandersetzung präsentierten |204|sich beide Seiten als Vorkämpfer des öffentlichen Interesses: Die Telefon- und Kabelgesellschaften argumentierten, sie müssten die Gebühren anheben, um die durch den Internetverkehr zusätzlich erforderlichen Kapazitäten bereitzustellen, ohne dass die Verbraucher dadurch belastet würden. Google, eBay und Yahoo hielten dagegen, das Internet solle allen Anbietern zu den gleichen Bedingungen offenstehen. Sie wollten einen Grundsatz gesetzlich festschreiben lassen, den sie intelligenterweise »Netzneutralität« tauften und der Telefon- und Kabelgesellschaften daran hindern sollte, höhere Gebühren zu verlangen. Die Telefon- und Kabelgesellschaften wiederum versuchten, diese Gesetzgebung zu verhindern und beriefen sich auf das Prinzip der Nichteinmischung durch die Regierung. Allein im Jahr 2006 gaben beide Seiten 50 Millionen US-Dollar für Lobbyagenturen und Werbung aus. Die Auseinandersetzung gelangte an die Öffentlichkeit und wurde besonders hässlich, als Telefongesellschaften Anzeigenkampagnen gegen Google starteten. Wie sämtliche Auseinandersetzungen dieser Art wird sich auch diese wohl noch jahrelang hinziehen.
Obwohl sie im Kampf gegen die »Netzneutralität« an einem Strang ziehen, streiten sich Telefon- und Kabelgesellschaften über die Frage, ob Telefongesellschaften über ihr Netz Fernsehprogramme anbieten dürfen. Im Kampf gegen die Konkurrenz verließen sich die Kabelgesellschaften auf die mehr als 30 000 Gemeinden, die rund 5 Prozent der Kabeleinnahmen in Form von Steuern erhalten. Doch im Jahr 2006 gelang es den Lobbyisten der Telefongesellschaften, eine Gesetzesvorlage ins Repräsentantenhaus zu bringen, die diese Entscheidung der Kommunikationsbehörde des Bundes übertragen sollte, wo die Telefongesellschaften sich gute Erfolgschancen ausrechneten. Sie sollten Recht behalten: Noch im Dezember 2006 entschied die Behörde, dass auch Telefongesellschaften Fernsehprogramme anbieten durften. Die Kabelgesellschaften kündigten an, die Entscheidung vor Gericht anfechten zu wollen. Inzwischen wurden die Telefongesellschaften in den Bundesstaaten aktiv, um die regionalen Entscheider zu umgehen. In |205|diese Auseinandersetzung wurde die Mehrzahl der Washingtoner Lobbyagenturen verwickelt, die nicht nur Telefon und Kabel repräsentieren, sondern auch Software- und High-Tech-Unternehmen. Jedes dieser Unternehmen unterstützt außerdem den Wahlkampf beider Parteien mit mehreren Millionen US-Dollar. Auch diese Auseinandersetzung wird in den kommenden Jahren viel Zeit und Energie verschlingen.
Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass Koalitionen von Unternehmen, die sich in einer bestimmten Regulierungs- oder Gesetzesangelegenheit zusammengeschlossen haben, in einer anderen heillos zerstritten sind, wie eben die Telefon- und Kabelgesellschaften. Die Bush-Regierung hatte beispielsweise eine Koalition aus mehr als 6 000 Unternehmen geschmiedet, um die Fortschreibung der Steuersenkungen der Jahre 2001 und 2003 zu unterstützen. Doch diese Koalition zerbrach sofort, als verschiedene Untergruppierungen auf unterschiedliche Prioritäten drängten. High-Tech-Unternehmen verlangten zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten für Wissenschaft und Forschung, andere verlangten weitere Kürzungen bei der Kapitalbesteuerung. Als die High-Tech-Unternehmen aus der Koalition ausscherten, kritisierte das Weiße Haus sie öffentlich, sie seien keine Mannschaftsspieler.45 Doch selbst die High-Tech-Unternehmen konnten sich untereinander nicht darauf verständigen, welche Form der Forschung und Entwicklung steuerlich gefördert werden solle, da sie je nach Spezialisierung des jeweiligen Unternehmens unterschiedliche Interessen hatten. Eine der größten Herausforderungen eines jeden Handels- oder Branchenverbandes besteht darin, eine gemeinsame Position zu Gesetzesvorhaben zu finden, die jedes der Mitglieder in anderer Weise betreffen.
Heerscharen von Unternehmenslobbyisten können natürlich ein Gesetzesvorhaben abwenden, das einer Branche oder einem Wirtschaftszweig große Kosten verursachen würde. Dies war im 109. Kongress der Fall, als Umweltschützer verlangten, Energiekonzerne sollten beim Rückbau ihrer Anlagen teure Reinigungsmaßnahmen |206|vornehmen; als Bürgerinitiativen von den Pharmaziekonzernen eine Freigabe von Patenten für Medikamente verlangten, die in Entwicklungsländern überlebenswichtig waren; oder als Verbraucherschützer in einigen Staaten höhere Standards der Lebensmittelsicherheit durchsetzten und die Lebensmittelindustrie beim Kongress vorstellig wurde, um mildere Bundesgesetze zu erwirken. Doch diese Heerscharen existieren weniger, um die Bedrohung durch die Bürger abzuwenden, die zum Schutze der Öffentlichkeit auf neue Gesetze drängen. Sie existieren vor allem deshalb, weil größere Unternehmen oder Branchen versuchen, sich gegenüber anderen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen oder einen Wettbewerbsnachteil abzuwenden. Potenzielle zusätzliche Kosten für eine Branche oder einen Wirtschaftszweig bedeuten immer einen Nachteil gegenüber anderen Branchen oder Wirtschaftszweigen.
Daher können sich Bürger immer weniger Gehör verschaffen. Aber auch Verbraucher und Anleger kommen nicht besser weg. Anders als der Wettbewerb auf dem Markt sorgt der politische Wettbewerb nicht für bessere und preisgünstigere Produkte oder Dienstleistungen oder für höhere Erträge. Er sorgt für neue Gesetze und Vorschriften, die meist diejenigen bevorzugen, die politisch am potentesten sind. Manche Verbraucher und Anleger gewinnen, manche verlieren.
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Die Eroberung der Politik durch die Wirtschaft hat großen Einfluss darauf, wie die Öffentlichkeit die anstehenden politischen Fragen wahrnimmt. Eine der Aufgaben der Lobbyarbeit besteht darin, die überzeugende Logik des eigenen Standpunktes darzustellen. Dazu sind häufig Wirtschaftswissenschaftler, Politikexperten und Mathematiker erforderlich, sowie Wortschmiede, die in der Lage sind, beinahe jede Entscheidung als vernünftig zu verkaufen. Politiker wiederum müssen ihre Entscheidungen verteidigen, zwar nicht direkt gegenüber der Öffentlichkeit, aber vor den skeptischen Medien|207|, die hinter allem einen Kuhhandel wittern. Beamte müssen Richter überzeugen, dass sie nicht willkürlich entscheiden. Und da jede der Seiten in diesem Wettstreit ihre Position so gut wie möglich darstellen muss, werden Unsummen für Experten ausgegeben, die sich nur zu bewusst sind, dass sie mit ihren Gutachten und Stellungnahmen allzu oft Halbwahrheiten und Lügen verbreiten. Das Ergebnis ist eine Form der Korruption: die Korrumpierung des Wissens.
Als Mitarbeiter der Handelskommission habe ich schon in den 70er Jahren einiges davon miterlebt. Von Unternehmen bezahlte »Experten« sollten Fakten darlegen, die sie gerade so einfärbten, dass sie die Position ihrer Klienten belegten, ohne ihre professionelle Integrität zu verkaufen. Als ich in den 90er Jahren ins Arbeitsministerium kam, hatten viele dieser »Experten« ihre Scham abgelegt. Wieder und wieder musste ich erleben, wie anerkannte Professoren und Wissenschaftler in Anhörungsverfahren und selbst vor der Presse Argumente vorbrachten, die ihnen selbst verlogen vorgekommen sein müssen. In den seltensten Fällen machten sie deutlich, dass sie von Unternehmen oder Verbänden bezahlt wurden und ihre Antworten sich auf ihrem Konto bemerkbar machten.
Zwischen den 70er und den 90er Jahren warfen immer mehr Experten ihre professionelle Integrität über Bord, da die Konkurrenz schärfer geworden war, wirtschaftlich mehr auf dem Spiel stand und die Unternehmen und Lobbyisten immer besser bezahlten. Wie jede andere Ware lassen sich auch Skrupel kaufen, wenn der Preis stimmt.46
In diesen Jahren wurden Expertenanhörungen zum festen Bestandteil von Unternehmensprozessen vor Bundesgerichten. In diesen Prozessen ging es weniger um die Strafverfolgung eines Unternehmen als um zwei Unternehmen, die sich einen Vorteil gegenüber dem jeweils anderen verschaffen wollten. Sie verklagten einander wegen Urheber- oder Patentrechtsverletzung, verstießen gegen Kartellrecht, missachteten Verträge oder wollten sie annullieren; |208|sie klagten Zahlungen ein oder wollten Verpflichtungen abwenden. Die Experten beider Seiten präsentierten oft diametral entgegengesetzte Daten und Analysen, mit denen sich Richter und Geschworene stundenlang auseinandersetzen mussten. Seit den 70er Jahren sind Prozesse zwischen Unternehmen die am schnellsten wachsende Branche in Bundesgerichtshöfen.47
Bei größeren Streitigkeiten um Gesetzesvorhaben treten Armeen gut bezahlter Experten auf. Im Vorfeld der Debatte um die Übernahme der Arzneimittelkosten durch Medicare stellte der Verband der Markenkonzerne eine Million US-Dollar bereit für ein »festes Netzwerk aus Wirtschaftswissenschaftlern und Vordenkern, die sich in Artikeln und Zeugenaussagen gegen staatliche Preiskontrollen aussprechen und als schnelle Eingrifftruppe fungieren«, wie es laut New York Times in einem internen Bericht hieß. In den Monaten vor der Entscheidung durch den Kongress zahlte der Verband zwischen 2 und 2,5 Millionen US-Dollar an Forschungseinrichtungen, »um intellektuelles Kapital zu schaffen und die Zahl der Aussagen aus glaubwürdigen Quellen zu erhöhen«, die natürlich der pharmazeutischen Industrie wohlgesonnen waren.48
Oft reicht es schon, eine allgemein bekannte Tatsache in Zweifel zu ziehen. Mit dem Gutachten in der Hand kann ein Unternehmen behaupten, die Experten seien sich uneins oder in der Fachwelt werde eine heftige Debatte zu einem bestimmten Thema geführt – weshalb eine Gesetzesinitiative (oder besser eine Initiative der Konkurrenz) besser warten sollte, bis die Beweislage eindeutig ist. Die Lebensmittelindustrie finanziert Heerscharen von Wissenschaftlern, die solche allgemein bekannten Erkenntnisse widerlegen sollen, wie beispielsweise jene, dass Fettleibigkeit in der Kindheit zu gesundheitlichen Problemen im Erwachsenenalter führt oder dass der Genuss fetthaltiger Lebensmittel unmittelbaren Einfluss auf das Körpergewicht hat. Es ist gar nicht notwendig, dass die von ihnen bezahlten Untersuchungen die bekannten Ergebnisse stichhaltig widerlegen. Es reicht völlig aus, wenn sie so viele Fragen aufwerfen, dass ein Politiker oder Beamter, der Partei für die |209|Lebensmittelindustrie ergreifen will, auf sie verweisen und glaubhaft erklären kann, er sei von der Beweislage nicht überzeugt.
Im Jahr 1998 begann der Ölkonzern Exxon eine Kampagne, um Naturwissenschaftlern, die nicht von den empirischen Erkenntnissen zu den weltweiten Klimaveränderungen überzeugt seien, »logistische und moralische Unterstützung« zu bieten. Das Unternehmen wollte auf diese Weise »die unter Naturwissenschaftlern vorherrschende Meinung infrage stellen und untergraben«, wie es in einem internen Papier hieß.49 Bis zum Jahr 2005 hatte Exxon-Mobil 2,9 Millionen US-Dollar an 39 Gruppen von Naturwissenschaftlern gezahlt, die die Erkenntnisse zum Klimawandel in Zweifel ziehen sollten. Dies veranlasste selbst die Royal Society, eine der angesehensten naturwissenschaftlichen Vereinigungen der Welt, das Unternehmen zu beschuldigen, es erwecke, »den falschen Eindruck, dass die Wissenschaftsgemeinde das Thema kontrovers diskutiert«.50
Wenn die Summe groß genug ist, gibt offenbar auch eine renommierte Universität gern ihren Namen her. Gegen eine Zahlung von 225 Millionen US-Dollar unterschrieb die Stanford University im Jahr 2002 einen Zehnjahresvertrag mit Exxon und anderen Energieunternehmen über ein Projekt zum Weltklima. Kurz nach der Unterzeichnung startete Exxon eine Anzeigenkampagne auf der Meinungsseite der New York Times, in der das Unternehmen seine »Allianz mit den besten Köpfen von Stanford« bekannt gab. In einer dieser Anzeigen war zu lesen: »Obwohl es in der Erdgeschichte immer wieder zu natürlichen Klimaschwankungen kam, wird heute eine lebhafte Debatte über den Einfluss der Zunahme von Treibhausgasen in der Atomsphäre auf das Klima geführt.« Unterzeichnet war die Anzeige von Professor Lynn Orr, der Leiterin des Projekts. Außerdem trug die Anzeige das Siegel der Universität.51
Selbst wenn die Regierung ein unabhängiges Gutachten in Auftrag gibt, heißt das nicht, dass sie auch eine neutrale Stellungnahme erhält. Eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2006, |210|die feststellte, dass die Einnahme von Antidepressiva auch für Schwangere unbedenklich war, wurde von der Arzneimittelzulassungsbehörde in Auftrag gegeben. Nach Auskunft des Wall Street Journal handelte es sich jedoch bei den meisten der Autoren um bezahlte Berater von Pharmaziekonzernen, die Antidepressiva herstellten.52 Das soll nicht heißen, dass diese Professoren oder andere Experten sich als Empfänger von Bestechungsgeldern wahrnehmen, die ihre professionelle Integrität kompromittieren. Doch der Mensch hat ein erstaunliches Talent, sich bequeme Arrangements schönzufärben. Geld macht großzügig und lässt schon mal Beweise übersehen, die andere Experten stutzig machen würden, deren Urteil nicht durch ein Beratergehalt getrübt wird.
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Die Vorherrschaft der von Unternehmen finanzierten »Experten« in der Politik erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass Themen, die Einfluss auf das Wohl von Verbrauchern und Anlegern haben, weitaus wichtiger seien als solche, bei denen es um das Wohl der Gesellschaft oder des gesamten Planeten geht. Selbst wenn die Kosten-Nutzen-Abwägungen nicht zum Vorteil derjenigen Unternehmen ausfallen würden, welche die meisten oder die angesehensten Wissenschaftssöldner anheuern, wären sie noch immer zu eng gefasst. Ob in Kongressanhörungen, Gerichtsverfahren, Zeitungskommentaren, Anzeigenkampagnen in Tageszeitungen oder in allgemeinen Mediendarstellungen, und unabhängig von der Seite, die sie vertreten, ist die Botschaft der Unternehmensexperten immer dieselbe: Politische Entscheidungen müssen nach Nützlichkeitserwägungen beurteilt werden, sprich: danach, ob sie der Wirtschaft nutzen oder nicht. Sie sind dann gut und richtig, wenn sie Anleger und Verbraucher mehr Nutzen als Kosten bringen, andernfalls sind sie schlecht.
In dieser Berechnung fehlt jegliche Überlegung, ob die Verteilung des Nutzens die Ungleichheit unter den Bürgern vergrößert oder verkleinert, ob sie den Benachteiligten in aller Welt mehr oder |211|weniger Möglichkeiten eröffnet, ob sie Menschen mehr wirtschaftliche Sicherheit bietet, ob sie Bürger- und Menschenrechte achtet oder aushöhlt, ob sie die öffentliche Gesundheit und den häuslichen Frieden fördert oder gefährdet, ob sie Städte und Gemeinden unterstützt oder zerstört, ob sie der Umwelt nutzt oder schadet, ob sie Toleranz und Weltfrieden voranbringt oder behindert und ob sie ganz allgemein die Demokratie stärkt oder schwächt.
Diese Eigenschaften sind natürlich schwer zu messen, doch das macht sie nicht weniger bedenkenswert als das Wohlergehen der Verbraucher und Anleger. Im Gegenteil, angesichts der zunehmenden Ungleichverteilung, der gestiegenen wirtschaftlichen Unsicherheit, des Sterbens der Städte und der wachsenden Umweltrisiken in den letzten Jahren erscheinen diese Fragen wichtiger denn je.
Kommen wir noch einmal zurück zu der Auseinandersetzung darüber, ob Telefongesellschaften Fernsehprogramme übertragen dürfen oder nicht. Die Telefongesellschaften argumentierten, Verbraucher könnten monatlich zwischen 30 und 40 US-Dollar sparen. Die Kabelgesellschaften bestritten dies und hielten dagegen, die Empfangsqualität sei nicht gewährleistet. Fragen der Fairness und der gesellschaftlichen Verantwortung spielten in dieser Diskussion keine Rolle. Wenn Telefongesellschaften das Bild übertragen, gehen die Gebühren verloren, die Kabelgesellschaften heute an Städte und Gemeinden überweisen. Das heißt, dass Haus- und Grundsteuern erhöht werden müssen, um den Einnahmeverlust auszugleichen. Vor allem die Einwohner ärmerer Stadtteile werden nicht in den Genuss des günstigeren Fernsehprogramms kommen, da Telefongesellschaften anders als die Kabelkonkurrenz nicht verpflichtet sind, ihre Dienstleistungen auch auf strukturschwache Regionen auszudehnen.53 So gesehen geht es nicht um Regulierung oder Deregulierung, sondern darum, welche Entscheidung Effizienz und Fairness gewährleistet.
Ähnlich bleibt bei der Diskussion um die »Netzneutralität« die Frage außen vor, wer die Kosten für die zusätzlich erforderlichen |212|Breitbandkapazitäten übernehmen soll. Diese würden auch jene Kosten einschließen, die zur Erweiterung des Netzes auf ländliche und innerstädtische Regionen nötig wären, wo es bislang fehlt. Im Jahr 2006 hatten 42 Prozent aller US-amerikanischen Haushalte keinen Internetzugang, und der größte Teil der einkommensschwächeren Bevölkerung verfügte über keinen Breitbandanschluss.54 Vielleicht kommen diese Menschen ja auch ohne YouTube aus. Doch möglicherweise haben ihre Kinder ohne die Suchmaschine von Google einen Lernnachteil.
Oder sehen wir uns die Auseinandersetzung darum an, welche Medikamente die staatliche Krankenversicherung Medicare bezahlen soll und ob Apotheker und Ärzte Markenmedikamente durch Generika ersetzen dürfen. Die Hersteller der Generika argumentieren mit der Kostenersparnis für die Verbraucher. Die Markenhersteller behaupten, Anleger würden die Entwicklung neuer Medikamente nicht finanzieren, wenn sie keine gesunden Erträge erhielten, wie sie wiederum nur Markenprodukte garantieren. Völlig außer Acht bleibt dabei die Frage, ob Pharmaziekonzerne verschreibungspflichtige Medikamente in den Medien bewerben dürfen, wenn die Entscheidung über die Verordnung bei den Ärzten liegt; wie viel der Kosten eines Medikaments auf Werbung und Marketing entfallen; und ob der Unterschied zwischen den verschiedenen Medikamenten groß genug ist, um ihre Markteinführung überhaupt zu rechtfertigen.
Auch der Streit um das Etikett »organisch« ist nichts als die Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen von Anlegern und Verbrauchern, von denen die eine höhere Standards erwartet als die andere. Keine Rolle spielt dabei die Frage nach den Auswirkungen von Schädlingsbekämpfungsmitteln und künstlichen Zusatzstoffen auf Umwelt und Gesundheit. Statt eines Streits um ein Etikett würden viele Bürger eine Diskussion darüber begrüßen, wie die Gesellschaft die Nahrungskette entwickeln und schützen kann.
Microsofts Auseinandersetzungen mit den Kartellbehörden wurden von Anwälten und Wirtschaftswissenschaftlern ebenfalls |213|vor allem unter Verbraucher- und Anlegergesichtspunkten diskutiert. Das ist typisch. Im Zeitalter des Superkapitalismus ist der Wettbewerb in der Regel so scharf, dass Verbraucher und Anleger davon profitieren. Daher haben sich Wettbewerbshüter in den letzten Jahren auf die Frage beschränkt, ob Konkurrenten von Microsoft durch die Verknüpfung von Programmen wie dem Internet Explorer mit dem Betriebssystem Windows lediglich größerem Wettbewerb ausgesetzt sind. Darüber hinaus untersuchen sie, ob sich die Entwicklung von neuen Programmen für die Konkurrenz nicht mehr lohnt, weil sie durch die protektionistischen Maßnahmen von Microsoft keinen Profit mehr aus ihren Programmen ziehen können. Außen vor bleibt die Frage nach der politischen Macht, die oft mit unternehmerischer Größe einhergeht, und welche Auswirkungen die Verhältnisse auf kleinere Unternehmen oder auf Einzelpersonen haben, die nicht über diese Macht verfügen. Dies waren die Fragen, die ursprünglich zu der Verabschiedung der Kartellgesetzgebung geführt hatten. Senator John Sherman, der die Kartellgesetze im Jahr 1890 einbrachte, machte sich keine Sorgen um Verbraucher und Anleger. Ihm ging es um die »Ungleichheit der Voraussetzungen, des Wohlstandes und der Möglichkeiten«, die durch wirtschaftliche Monopole entstand. Auch für US-Präsident Woodrow Wilson war der Kampf gegen Kartelle in erster Linie eine Frage der Fairness: Die Wirtschaft sollte für Neuankömmlinge und »Menschen mit geringem Kapital« offenbleiben.55
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Um es zusammenzufassen: Unsere Stimme als Bürger – im Gegensatz zu unserer Stimme als Verbraucher und Anleger – wird immer mehr übertönt. Vielleicht verlieren wir sogar das Bewusstsein dafür, dass das, was wir als Bürger zu sagen haben, überhaupt eine Rolle spielt. Das liegt nicht daran, dass sich die Großkonzerne verschworen hätten, um die Stimmen der Bürger unhörbar zu machen|214|. Der Grund ist vielmehr, dass diese Konzerne untereinander in einem immer schärferen Wettbewerb um politische Entscheidungen stehen, die ihnen einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen. Das zunehmende Geschrei der Lobbyisten in Washington und anderen Hauptstädten hat inzwischen eine derartige Lautstärke erreicht, dass Bürger sich kaum noch Gehör verschaffen können. Der Superkapitalismus hat die Politik erfasst und die Demokratie verschlungen.
Der politische Wettbewerb hat viele Formen. Gewählte Volksvertreter sind den Lobbyisten verpflichtet, die im Namen ihrer Klienten immer größere Wahlkampfspenden verteilen. Und aus Angst, der politische Gegner könnte größere Zuwendungen erhalten, verlangen Volksvertreter wiederum immer üppigere Geschenke von den Lobbyisten und ihren Klienten. Dank der Aussagen von »Experten«, die potenziell betroffene Unternehmen oder Branchen vertreten und von diesen finanziert werden, ziehen sich Kongressanhörungen und Regulierungsverfahren immer mehr in die Länge. Gerichte werden zunehmend mit Prozessen lahmgelegt, in denen Unternehmensanwälte gegen Regulierungsmaßnahmen oder Vorschriften klagen, die einem Unternehmen oder einer Branche gegenüber einer anderen einen Vorteil verschaffen, oder in denen sie Widerspruch gegen Gerichtsurteile mit ähnlichen Folgen einlegen. In den Medien und Tageszeitungen finden sich immer häufiger die Geschichten, die in den PR-Büros der Unternehmen ausgedacht wurden, um sich gegenüber Konkurrenten ins rechte Licht zu rücken oder von der Konkurrenz lancierte negative Presse zu kontern.
Je mehr dieser Wettbewerb ausufert, umso kostspieliger wird die Teilnahme an der politischen Diskussion. Einzelne Bürger und Gruppen verfügen selten über die Ressourcen, um sich Gehör zu verschaffen. Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen mit Sitz in Washington haben nur einen Bruchteil des Etats der Unternehmenslobby, und die wenigsten verfügen außerhalb von Washington über politische Kontakte. Das Internet ist zwar eine |215|gute Möglichkeit, Wahlkampfspenden zu sammeln, und die sogenannte Blogosphäre bietet zahlreiche Foren, um lautstark seine Meinungen zu äußern und seinem Ärger Luft zu machen. Doch zwischen diesen Foren und den politischen Entscheidungsträgern besteht nicht die geringste Verbindung.
Gleichzeitig sind Institutionen, die sich früher für die Interessen von Bürgern eingesetzt haben, weitgehend verschwunden. Gewerkschaften sind durchaus noch in Washington vertreten und ihre Wahlkampfspenden spielen vor allem bei den Demokraten nach wie vor eine gewisse Rolle. Doch sie haben nicht mehr genug politisches Gewicht, um bei Entscheidungen, die über eng begrenzte Arbeitnehmerinteressen hinausgehen, ein Wörtchen mitzureden. Regulierungsbehörden, die im Auftrag des öffentlichen Interesses handeln sollen, wurden verkleinert oder abgeschafft. Regionale Interessenverbände, auch solche die sich zu nationalen Dachverbänden zusammenschließen, dringen kaum noch zu Politikern durch, die immer mehr Zeit darauf verwenden, um die Schatullen der Manager und Lobbyvereinigungen zu werben. Abgeordnete schicken nach wie vor Wahlkampfgeschenke an ihren Wahlkreis, doch eigentlich spielen diese keine Rolle mehr. Gruppen wie die Veteranenorganisation American Legion, die 1947 quasi im Alleingang die GI-Bill durchsetzte, haben weitgehend an Einfluss verloren. Bill Clintons Kampf um eine Gesundheitsreform im Jahr 1994 bietet einen äußerst lehrreichen Kontrast zur GI-Bill. Obwohl die Demokraten im Kongress die Mehrheit hatten, verlief Clintons Initiative im Sande. Das lag zwar auch an den Schwächen des Entwurfs selbst, vor allem aber daran, dass die Gesetzesinitiative von keiner breiten Organisation unterstützt wurde. Unternehmen mobilisierten ihre Lobbyvertreter dagegen, doch Clinton hatte kein Instrument, um die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen.56
Bürgerinteressen tauchen hin und wieder in der Politik auf, vor allem wenn die Medien rührselige Geschichten über Lecks in einer Ölpipeline in der unberührten Wildnis von Alaska erzählen, oder |216|über die Schicksale von Menschen berichten, deren Arbeit nach Asien outgesourct wurde. Doch der Einfluss dieser Geschichten auf die Politik ist genauso begrenzt wie die Aufmerksamkeitsspanne der Wähler. Um Leser und Zuschauer zu gewinnen, gehen Herausgeber und Redakteure rasch zum nächsten »Skandal der Woche« über. Bürgerinitiativen haben für gewöhnlich nicht die finanziellen Mittel, um selbst die gerade empörten Menschen zu mobilisieren und aus dieser Empörung politisches Kapital zu schlagen. Die Parteien hängen zu sehr am Tropf der Wirtschaft, um es sich mit einer größeren Zahl von Konzernen oder mit der Wahl Street verscherzen zu können. Selbst wenn der populistische Zorn eine Weile lang vorhält, führt er selten zu vernünftigen Gesetzen. Allzu leicht mündet er in diffuse Ressentiments gegen »Big Business« oder »die da oben«. Diese Ressentiments mögen Stoff für mitreißende Wahlkampfreden liefern, doch sie taugen nicht für nachhaltige politische Bewegungen.
Einer der Folgen ist, dass die Politik Fragen der gesellschaftlichen Gleichberechtigung und Fairness immer weniger Aufmerksamkeit schenkt, und das obwohl die Ungleichheit immer weiter zunimmt. Jeffrey Berry und seine Kollegen von der Tufts University untersuchten den US-Kongress in den Jahren 1963, 1979 und 1991 (in diesem Jahren hielten die Demokraten die Mehrheit) und analysierten über 200 politische Fragen, die in diesen Jahren die Ausschüsse beschäftigten und ein Mindestmaß an Medienaufmerksamkeit erhielten. Ihre Erkenntnisse bestätigen diesen Trend. Der Kongress kümmerte sich immer weniger um eine Wirtschaftsgesetzgebung, die eine Beseitigung der Ungleichheit anstrebt, etwa durch Erhöhung der Löhne oder Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten für sozial Schwache. Im Jahr 1963 zielten sechs von zehn Gesetzen auf die Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit, 1979 waren es noch vier von sieben und 1991 nur noch zwei von sieben.57
In der Politik wie am Markt sind unsere Interessen als Verbraucher und Anleger gut vertreten. Doch als Bürger sind wir aus der |217|Politik nahezu verschwunden. Ich bin im Besitz eines verschwindend geringen Anteils der im Umlauf befindlichen Microsoftaktien. Ich habe keinerlei Zweifel, dass Microsoft alles tut, um den Wert dieses Anteils zu steigern, genauso wie das Unternehmen alles tut, um Kunden zu gewinnen und zu halten. Als Anleger von Microsoft habe ich indirekt die politischen Aktionen unterstützt, mit denen Microsoft der Kartellbehörde die Finanzmittel kürzen lassen wollte, als diese gegen das Unternehmen aus Seattle vorging. Mit seiner Aktion zielte Microsoft schließlich darauf, den Wert meiner Aktien zu steigern. Doch als Bürger war ich entsetzt über den Machtmissbrauch.
Als Anleger weiß ich genau, wie ich Microsoft oder jedem anderen Unternehmen meine Missbilligung ausdrücken kann. Ich verkaufe ganz einfach einen Teil meiner Aktien. Genau das tue ich auch, wenn ich als Verbraucher nicht mit einem Unternehmen zufrieden bin: Ich kaufe keines seiner Produkte mehr und gehe zur Konkurrenz. Wall Street und Wal-Mart haben meine Position in beiderlei Hinsicht gestärkt, weil sie mir Möglichkeiten bieten, meine Interessen mit denen anderer zu bündeln. Auch Internetsuchmaschinen stärken meine Position, denn mit deren Hilfe finde ich bessere Angebote, die ich mit einem einzigen Mausklick wahrnehmen kann. Der Superkapitalismus gibt mir also Möglichkeiten, meinen Interessen als Verbraucher und Anleger eine Stimme zu geben. Doch als Bürger habe ich weniger Möglichkeiten denn je, mir mit meiner Meinung Gehör zu verschaffen, und schuld ist vor allem der Superkapitalismus. Wie kann ich meine Missbilligung für die politische Strategie von Microsoft zum Ausdruck bringen? Ich kann nicht mehr auf die großen Institutionen wie Gewerkschaften, pluralistische Verbände und selbst politische Parteien zählen, die mich früher auf der politischen Bühne vertreten hätten. Meine Stimme wird durch Microsoft und andere Konzerne übertönt, die sich auf dem Terrain der Politik einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen verschaffen wollen. Ich kann meine Zustimmung oder Ablehnung für bestimmte Kandidaten in |218|der Wahlkabine zum Ausdruck bringen, ich kann E-Mails an meinen Abgeordneten oder den Präsidenten schicken, ich kann Leserbriefe an Zeitungen schreiben, ich kann für den Wahlkampf eines Kandidaten spenden oder mich als freiwilliger Wahlkampfhelfer engagieren. Doch es ist unwahrscheinlich, dass man mich über das Geschrei der Unternehmen hinweg deutlich hören wird.
Dies ist eine Situationsbeschreibung, keine Anklage und keine Verteidigung. Ich stelle dar, wie sich unsere Demokratie in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt hat, in denen der Kapitalismus durch den Superkapitalismus abgelöst wurde. Da sich der Superkapitalismus in aller Welt ausbreitet, zeichnet sich derselbe Trend auch in zahlreichen anderen Demokratien ab. Doch das bedeutet nicht, dass sich Kapitalismus und Demokratie notwendig in dieser Richtung weiterentwickeln müssen. Wir sind heute genauso wenig Sklaven der aktuellen Trends, wie wir es früher waren. Wenn wir wollen, können wir einen demokratischen Kapitalismus schaffen, der unseren edleren Zielen für das einundzwanzigste Jahrhundert eher gerecht wird. Doch um dies zu erreichen, müssen wir Kapitalismus und Demokratie klar auseinanderhalten und die Grenze zwischen beiden deutlich markieren.