Seit einigen Jahren macht das Schlagwort von der »gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen« die Runde. Es gilt als Antwort auf die Widersprüche des demokratischen Kapitalismus. In den Business Schools ist es heute ein angesagtes Thema: Im Jahr 2006 verlangten mehr als die Hälfte aller MBA-Programme von ihren Studenten, wenigstens einen Kurs zur »corporate social responsibility« zu belegen. Mehr als 80 Prozent aller Personalchefs erklären, MBA-Absolventen sollten sich mit der Materie vertraut gemacht und ein Bewusstsein für das Thema entwickelt haben.1 Jährlich werden Hunderte Konferenzen zum Thema abgehalten. Zehntausende Manager lauschen gebannt, wenn ihnen die Unternehmensberater die Bedeutung der »gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen« darlegen. Führende Vorstandsvorsitzende und Beamte, die Jahr für Jahr zum Weltwirtschaftsforum in Davos zusammenkommen, erörtern das Thema mit großem Ernst und bekennen sich feierlich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Zahlreiche unabhängige Beobachter messen, inwieweit Unternehmen sozial verantwortlich handeln, und Hunderte Unternehmen veröffentlichen Hochglanzbroschüren, um ihr Engagement zu dokumentieren. NGOs – Nichtregierungsorganisationen mit Vollzeitangesellten, Internetseiten, Newslettern und Spendenaufrufen – entwickeln Standards der Unternehmensethik und bewerten Unternehmen, inwieweit sie diese einhalten. Wenigstens einhundert Investmentfonds weltweit bekennen sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Der Globale Pakt der Vereinten Nationen, der |220|1999 in Davos verabschiedet wurde, benennt Ziele, und im Jahr 2006 hatten ihn mehr als 3 000 Unternehmen unterzeichnet. In Großbritannien gibt es sogar ein Ministerium dafür.
Das ist durchaus ernst gemeint, und zumeist auch ehrlich. Einiges hat sogar seine positiven Auswirkungen. Doch die Diskussion findet weitgehend unter Ausschluss der demokratischen Öffentlichkeit statt. Vor allem aber hat sie kaum Auswirkungen auf die Spielregeln. »Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen« als neue Form des demokratischen Kapitalismus zu verstehen, bedeutet, die Logik des Superkapitalismus zu verkennen. Diese Diskussion lenkt von einer viel schwierigeren, aber weitaus wichtigeren Aufgabe ab: Wir müssen neue Spielregeln aufstellen, die das Gemeinwohl schützen und fördern, und die den Superkapitalismus an der Übernahme der Politik hindern.
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Die Zunahme des Interesses an der »gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen« steht im Zusammenhang mit der Abnahme des Vertrauens in die Demokratie. Heutzutage fällt es Reformern leichter, sich bei Vorstandsvorsitzenden Gehör zu verschaffen als bei Politikern. Sie erklären sogar ganz offen, es sei effektiver, Unternehmen von einer bestimmten Maßnahme zu überzeugen, als sich um Einfluss auf die Politik zu bemühen. »Die Regierungen haben es versäumt, in Umweltfragen eine Führungsrolle zu übernehmen, doch die Industrie ist zunehmend bereit, diese Themen aufzugreifen«, erklärte Jonathan Lash, Präsident des Weltressourceninstituts (WRI).2
Diese zynische Haltung gegenüber der Politik ist durchaus verständlich, trotzdem mutet der Gedanke merkwürdig an. Es hat seinen Grund, warum es die Regierungen in den letzten Jahren versäumt haben, eine Führungsrolle in Umweltfragen oder anderen gesellschaftlich relevanten Themen zu übernehmen: Unternehmen hindern die Regierung immer effektiver daran, Maßnahmen |221|zu ergreifen, die sie zu unerwünschten Veränderungen zwingen könnten. Warum aber sollte die Privatwirtschaft plötzlich bereit sein, Fragen aufzugreifen, die sie in der Politik nach Kräften blockiert hat? Natürlich sind die Leute, die in Unternehmen auf mehr gesellschaftliche Verantwortung hinarbeiten, andere als diejenigen, die in der Lobby Gesetze und Regeln bekämpfen, die dem Unternehmen genau diese Verantwortung auferlegen. Doch das ändert nichts an einer Tatsache: Im Superkapitalismus muss sich das Unternehmen als Ganzes aus Wettbewerbsgründen gegen alles wehren, was der Bilanz schadet, und es wird allem geringe Bedeutung beimessen, das der Bilanz nicht nutzt.
Eine zynische Haltung gegenüber der Demokratie kann sich in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verwandeln und die Aufmerksamkeit von den notwendigen Reformen ablenken. Bürger einer verhältnismäßig kleinen Nation mögen wenig Möglichkeiten haben, durch ihre politischen Einrichtungen Einfluss auf das Verhalten global agierender Konzerne zu nehmen. Anders die Bürger der USA und der Europäischen Union. Jedes Unternehmen, das in einer derart großen und wohlhabenden Region Geschäfte machen will, muss sich an die jeweiligen Gesetze halten. Selbst der US-Staat Kalifornien kann Umweltgesetze mit weitreichender Wirkung verabschieden, da die meisten global agierenden Unternehmen Zugang zu diesem gewaltigen Markt suchen. Dazu kommt, dass globale Unternehmen mit Sitz in den USA oder Europa weltweit beachtliche Aktivitäten entwickeln: Starbucks kauft einen beträchtlichen Anteil der weltweiten Kaffeeproduktion auf, McDonald’s kontrolliert einen bedeutenden Teil der weltweiten Rindfleisch- und Geflügelmärkte, Wal-Mart ist der weltgrößte Einzelhändler und Home Depot der größte Käufer für Holz und Holzprodukte. Mit ihren Gesetzen können die USA oder die Europäische Union daher großen Einfluss auf das Verhalten der Unternehmen in aller Welt nehmen. Viele Bürger dieser mächtigen Nationen sind der irrigen Auffassung, sie könnten mehr bewirken, wenn sie Unternehmen zu tugendhaftem Verhalten bewegen, als |222|wenn sie innerhalb des Prozesses der demokratischen Willensbildung tätig werden.
Es ist nur allzu verständlich, dass Big Business das Schlagwort der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen mit solcher Begeisterung aufgegriffen hat. Es sorgt für gute Presse und beschwichtigt die Öffentlichkeit. Mit einem Bekenntnis zu ihrem sozialem Gewissen gelingt es Unternehmen oft, auch nach einem Fehlverhalten in einem für die Öffentlichkeit sensiblen Bereich – etwa im Fall von Umweltkatastrophen durch achtlosen Öltransport oder bei Missachtung von Menschenrechten in ausländischen Produktionsstätten –, neue Gesetze oder Verordnungen abzuwenden. Unternehmen, die einen bestimmten Verhaltskodex unterzeichnet haben, in dem sie sich auf sozial verträgliches Handeln verpflichten, scheinen ihre gesellschaftliche Verantwortung erkannt zu haben. Doch damit stehen sie kein bisschen weniger unter Druck, Verbraucher und Anleger zu gewinnen und zu halten. Im Zeitalter des Superkapitalismus können Unternehmen nicht gesellschaftlich verantwortlich handeln, zumindest nicht in nennenswertem Umfang.
Auch Politiker werden durch das neue Schlagwort aus der Verantwortung entlassen. Sie können einem scheinbaren Beweis der Unternehmenstugend applaudieren (und vielleicht sogar den Ruhm dafür einheimsen, dass sie ein Unternehmen dazu gebracht haben, einen Kodex zu unterzeichnen oder Besserung zu geloben) und müssen nichts unternehmen, womit sie Aufsichtsräte oder Wahlspender verstimmen könnten. Sie müssen nicht Partei ergreifen oder Position beziehen und stehen trotzdem als Verfechter einer sozial verträglichen Politik da.
Bekenntnisse zur gesellschaftlichen Verantwortung sind auch ein beruhigendes Feigenblatt für talentierte und privilegierte junge Menschen, die einerseits auf die astronomischen Vorstandsgehälter schielen und andererseits das Gefühl haben wollen, der Welt etwas Gutes zu tun. Sie müssen kein freiwilliges soziales Jahr leisten oder an einer Schule in einem sozial schwachen Stadtteil arbeiten|223|. Sie können einfach ihr MBA-Studium absolvieren und danach in einem Konzern Karriere machen, der seine guten Taten alljährlich in einer Hochglanzbroschüre zusammenstellt. Auf diese Weise können sie gleichzeitig gute Menschen und gute Verdiener sein, oder zumindest können sie sich das einreden.
Doch mit der »gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen« verhält es sich ungefähr so wie mit Zuckerwatte: Je kräftiger man reinbeißt, umso schneller löst sie sich in Nichts auf. Oft hört man, sozial verantwortliche Unternehmen erwirtschafteten größere Profite. Dow Chemical reduziert beispielsweise seinen Kohlendioxidausstoß, um seine Energiekosten zu senken. McDonald’s bringt humanere Schlachtmethoden zum Einsatz, verringert dadurch die Verletzungsgefahr für seine Arbeitnehmer und erzeugt mehr Fleisch. Wal-Mart verwendet »grüne« Verpackungen für Obst und Gemüse (Klarsichtfolien aus Maisethanol), da diese billiger sind als Folien auf Rohölbasis. Starbucks versichert seine Teilzeitkräfte, um sie an das Unternehmen zu binden und so der Bilanz zu nutzen. Alcoa spart im Jahr rund 100 Millionen US-Dollar durch Energieeinsparungen und ähnliche umweltschonende Maßnahmen.3
Jeder dieser Schritte ist sicher sinnvoll, doch keiner wird aus dem Gefühl sozialer Verantwortung heraus unternommen. Es geht in erster Linie um Kosteneinsparungen. Wer diese Unternehmen für ihr sozial verantwortliches Verhalten lobt, dehnt den Begriff auf alles aus, was die Unternehmensgewinne steigert und zufällig auch noch positive Auswirkungen für den Rest der Gesellschaft mit sich bringt. Zu Ende gedacht entspricht dies der Behauptung der klassischen Wirtschaftslehrbücher, nach der ein Unternehmen der Gesellschaft nutzt, wenn es seine Gewinne steigert, weil es auf diese Weise seine Mittel effektiv nutzt und Ressourcen freisetzt, die es nicht mehr benötigt und die anderswo effektiver eingesetzt werden können. In diesem Sinne ist jedes profitable Unternehmen automatisch sozial verantwortlich.
In meinen Vorträgen habe ich oft behauptet, dass soziale Verantwortung |224|und Profitabilität auf lange Sicht identisch seien. Das liege daran, dass ein Unternehmen, das seinen Mitarbeitern, seinem Standort und der Umwelt Respekt und Wertschätzung entgegenbringt, schließlich auch den Respekt und die Wertschätzung seiner Mitarbeiter, der Gemeinschaft und der Gesellschaft als Ganzer gewinne, was wiederum der Bilanz nutze. Allerdings habe ich diese Behauptung nie beweisen und keine Untersuchung finden können, die sie bestätigen würde. Für moderne Unternehmen spielt die »lange Sicht« keine Rolle. Im Zeitalter des Superkapitalismus ist die »lange Sicht« der gegenwärtige Wert zukünftiger Erträge. Dafür gibt es kein besseres Maß als den Aktienkurs.
Dieselbe Begriffsverwirrung betrifft die sogenannte sozial verantwortliche Investition in Produkte, die möglicherweise aufgrund eines entstehenden öffentlichen Interesses in Zukunft wichtig werden könnten. Im Jahr 2004 verkündete der kalifornische Pensionsfonds CalPERS mit großem Tamtam, er wolle 200 Millionen US-Dollar in den »aufkeimenden Sektor der Umwelttechnologien« stecken. Das war finanziell sinnvoll, wenn man davon ausging, dass Umwelttechnologien, die sauberer sind als mit fossilen Brennstoffen betriebene Anlagen, in Zukunft große Erträge erzielen werden. Wer dieses Verhalten jedoch als »sozial verantwortlich« beschreibt, verwechselt eine kluge Investitionsstrategie mit einer Initiative zur Sozialreform. Die kalifornischen Pensionäre haben nicht zugestimmt, ihre Pension zum Wohle des Planeten zu opfern. Wenn CalPERS mit seinen Einschätzungen richtig liegt, erzielen sie durch diese Anlage höhere Erträge, wenn nicht, werden sie sich zu Recht ärgern.
Wenn ein Produkt einem einzelnen Verbraucher zusätzlichen Nutzen verschafft, dann ist dieser möglicherweise bereit, mehr dafür zu bezahlen. Das macht dieses Produkt jedoch noch lange nicht »sozial verantwortlich«. Stromsparende Geräte, die billiger im Verbrauch sind; biologisch angebautes Obst und Gemüse, das der Gesundheit der Verbraucher dient; Gourmet-Eis, das besser schmeckt, weil es aus Milch von glücklichen Kühen hergestellt |225|wurde; Wildlachs, der aromatischer ist, weil er aus der Natur stammt und nicht von einer Fischfarm; und Bio-Eier, die weniger Salmollengefahr bergen, weil sie von frei laufenden Hühnern stammen – all diese Produkte mögen den höheren Preis wert sein, den Verbraucher für sie bezahlen. Doch die Verbraucher zahlen nicht etwa mehr, weil sie damit der Gesellschaft einen Dienst erweisen, sondern vor allem, weil sie persönlich einen Nutzen davon haben. Die Hamburgerbraterei Wendy’s verzichtete ähnlich wie die Hersteller von Keksen und Kartoffelchips auf die Verwendung von nicht saturierten Fetten, und General Mills stellt seine Frühstücksflocken seit Neuestem aus Vollkorn her. Grund ist jedoch nicht etwa eine neu entdeckte gesellschaftliche Verantwortung, sondern das gestiegene Gesundheitsbewusstsein der Kunden.4
Auch Unternehmen, die gute Löhne und Sozialleistungen zahlen, um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten, handeln nicht etwa »sozial verantwortlich«, sondern praktizieren lediglich gutes Management. »Idealismus steht nicht im Widerspruch zur Bilanz«, erklärt Starbucks in einer seiner ganzseitigen Anzeigen, in denen das Unternehmen sein besonderes gesellschaftliches Engagement preist. »Als wir anfingen, unsere Teilzeitkräfte zu versichern, stellten wir fest, dass die Fluktuationsrate zurückging«, heißt es weiter.5 Und genau darin besteht die Verwechslung: Wenn sich die Versicherung für Teilzeitkräfte positiv auf die Bilanz von Starbucks auswirkt, dann handelt Starbucks nicht aus Idealismus, egal wie edel die Motive des Gründers auch sein mögen. Starbucks handelt ganz im Sinne seiner Kunden und Anleger. Die zusätzlichen Kosten werden durch die Einsparungen mehr als aufgewogen. Das nennt man eine kluge Geschäftsstrategie.
Wenn ein Unternehmen versucht, die Qualität seiner Produkte zu verbessern, ohne den Preis zu erhöhen, wenn es die Effizienz und Produktivität steigern möchte, um den Preis zu senken oder den Anlegern höhere Erträge zu bescheren, dann hat all das nichts mit sozialer Verantwortung zu tun. Es handelt sich um gute Managementpraktiken, die angesichts des verschärften Wettbewerbs |226|im Zeitalter des Superkapitalismus unternommen werden sollten, völlig unabhängig ob sie der Gesellschaft nutzen oder nicht.
Vor einigen Jahrzehnten argumentierte der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman, die Aufgabe eines Unternehmens bestehe darin, Gewinne zu machen, und nicht Gutes zu tun.6 Diese Aussage stammt aus einer Zeit, als die Konzerne noch große Spielräume hatten, sozial verantwortlich zu handeln, weil die Oligopole Preise und Märkte weitgehend bestimmten. Friedman wollte deutlich machen, dass Unternehmen nicht versuchen sollten, soziale Ziele zu verfolgen, weil Unternehmen nicht das geeignete Instrument dafür sind. Egal ob Sie Friedmans Ansicht teilen oder nicht, im Zeitalter des Superkapitalismus haben Unternehmen ihre Spielräume für sozial verantwortliches Handeln verloren. Der Wettbewerb hat sich so weit verschärft, dass Unternehmen soziale Ziele nur erreichen können, wenn sie die Kosten ihren Kunden und Anlegern aufbürden – was diese vermutlich veranlassen wird, anderswo nach besseren Angeboten zu suchen. Selbst wenn einzelne Verbraucher oder Anleger ein bestimmtes Opfer für gut und richtig halten, hätte diese individuelle Entscheidung keinerlei Auswirkungen, solange es keine Gesetze gibt, die allen Unternehmen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben und allen Verbrauchern und Anlegern dieses Opfer auferlegen.
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Auf dem Weg zum Superkapitalismus wurden diejenigen Unternehmen, die in Friedmans Tagen für ihr gesellschaftlich verantwortliches Handeln bekannt waren, von Anlegern abgestraft. Cummins Engine, einer der Vorreiter auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, musste seine paternalistische Beschäftigungspolitik und seine großzügigen Zuwendungen an Standortgemeinden einstellen, als Investoren höhere Erträge forderten. Dayton Hudson, ein weiteres sozial verantwortliches Unternehmen, wurde 1980 beinahe Opfer einer feindlichen |227|Übernahme und kümmert sich seither ausschließlich um seine Kunden und Investoren. Levi Strauss, das früher weithin für sein soziales Gewissen bekannt war (vor allem weil es in heimischen Fabriken herstellen ließ), sah sich in den 90er Jahren sinkenden Absatzzahlen gegenüber und musste die letzten Fertigungsstätten in den USA schließen. Polaroid, ein weiteres sozial verantwortliches Unternehmen, meldete 2001 Konkurs an. Die Aktien der britischen Bekleidungskette Marks & Spencer, die weltweit mit die besten Beschäftigungsbedingungen bot, hatten im Jahr 2004 so weit an Wert verloren, dass das Unternehmen beinahe Opfer einer feindlichen Übernahme geworden wäre.7 Body Shop und Ben&Jerry’s wurden landesweit zu den sozial verantwortlichsten Unternehmen gezählt, bis die Anleger Body-Shop-Gründerin Anita Roddick zu einem Kurswechsel zwangen und der Eiscremehersteller Ben&Jerry’s von Unilever übernommen wurde.
Im Zeitalter des Superkapitalismus ist soziales Handeln kein Ersatz für ein Bekenntnis zum Shareholder-Value. George Mercks berühmtes Motto aus den 50er Jahren – »Die Medizin ist für die Menschen da, nicht für die Profite. Die Profite kommen von selbst.« – ist eine klassische Formulierung des Ideals der gesellschaftlichen Verantwortung.8 Merck & Co hielt daran fest, als es in den 80er Jahren ein Medikament gegen Flussblindheit entwickelte und kostenlos in den betroffenen armen Tropenländern verteilte, oder als es unlängst kostenlose Aids-Medikamente nach Botsuana lieferte. Doch die Profite kamen eben nicht von selbst, und in den letzten Jahren erlebte die Merck-Aktie starke Kursschwankungen. Das ist vielleicht einer der Gründe, weshalb das Unternehmen das Schmerzmittel Vioxx so schnell auf den Markt brachte, was angesichts der nicht ausreichend erforschten Nebenwirkungen alles andere als sozial verantwortlich war. Enron galt vor seinem Absturz als einer der einhundert besten Arbeitgeber der USA. Das Unternehmen erhielt zahlreiche Umweltpreise, war eines der ersten, das in einer »dreifachen Bilanz« auch die Umsetzung von gesellschaftlichen und Umweltzielen auswies und war für seine |228|großzügigen Spenden an gemeinnützige Einrichtungen bekannt. Rückblickend muss man sich fragen, ob es Enron mit seinem sozialen Engagement ehrlicher meinte als mit seinem Engagement für seine Anleger.9
Umgekehrt bestrafen Anleger profitable Unternehmen nicht für ihr mangelndes soziales Engagement. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts erreichte Exxon unter sämtlichen Ölgesellschaften die höchsten Kapitalgewinne. Aktionäre strömten in Scharen herbei, obwohl Umweltgruppen das Unternehmen für sein offenes Engagement gegen alternative Energien und gegen die Diskussion um die Erderwärmung anprangerten.10 Analysten der Wall Street und Investmentbanker interessieren sich nur für die Bilanz, wie die meisten der Anleger, deren Gelder sie verwalten. »Ich sehe nicht, dass Anleger den Kauf einer Aktie verweigern, weil sie den Vorstandsvorsitzenden für überbezahlt halten, und ich sehe nicht, dass Gewerkschaftsmitglieder Geschäfte boykottieren, die keine Gewerkschaften zulassen und im Ausland produzierte Waren zu einem günstigen Preis anbieten«, erklärte Anthony M. Maramarco, einer der leitenden Manager des Investmentfonds Babson Capital Management.11
Wer gesellschaftlichen Schaden anrichtet, trägt nicht unbedingt einen finanziellen Schaden davon. Obwohl wenige Branchen in der Öffentlichkeit ein derart schlechtes Image haben wie die Tabakindustrie, haben Zigarettenhersteller keine Schwierigkeiten, Investoren zu finden, die auf gute Erträge hoffen. Alkohol- und Waffenhersteller, Spielkasinos und Pornoverleger erzielen an der Wall Street gute Erträge, die zum Teil über dem Börsenindex S&P 500 liegen. Aktien von Rüstungsunternehmen, die in weiten Kreisen als moralisch verwerflich gelten, entwickeln sich seit Ende der 80er Jahre ebenfalls überdurchschnittlich gut.12 Es ist natürlich möglich, dass Unternehmen mit schlechtem Ruf bessere Erträge erzielen müssen, um Kapital anzulocken. Vielleicht gibt es analog zur Risikoprämie auch eine Schmuddelprämie. Doch es sieht nicht so aus, als würde das den Anlegern allzu viel ausmachen. Sie haben |229|die Manager ihrer Investment- und Pensionsfonds angewiesen, die Erträge aus ihren Ersparnissen zu maximieren, wie auch immer. Die Distanzierung von den sozialen Auswirkungen unserer Investitions- oder Kaufentscheidungen ist einer der Wesenszüge des Superkapitalismus.
Anleger, die sich um Unternehmensethik Gedanken machen, können ihr Geld in sogenannten »grünen« oder sozial verantwortlichen Fonds anlegen, die bestimmte anrüchige Branchen ausnehmen. Doch die Anleger mit sozialem Gewissen sind in der Minderheit. Im Jahr 2004 hatten diese Fonds in den USA einen Marktanteil von weniger als 2 Prozent.13 In Europa ist ihr Anteil sogar noch geringer und liegt bei einem Drittel Prozent. Wenn diese Fonds bessere Erträge bringen würden als andere, würden sie mehr Anleger finden, doch ihre Ergebnisse sind eher durchwachsen. Außerdem findet sich im Portfolio der »sozial verantwortlichen« Fonds so ziemlich jeder Konzern, der auch von normalen Investmentfonds gehandelt wird. Im Jahr 2004 hielten 33 der sozial verantwortlichen Fonds Aktien von Wal-Mart, 23 von Halliburton’s, 40 von ExxonMobil und fast alle von Microsoft, aller Kartellvorwürfe zum Trotz. Anfang des Jahres 2000 hielten viele Aktien von Enron, WorldCom und Adelphia, von denen sich in den folgenden Monaten keines durch besondere gesellschaftliche Verantwortung hervortun sollte.14
Natürlich haben Anleger ein Interesse an besserer Unternehmensführung. Doch bessere Unternehmensführung heißt nur, dass ein Unternehmen besser auf die Wünsche seiner Anleger eingeht, nicht auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter oder der Gesellschaft.
Dank der verschärften Regeln zur Unternehmensführung ist die Wahrscheinlichkeit vermutlich geringer geworden, dass Verwaltungsräte noch einmal die 6 000 US-Dollar für einen geblümten Duschvorhang bewilligen, die Tyco-Aktionäre unwissentlich für den früheren Chef Dennis Kozlowski hinblätterten; dass sie einem Vorstandsvorsitzenden 100 Millionen US-Dollar hinterherwerfen, wie sie John Rigas von Adelphia einstrich; oder dass sie einem |230|Vorstandsvorsitzenden einen königlichen Lebensstil finanzieren, wie ihn Bernhard Ebbers von WorldCom genoss, um nur einige der Exzesse zu nennen, die in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ans Licht kamen. Wenn Aktionäre größeres Mitspracherecht bei der Wahl der Verwaltungsräte bekommen, wenn Vorstandsvorsitzende persönlich für die Richtigkeit der Bilanz haftbar gemacht werden können und wenn die Einkünfte der Vorstände offengelegt werden, dann verspüren Manager vermutlich einen größeren Anreiz, dem nachzukommen, was eigentlich ohnehin ihre Pflicht ist.
Doch diese Initiativen tragen nichts dazu bei, Vorstandsvorsitzender gesellschaftlich verantwortungsvoller zu machen. Im Gegenteil, je stärker die Manager eines Unternehmens den Aktionären verpflichtet sind, desto eher kürzen sie Löhne, geben traditionsreiche Standorte auf und schaffen globale Lieferketten, bedienen die niedersten Bedürfnisse ihrer Kunden, setzen Arbeitnehmer in Entwicklungsländern unsicheren und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen aus und plündern die Umwelt, wenn diese und andere asoziale Verhaltensweisen der Steigerung von Unternehmensgewinnen und Aktienkursen dienen.
Man hört immer wieder, in Verwaltungsräten sollten nicht die »Shareholder« sondern die »Stakeholder« – also Interessengruppen wie die Belegschaft, Anwohner und die Gesellschaft ganz allgemein – vertreten sein. Diese Form der Unternehmensführung wird gern als Möglichkeit gepriesen, die Interessen der Investoren mit denen der übrigen Gesellschaft in Einklang zu bringen. Der Gedanke des Stakeholder-Kapitalismus wurde zuerst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von Theoretikern wie Walter Lippmann, Adolf Berle und Gardiner Means formuliert und fand seinen Niederschlag in der Figur des »staatsmännischen Unternehmensführers « aus dem Beinahe Goldenen Zeitalter. In der Tat hat die Vorstellung eines Verwaltungsrates mit Vertretern aus verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen einen gewissen Reiz. Andernorts hat der Gedanke auch funktioniert. In deutschen |231|Aktiengesellschaften ist beispielsweise der Vorstand, der sich um die wirtschaftlichen Belange des Unternehmens kümmert, klar getrennt von einem Aufsichtsrat, in dem verschiedene Interessengruppen vertreten sind. Einige US-Unternehmen, darunter United Airlines, haben mit der Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in den Verwaltungsrat experimentiert, um im Gegenzug eine Verschiebung von Lohnerhöhungen zu erreichen. Ich war einer der ersten und lautstärksten Befürworter dieser Experimente bei United.
Doch ich habe meine Zweifel, ob Verwaltungsräte von »Stakeholdern« im Zeitalter des Superkapitalismus funktionieren. Jedes Unternehmen, das im Sinne einzelner Interessengruppierungen seine Erträge opfert, verliert Investoren, die ihr Geld ohne Schwierigkeiten woanders anlegen können, wo es mehr Gewinne erwirtschaftet. Und wie jüngste Ereignisse zeigen, ist es schon schwer genug, sicherzustellen, dass die Mitglieder von traditionellen Verwaltungsräten die Aktionärsinteressen vertreten. Die erwartete Profitabilität eines Unternehmens lässt sich am besten an seinem Aktienkurs ablesen. Es gibt jedoch kein vergleichbares Maß für die Umsetzung von »Stakeholder«-Interessen. Zwar wurden Anstrengungen unternommen, eine dreifache Bilanz zu erstellen, die die Interessen von Aktionären, Mitarbeitern und der Gesellschaft ausweisen soll. Keiner dieser Versuche hat jedoch ein grundlegendes Problem lösen können: Im Zeitalter des Superkapitalismus reagiert der Wettbewerb nur darauf, wie gut das Unternehmen die Interessen seiner Kunden und Aktionäre wahrnimmt. Wenn jeder Verwaltungsrat mit unterschiedlichen Interessengruppen besetzt wäre, die alle ihre Mindestlöhne, Sicherheits- und Umweltstandards und so weiter festlegen, hätten die Unternehmen, die um Kunden und Anleger konkurrieren, radikal unterschiedliche Ausgangspositionen. Vermutlich hätten die Unternehmen mit den niedrigsten Löhnen und Standards und damit den geringsten Kosten und den größten Erträgen auch den größten Erfolg bei Kunden und Anlegern. Solange es keine verbindlichen gesetzlichen Regelungen für |232|alle Unternehmen gibt, würden sich vermutlich die Stakeholder im Wettlauf um die niedrigsten Standards gegenseitig unterbieten. Daher ist die Vorstellung einer Unternehmensdemokratie im Zeitalter des Superkapitalismus eine Illusion.
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In den meisten Fällen werden sich Verbraucher ähnlich wie Anleger nicht in dem Maße für Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung interessieren, dass sie bereit wären, finanzielle Opfer dafür zu bringen. Nach einer umfassenden Datenauswertung kam David Vogel von der Haas School of Business an der University of California in Berkeley zu dem Schluss, dass »die gesellschaftlichen und Umweltpraktiken der großen Mehrzahl der Unternehmen keinen erkennbaren Einfluss auf ihre Verkäufe haben«.15
Natürlich kaufen Verbraucher gern Produkte von sympathischen Unternehmen – vor allem wohlhabende Verbraucher, die Geld übrig haben, das sie für »Sympathie« ausgeben können. Daher leistet sich Starbucks ganzseitige Anzeigen in Tageszeitungen, in denen es beispielsweise mit seiner Unterstützung für die Alphabetisierung von Kindern wirbt. (»Auf den ersten Blick mag es scheinen, als habe Lesen wenig mit Kaffee zu tun. Doch es hat viel damit zu tun, ein Unternehmen zu sein, das nach seinen Werten handelt und in der Welt Gutes tut.«)16 Und natürlich wird auch das Image einer Marke immer wichtiger. Im Beinahe Goldenen Zeitalter bestand der Buchwert eines Unternehmens vor allem in seinen physischen Werten wie Anlagen und Maschinen, sowie dem Geld, das es auf der Bank hatte. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts machen diese Werte im Durchschnitt nur noch ein Drittel des Aktienwertes aus, der Rest ist nicht greifbar: Patente, Erfahrung und letztlich auch der Ruf der Marke. Dies ist einer der Gründe, weshalb Werbung heute wichtiger ist denn je, und warum Unternehmen mit rund 3,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2005 ein Vermögen für Marketing ausgegeben haben.17 In der Welt der Internet-Chatrooms und Blogger ist kein Markenimage wirklich sicher.
|233|Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen den privaten Bedürfnissen der Verbraucher und den öffentlichen Bedürfnissen der Bürger. Die meisten Verbraucher wollen günstige Angebote, Punkt. In einer Verbraucherumfrage gaben beinahe 50 Prozent der Befragten an, sie wollten, dass die Umwelt geschützt werde; dies sei jedoch die Verantwortung der Unternehmen, nicht ihre. Nach einer anderen Untersuchung kaufen Verbraucher umweltfreundliche Produkte nur dann, wenn sie nicht mehr kosten als konventionelle Vergleichsprodukte, mindestens dieselbe Qualität und Leistung bieten, von Markenunternehmen ihres Vertrauens stammen, in den Läden erhältlich sind, in denen sie regelmäßig einkaufen und keine größere Verhaltensänderung erforderlich machen.18
Nachdem der Tunfischanbieter Starkist freiwillig delfinfreundliche Fangmethoden eingeführt hatte, warb das Unternehmen mit seiner Vorreiterrolle auf diesem Gebiet. Das Ergebnis war ein messbarer Imagegewinn und ein gestiegener Marktanteil. Aber Starkist war nicht in der Lage, die gestiegenen Kosten in Form von Preiserhöhungen an die Kunden weiterzugeben. J.W. Connolly, Präsident der Mutterfirma von Starkist, erklärte: »Die Verbraucher wollen ein delfinfreundliches Produkt, doch sie sind nicht bereit, mehr dafür zu bezahlen. Wenn im Supermarkt ein delfinfreundliches Produkt neben einem konventionellen Produkt steht, entscheiden sich die Kunden für das billigere. Selbst wenn der Unterschied nur einen Cent beträgt.«19
Verbraucher erklären, ihnen sei die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen wichtig, doch in der Praxis zeigt sich dann, dass es den wenigsten so wichtig ist, dass sie mehr dafür bezahlen würden. In einer Umfrage, die im Jahr 2004 in Europa durchgeführt wurde, gaben drei Viertel aller Befragten an, sie würden sich in ihrer Kaufentscheidung nach der gesellschaftlichen und Umweltverantwortung eines Unternehmens richten wollen. Doch nur 3 Prozent gaben an, dies in der Vergangenheit tatsächlich getan zu haben.20 Wenn Verbraucher gefragt werden, was sie |234|unter »gesellschaftlicher Verantwortung« verstehen, dann definieren sie den Begriff als Kundenzufriedenheit, nicht als Gemeinwohl. In einer Umfrage des Wall Street Journal wurden die Befragten gebeten, 43 Tätigkeiten der Wichtigkeit nach zu ordnen, die ihrer Meinung nach den Ausschlag dafür geben, ob ein Unternehmen sich als »guter Bürger« verhält. Die wichtigsten Tätigkeiten waren »steht zu seinen Produkten / Dienstleistungen und hält Garantien ein« und »bietet qualitativ hochwertige Produkte und Dienstleistungen«.21
Verbraucher erklären außerdem, es sei ihnen wichtig, dass Unternehmen im Ausland die Menschenrechte achteten. Im Jahr 1993, kurz nach der blutigen Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, ließ Levi Strauss seine Produktionsverträge mit chinesischen Firmen auslaufen, da das Land die Menschenrechte missachtete. Die Entscheidung wurde allenthalben gepriesen22 , doch die Kunden waren nicht bereit, den höheren Preis für eine Jeans zu zahlen, die in einem Land gefertigt wurde, das die Menschenrechte achtete. Also kehrte Levi Strauss 1998 nach China zurück. Wie Firmenpräsident Peter Jacobi erklärte, blieb dem Unternehmen nur die Wahl, mit chinesischen Fabrikanten zusammenzuarbeiten »oder Gefahr zu laufen, im Wettbewerb um den weltweiten Bekleidungsmarkt zu verlieren«.23
Andererseits könnte einer konzertierten Aktion, die Gewerkschaften, Umweltschützer und Studentenorganisationen im Jahr 2004 gegen Wal-Mart starteten, tatsächlich ein gewisser Erfolg beschieden gewesen sein. Zwar wuchsen die Gewinne des Unternehmens mit der zunehmenden Zahl neuer Filialen weiter, doch im Jahr 2005 verlangsamte sich das Wachstum und die Gewinne pro Filiale gingen zurück. Ein möglicher Grund ist, dass die Wal-Mart-Kunden aufgrund steigender Energiepreise und sinkender Reallöhne weniger Geld zur Verfügung hatten. Doch nach einem Bericht der Unternehmensberatung McKinsey, der von einer Gruppe von Wal-Mart-Gegnern publik gemacht wurde, verlor Wal-Mart |235|2 bis 8 Prozent seiner Kunden »aufgrund der negativen Presseberichte« über das Unternehmen.24 Dazu später mehr.
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Schon seit langem decken Sozialreformer schädliche Unternehmenspraktiken auf, um politische Unterstützung für eine neue Gesetzgebung oder entsprechende Vorschriften zu bekommen, mit denen diese unterbunden werden sollen. Ida Tarbells Roman The History of the Standard Oil Company aus dem Jahr 1904 führte zu dem Kartellverfahren, das schließlich mit der Zerschlagung des Unternehmens endete. Upton Sinclairs Klassiker Der Dschungel aus dem Jahr 1906 deckte die Missstände in der Fleischindustrie auf und bewirkte schließlich die ersten Gesetze zum Gesundheits und Arbeitsschutz. Ralph Naders Buch Unsafe at Any Speed aus dem Jahr 1966 enthüllte die Nachlässigkeit der Automobilindustrie bei der Entwicklung von Sicherheitsstandards und stieß die Einrichtung der Straßenverkehrssicherheitsbehörde an. Diesen und anderen Enthüllungen ging es nicht darum, einzelne Unternehmen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, sondern um gesetzliche Regelungen, an die sich alle Unternehmen zu halten hatten. Die Veröffentlichungen waren kein Ersatz für politisches Handeln, sondern dessen Wegbereiter.
Ende der 60er Jahre übten Reformer Druck auf Unternehmen aus, die in Südafrika aktiv waren, sich an freiwillige Antidiskriminierungs-Richtlinien zu halten, die nach dem Minister und GM-Aufsichtsrat Leon Sullivan »Sullivan Prinzipien« genannt wurden. Unternehmen, die sich diesen Prinzipien nicht anschlossen, drohte der Boykott durch Verbraucher und Anleger. Das Ziel war jedoch ein politisches: Die Regierung von Südafrika sollte gezwungen werden, das Apartheid-Regime aufzugeben. Die politische Agitation in den Vereinigten Staaten veranlasste den US-Kongress schließlich, wirtschaftliche Sanktionen gegen Südafrika zu verhängen; andere Länder zogen nach. Viele Unternehmen schlossen ihre |236|Betriebe in Südafrika. Schließlich brach das Apartheid-Regime zusammen.
Auch die Medienkampagne, die Greenpeace 1995 gegen die Pläne von Shell Oil zur Versenkung einer alten Ölbohrinsel in der Nordsee startete, hatte ein eindeutiges politisches Ziel. Sie beinhaltete einen Verbraucherboykott gegen Shell. Doch es ging weniger darum, ein einzelnes Unternehmen an den Pranger zu stellen. Die Kampagne wollte vielmehr gesetzliche Regelungen erwirken, die verhindern sollten, dass Ölunternehmen in Zukunft ihre Bohrinseln einfach im Meer verschrotten konnten. Und Greenpeace hatte Erfolg. Im Jahr 1998 beschloss die Oslo-Paris Kommission, dass alte Bohrinseln zerlegt und an Land entsorgt werden mussten.25
Diese Kampagnen zielten auf eine Änderung der Spielregeln. Verbraucher und Anleger bezahlten dadurch insgesamt zwar etwas mehr – beispielsweise für Gold, da Südafrika nach der Verhängung der Wirtschaftssanktionen als Förderland ausfiel, oder für Nordseeöl, da die teurere Entsorgung der Bohrinseln sich auf den Preis niederschlug. Doch diese geringfügigen Verteuerungen wurden durch den gesellschaftlichen Nutzen, wie er im Prozess der demokratischen Willensbildung ausgehandelt worden war, vermutlich mehr als aufgewogen.1*
Arbeitnehmervertreter setzen Konzerne unter Druck, Gewerkschaften zuzulassen, doch auch hier geht es um ein spezifisches politisches Ziel: um die Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
|237|Ohne ein klares politisches Ziel bezeichnet die »gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen« lediglich den Einfluss einer bestimmten Gruppe auf ein bestimmtes Unternehmen oder eine Branche und kann daher alles und nichts bedeuten. Sollte ein sozial verantwortlicher Investmentfonds Atomenergiefirmen ausschließen, wie einige Atomenergiegegner fordern? Umweltaktivisten, die Kernenergie für eine sinnvolle Alternative zu fossilen Brennstoffen halten, würden dem nicht zustimmen. Sollten Verbraucher Eier von frei laufenden Hühnern kaufen, wie Tierschützer verlangen? Einige Lebensmittelschützer halten dagegen, dass Hühner in Käfigen gehalten werden sollten, um den Kontakt mit Zugvögeln und eine Ansteckung mit der Vogelgrippe zu verhindern. Sollten sozial verantwortliche Anleger und Verbraucher Unternehmen meiden, die Alkoholprodukte in jeder Form, also auch Bier oder Wein herstellen, oder nur Produzenten von Spirituosen? Sollten sie Medienkonzernen aus dem Weg gehen, die Pornografie und Gewalt verbreiten, oder nur solchen, die gegen die guten Sitten verstoßen?
Solange es keinen politischen Prozess gibt, der Fragen wie diese entscheidet, bleiben die Antworten rein willkürlich. Die repräsentative Demokratie mag ein schwieriger Prozess sein. Wie wir gesehen haben, wird sie heute derart von Unternehmen beherrscht, dass die Bürger sich kaum noch Gehör verschaffen können. Doch es gibt keine andere Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verpflichtungen der Privatwirtschaft festzulegen, als durch den Prozess der demokratischen Willensbildung. Die »gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen« ist sicher ein hehres Ziel, doch diesem Ziel ist eher gedient, wenn wir dafür sorgen, dass die Demokratie besser funktioniert.
Unternehmen zu mehr verantwortlichem Handeln zu zwingen ist ein wenig demokratischer Versuch, komplexe gesellschaftliche Fragen zu klären, die wir besser den Gesetzgebern überlassen sollten. Nehmen wir als Beispiel die heftigen Auseinandersetzungen um Waffenbesitz, Abtreibung und die Rechte von Homosexuellen. |238|Der Kongress und die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten ringen seit Jahren mit diesen Fragen, und einige wurden bis in die Bundesgerichte getragen. Doch auch wenn kein Konsens möglich ist, bieten der Prozess der demokratischen Willensbildung und die Gerichte immer Möglichkeiten, Ansprüche gegeneinander abzuwägen. Nicht so im privatwirtschaftlichen Sektor.
Im Jahr 2006 wurde Wal-Mart von einer Bürgerinitiative namens American Family Organisation angegriffen, weil das Unternehmen der Schwulen und Lesbischen Handelskammer beigetreten war. Die Bürgerinitiative rief zu einem Boykott von Wal-Mart auf, doch das Unternehmen blieb standhaft.26 Als jedoch andere religiöse Gruppierungen die Drogerieabteilung von Wal-Mart bedrängten, den Verkauf der sogenannten »Pille danach« einzustellen, gab das Unternehmen nach. Als schließlich Frauengruppen verlangten, die Pille wieder ins Sortiment aufzunehmen, revidierte Wal-Mart seine Entscheidung, überließ es aber einzelnen Verkäufern, ob sie den Verkauf mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten.27 Welche dieser Positionen ist gesellschaftlich verantwortlich? Wal-Mart hat keine Kriterien, um die unterschiedlichen Ansprüche gegeneinander abzuwägen, außer der Frage, was seiner Bilanz am wenigsten schadet.
Die American Family Organisation rief auch zum Boykott von Ford auf, da der Autohersteller in Schwulenmagazinen geworben hatte. Prompt zog Ford seine Anzeigen zurück. Diese Entscheidung verärgerte wiederum die Vertreter der Schwulenbewegung. »Wo bleiben wir, wenn unsere Freunde sagen: ›Okay, ihr Schwulen, wir müssen euch leider die Freundschaft aufkündigen, weil die religiöse Rechte uns die Hölle heiß macht?‹«, fragte Kevin Cathcart, leitender Direktor des Lambda Legal Defense Fund und erklärte weiter: »Man macht keine Geschäfte mit Schlägern und man lässt seine Freunde nicht im Stich.«28 Nach einem Gespräch mit Vertretern von verschiedenen Schwulenbewegungen revidierte Ford seine Entscheidung29 , was wiederum die American Family Organisation und 43 andere religiöse Gruppierungen veranlasste, den Boykottaufruf |239|zu wiederholen. »Wir werden nicht einfach zusehen, wie Ford eine gesellschaftliche Agenda unterstützt, die auf die Zerstörung der Familie abzielt«, erklärten die Gruppen in einem Brief an Ford-Chef William Clay Ford jr.30
Im Jahr 2004 rief die Initiative Focus on the Family, ebenfalls eine religiöse Gruppierung, zum Boykott des Waschmittels Tide und der Zahnpasta Crest, der beiden wichtigsten Marken von Procter & Gamble, auf. Das Unternehmen hatte den Zorn der Organisation auf sich gezogen, weil es sich öffentlich einer Verordnung des Bundesstaates Cincinnati angeschlossen hatte, die die Diskriminierung Homosexueller verbietet. Die Anti-Abtreibungsorganisation Action League of Chicago rief gleichzeitig zum Boykott von Mattel auf, da das Unternehmen 50 000 US-Dollar an eine gemeinnützige Organisation namens Girl Inc. gespendet hatte, die Mädchen aus sozial schwachen Familien nach der Schule Drogen und Sexualaufklärung gab und in einer seiner Broschüren das Recht der Frauen auf Abtreibung unterstützte. Unlängst drohte die Waffenlobby damit, den Ölgiganten ConocoPhillips in einer riesigen Plakatkampagne als Waffengegner zu denunzieren. Conoco-Phillips hatte den Unmut der Waffenlobby erregt, weil es sich an einem Prozess gegen einen Gesetzesentwurf des Bundesstaates Oklahoma beteiligte, der es Beschäftigten erlauben sollte, bewaffnet am Arbeitsplatz zu erscheinen. Ein Sprecher von ConocoPhillips erklärte, das Unternehmen mache sich Sorgen um die Sicherheit seiner Mitarbeiter.31
In diesen wie in zahlreichen anderen Fällen geraten Unternehmen ins Schussfeld. Da sich diese Auseinandersetzungen nicht auf den üblichen politischen Bühnen abspielen, finden sich Manager unfreiwillig in der Rolle von Politikern wieder, die zwischen unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Standpunkten vermitteln sollen. Doch die Manager haben keinerlei Erfahrung als politische Vermittler. Sie wurden angestellt, um ihren Kunden gute Angebote zu machen und ihren Anlegern Gewinne zu bescheren.
Um dies zu erreichen, muss das Unternehmen in diesen Auseinandersetzungen |240|alles tun, um seine Kosten so gering wie möglich zu halten, ganz egal wie lästig oder aufdringlich die Fürsprecher der einen oder anderen Seite sind. Wenn ein Unternehmen einer Forderung nachgibt, die ihm zusätzliche Kosten verursacht, würde vermutlich ein Wettbewerber, der die Einigung nicht unterzeichnet, mit Gewinn in die Bresche springen. Selbst wenn Wal-Mart sich schließlich gezwungen sehen sollte, bessere Löhne zu zahlen und seinen Mitarbeitern eine umfassendere Krankenversicherung anzubieten – und daher gezwungen ist, seine Preise anzuheben, um die zusätzlichen Kosten zu decken –, würde ein anderer Megamarkt die Lücke nutzen, schlechtere Löhne und Sozialleistungen zahlen und Wal-Mart auf diese Weise unterbieten.
Ende der Neunziger fand sich Nike im Fadenkreuz verschiedener Gruppen, die sich über die Bedingungen erzürnten, unter denen Arbeiter in Entwicklungsländern die Schuhe und Turnhosen des Sportartikelherstellers zusammennähten. Eine ganze Woche lang widmete Garry Trudeau seine beliebten Doonesbury-Cartoons den Nike-Sweatshops. Unter dem Eindruck des Protests richtete Nike ein System zur Überprüfung seiner Vertragspartner ein, feuerte ausbeuterische Manager, ersetzte krebserregende Klebstoffe durch wasserlösliche und ließ in einigen Fertigungsstätten Gewerkschaften zu. Doch seit einigen Jahren steht Nike im Wettbewerb mit Unternehmen wie New Balance, die keine solchen Überprüfungen vornehmen. Also richteten Bürgerrechtsgruppen ihre Aufmerksamkeit nun auf New Balance und warfen dem Unternehmen im Januar 2006 vor, die Arbeiter seiner chinesischen Werke zu Überstunden zu zwingen, sie unter unsicheren Arbeitsbedingungen arbeiten zu lassen und ihnen Hungerlöhne zu zahlen.32 Möglicherweise wird New Balance dadurch zur Besserung gezwungen. Doch wer hindert Adidas, Airwalk und Hunderte anderer Firmen daran, in die entstandene Lücke zu springen? Solange sich die Spielregeln des Superkapitalismus insgesamt nicht ändern, hat immer das Unternehmen den Wettbewerbsvorteil, das sich noch nicht »sozial verantwortlich« verhält.
|241|Unternehmen sind nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, was gut für die Gesellschaft ist. Sie sind darüber hinaus auch nicht in der Lage, Dienstleistungen bereitzustellen, die naturgemäß gesellschaftlicher Natur sind. Will man sie dazu zwingen, wirft das die Frage auf, ob diese Verantwortung nicht besser von staatlichen Unternehmen übernommen werden sollte. Die Kampagne gegen Wal-Mart verkündete in ganzseitigen Anzeigen: »Mit seinen schlechten Löhnen und Sozialleistungen zwingt Wal-Mart Zehntausende seiner Angestellten, Medicaid2*, Essensmarken und Wohngeld in Anspruch zu nehmen. Nennen wir es die ›Wal-Mart-Steuer‹. Sie kostet den Steuerzahler 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr.«33 Die Argumentation hinkt, da der Gesetzgeber in der Vergangenheit entschieden hat, Medicaid, Essensmarken und Wohngeld für sozial Schwache bereitzustellen, unabhängig davon, ob diese berufstätig sind oder nicht. Es schien seinerzeit effizienter, diese Leistungen von staatlicher Seite bereitzustellen und die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer auf sie hinzuweisen, statt von der Privatwirtschaft zu verlangen, diese zu übernehmen. Wenn wir die Spielregeln ändern und von Unternehmen verlangen wollen, dass sie angemessene Löhne und Sozialleistungen zahlen, sodass keiner der Angestellten auf staatliche Sozialhilfe angewiesen ist, dann sollten wir dies in einem Prozess der demokratischen Willensbildung tun. Es ist wenig sinnvoll, ein Unternehmen – auch eines von der Größe Wal-Marts – dafür abzustrafen, dass es sich an die Spielregeln hält.
Sollten wir die Spielregeln ändern, wie die Wal-Mart-Kritiker fordern? Das wäre in der Tat eine wichtige politische Diskussion, doch wir führen sie nicht. Ich persönlich bin der Ansicht, Mindestlöhne sollten auf 50 Prozent der durchschnittlichen Stundenlöhne angehoben werden. Dort standen sie im Beinahe Goldenen Zeitalter, und das scheint mir nach wie vor ein angemessener Kompromiss. Die Wal-Mart-Kritiker verlangen jedoch außerdem, dass |242|Wal-Mart seinen Mitarbeitern eine gute Krankenversicherung bietet, doch meiner Ansicht nach fällt dies nicht mehr unter die Verantwortung des Arbeitgebers.
Bei dieser Frage handelt es sich um genau die Art von Thema, die wir in der breiten Öffentlichkeit diskutieren sollten, die jedoch durch die Aktionen gegen ein Einzelunternehmen wie Wal-Mart verdeckt wird. Der Grund, warum Unternehmer ihren Arbeitnehmern überhaupt eine Krankenversicherung bezahlen, ist der, dass Lohnzahlungen in dieser Form nicht versteuert werden. Im Beinahe Goldenen Zeitalter und vor der Explosion der Gesundheitskosten war diese Lösung daher für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen attraktiv. Obwohl immer weniger Arbeitgeber die Krankenversicherung ihrer Mitarbeiter übernehmen, handelt es sich nach wie vor um die umfangreichste Steuerbegünstigung innerhalb des gesamten Steuersystems. Neueste Schätzungen gehen davon aus, dass dem Finanzamt auf diese Weise pro Jahr 126 Milliarden US-Dollar an Einkommensteuer entgehen.34 Mit anderen Worten handelt es sich bei der Krankenversicherung durch Arbeitgeber um eine staatliche Krankenversicherung im Umfang von 126 Milliarden Dollar.
Doch das System ist verrückt. Just in dem Moment, in dem Sie und Ihre Familie es am nötigsten hätten, haben Sie keinen Anspruch darauf, etwa wenn Sie Ihren Arbeitsplatz verlieren oder Ihr Einkommen sinkt. Und heutzutage ist kein Arbeitsplatz mehr sicher. Aber warum die Nöte einer Familie noch vergrößern, indem wir die indirekte staatliche Krankenversicherung genau dann enden lassen, wenn ein Arbeitnehmer vor die Tür gesetzt wird? Außerdem verzerrt das System den Arbeitsmarkt. Es hindert viele Menschen daran, den Arbeitplatz zu wechseln, aus Angst, dass sie damit ihren Anspruch auf Krankenversicherung und andere Sozialleistungen verlieren. Und es lädt Arbeitgeber ein, vor allem junge, gesunde Arbeitnehmer einzustellen, weil diese ihre Krankenversicherung kaum in Anspruch nehmen, und ältere abzulehnen, die möglicherweise teure medizinische Bedürfnisse haben. |243|Gerne werden auch verheiratete Mitarbeiter in die Versicherung des Ehepartners abgeschoben und dessen Arbeitgeber trägt dann die Kosten.
Das System steht außerdem auf dem Kopf. Je weniger Sie verdienen, umso weniger Leistungen übernimmt Ihre Krankenversicherung. Selbst wenn Wal-Mart dazu gezwungen werden könnte, einen umfassenderen Versicherungsschutz für seine einkommensschwächsten Arbeitnehmer anzubieten, bliebe das Muster im Rest des Landes dasselbe. Die Arbeitnehmer am unteren Ende der Einkommenshierarchie eines Unternehmens erhalten für gewöhnlich keine Krankenversicherung. Je höher Ihr Einkommen, umso besser die Leistungen Ihrer Versicherung. Topmanager schließlich genießen Spitzenservice, ihre Versicherung kommt für die teuersten Ärzte und jedes nur erdenkliche Wehwehchen auf. So ist es zu erklären, dass die indirekte staatliche Krankenversicherung von 126 Milliarden vor allem den Reichen zugute kommt.
Aus den genannten Gründen erscheint es mir sinnvoll, Krankenversicherung und Arbeit zu entkoppeln. Statt Unternehmen wie Wal-Mart an den Pranger zu stellen, weil ihre Sozialleistungen so schlecht sind, sollten wir Unternehmen auffordern, gar keine Krankenversicherungen mehr zu bezahlen, und die indirekte staatliche Krankenversicherung von 126 Milliarden pro Jahr einstellen. Stattdessen sollten wir dieses Geld als Anzahlung für eine bezahlbare allgemeine Krankenkasse verwenden, die allen offensteht, unabhängig davon, wie viel sie verdienen, wo sie arbeiten und ob sie überhaupt arbeiten.
Doch wir können diese Diskussion nicht führen, solange wir uns darauf konzentrieren, von Wal-Mart mehr Sozialleistungen für seine Mitarbeiter zu fordern und diese Bemühungen außerhalb des Prozesses der demokratischen Willensbildung bleiben. Mit ihrem moralischen Kreuzzug gegen Wal-Mart verhindern Kritiker die notwendige nationale Debatte über die Aufgaben des Staates und führen stattdessen eine Diskussion über das Markenimage eines einzelnen Konzerns.
Auch wenn PR-Schlachten über die Tugenden und Untugenden eines bestimmten Unternehmens alle Instrumente einer politischen Kampagne mobilisieren können, sind sie im Ergebnis alles andere als politisch. Niemand wird gewählt oder abgewählt, keine Programme werden umgesetzt, keine Gesetze und Vorschriften verändert. In diesen Auseinandersetzungen geht es nicht um die beste gesamtgesellschaftliche Lösung, sondern darum, ob ein Unternehmen moralisch oder unmoralisch handelt. Es handelt sich um Scheinpolitik und ist ein gewaltiger Abweg von der wirklichen Politik.
Teilnehmer der Anti-Wal-Mart-Kampagne beschreiben ihre Aktivitäten mit hochtrabenden Begriffen. »Dies ist ein Angriff auf ein Unternehmensmodell«, erklärte Carl Pope, langjähriger Führer der Umweltbewegung, der sich der Kampagne im Jahr 2005 anschloss.35 Andrew Grossman, Geschäftsführer der Anti-Wal-Mart-Koalition Wal-Mart Watch erklärte: »Wir konzentrieren uns auf Wal-Mart aufgrund des großen Einflusses, den das Unternehmen auf jeden Bereich des amerikanischen Lebens hat, mit dem es in Berührung kommt.« Grossman gesteht Wal-Mart zu, dass es viele Produkte günstiger anbietet als seine Mitbewerber, doch er weist darauf hin, »dass oft die Gesellschaft den Preis dafür bezahlt«. Ziel der Kampagne sei es, dass Wal-Mart mehr Geld verdiene, »aber sozial verantwortlich«.36 Aber was genau meint Grossman damit? Was wollen die Organisatoren der Kampagne?
Die Anti-Wal-Mart-Kampagne arbeitet mit Anzeigen in Printmedien, Werbespots in Rundfunk und Fernsehen, Videos, Büchern, Webseiten, Veranstaltungen und sogar mit einem Film. Zu Schuljahresbeginn riefen Mitglieder der größten Lehrergewerkschaft der Vereinigten Staaten Eltern und Schüler zum Boykott von Wal-Mart-Schreibwaren auf. Mit einem automatischen Telefonsystem wurden Zehntausende Menschen in Wal-Marts Heimatstaat Arkansas angerufen, um mögliche Skandalengeschichten über das |245|Unternehmen ausfindig zu machen. Für Bürgerinitiativen, die die Errichtung eines Wal-Mart in ihrer Stadt verhindern wollen, wurde ein Online-Werkzeugkasten erstellt.
Viele der Organisatoren brachten Erfahrungen aus der wirklichen Politik mit. Paul Blank war beispielsweise der politische Leiter der Präsidentschaftskampagne von Howard Dean. Chris Kofinis half bei der Kampagne, mit der General Wesley Clark in den Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2004 involviert werden sollte. Jim Jordan war ebenfalls im Jahr 2004 Leiter des Wahlkampfteams von John Kerry. Tracy Sefl gehörte zu den Freiwilligen der Demokratischen Partei, die im Wahlkampf 2004 für die Verteilung negativer Presseberichte über George W. Bush zuständig waren.
Im Gegenzug hat Wal-Mart bis heute Millionen von Dollar für eine Kampagne ausgegeben, die das Unternehmen als arbeitnehmerfreundlich, umweltbewusst und sozial verantwortlich darstellt. Es heuerte sein eigenes Starteam aus früheren Politprofis an, angeführt von Ronald Reagans Imagemacher Michael Deaver über Bill Clintons Medienberaterin Leslie Dach bis zu John Kerrys Chefstrategen Jonathan Adashek und dem republikanischen Wahlkampfspezialisten David White. Berater der Gruppe war Terry Nelson, der 2004 das Wahlkampfteam von George W. Bush geleitet hatte.
In den Werbespots priesen schwarze und hispanische sowie weibliche Angestellte ihre Sozialleistungen und Aufstiegsmöglichkeiten. Werbespots auf Spanisch und in verschiedenen asiatischen Sprachen zielten auf Latinos und Kunden mit asiatischem Hintergrund. Dazu kamen Hunderte von Anzeigen in Tageszeitungen und ausgewählten Magazinen, die Kritikern vorwarfen, Wal-Mart bewusst verzerrt darzustellen. »Wenn Kritiker die Fakten verfälschen, um ihren eigenen finanziellen und anderen Interessen zu dienen, dann ist es unsere Pflicht, uns zu wehren«, erklärte der Vorstandsvorsitzende von Wal-Mart, Lee Scott, in einer doppelseitigen Anzeige im New York Review of Books. Einige der Werbefilme|246|, die stark an Wahlkampfspots von Bill Clinton aus dem Jahr 1992 erinnerten, begannen mit einem anheimelnden Bild von Sam Waltons erstem Laden zu dem eine sonore Stimme erzählt: »Es begann mit einem großen Traum in einer kleinen Stadt. Sam Waltons Traum.«
Laut einem Bericht der New York Times treffen sich die führenden Mitarbeiter der Kampagne jeden Tag um 7 Uhr morgens in der Kommandozentrale und sichten Zeitungsberichte und Fernsehaufzeichnungen, die das Unternehmen zum Thema haben. Wenn sie auf Kritik stoßen, rufen sie die entsprechenden Autoren an, veröffentlichen Gegendarstellungen im Internet und geben Pressemeldungen heraus, in denen sie die Kritik erwidern. Auf diese Weise entstand auch ein Kurzfilm, der den Anti-Wal-Mart-Film widerlegen sollte. Die Mitarbeiter geben Meldungen an Blogger weiter und bieten Themen für Postings. Außerdem gründeten sie eine Organisation mit dem Namen »Working Families for Wal-Mart« und haben auch Zulieferfirmen aufgefordert, sich an diesem Projekt zu beteiligen.
Das Wal-Mart-Team beschreibt seine Kampagne sogar mit Begrifflichkeiten aus der Politik. Intern heißt sie »Kandidat Wal-Mart«. Robert McAdam, früherer Stratege des Tobacco Institute, der die Unternehmenskommunikation koordiniert, spricht davon, dass Wal-Mart die »Wechselwähler« gewinnen wolle und meint damit Kunden, die noch keine Meinung zu Wal-Mart haben. Er beschreibt die Zuschauer des Anti-Wal-Mart-Films als »wahre Gläubige«, die sich vermutlich schon eine Meinung gebildet haben. »Sie haben ihre Basis. Wir haben unsere. Doch es gibt eine Gruppe in der Mitte, die wir ansprechen wollen.«37
Wurde Wal-Mart in der Folge dieser Ereignisse als Unternehmen mit sozialem Gewissen wiedergeboren? Kurz nach den Zerstörungen durch den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 spendete Wal-Mart 15 Millionen US-Dollar in den Bush-Clinton-Katrina-Fonds und je eine Million Dollar für die Heilsarmee und das Rote Kreuz. Mitarbeitern, die durch die Flut ihr Zuhause verloren hatten|247|, zahlte es eine Notfallhilfe von bis zu 1 000 Dollar oder drei Wochenlöhnen und versprach ihnen einen Arbeitsplatz in jedem beliebigen Wal-Mart im gesamten Land. Das Unternehmen lieferte mehr als einhundert Lastwagenladungen mit Lebensmitteln an die Evakuierungszentren, bot Bewohnern der betroffenen Regionen kostenlos verschreibungspflichtige Medikamente und stellte rund ein Dutzend seiner Gebäude als Notunterkünfte, Nahrungsmittellager und Polizeizentralen zur Verfügung.38
Das Unternehmen scheint sich außerdem zu bemühen, an seinen Standorten als besserer Arbeitgeber und Bürger aufzutreten. Es hat ein Gleichberechtigungsbüro eingerichtet und die Krankenversicherung auf Kinder von Teilzeitarbeitskräften ausgeweitet. Es kündigte außerdem an, Geschäften in der Nähe geplanter neuer Filialen zu helfen. Es hat ein Programm zur Wiederverwendung von Plastikfolien, Einkaufstüten und anderen Kunststoffverpackungen aufgelegt; auf seinen Parkplätzen pflanzt es Bäume und sät Gras, um Kohlendioxid und Abwässer aufzunehmen; es will mittels Wind- und Sonnenenergie seinen Strombedarf decken, Energiesparglühbirnen einsetzen und Recycling-Materialien für seine Außenanlagen verwenden. CEO Scott erklärte im Jahr 2006, das Unternehmen wolle in Zukunft zu 100 Prozent erneuerbare Energien verwenden, »um Rohstoffe und Umwelt zu schonen«.39
Das sind durchaus lobenswerte Anstrengungen, doch zusammengenommen kosten sie Wal-Mart noch immer nur einen winzigen Bruchteil seiner jährlichen Gewinne. Für einige dieser Maßnahmen, wie etwa das Bekenntnis zu erneuerbaren Energiequellen, existiert zudem keinen Zeitplan, und Scott gibt zu, dass er selbst nicht sicher ist, wie er sie umsetzen soll.40 Außerdem ist völlig unklar, inwieweit sich das Unternehmen auch dann noch für »soziale Verantwortung« starkmacht, wenn die Anti-Wal-Mart-Kampagne beendet ist, die ja nicht ewig dauern kann. Man muss kein Zyniker sein um anzunehmen, dass das Unternehmen die negativen Auswirkungen der Wal-Mart-Kampagne mit geringstmöglichem Aufwand bekämpft. Das ist genau das, was man im Zeitalter des Superkapitalismus |248|erwarten würde. Wir wissen nicht, ob eine spätere McKinsey-Studie Wal-Mart berichtet, dass seine Kunden zurückgekehrt sind und dass das Unternehmen genug getan hat – oder ob 2 oder 3 Prozent nach wie vor wegbleiben und das Image weiter aufpoliert werden muss. Doch wir können sicher sein, dass Wal-Mart die Umfragen sehr genau im Auge behält und seine Reaktion sorgfältig darauf abstimmt.
Man muss bedenken, dass es sich bei Wal-Mart um ein Ausnahmeunternehmen handelt. Es ist eine riesige, allgegenwärtige und weithin sichtbare Institution und daher besonders anfällig für die quasi politischen Strategien seiner Gegner. Das Unternehmen wurde zwar gezwungen, verantwortlicher zu handeln, doch es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Strategien auch auf andere Unternehmen übertragen lassen.
Wenn moderne Unternehmen ihre Probleme mit der Öffentlichkeit durch Geld aus der Welt schaffen können, ist es unwahrscheinlich, dass sie mit ihren Imagekampagnen neue Standards für das Verhalten von Unternehmen setzen, selbst dann nicht, wenn die geforderten Standards klar definiert sind und die Konkurrenz nicht in die Bresche springt. Beide Seiten mögen Methoden aus der Politik anwenden und Politiker können ein Unternehmen für seine mangelnde gesellschaftliche Verantwortung kritisieren. Trotzdem haben diese Auseinandersetzungen nicht das Geringste mit Politik im Sinne einer demokratischen Debatte und Willensbildung zu tun.
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Der Eifer, mit dem Unternehmen selbst das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung aufgegriffen haben, täuscht die Öffentlichkeit leicht darüber hinweg, dass es weiterhin problematische Fragen gibt, die breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdienen. Die öffentliche Zurschaustellung von unternehmerischer Großherzigkeit verdeckt nur allzu leicht die Probleme, mit denen sich eine |249|Demokratie beschäftigen sollte und auch beschäftigen würde, wenn sich die Öffentlichkeit ihrer wahren Dimension bewusst würde. Und weil die Aufmerksamkeitsspanne der Öffentlichkeit begrenzt ist, können kurzfristige PR-Maßnahmen von Unternehmen wirkungsvoll dauerhafte Lösungen verhindern.
Angesichts von Drohgebärden der staatlichen Medienaufsicht und konservativer Abgeordneter, die sich besorgt über die Zunahme von Sex und Gewalt im Kabelfernsehen äußerten, kündigten Kabelanbieter Anfang 2006 an, sie wollten Pakete mit familienfreundlichen Sendern zusammenstellen. »Damit besteht kein Bedarf für gesetzliche Regelungen mehr. Wir müssen diesen Plänen eine Chance geben«, erklärte der republikanische Senator Ted Stevens, als er vom Vorhaben der Kabelgesellschaften hörte.41 Doch die Kabelanbieter hatten schon früher immer wieder ähnliche Versprechungen gemacht und sich nie daran gehalten. Vermutlich werden sie auch weiter Sex und Gewalt ausstrahlen, bis der Kongress oder die Medienaufsicht Einhalt gebieten, denn Sex und Gewalt bringen Geld.
Im Jahr 2005 kündigte Kraft Foods an, das Unternehmen wolle für bestimmte Produkte keine Werbung mehr produzieren, die sich an Kinder unter zwölf Jahren richtete. Die Nachricht wurde als Paradebeispiel für die gesellschaftliche Verantwortung eines Unternehmens gefeiert. Doch sie war nichts dergleichen. Eine Regierungsuntersuchung, die kurz zuvor veröffentlicht worden war, hatte gezeigt, dass Werbung, die auf Kinder zielt, zu Fettleibigkeit im Kindesalter beiträgt. Daraufhin wurden im Kongress zwei Gesetzentwürfe vorgelegt, die vorsahen, diese Art der Werbung der staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Kraft wollte mit seiner Initiative dem Gesetzgeber zuvorkommen und sich größere Freiräume bewahren, um auch weiterhin Kinder zum Ziel seiner Werbung machen zu können. Michael Mudd, der Architekt von Krafts Fettsuchtstrategie, erklärte: »Wenn die Tabakindustrie zwanzig oder dreißig Jahre zurückgehen, ihre Marketingstrategie ändern, ihre Kritiker entwaffnen und Hunderte Millionen von Gewinnen opfern |250|könnte, meinen Sie nicht, dass sie das im Lichte der heutigen Ereignisse sofort machen würden? Wir stehen heute vor einer ähnlichen Entscheidung.«42 Als der Druck zunahm, die Werbung für Junk-Food, die auf Kinder zielte, gesetzlich zu beschränken, folgten Zusagen von General Mills, McDonald’s und Coca-Cola, wenigsten die Hälfte ihres Kinder-Werbebudgets für Werbebotschaften aufzuwenden, die zu einem »gesunden Lebensstil« anhielten.43 Doch die Unternehmen hielten sich merkwürdig bedeckt, was sie unter dem Begriff eines gesunden Lebensstils verstanden, oder wie sich diese Werbung zu dem vermutlich ungesunden Lebensstil verhalten würde, den sie mit dem Rest ihres Budgets bewarben.
Ähnlich verhält es sich mit einer Werbekampagne im Wert von mehreren Millionen US-Dollar, die die News Corporation 2006 startete, um Mädchen Verhaltenstipps für Online-Dates mit Männern zu geben. Ein Fall von sozialer Verantwortung? Wohl kaum. In verschiedenen Bundesstaaten drohten Ermittlungsverfahren gegen MySpace, das zur News Corporation gehört, wenn dies keine kostenlose Software zur Verfügung stellte, mit denen Eltern am heimischen PC den Zugang zu MySpace blockieren konnten. Diese Maßnahme würde natürlich dem Geschäft schaden. Also startete News Corporation seine »gesellschaftlich verantwortliche« PR-Kampagne, um Ermittlungen dieser Art abzuwenden.44
Die Zurschaustellung unternehmerischer Tugendhaftigkeit kann die Öffentlichkeit in dem Gefühl wiegen, sie könne sich darauf verlassen, dass ein Unternehmen das tut, was der Gesellschaft nutzt, auch wenn es Kunden und Anleger etwas kostet. Im Jahr 2002 verkürzte British Petroleum seinen Namen auf BP und stellte sich als umweltfreundliches Ölunternehmen dar, dessen Vision »Beyond Petroleum« gehe und das jenseits des Öls auf Wind- und Sonnenenergie setze. In einer PR-Kampagne, die sich das Unternehmen 200 Millionen US-Dollar kosten ließ, ersetzte das Unternehmen das traditionelle Logo mit dem petrolgrünen Schild durch eine Blume oder Sonne in einem natürlich wirkenden Grün, Gelb und Weiß. Vorstandschef Lord John Browne gab Warnungen zur |251|Klimaveränderung heraus und erklärte, das Unternehmen habe die Verantwortung, etwas zu unternehmen.45
Trotz seines neuen Images bleibt BP einer der weltgrößten Hersteller von Rohöl. Zwar verpflichtete sich das Unternehmen darauf, über einen Zeitraum von zehn Jahren insgesamt 8 Milliarden Dollar (oder 800 Millionen pro Jahr) in die Entwicklung alternativer Energien zu stecken, doch diese Summe ist gering im Vergleich zu den 20 Milliarden US-Dollar Gewinn, die BP pro Jahr mit dem Ölgeschäft macht, und den 14 Milliarden US-Dollar, die es jährlich neu ins Ölgeschäft investiert.46 Im Jahr 2006, als der Preis für Rohöl bei 70 US-Dollar pro Fass stand und BP Rekordgewinne erzielte, hätte ein Unternehmen mit einem wirklichen Interesse an alternativen Energien vermutlich mehr in nicht fossile Brennstoffe investiert. Doch den Anlegern von BP war gesellschaftliche Verantwortung kein Anliegen. Sie wollten ihre Erträge maximieren, und die Erträge aus erneuerbaren Energien liegen noch Jahre in der Zukunft, während die Erträge aus dem Ölgeschäft sofort und in Mengen fließen. Im Sommer 2006 verabschiedete der US-Kongress ein Energiegesetz, das auffällig wenig Geld für die Entwicklung erneuerbarer Energien bereitstellte und auffällig viel für die weitere Erschließung von neuen Ölvorkommen. Vermutlich verstärkte die PR-Kampagne von BP den Eindruck der Öffentlichkeit, dass die Privatwirtschaft bereits ihren Teil zur Lösung des Problems beitrug.
Zur gleichen Zeit handelte BP jedoch nicht gerade im Sinne der Öffentlichkeit. Im März 2006 liefen durch die Rostschäden an den BP-Pipelines in der Prudhoe Bay mehr als eine Million Liter Rohöl aus und verursachten die größte Ölpest in der Geschichte dieser extrem sensiblen Region. Kritiker beschuldigten BP, nicht genug in die Sicherheit seiner Anlagen zu investieren. Erst nachdem die US-Regierung eine Untersuchung der Pipelines angeordnet hatte, ließ das Unternehmen diese durch einen Roboter untersuchen, der durch die Röhren fuhr. Dabei wurden so viele weitere Lecks und Rostschäden entdeckt, dass BP sein 25 Kilometer langes Verbindungsstück |252|zur Trans-Alaska-Pipeline sperren musste. Trotz aller Anstrengungen der BP-Lobbyisten in Washington untersuchten Sicherheitsbehörden eine Anlage in Texas City und verhängten eine Geldstrafe von 21,3 Millionen US-Dollar, nachdem dort bei einer Explosion 15 Arbeiter ums Leben gekommen waren. Die Gutachter schrieben den Unfall den Sparmaßnahmen bei Wartung und Sicherheit zu.47 Außerdem wurde BP beschuldigt, seine Position auf dem Markt für Propangas auszunutzen, um die Preise zu manipulieren und auf diese Weise zur Hauptsaison im Winter die Heizkosten für Millionen Kunden in die Höhe zu treiben.48 Die Umweltbehörde belangt BP wegen Verstoß gegen die Luftreinhaltung, das Arbeitsministerium wegen mangelnder Umsetzung der Arbeitsschutzgesetze und die für chemische Industrie zuständige Sicherheitsbehörde wegen unsicherer Anlagen. Vielleicht wären diese Verstöße und Vergehen ohnehin irgendwann ans Licht gekommen, doch der Erfolg der PR-Kampagne, die BP als gesellschaftlich verantwortliches Unternehmen darstellte, könnte dazu beigetragen haben, den Zorn der Öffentlichkeit zu besänftigen und den Ruf nach umfassenden Reformen gar nicht erst laut werden zu lassen.
Die Zurschaustellung unternehmerischer Tugendhaftigkeit kann auch Umstände verdunkeln, die andernfalls den Druck für politische Reformen erhöht hätten. Mitte der 90er Jahre begann beispielsweise plötzlich ein großer Medienhype um die Arbeitsbedingungen in asiatischen Sweatshops. Seinerzeit verhinderten Hersteller von Bekleidungsartikeln und Kaufhausketten eine neue Gesetzgebung, indem sie versprachen, von sich aus für Abhilfe zu sorgen. Sie entwickelten freiwillige Selbstverpflichtungen und begannen mit der Überprüfung von Werken vor allem in China. Doch eine Untersuchung des Magazins BusinessWeek im Jahr 2006 ergab, dass diese Selbstverpflichtungen weitgehend unterlaufen wurden. Viele chinesische Werke führten zwei Bücher, um Kontrolleure hinters Licht zu führen, und schrieben den Mitarbeitern vor, was sie im Falle einer Befragung zu sagen hatten. In Interviews klagten chinesische Fabrikdirektoren, der Preisdruck der |253|US-amerikanischen Unternehmen schaffe große Anreize zum Betrug. Trotzdem verkaufen die US-Unternehmen ihre freiwillige Selbstverpflichtung nach wie vor als Beleg für ihre gesellschaftliche Verantwortung. Laut Business Week spielten diese freiwilligen Standards »eine große Rolle, um in den USA politische Unterstützung für die Ausweitung des Handels mit China zu gewinnen«.49
Diese Umgehung der Politik funktioniert oft, weil das Gedächtnis der Öffentlichkeit genauso kurz ist wie die Aufmerksamkeitsspanne der Medien. Die Öffentlichkeit vergibt, weil sie so schnell vergisst. Mit einer geschickten PR-Kampagne kann ein Unternehmen, das einst wegen seines mangelnden sozialen Gewissens gescholten wurde, plötzlich als Held der gesellschaftlichen Verantwortung dastehen. Unlängst wurde General Electric als Vorreiter auf dem Gebiet des Umweltschutzes gepriesen, da es freiwillig Treibhausgase reduzierte. Die Öffentlichkeit und die Medien schienen längst vergessen zu haben, dass GE den Hudson und seine Zuflüsse mit PCB verseuchte, hartnäckig die Verantwortung für die Beseitigung der Schäden ablehnte und sich bis heute über seine Lobby in Washington gegen die Übernahme der Kosten wehrt.50
Die US-Regierung hat in den letzten Jahren weder die Vorschriften für den Benzinverbrauch von Kraftfahrzeugen verschärft noch die Benzinsteuern angehoben, um auf diese Weise den wahren gesellschaftlichen Kosten des Öls Rechnung zu tragen. Das liegt unter anderem daran, dass jedes Mal, wenn die Öffentlichkeit ein vermehrtes Interesse an kraftstoffsparenden Fahrzeugen äußert, sich die Automobilkonzerne zu Umweltschützern erklären und sparsamere Fahrzeuge versprechen, bis das Interesse der Öffentlichkeit wieder schwindet. Im Jahr 2000 war Ford führender Hersteller von SUVs und Pick-ups in Nordamerika, und diese Fahrzeuge haben bekanntermaßen den größten Durst.51 Doch just in demselben Jahr kam Ford effektiv dem politischen Druck zuvor, indem das Unternehmen versprach, den Kraftstoffverbrauch seiner SUVs um 25 Prozent zu senken. Zwei Jahre später, als Fords Gewinne schwanden und die Kunden nach wie vor die äußerst gewinnträchtigen |254|Spritschlucker nachfragten, widerrief Ford kurzerhand sein Versprechen. Der Automobilkonzern ging sogar so weit, eine intensive Lobbykampagne zu starten, mit der er schließlich eine Senatsinitiative zur Verschärfung der Verbrauchsstandards zu Fall brachte.52 Als im Jahr 2005 die Ölpreise stiegen und das Interesse der Verbraucher an den durstigen SUVs und Trucks zurückging, kündigte Ford mit großem Tamtam sein wiederentdecktes Interesse an der Entwicklung sparsamerer Autos an und versprach, bis zum Jahr 2010 freiwillig zehnmal so viele Hybridfahrzeuge herstellen zu wollen.
Starbucks und Ben & Jerry’s stehen für ihr Bekenntnis zur gesellschaftlichen Verantwortung, doch ihre Selbstbeweihräucherungen gehen weit über das hinaus, was sie tatsächlich leisten. Seit Starbucks-Chef Howard Schultz damit begann, den Kaffeeröster als warmherzigen Bürger zu präsentieren, hat das Unternehmen keine Gelegenheit ausgelassen, mit seinen Leitprinzipien wie beispielsweise »Wir schaffen ein großartiges Arbeitsumfeld« zu werben. Doch auch die Weste von Starbucks ist alles andere weiß. Im Jahr 2005 legte das – wohlgemerkt von Republikanern beherrschte – Labor Relations Board eine Beschwerde gegen Starbucks vor. Darin hieß es, das Unternehmen unterbinde gewerkschaftliche Aktivitäten seiner Mitarbeiter und habe mindestens einen Mitarbeiter deswegen entlassen.53 Hinter der Maske der Warmherzigkeit verbirgt sich ein Unternehmen, das knallhart Kosten reduziert – so wie das im Zeitalter des Superkapitalismus eben sein muss. Doch mit seiner PR-Kampagne lenkt es von der wichtigen politischen Frage ab, inwieweit Arbeitnehmer mehr Freiheiten benötigen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, vor allem in Wirtschaftsbereichen, die vor dem internationalen Wettbewerb geschützt sind.
Der Eiscremehersteller Ben & Jerry’s betont gern seine Anstrengungen zum Schutz des tropischen Regenwaldes. Die Kampagne scheint dem Verkauf zu dienen, denn sie verstärkt das Image eines sympathischen Unternehmens. Worauf Ben & Jerry’s in seiner Werbung nicht eingeht, sind die Gefahren, die durch den Verzehr seiner |255|extra-cremigen Super-Premium-Eiscreme entstehen können. Der Schutz des Regenwaldes ist ein lobenswertes Ziel, genau wie der Schutz der Menschen vor Fettleibigkeit und Diabetes. Natürlich ist Ben & Jerry’s weder moralisch noch rechtlich dazu verpflichtet, ein gesünderes Produkt anzubieten. Als Teil des Superkapitalismus wird das Unternehmen alles tun, um Kunden zu gewinnen und Anleger zufriedenzustellen. Das Problem ist ein anderes. Menschen, die das Marketing über den gesunden Planeten beeindruckt, könnten vielleicht annehmen, das Unternehmen mache sich dieselben Sorgen um ihre Gesundheit. Wie Kraft Foods hält Ben & Jerry’s mit seiner Strategie die Öffentlichkeit davon ab, Gesetze zu verlangen, mit denen die Werbung für stark fett- und zuckerhaltige Lebensmittel eingeschränkt würde.
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In den letzten Jahren stellen Politiker zunehmend Unternehmen öffentlich an den Pranger, die durch Fehlverhalten auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Vorstände des betreffenden Unternehmens werden vor Untersuchungsausschüsse gezerrt, wo sie sich die Gardinenpredigten von Abgeordneten anhören müssen. Doch diese Anhörungen führen nur selten zu neuen Gesetzen, die die Unternehmen zwingen würden, sich in Zukunft anders zu verhalten.
Die Vorstellung, dass derartige öffentlich ausgesprochene Rügen und die kurzzeitig wenig schmeichelhafte Presse einen Einfluss auf unternehmerische Praktiken haben, ist ein weiterer Abweg von der eigentlichen politischen Arbeit. Diese sollte darin bestehen, Spielregeln zu definieren, um einen Ausgleich zwischen den Interessen von Verbrauchern beziehungsweise Anlegern einerseits und den breiteren Interessen der Öffentlichkeit andererseits herzustellen. Aber so erlaubt sie Politikern, sich ihre guten Beziehungen zu den betroffenen Unternehmen und Branchen zu bewahren und weiterhin Wahlkampfspenden zu sammeln, mit den Managern Golf zu spielen und ihre Lobbyisten um verschiedenste Gefälligkeiten |256|zu bitten. Und gleichzeitig demonstrieren sie der Öffentlichkeit, mit welcher Härte sie jedes Fehlverhalten anprangern. Wiederum wird uns vorgegaukelt, dass die Demokratie funktioniert, während es in Wirklichkeit um nichts anderes geht als um Öffentlichkeitsarbeit.
Als die Ölpreise in den Jahren 2005 und 2006 in die Höhe schossen, machten Ölkonzerne gewaltige Profite, während Millionen von Bürgern mehr Geld für Heizöl und Kraftstoff ausgeben mussten. Daraufhin verhängte der Kongress eine Sondersteuer auf die Gewinne der Ölgesellschaften, allerdings ohne dass auch nur die geringste Diskussion stattgefunden hätte. Der Kongress beließ es dabei, die Vorstände der Ölfirmen zu rügen und ihnen öffentlich ins Gewissen zu reden. Als die Ölpreise und -profite von einem Rekord zum anderen eilten, schrieb Senator Chuck Grassley einen offenen Brief, in dem er die Öl- und Gasindustrie aufforderte, 10 Prozent ihrer Quartalsgewinne an gemeinnützige Stiftung zu überweisen. Diese Geste sollte sozial Schwache dabei unterstützen, ihre Heizkosten zu bezahlen. »Es ist in Ihrer Verantwortung, den benachteiligten Menschen zu helfen, mit den hohen Heizkosten fertig zu werden«, schrieb er unter anderem.54
Grassleys Aufruf machte Schlagzeilen, doch der Erfolg blieb offenbar aus. Warum sollten Ölkonzerne auch freiwillig einen Teil ihrer Gewinne abtreten? Der einzige Effekt dieser öffentlichen Rüge war, dass Grassley und seine Kollegen als mitfühlende Politiker dastanden und sich ein Teil der Öffentlichkeit in der Gewissheit wähnte, dass der Kongress etwas gegen die hohen Ölpreise und Gewinne unternahm. Da Grassleys Brief jedoch jede politische Debatte um die Besteuerung der exorbitanten Gewinne beendete, hatte die Öffentlichkeit keine Möglichkeit zu erörtern, ob die zusätzlichen Einnahmen, mit denen eine Heizkostenbeihilfe für einkommensschwache Familien finanziert wurde, das Risiko bargen, dass Ölkonzerne weniger für die Erschließung neuer Ölvorkommen ausgeben könnten – was in der Zukunft nur zu noch höheren Ölpreisen führen würde.
|257|Als infolge der Schlampereien bei BP in Alaska die Ölförderung im größten Ölfeld der USA im August 2006 kurzzeitig ausgesetzt werden musste, verlangte der Kongress, die BP-Manager sollten vorgeladen und persönlich haftbar gemacht werden. Bei der nachfolgenden Anhörung beschuldigten Abgeordnete beider Parteien die Manager, ihre Pflichten in grober Weise vernachlässigt zu haben. Der Republikaner Joe Barton geißelte sie mit den Worten: »Wenn einer der erfolgreichsten Ölkonzerne der Welt nicht in der Lage ist, die einfachen Wartungsaufgaben wahrzunehmen, die nötig sind, um das Ölfeld in der Prudhoe Bay sicher und ohne Unterbrechungen zu betreiben, dann sollte er diese Pipeline möglicherweise nicht betreiben dürfen. Noch besorgter bin ich ob der Unternehmenskultur von BP, der Sicherheit und Umwelt scheinbar völlig gleichgültig sind. Und das in einem Unternehmen, das sich in seiner Werbung damit brüstet, die Umwelt zu schützen. Schande, Schande, Schande!«55 Dann wurden die BP-Manager von den Ausschussmitgliedern gegrillt und mussten erklären, warum das Unternehmen sage und schreibe 14 Jahre lang keine der Inspektions und Wartungsarbeiten an seiner Pipeline vorgenommen hatte, wie sie an der Trans-Alaska-Pipeline alle zwei Wochen durchgeführt wurden. Die Manager gelobten zerknirscht, in Zukunft sorgfältiger zu sein.
Doch weder die Ausschussmitglieder noch die Manager sprachen die zentrale Tatsache an: Im Falle der Trans-Alaska-Pipeline ist die regelmäßige Inspektion gesetzlich vorgeschrieben, bei deren Zufuhrpipelines dagegen nicht. Wenn es dem Ausschuss tatsächlich ernst damit gewesen wäre, BP zu einer Verhaltensänderung zu zwingen, dann hätte es einen Gesetzvorschlag in den Kongress eingebracht, um diese Lücke zu schließen. BP hatte seine interne Inspektion, die zum Förderstopp führte, erst durchgeführt, nachdem die Regierung das Unternehmen dazu gezwungen hatte. Warum sollte es in Zukunft gründlichere Inspektionen durchführen? Doch der Ausschuss brachte keinen Gesetzesentwurf ein, denn die Anhörung war bloßes Theater. Barton und seine Kollegen hatten zahlreiche |258|Gesetze eingebracht, die der Ölindustrie nutzten, und sie hatten nicht vor, ihr nun irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen. Die öffentliche Abmahnung der BP-Manager, sich in Zukunft sozial verantwortlicher zu verhalten, trug nichts zum Nutzen der Allgemeinheit bei.
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Manager haben nicht den Auftrag, Unternehmensinteressen gegen das Gemeinwohl abzuwägen. Sie verfügen auch gar nicht über die Erfahrung, die nötig ist, um derartige ethische Fragen zu beantworten. Deshalb leben wir in einer Demokratie, in der die Regierung den öffentlichen Auftrag wahrnimmt, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen zu schaffen.
Nehmen wir die Entscheidung von Yahoo aus dem Jahr 2005, der chinesischen Regierung die Namen der chinesischen Dissidenten auszuhändigen, die E-Mail-Adressen von Yahoo verwendeten – in der irrigen Annahme, diese Adressen würden ihre Anonymität wahren. Ein Journalist wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er ausländischen Kollegen eine Mitteilung der Behörden an seine Zeitung weitergab. In dieser Mitteilung wurden sie dazu aufgefordert, den fünfzehnten Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht hochzuspielen. Zwei weitere Dissidenten, die mithilfe von Yahoo aufgespürt wurden, erhielten Haftstrafen von acht beziehungsweise vier Jahren. Es ist nicht bekannt, ob noch weitere Dissidenten »dank« Yahoos Mithilfe in chinesischen Gefängnissen einsitzen.
Yahoos Entscheidung löste in den USA kurzzeitig einen Sturm der Entrüstung aus. Die Manager erklärten, das Unternehmen habe keine andere Wahl gehabt, als mit den chinesischen Behörden zu kooperieren, wenn es Zugang zu Chinas riesigem und rasch wachsenden Markt erhalten wollte. Sie behaupteten weiter, ihre Anwesenheit in China sei erforderlich, um das Land weiter zur Demokratie hin zu öffnen. Der Vorstandsvorsitzende von Yahoo erklärte auf einer Pressekonferenz: »Ich bin der Ansicht, dass wir |259|besser bedient sind, wenn wir uns an die Regeln der Regierung halten und in China aktiv werden können. Unsere Aufgabe besteht unter anderem darin, so viel möglich in diese Länder zu bringen, um es diesen Menschen allmählich zu ermöglichen, die Lebensweise und Kultur des Westens kennen zu lernen und von ihr zu lernen.«56 Yahoos Aufgabe? Niemand hatte das Unternehmen zum Überbringer der westlichen Kultur auserkoren oder es zum Richter über deren geeignete Präsentation in China erhoben. Kein globales Unternehmen hat diese Aufgabe. Im Gegenteil, die meisten globalen Konzerne tun alles nur Erdenkliche, um den Anschein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Nationalität oder Ideologie zu vermeiden, es sei denn, diese Zugehörigkeit hilft, das Produkt zu verkaufen.
Den schwerwiegendsten Vorwurf gegen Yahoo formulierte Liu Xiaobo, ein chinesischer Dissident aus Peking, der selbst längere Zeit inhaftiert gewesen war. In einem offenen Brief an Yahoo-Gründer Jerry Yang schrieb er: »Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich für Sie und Ihr Unternehmen dieselbe Empörung und Verachtung empfinde wie für das kommunistische Regime. Profite stumpfen das moralische Bewusstsein ab. Haben Sie nie daran gedacht, welche Schande es für Sie ist, als Verräter Ihrer Kunden dazustehen?« Die Argumente von Yahoo machten nicht den geringsten Eindruck auf Liu: »Was Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen, zeigt, dass Ihr materieller Erfolg nicht ausreicht, um Ihre Armut an persönlicher Integrität zu verbergen.« Liu beendete seinen Brief mit einer bitteren Anklage: »Ihr gefeierter Sozialstatus ist ein fadenscheiniger Deckmantel für ihre armselige Moral, und die Größe Ihres Geldbeutels ist ein Zeichen dafür, wie klein Sie als Mann sind.«57
Auf beiden Seiten dieser mit moralischen Argumenten geführten Debatte kommt ein fundamentales Missverständnis über die Rolle eines modernen Unternehmens in einer demokratischen Gesellschaft zum Ausdruck. Yahoo ist kein moralisches Wesen, niemand hat dem Unternehmen den Auftrag gegeben, zwischen der Inhaftierung von Dissidenten und der Verbreitung der US-amerikanischen |260|Kultur und Demokratie in China abzuwägen. Im Zeitalter des Superkapitalismus haben die Manager von Yahoo nur ein einzige Aufgabe: Sie sollen Profite für ihre Aktionäre erwirtschaften und nebenbei ihre Kunden zufriedenstellen. In diesem Fall war der Schlüsselkunde die chinesische Regierung, denn sie öffnet den Zugang zu allen anderen Kunden auf den chinesischen Markt. Solange Yahoo nicht durch US-Gesetze daran gehindert wird, tut es auch weiterhin alles, was die chinesische Regierung verlangt, da der Konkurrenzkampf zu hart und die Gewinne zu groß sind, als dass es sich etwas anderes erlauben könnte. Nach den Vereinigten Staaten ist China weltweit der zweitgrößte Internetmarkt. Im Jahr 2006 nutzten mehr als 100 Millionen Chinesen das Internet, und wenn die Zahl der Nutzer weiter so rasch wächst, ist China in ein paar Jahren die weltgrößte Internetnation.
Auch Google fand sich auf dem heißen Stuhl, als es in China eine zensierte Version seiner Suchmaschine auf den Markt brachte, in der Reizwörter wie »Menschenrechte« und »Demokratie« fehlten. »Ich halte es für arrogant, in ein Land zu marschieren, wo wir gerade erst den Betrieb aufnehmen, und diesem Land vorzuschreiben, wie es zu funktionieren hat«, erklärte Google-Chef Eric Schmidt vor der internationalen Presse.58 Doch Googles Entscheidung, mit der chinesischen Regierung zusammenzuarbeiten, hat weder mit Arroganz noch mit Bescheidenheit zu tun. Wie bei Yahoo wurde sie notwendigerweise allein nach Profitgesichtspunkten getroffen. Einige Tage vor der Ankündigung der Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden hatte sich Google noch in heroischer Arroganz der US-Regierung widersetzt, die von Google Auskunft über Internetsuchen nach Kinderpornografie und einer Million weiterer willkürlich gewählter Suchanfragen anforderte. Die US-Regierung suchte nach Argumenten für eine Neuauflage der Gesetze zum Kinder- und Jugendschutz im Internet, die vom Verfassungsgericht mit Verweis auf das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung widerrufen worden waren. Google verweigerte die Zusammenarbeit.59
|261|Warum arbeitete Google mit den chinesischen Behörden zusammen, nicht aber mit den US-amerikanischen? Wenn es sich wirklich um eine moralische Entscheidung gehandelt hätte, dann hätte das Unternehmen die Forderungen des totalitären Regimes zurückgewiesen und wäre denen der demokratischen Regierung nachgekommen. Doch es handelte sich nicht um eine moralische Entscheidung. Der Zugang zum riesigen chinesischen Markt war nur in Zusammenarbeit mit den Behörden möglich und wie zuvor Yahoo kam Google zu dem Schluss, dass es sich daher in alle Punkten fügen musste. Google wollte kein Verbot riskieren, während Microsoft alle Rechte hatte, seine Suchmaschine in China anzubieten. Der Zugang zu den US-amerikanischen Nutzern hing dagegen nicht von einer Kooperation mit der Regierung ab. Google kann seine Suchmaschine anbieten, ohne auf die Wünsche der Regierung eingehen zu müssen und war sogar bereit, diese Auffassung vor Gericht zu vertreten. Im Gegenteil, Googles Weigerung, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, ist ein unternehmerisch äußerst sinnvoller Schachzug. Auf diese Weise inszenierte sich das Unternehmen als Hüter der Privatsphäre seiner US-amerikanischen Kunden, die erbost gewesen wären, wenn Google Informationen über sie preisgegeben hätte. Der Unterschied ist einfach, dass die USA eine Demokratie sind und China nicht. Für die Google-Manager war es keine moralische Frage, welcher Regierung sie die Zusammenarbeit verweigern sollten. Sie haben nie den Auftrag erhalten, diese Art von Entscheidungen zu treffen. Ihre Aufgabe besteht allein darin, ihren Aktionären Gewinne zu erwirtschaften.
Entscheidungen über die gesellschaftliche Verantwortung von Yahoo oder Google werden am besten dem Prozess der demokratischen Willensbildung in den Vereinigten Staaten überlassen, wo diese Unternehmen ihren Sitz und die Bürger ein vermeintliches Interesse an der Einhaltung der Menschenrechte in aller Welt haben. Das geeignete Forum, um über die Pflichten dieser Unternehmen zu befinden, ist daher der Kongress, vor den die Manager beider Unternehmen zitiert wurden. Es gibt eine Frage, die das Parlament |262|hätte beantworten sollen. Sollten High-Tech-Unternehmen aus den USA daran gehindert werden, diktatorischen Regierungen bei der Unterdrückung der Menschenrechte behilflich zu sein, auch wenn dies einen Einnahmeverlust bedeutet? Diese Frage wurde jedoch nicht gestellt.
Der Menschenrechtsausschuss hielt seine Anhörung im Februar 2006 ab. Neben den Managern von Yahoo und Google lud er auch die Führung von Microsoft und Cisco vor. Microsoft hatte Blogs entfernt, die der chinesischen Regierung ein Dorn im Auge waren. Cisco hatte Geräte an die chinesische Polizei geliefert und ein drahtloses Internetsystem zur Identifikation einzelner Nutzer, ein Videoüberwachungssystem und ein automatisches Telefonabhörsystem; außerdem hatte das Unternehmen ein System zur Überwachung der E-Mails chinesischer Bürger aufgebaut.
Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Christopher Smith von den Republikanern brachte der New York Times gegenüber seine Entrüstung zum Ausdruck: »Es geht um Gefälligkeiten gegenüber einer Diktatur. Es ist ein Skandal, Beihilfe zur Verhaftung von Dissidenten zu leisten.«60 Während der Anhörung beschuldigte Smith Yahoo der »ekelerregenden Komplizenschaft«. Er machte sich über die Erklärung lustig, mit der das Unternehmen die Preisgabe der Namen von Dissidenten gerechtfertigt hatte, und polemisierte, wenn Anne Frank ihre Tagebücher per E-Mail verschickt hätte, dann hätte Yahoo vermutlich auch der Gestapo bei der Suche nach dem Mädchen geholfen, um Nazideutschland für die US-amerikanische Kultur zu öffnen. Der Demokrat Tom Lantos, einziger Holocaust-Überlebender im Kongress, fragte die versammelten Manager: »Schämen Sie sich? Ja oder nein?« Er nannte ihr Verhalten eine Schande und fragte, wie sie nachts schlafen konnten. Der Republikaner James Leach beschuldigte Google schließlich, »ein Funktionär der chinesischen Regierung« zu sein und fügte hinzu: »Wenn wir lernen wollen, wie man Zensur betreibt, dann kommen wir zu Ihnen.«61
Nach der Anhörung brachte Smith den Entwurf für ein Gesetz |263|ein, das es US-Unternehmen unter anderem verbieten sollte, mit ausländischen Zensurbehörden zusammenzuarbeiten. Niemand erwartete, dass dieses Gesetz je verabschiedet werden würde, und niemand setzte sich dafür ein. Kurz darauf kündigte das Außenministerium an, es wolle eine Task-Force zur Untersuchung der Rolle US-amerikanischer Internetunternehmen bei der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in China einrichten. »Task-Force« ist in Washington ein anderer Ausdruck dafür, dass die Regierung vorgibt, etwas zu unternehmen, während sie das Thema tatsächlich in die runde Ablage befördert.
Wenn sich die US-Regierung wirklich für die Einhaltung der Menschenrechte in China einsetzen wollte, könnte sie morgen ein Gesetz verabschieden, das es US-Unternehmen verbietet, die chinesische Regierung bei der Einschränkungen der freien Meinungsäußerung zu unterstützen – so wie sie früher den Handel mit Südafrika per Gesetz verbot, bis heute jeden Handel mit Ländern wie Kuba oder Myanmar unterbindet und die Banken zwingt, keine Geschäfte mit Nordkorea zu machen.62 Darauf sollten Sie aber nicht wetten. Trotz der moralischen Entrüstung und trotz des Geredes der Bush-Regierung über die Verbreitung der Demokratie in aller Welt stehen Menschenrechte nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste des Weißen Hauses oder des Kongresses. US-Unternehmen haben großes Interesse an einem ungehinderten Zugang zum riesigen chinesischen Markt. Als in der Anhörung vor dem Menschenrechtsausschuss nach Tom Lantos der Demokrat Robert Wexler an die Reihe kam, fragte er, ob sich nicht vielmehr der Kongress schämen solle, weil er China den Status eines bevorzugten Handelspartners eingeräumt habe. In einem der wenigen Momente der Offenheit in dieser Anhörung erwiderte Dana Rohrabacher von den Republikanern, der Kongress habe keinerlei Schuld daran, dass China diesen Sonderstatus erhalten habe. Die Schuld sei vielmehr bei denen zu suchen, die den Kongress dazu gedrängt hätten: »Wer hat denn über die Lobby Druck gemacht? Kommen Sie schon. Es waren die Unternehmen.«63
|264|Die Lobbyisten von Yahoo, Google, Microsoft und Cisco wussten nur zu gut Bescheid über die öffentliche Besorgnis um die Rolle dieser Unternehmen in China. Vermutlich wussten sie aber auch, wie gern sich die Öffentlichkeit in der Gewissheit wiegen wollte, dass der Kongress »etwas unternahm«. Vermutlich hatten sie zusammen mit dem Kongress dieses Theater der öffentlichen Abmahnung vorbereitet. Zumindest aber wussten sie, dass der Kongress keine Taten folgen lassen würde.
Inzwischen blieben die Kunden und Aktionäre dieser Unternehmen wie erwartet weitgehend unbesorgt. Es wurde ein Nutzerboykott angekündigt, doch der verlief im Sande. Die Organisation Reporter ohne Grenzen brachte zwei Dutzend »sozial verantwortlicher« Fondsgesellschaften mit einem Gesamtvolumen von 21 Milliarden US-Dollar dazu, eine Resolution zu unterzeichnen. Darin wurden Internetfirmen aufgerufen, sicherzustellen, dass ihre Produkte nicht zur Verletzung von Menschenrechten verwendet wurden. Außerdem verpflichteten sich die Vertreter der Fonds, auf Aktionärsversammlungen Anträge zur Unterstützung der freien Meinungsäußerung einzubringen. Doch auch diese Resolution hatte keine weiteren Auswirkungen. Ein Analyst von UBS warnte seine Kunden, »die negative PR wird Googles Marke schaden«64 , doch er lag mit seiner Meinung weit daneben. Der jährlichen Aktionärsversammlung von Cisco lag ein Antrag zur Abstimmung vor, der das Unternehmen aufforderte, eine Menschenrechtspolitik zu entwickeln und umzusetzen, doch diese Initiative fand keine Mehrheit. Hatte wirklich jemand ernsthaft erwartet, dass Anleger aufgrund dieser Verwicklungen ihre Aktien von Cisco, Microsoft und Google abstoßen würden? Im Gegenteil, der Zugang zum riesigen chinesischen Markt eröffnete die Aussicht auf steigende Profite und Aktienkurse. Und hatte wirklich allen Ernstes irgendjemand erwartet, dass die Nutzer den Produkten dieser Unternehmen den Rücken kehren würden? Wohl kaum.
Keines dieser Unternehmen verstieß gegen geltendes US-Recht, als sie den chinesischen Behörden halfen, die Menschenrechte zu |265|unterdrücken. Sie alle hielten sich lediglich an die Spielregeln. Im Zeitalter des Superkapitalismus können und sollten wir auch nichts anderes von Unternehmen erwarten. Dem Thema ein moralisches Gewand zu geben und die Schamlosigkeit dieser Unternehmen und ihrer Manager zu geißeln, lenkt nur von der sehr viel schwierigeren und zugleich sehr viel wichtigeren Frage ab, ob diese Spielregeln geändert werden sollten.
Als Joe Biden, einer der möglichen demokratischen Präsidentschaftskandidaten bei den Wahlen im Herbst 2008, Wal-Mart angriff und beschuldigte, das Unternehmen verhalte sich seinen Mitarbeitern gegenüber verantwortungslos, wurde er für sein Engagement für die Belange der Arbeitnehmer gelobt – ohne dass er Gesetze einbringen oder unterstützen musste, mit denen Wal-Mart und seine Konkurrenten zu einer tatsächlichen Änderung ihrer Praktiken gezwungen würden. Und als John Kerry, der demokratische Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen des Jahres 2004, Manager als Verräter bezeichnete, weil sie Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, hieß es auch von ihm, er stelle sein Mitgefühl für die Millionen von Menschen unter Beweis, die ihre Arbeitsplätze verloren hatten und deren Löhne seit Jahren stagnierten. Doch seine moralische Entrüstung sollte nur die ernüchternde Tatsache vertuschen, dass Kerry damals wie heute keinen Plan vorlegen konnte, wie man dieser Praxis ein Ende bereiten könnte.
7
Die Politik gerät auch dann auf Abwege, wenn Politiker Unternehmen auffordern, sich freiwillig im Interesse der Öffentlichkeit zu engagieren, so wie dies Senator Grassley von den Ölkonzernen verlangte. In der Anfangszeit der Bush-Regierung gab das Weiße Haus den Startschuss zu einer Initiative mit dem Namen »Klimaführer«. Mit großem Tamtam rief der Präsident die größten Luftverschmutzer des Landes dazu auf, die Produktion von Treibhausgasen innerhalb des nächsten Jahrzehnts um mindestens 10 Prozent |266|zu reduzieren. Das Ereignis erweckte den Eindruck, die Regierung ergreife Maßnahmen zur Bekämpfung der Erderwärmung, doch das war nicht der Fall. Bis zum Januar 2004 hatten sich von den Tausenden von Unternehmen mit großem Kohlendioxidausstoß nur etwa fünfzig bereit erklärt, die Rolle von Klimaführern zu übernehmen, und nur ganze vierzehn hatten klare Ziele formuliert. Obwohl die Energieerzeuger zu den größten Luftverschmutzern zählen, gehörten nur sechs der großen Stromproduzenten zu den Klimaführern. Kurz darauf wurde die Initiative heimlich, still und leise begraben. Ein Bericht des Weltwirtschaftsforums in Davos aus dem Jahr 2004 begrüßt zwar die Bemühungen einzelner multinationaler Konzerne um eine freiwillige Reduzierung der Treibhausgase, kommt aber zu dem Schluss, dass freiwillige Maßnahmen ungeeignet sind, um dem Klimawandel wirkungsvoll zu begegnen.65
Natürlich sind sie ungeeignet. Der Superkapitalismus lässt keinen Raum für tugendhafte Taten von Unternehmen, wenn diese der Bilanz schaden. Kein Unternehmen ist in der Lage, »freiwillig« zusätzliche Kosten auf sich zu nehmen, wenn die Konkurrenz sich diese spart. Deshalb gibt es im Zeitalter des Superkapitalismus keine andere Möglichkeit, als Unternehmen per Verordnung dazu zu zwingen, Dinge zu tun, die der Bilanz schaden. Nach einer Untersuchung der sogenannten freiwilligen Umweltschutzmaßnahmen von Unternehmen in den USA und Europa kam David Vogel zu dem Schluss, dass sich wenige Unternehmen daran halten, wenn sie nicht per Gesetz dazu gezwungen werden.66 Es ist irreführend, so zu tun, als gäbe es so etwas wie einen ungenutzten Vorrat unternehmerischer Güte, den man nur anzuzapfen braucht, und es führt von der wichtigen Aufgabe weg, entsprechende Vorschriften zu erarbeiten. Die »freiwilligen« Unternehmensinitiativen lenken die Öffentlichkeit nur von der notwendigen Durchsetzung harter Gesetze und Vorschriften ab.
Mit der Spendenaktivität von Unternehmen verhält es sich kaum anders. Unternehmen spenden, wenn (und nur wenn) es einen PR-Wert |267|hat und auf diese Weise der Bilanz zugute kommt. Aktionäre vertrauen den Konzernen ihr Geld nicht an, damit diese es verschenken, es sei denn, die Erträge werden dadurch größer. Nach der Tsunami-Katastrophe des Jahres 2005 rief Präsident Bush die Unternehmen der USA auf, die Opfer mit Spenden zu unterstützen. Nachdem einige Konzerne Millionen von Dollar gespendet hatte, lobte Bush die Vorstandsvorsitzenden für ihre Großzügigkeit: »Einer der weniger bekannten Aspekte der US-Wirtschaftsgemeinde ist, dass sie so viel Gutes tut und den Standorten, an denen sie tätig ist, so viel zurückgibt. … Der Tsunami hat dem privatwirtschaftlichen Sektor hier in Amerika einen echten Moment der Wasserscheide [sic!] beschert. Ich glaube, er hat eine neue Ära der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen eingeläutet.«67 Er erhielt großen Applaus für diese Worte, doch sie waren völlig sinnlos. Die versammelten Vorstandsvorsitzenden waren keineswegs großzügig gewesen, denn schließlich hatten sie ja nicht ihr eigenes Geld gespendet, sondern das der Aktionäre. Und vermutlich hatten sie dieses Geld auch nur gespendet, weil sie überzeugt waren, dass die Bilanz und damit die Aktionäre von der PR profitieren würden. Andernfalls hätten die Vorstandsvorsitzenden ihre treuhänderischen Pflichen verletzt und würden riskieren, dass ihre Anleger zu anderen Unternehmen wechseln, die ihr Geld nicht verschenken. Aktionäre investieren nicht in ein Unternehmen, weil sie erwarten, dass dieses ihr Geld für wohltätige Zwecke verwendet. Sie investieren, um hohe Erträge zu erzielen. Aktionäre, die ihr Geld spenden wollen, geben es vermutlich einer Stiftung ihrer eigenen Wahl, und in einer Höhe, die ihnen angemessen erscheint.
Die eigentliche Gefahr besteht jedoch darin, dass diese publikumswirksamen Akte der Großzügigkeit in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck erwecken, man könne sich im Notfall auf die Wohltätigkeit der Unternehmen verlassen. Bei einem Erdbeben in Pakistan kamen im Oktober 2005 mehr als 87 000 Menschen ums Leben, die Zahl der Obdachlosen war dreimal so hoch wie nach dem Tsunami. Die Bush-Regierung bot zunächst eine Hilfe in Höhe |268|von 500 000 US-Dollar an – so wenig, dass sich viele Menschen in Pakistan darüber lustig machten.68 Also versprach Bush mehr und bat fünf prominente Vorstandsvorsitzende, unter US-Unternehmen Spenden zu sammeln. General Electric gab medizinische Geräte, Arzneimittel und Bargeld in Höhe von 5 Millionen US-Dollar, Pfizer spendete eine Million in bar und 5 Millionen in Arzneimitteln, Xerox gab eine Million in bar und Citigroup 3 Millionen. Insgesamt brachten die Vorstandsvorsitzenden 100 Millionen US-Dollar auf und veranlassten den Präsidenten zu einer neuerlichen überschwänglichen Dankeshymne: »Wäre die internationale Gemeinschaft nicht eingeschritten, dann hätte sich die Tür für weitere radikalislamistische Einflüsse öffnen können.«69
Doch die »internationale Gemeinschaft« tat bei weitem nicht das, was nötig gewesen wäre. Pakistan brauchte Milliarden von US-Dollar, und zwar schnell. Während die vom Tsunami betroffenen Regionen innerhalb von zwei Wochen Hilfeleistungen im Wert von insgesamt 3 Milliarden US-Dollar erhalten hatten, erreichten Pakistan in den ersten sechs Wochen Hilfslieferungen im Wert von nur 17 Millionen US-Dollar. Nach Angaben der Vereinten Nationen beliefen sich die Spenden auf nur ein Viertel dessen, was nötig war, um den unmittelbaren Folgen der Zerstörung zu begegnen. Die fehlende Summe wurde in der Tat zum Teil von radikalislamistischen Gruppierungen aufgebracht. Der pakistanische Innenminister gab zu Protokoll, die Fundamentalisten seien »der Anker unserer Rettungs- und Aufräumarbeiten« gewesen.70
Nach dem Hurrikan Katrina im August 2005 rief Präsident Bush die Unternehmen ebenfalls auf, Spenden zu sammeln. Steve Odland, Vorstandsvorsitzender von Office Depot, bot Material, Wasser, Batterien und Schulsachen im Wert von 17 Millionen US-Dollar an. Wal-Mart spendete Millionen. »Wir sind derart mit dieser Region verwoben, dass wir die Verantwortung haben, zu handeln«, erklärte Wal-Mart-Chef Lee Scott. Doch mit Verantwortung hatte das nichts zu tun. Wie wir gesehen haben, spielte die Hurrikan-Hilfe eine große Rolle bei den Aktionen gegen negative |269|Pressedarstellungen des Unternehmens im Zuge der Anti-Wal-Mart-Kampagne.71
Unternehmen sind keine gemeinnützigen Stiftungen. Die Betreiber der weltgrößten privaten Stiftung, Bill und Melinda Gates, spenden nicht etwa aus den Gewinnen von Microsoft, sondern aus ihrem Privatvermögen. Der einzige legitime Grund, warum ein Unternehmen großzügig mit dem Geld seiner Aktionäre umgehen sollte, ist die Stärkung des Firmenimages, und auch das hat klare Grenzen. Das sprach Lee Scott von Wal-Mart nach Katrina sehr offen aus: »Wir können nicht drei Lastwagenladungen an jede Gruppe schicken, die uns darum bittet«, erklärte er, als er die Anfrage nach 2 000 Bettlaken ablehnte. »Wir brauchen am Ende noch ein existenzfähiges Unternehmen.«72 Die Mildtätigkeiten der Unternehmen sind unendlich bescheiden im Vergleich zu dem, was der öffentliche Sektor ausgibt.
Rituelle Danksagungen an Unternehmen gehören inzwischen zum Alltag des öffentlichen Lebens in den USA, obwohl nach wie vor unklar ist, wer genau Dank verdient hat. »Ajay, komm bitte rauf zu mir!«, rief Bill Clinton dem Citigroup-Präsidenten Ajay Banga bei einem seiner jährlichen Danksagungsmarathons zu. Vor den mit Vorstandsvorsitzenden und Millionären gefüllten Rängen lobte Clinton Banga, weil dieser 5,5 Millionen US-Dollar für die Schulbildung von Kindern aus einkommensschwachen Familien bereitgestellt hatte.73 Aber was genau lobte Clinton eigentlich? Schließlich kamen die 5,5 Millionen nicht aus Bangas Tasche, sondern vermutlich aus den Gewinnen von Citigroup. Wenn die Aktionäre von der positiven PR indirekt profitiert hatten, schuldete ihnen niemand Dank, denn sie hatten keine Opfer gebracht. Und wenn das Unternehmen nicht von der PR profitiert hatte, dann hatten Banga und die anderen Citigroup-Manager keinen Dank verdient, sondern Kritik, denn es war nicht ihre Aufgabe, das Geld ihrer Aktionäre herzuschenken. Nach den Wirbelstürmen Katrina und Rita und dem Tsunami veröffentlichte das Rote Kreuz doppelseitige Anzeigen in der New York Times und dankte den mehr als |270|225 »Spendern«, die jeweils eine Million US-Dollar oder mehr gegeben hatten. Auf der Liste waren einige Familien und Stiftungen zu finden, bei den meisten Spendern handelte es sich jedoch um Aktiengesellschaften. In einigen dieser Unternehmen waren es die Mitarbeiter oder Kunden gewesen, die gespendet hatten, in den meisten Fällen jedoch die Unternehmen selbst. »Danke für Ihre Unterstützung während der 125 Jahre, in denen wir Amerika dienen«, lautete die Überschrift.74 Auch hier war unklar, wem das Rote Kreuz eigentlich dankte.
Unternehmen tun in gewissem Umfang Gutes, doch die Dankesrituale erzeugen in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck, dass sie aus Selbstlosigkeit handeln, oder dass sie etwas wie ein »Selbst« haben, dem der Dank gebührt. Doch es gibt keine unternehmerische Selbstlosigkeit, und es gibt auch kein Selbst hinter dem Unternehmen. Im Zeitalter des Superkapitalismus existieren Unternehmen nur zu einem Zweck: ihren Kunden zu dienen und damit Profite für Ihre Anleger zu erwirtschaften. Auf diese Weise dienen sie der Öffentlichkeit.
8
Demokratie und Kapitalismus stehen auf dem Kopf. Der Kapitalismus hat die Demokratie erobert. Gesetze werden im Namen des Allgemeinwohls verabschiedet, doch dahinter stehen die Sonderinteressen der Unternehmen und deren Lobbyisten, die sich für sie eingesetzt, und der Gesetzgeber, die für sie gestimmt haben. Verordnungen, Subventionen, Steuern und Steuerbefreiungen werden mit Verweis auf das Allgemeinwohl gerechtfertigt, doch oft sind sie das Ergebnis heftiger Lobbyarbeit von Unternehmen und Branchen, die sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen wollen. Die breitere Öffentlichkeit ist nicht beteiligt. Die Stimmen der Bürger werden übertönt. Der Verweis auf das allgemeine Interesse verbirgt, was wirklich vorgeht und welche Unternehmen und Branchen gewinnen oder verlieren.
|271|Gleichzeitig wurde der Kapitalismus von einer Art Scheindemokratie erobert. Politiker und Bürgerinitiativen loben Unternehmen, wenn diese »sozial verantwortlich« handeln oder prangern sie an, wenn sie dies nicht tun. Doch Lob und Anklage leiten sich nicht aus Gesetzen oder Spielregeln ab, die definieren würden, was »sozial verantwortliches Handeln« bedeutet. Die Rede vom Unternehmen als einem moralischen Wesen mit gesellschaftlicher Verantwortung verschleiert die Tatsache, dass die Öffentlichkeit die Aufgabe hat, diese Gesetze und Spielregeln überhaupt erst einmal festzulegen. Zudem stellt sie Unternehmen moralisch auf eine Höhe mit den Bürgern, die Rechte besitzen, unter anderem auch das Recht, in einer Demokratie gehört zu werden. Lob und Anklage sind rasch vergessen und haben kaum einen Einfluss auf das Verhalten von Anlegern und Verbrauchern. Gleichzeitig wird der eigentliche Prozess der demokratischen Willensbildung den Unternehmen und Branchen überlassen, die sich gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil verschaffen wollen.
Um Demokratie und Kapitalismus wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, müssen wir also zunächst einmal verstehen, was echt ist und was nur Schein.