BERTE BRATT
Eine Schulgeschichte aus Norwegen
Wieviel besser haben es die anderen Mädchen, denkt Pony. Sie haben schöne Kleider, können reisen, Tennis spielen, autofahren. Aber sind sie deshalb glücklicher? Pony beginnt zu überlegen. Und ganz allmählich kommt ihr eine wunderbare Einsicht. Hat nicht sie etwas, was den anderen fehlt?
Ein frohes Zuhause, Freundschaften und damit einen Reichtum, der mehr ist als alle Güter dieser Erde? So lernt sie verstehen, wo die echten Werte des Lebens liegen. Und wird selber ein Mensch, der Harmonie und Wärme ausstrahlt.
Innere und äußere Werte richtig einzuschätzen - kann man das lernen? Pony ist ein anmutiges Beispiel dafür.
Berechtigte Übertragung aus dem Norwegischen von J. Madien Krog
ILLUSTRATIONEN: ANTON M. KOLNBERGER.
Alle Rechte dieser deutschsprachigen Ausgabe
vorbehalten für Franz Schneider Verlag, München 13, Frankfurter Ring 150 Schrift: Garamond. Druck: J. G. Weiß, München. 3281-11
Es waren ihre Haare, die ihr den Namen gegeben hatten.
Trotz aller Mühe gelang es Mutti nicht, den Schopf in Ordnung zu halten. Jeden Morgen flocht sie zwei feste, braune Zöpfe, band zierliche Schleifchen daran, und schickte Pony - oder Rita, wie sie damals hieß - zum Spielen. Wenn Pony nach zwei Stunden wiederkam, war die eine Schleife verlorengegangen, der Zopf hatte sich aufgelöst, und die struppigen Haare hingen ihr in die Stirn und über die Ohren.
War Pony eingeladen, bürstete und kämmte Mutti die Haare, bis sie Pony wie ein glänzender Umhang über den Rücken fielen. Eine Seidenschleife hielt sie aus dem Gesicht. Aber nach einer halben Stunde war die Schleife verrutscht, die Frisur war ein Wirrwarr, und Pony sah wüst aus.
Eines Tages hatte dann Mutti in ihrer Verzweiflung den ganzen Haarschopf auf dem Hinterkopf mit einem soliden Baumwollband zusammengebunden. Ein Schleifchen verbarg das Baumwollband -und siehe, das hielt! „Jetzt bist du Muttis kleines Pony“, sagte sie lächelnd, und die sechsjährige Rita fand das großartig. Sie lief zu Vati und rief: „Schau, Vati! Jetzt bin ich ein Pony!“ Der Name blieb ihr, und der Pferdeschwanz auch. Zum Glück wurde damals gerade die Pferdeschwanzfrisur modern. Und als Pony alt genug war, sich selbst die Haare zu machen, fand sie die Frisur herrlich einfach und bequem. Denn morgens hatte Pony es immer eilig. Den Pferdeschwanz zusammenzubinden war eine Sache von Sekunden -und schon rannte Pony in die Schule, mit offenem Mantel, schlenkernder Schultasche, den braunen Pferdeschwanz waagerecht in der Luft.
Pony hatte immer in Bukkeberg gewohnt, weit außerhalb der Stadt, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Vor vielen Jahren hatten ihre Eltern zufällig Bukkeberg „entdeckt“. Dem Vater war das Atmen in der gesunden frischen Luft so leicht gefallen wie schon lange nicht. Er hatte seinen Arzt gesprochen und dieser meinte: ja, die Luft in Bukkeberg sei bestimmt für Herrn Jessens Asthma das Richtige.
Die Grundstücke waren damals billig in Bukkeberg. Ponys Eltern bauten sich ein bescheidenes Häuschen und zogen aus der Stadtwohnung, in der Herr Jessen so viele qualvolle Tage und Nächte mit Husten und Atemnot hatte erdulden müssen.
Jetzt wurde es besser in der reinen Waldluft unter Tannen und Kiefern in Bukkeberg.
Und dort wurde Pony geboren. Damals gab es in Bukkeberg außer ein paar Bauernhäusern und einer Hühnerfarm nur eine kleine Fabrik, eine Siedlung für die Arbeiter, einen Dorfkrämer und eine kleine Poststelle.
Aber in der Stadt wurde die Wohnungsnot immer größer, die Leute mußten immer weiter weg Grundstücke suchen, und eines Tages entdeckten sie auch Bukkeberg. Da wurden Eigenheime und Einfamilienhäuser gebaut, und moderne Wohnblocks mit viel Glas, Garagen, Müllschluckern und Aufzügen. Aus dem kleinen Laden des Dorfkrämers wurde ein modernes Selbstbedienungsgeschäft, aus der Poststelle wurde ein richtiges Postamt, aus den friedlichen Wegen wurden asphaltierte Straßen mit Namenschildern und Hausnummern. Die paar alten Häuschen duckten sich klein und wie verloren zwischen die großen Neubauten aus Glas und Beton.
Nach Bukkeberg kam ein Arzt, dann ein Zahnarzt, Apotheke und Friseur. Die Vorortbahn wurde verlängert, und die „Bukkeberg Station“ wurde errichtet.
Aus der kleinen Dorfschule wurde eine richtige Volksschule, nach kurzer Zeit kam eine Mittelschule, und als Pony sechzehn war, wurde das Bukkeberg-Gymnasium errichtet.
Die Väter am Tannenhang hatten es verlangt. Am Tannenhang standen die größten und teuersten Häuser in Bukkeberg, und nur sehr wohlhabende Leute konnten da einziehen. Alle hatten Kinder, alle verlangten eine höhere Schule - und so kam es, daß Pony an einem sonnigen Augustmorgen ganz feierlich zumute zur Schule ging: in die Obersekunda des humanistischen Zuges im Bukkeberg-Gymnasium.
„Ich will Latein lernen, so wie Vati“, hatte Pony gesagt, als sie noch klein war, und dabei war es geblieben. Jetzt wurde es ernst.
Die Lateinklasse war nicht groß. Nur elf Schüler hatten Latein gewählt. Da waren Professor Loebers Tochter Stella und ihre Herzensfreundin Berit Wolf, die Latein lernen wollte, weil Stella es wollte. Da waren die Zwillinge von Schiffsreeder Römer, Daisy und Pansy. Ihre Mutter war Engländerin. Die Zwillinge waren jeden Sommer bei „Granny“ in England und sprachen Englisch genauso gut wie Norwegisch. Was hatten sie im neusprachlichen Zug zu suchen? Leider hatten sie auch nichts auf dem mathematischen Gebiet zu suchen. „Mathematik! Scheußlich!“ sagte Pansy, und so blieb ihnen nur die Lateinklasse übrig.
Dann war es Margret Petersen, die sich zum größten Erstaunen ihrer Eltern für die Lateinklasse entschieden hatte. „Meinetwegen!“ sagte der Vater mit einem Achselzucken. Er ahnte nicht den Zusammenhang zwischen Margrets Lateininteresse und einem jungen Mann, der allabendlich mit seinem Motorroller vor der Gartentür aufkreuzte und der Latein lernte.
Die nächste war Erika Hammer. Ihr Vater war tot, die Mutter war berufstätig, und die war es, die gesagt hatte: „Du sollst die bestmögliche Ausbildung haben, mein Kind. Ich weiß, was es bedeutet, etwas gelernt zu haben. Lerne Latein, das ist die beste Grundlage für ein Universitätsstudium!“
Von den Mädchen in der Lateinklasse kannte Pony von früher nur Ursula Becker. Ihr Vater hatte früher die Fabrik geleitet. Als sie stillgelegt wurde, hatte er eine andere Stellung in der Stadt angenommen. Aber die Familie blieb in Bukkeberg wohnen, wo sie ihr schönes Haus hatte, und das Hin- und Herfahren mit dem Auto war ja eigentlich ein Pappenstiel, meinte Ursels Vater. Das gleiche taten ja beinahe alle Bukkebergväter! Ursel landete in der Lateinklasse ihres Bruders wegen. Die Geschwister waren zusammen in die Schule gekommen. Ursel war zwar ein Jahr älter als Harald, aber als Kind war sie kränklich und man hatte sie ein Jahr zurückgestellt. Immer hatten die beiden nebeneinander gesessen und dieselben Schulbücher benutzt.
Außer Harald Becker waren nur noch zwei Jungen in der Klasse: der stille, schweigsame Bernt Rywig und der sportliche, hagere Rolf
Clausen.
„Wie das wohl gehen soll!“ murmelte Rolf. Er hatte die Lage gepeilt und festgestellt, daß die Mädchen in überwältigender Mehrheit waren.
Pony fühlte sich sonderbar einsam. Außer Ursel und Harald Becker entdeckte sie kein einziges bekanntes Gesicht. Ob sie sich neben Ursel setzen sollte? Aber nein, die würde natürlich wieder neben Harald sitzen. Daisy und Pansy gehörten zusammen, Berit und Stella ebenso. Da setzte Erika sich gerade neben Margret. Und so stand Pony allein, und sie setzte sich auf die letzte freie Bank, wo der zweite Platz leer blieb.
Aufmerksam sah sie sich in der Klasse um. Liebe Zeit, wie waren die Mädels schick! Weite, wippende Röcke, die raschelnde Petticoats verrieten, moderne, spitze Schuhe, ein paar hatten sogar lackierte Fingernägel! Pony betrachtete nachdenklich ihre eigenen braungebrannten Hände mit kurzgeschnittenen Nägeln und deutlichen Spuren von Gartenarbeit.
Ihre Augen blieben an den Zwillingen hängen, und sie lächelte. So etwas an Ähnlichkeit! Sie waren ganz gleich angezogen. Na, da würde es Verwechslungen geben! Dann entdeckte sie, daß die eine ein Email-Tausendschönchen in einer Kette um den Hals trug, und die andere ein blaues Stiefmütterchen. Das war aber auch der einzige Unterschied.
Pony fühlte sich unsicher. Diese Mädchen waren so anders als die von der Mittelschule.
Pony kam sich hausbacken und spießig vor in ihrem schlichten Baumwollkleid und mit dem langen Pferdeschwanz.
„Doch ja, ich weiß es ganz bestimmt“, rief eine Stimme hinter ihr. „Wir bekommen eine Klassenlehrerin. Mein Vater weiß es vom Direktor.“
„Ach, wie gräßlich“, antwortete eine zweite Stimme. „Und ich hatte fest damit gerechnet, einen flotten jungen Lehrer zu bekommen.“
„Vielleicht bekommen wir wenigstens in Mathematik einen Lehrer“, äußerte jemand hoffnungsvoll. Dann schwiegen sie, denn die Tür ging auf und eine blonde, junge Dame trat in das Klassenzimmer ein. Sie hatte ein schönes, klargeschnittenes Gesicht und ruhige, kluge Augen.
„Guten Tag und willkommen, ihr Mädchen und Jungen. Ich bin Studienrätin Bernhard, die Klassenlehrerin dieser Liliputklasse. Nun hoffe ich sehr auf gute Zusammenarbeit und feste Freundschaft. Zunächst müssen wir uns natürlich kennenlernen. Ich fange wohl am besten damit an, euch aufzurufen.“
Elf junge Augenpaare waren auf Fräulein Bernhard gerichtet. Elf junge Menschen betrachteten sie kritisch. So etwas schauderhaft Ernstes, dachte Berit. Schick ist sie jedenfalls nicht, fand Ursula. „Typisch Lehrerin“, flüsterte Pansy Daisy zu.
Sieht mordsgescheit aus, überlegte Pony.
Fräulein Bernhard rief die Namen auf, und bei jedem „ja“ sah sie den Betreffenden an, um sich jeden einzelnen einzuprägen.
„Rita Jessen - stimmt das? Heißt du Rita oder ist das eine Abkürzung?“
Pony stand auf. „Es ist keine Abkürzung, ich heiße Rita.“
„Wir nennen sie aber alle Pony“, sagte Ursula laut. „Pony?“ fragte Fräulein Bernhard mit einem kleinen Lächeln. „Ein lustiger Name. Aber in der Schule wirst du wohl nicht so genannt?“
Pony lächelte zurück.
„Doch, merkwürdigerweise! Ich werde nur Rita genannt, wenn mir jemand böse ist.“
„Ach, so ist das. Ich will nicht damit anfangen, dir böse zu sein. Dann wollen wir es also bei Pony belassen. Setz dich, Pony.“
Fräulein Bernhard fuhr mit dem Aufrufen fort. Ein- oder zweimal blickte sie Pony wieder an. Das junge Mädchen mit dem braungebrannten Gesicht, dem altmodischen Pferdeschwanz und dem eigentümlichen Spitznamen war als einzige aufgestanden, als die Lehrerin mit ihr sprach.
Der Stundenplan wurde besprochen, dann verließ Fräulein Bernhard die Klasse.
Die Schulbücher, die angeschafft werden mußten, wurden von den Fachlehrern bekanntgegeben, und dann war der erste Schultag beendet.
Oben im Lehrerzimmer saß Studienrätin Bernhard im Gespräch mit ihrem älteren Kollegen Studienrat Lang.
„Na, wie gefällt Ihnen Ihre Liliputklasse?“ fragte Lang.
„Es ist noch zu früh, um einen endgültigen Eindruck zu gewinnen. Ehrlich gesagt: Mir kommt die ganze Klasse vor wie eine Versammlung von Mannequins.“
„Ja, wissen Sie, die meisten sind Tochter aus den reichen Familien am Tannenhang. Ich habe auch einige in meiner Klasse. Aber wer weiß, vielleicht sind sie besser, als sie aussehen.“
„Da war übrigens eine“, sagte Fräulein Bernhard etwas nachdenklich, „ein langaufgeschossenes Mädchen, das recht normal aussah. Auch gut erzogen. Sie trägt den sonderbaren Namen Pony.“ Studienrat Lang lächelte.
„Ach Pony! Ja, das ist ein nettes, intelligentes Mädchen. Gut angeschrieben beim Lehrerkollegium, obwohl sie manchmal ein faules kleines Biest ist. Sie hat etwas Entwaffnendes. Vielleicht liegt es an ihren guten Manieren.“
„Sie hat sicher ein gutes Elternhaus“, meinte Fräulein Bernhard.
Studienrat Lang nickte.
„Das kann man wohl sagen. Gut, wenn auch sehr bescheiden. Ihren Vater habe ich ein paar Mal getroffen, er ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kennengelernt habe. Aber er ist krank, hat seinen Beruf aufgeben müssen, und jetzt muß die Familie mit der Rente auskommen und mit dem, was eine kleine Hühnerhaltung und Kaninchenzucht einbringt. Frau Jessen ist unermüdlich, sie arbeitet Tag und Nacht für die Familie. Ja, sie haben nur dieses eine Kind.“
Fräulein Bernhard schaute nachdenklich drein.
„Es wird schwer sein für Pony, sich unter all diesen reichen Mädchen zu behaupten.“
„Ja, und es verstimmt mich etwas, wenn ich mir vorstelle, daß diese Clique vom Tannenhang hier an unserer Schule tonangebend werden könnte“, sagte Herr Lang und runzelte die Stirn. „Pony hat sicher mehr Intelligenz und Kultur als viele von diesen Angebern. Aber was bedeuten Sechzehnjährigen schon diese Dinge verglichen mit...“
„... verglichen mit Petticoats, Nagellack und eigenen Autos“, sagte Fräulein Bernhard lächelnd.
Pony ging mit Erika Hammer nach Hause. Beide hatten denselben Weg. Erika wohnte Föhrenweg 2 und Pony in Nummer 44.
„Wohnst du schon lange hier?“ fragte Pony.
„Nein, erst seit ein paar Wochen. Kam gerade recht zum Schulanfang. Ich kenne hier keine Seele.“
„Und ich habe mein ganzes Leben in Bukkeberg gewohnt“, sagte Pony.
„Du kennst aber auch nicht viele in unserer Klasse, soweit ich sehen konnte.“
„Ja, das stimmt. Ich glaube, fast die ganze Klasse ist hier neu.
Die ich kenne, sind entweder im neusprachlichen Zug oder in anderen Schulen.“
„Eigentlich komisch. Da sitzt man nun und kennt keinen.“
„Das geht bald vorüber“, sagte Pony lächelnd. „Du hast doch wenigstens einen Banknachbar, ich habe nicht einmal das.“
„Ein reiner Zufall, daß ich neben Margret landete. Hör mal, fährst du mit in die Stadt, Schulbücher kaufen? Heute nachmittag?“
„Klar, ich komme gern mit.“
„Dann schauen wir bei Mutti herein und holen sie ab. Wir können mit ihr heimfahren.“
„Wieso fahren?“ fragte Pony.
„Nun, wir haben ein kleines Auto, das mußte Mutti ja haben, als wir hier in die Wildnis zogen. Ich habe keinen Vater mehr. Bei uns ist Mutti das Familienoberhaupt.“
„Hast du Geschwister?“
„Einen Bruder an der Handelshochschule in Bergen. Feiner Kerl, wenn ich das selber sagen darf. Praktisch mit so einem älteren Bruder. Der hat Freunde, und so hat man immer Kavaliere. Hast du welche? Brüder, meine ich?“
Pony schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich habe einen Vater.“
„Du Glückspilz“, seufzte Erika. „Du mußt mich nicht mißverstehen. Mutter und ich haben es großartig zusammen, wir verstehen uns ausgezeichnet. Wenn sie nur mehr Zeit hätte!“
„Was tut denn deine Mutter?“ wollte Pony wissen.
„Sie hat einen Schönheitssalon. Gesichts- und Fußpflege. Maniküre, na, eben alles, was dazugehört. Feine Sache, weißt du. Fünf Damen außer Mutti. Bestellung für die Behandlung bis zu einem Monat im voraus. Du hast es ja noch nicht nötig, aber wenn deine Mutter mal eine Gesichtsmassage haben möchte, melde ich sie gern an, Mutti richtet es dann schon ein.“
Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf Ponys Gesicht, eine Mischung aus Wehmut und Zärtlichkeit, mit einem kleinen Tropfen Bitterkeit vermischt.
„Danke, ich glaube nicht, daß das in Frage kommt.“
„Sag das nicht. Auch wenn das Gesicht deiner Mutter noch so glatt und fein ist, es kommt doch die Zeit. Man sollte frühzeitig damit anfangen, sagt Mutti. Vorbeugen ist leichter als Heilen.“
Erika schwatzte weiter, Pony schwieg. Dann waren sie an Erikas Gartentür angekommen.
„Wie schön ihr hier wohnt“, sagte Pony. Sie kannte das Haus. Es hatte früher zur Fabrik gehört, jetzt war es modernisiert und frisch gestrichen. Ein hübscher Garten war angelegt worden.
„Nicht wahr? Na, gar so toll ist es nun auch nicht, aber recht gemütlich. Keine Ahnung, wie es augenblicklich im Wohnzimmer aussieht. Wir sind heute morgen mit einer Affengeschwindigkeit abgebraust, und die Perle erscheint erst morgen. Ein andermal kommst du mit herein, nicht wahr? Nehmen wir heute die Bahn um halb drei?“
„Geht in Ordnung. Wir treffen uns fünf Minuten vorher an der Haltestelle.“
„Okay, Pony.“
Den Rest des Weges ging Pony in tiefe Gedanken versunken.
Wir haben ein kleines Auto... wenn deine Mutter Gesichtsmassage haben möchte. feine Sache. fünf Damen außer Mutti.! Und Erika trug ein Kleid, das aussah, als käme es aus einem Pariser Modeheft.
Pony merkte nicht, daß ihr ein kleiner Seufzer entschlüpfte...
Mutti winkte ihr aus dem Küchenfenster zu und empfing sie an der Tür.
„Du bist schon da, Kind? Wie fühlst du dich denn als Gymnasiastin?“ Pony lachte.
„Vorderhand genau wie vorher. Wir haben heute erst mal die Lehrer kennengelernt.“
„Wer ist denn dein Klassenlehrer?“
„Eine neue Studienrätin. Fräulein Bernhard heißt sie. Sieht nett aus.“
„Das freut mich. Geh leise, Pony, Vater schläft. Er hat heute nacht schlecht geschlafen.“
Pony nickte. Sie betrachtete einen Augenblick aufmerksam das Gesicht ihrer Mutter. Auch sie hätte sicherlich einen Extraschlaf gebrauchen können. Wenn Vati eine schlechte Nacht hatte, lag sie ebenfalls wach. Wahrscheinlich war sie mitten in der Nacht aufgestanden und hatte Wasser gewärmt für Emser Salz. Oder sie hatte Vati Kissen in den Rücken gestopft, damit er im Bett sitzen konnte.
„Wenn deine Mutter eine Gesichtsmassage haben will - “ Nein, Mutters Falten ließen sich nicht wegmassieren. Schlaflose Nächte, Kummer und Geldsorgen, ständige Krankenpflege lange Jahre durch und ohne Ferien hatten Spuren in ihr Gesicht gezeichnet und ihr
Haar ergrauen lassen. Plötzlich ging Pony auf die Mutter zu und umarmte sie. „Musch“, sagte sie. Die Mutter lächelte. „Musch“ war Ponys Babysprache, so hatte sie sie in ihrer frühesten Kindheit gerufen. „Hast du die Kaninchen versorgt, Mutti?“
„Ich hab’ es noch nicht geschafft, bin eben erst mit dem Staubwischen fertig geworden. Könntest du es wohl tun?“
„Klar.“ Pony holte das Kaninchenfutter aus der Kellerecke und ging zu den Ställen auf der Rückseite des Hauses. Während sie ausmistete, fütterte und die Trinknäpfe auswusch, grübelte sie weiter nach. Dieses Staub wischen! Es gab gewiß kein Haus in der ganzen Welt, in dem so gründlich Staub gewischt wurde wie in ihrem. Trotz der ständigen Geldnöte hatten sie den besten Staubsauger, der überhaupt aufzutreiben war. Denn der Vater war gegen Staub überempfindlich. Deshalb wirkten auch die Zimmer so kahl. Vorhänge, Teppiche und Kissen gab es kaum, alles, was Staub sammelte, mußte vermieden werden.
Gemütlicher wurde es nicht dadurch. Wenn aber Gemütlichkeit mit schweren Anfällen von Atemnot bezahlt werden mußte, blieb ja keine andere Wahl.
Pony warf schnell einen Blick in Mutters „Kaninchenbuch“. Aha, es war höchste Zeit, für Schneeweißchen einen Nistkasten bereitzustellen. Sie mußte in den nächsten Tagen Junge bekommen. Pony legte feines, trockenes Heu in den Nistkasten und stellte ihn dem großen, trächtigen Weibchen in den Stall. Dann baute sie ein paar Laufställe um und war fertig.
Als sie wieder ins Haus kam, war Vater aufgestanden.
Sein blasses, feines Gesicht hatte einen müden Zug. Aber die Augen leuchteten jung und wach unter der Stirn mit dem weißen Haar.
„Vati, hör mal, ich muß in die Stadt und Schulbücher kaufen.“
„Ja, Kind, ich weiß. Laß einmal sehen. Hast du die Liste bei dir?“
Pony holte den Zettel hervor.
„Ja, man bekommt nichts geschenkt im Leben“, lächelte der Vater. Er kramte im Schreibtisch und holte einen Umschlag aus einer Lade.
„Schulbücher“ stand darauf in seiner klaren, ordentlichen Schrift. „Hoffentlich reicht das. Wenn du alle Bücher gebraucht bekommst, müßte es eigentlich genug sein.“
In der Mittelschule hatte Pony immer gebrauchte Bücher gekauft.
Jetzt biß sie sich plötzlich auf die Lippe, und eine helle Röte schoß ihr in die Wangen. Vater merkte, daß irgend etwas nicht stimmte.
„Was ist denn los?“ fragte er. „Hast du noch irgend etwas auf dem Herzen?“
„Nein... das heißt, doch... es ist nur... Ich will mit einem Mädchen zusammen aus unserer Klasse Schulbücher kaufen und da.“
„... und da ist es dir unangenehm, daß du gebrauchte kaufen willst, nicht wahr?“
„Ja, weil die anderen alle so reich sind und schick. Erikas Mutter hat ein Auto und... und.“
„Ja, mein Kind, es gibt eben Unterschiede. Aber Pony, ich sagte schon: Umsonst bekommt man nichts im Leben. Du sollst eine gute Ausbildung haben, nicht wahr? Und diese kleine Unannehmlichkeit, gebrauchte Bücher zu kaufen und offen zuzugeben, daß wir sparen müssen, ist eben ein Preis, den du dafür bezahlst. Hast du wirklich nicht den Mut, geradeheraus zu sagen: Ich kaufe immer gebrauchte Bücher? Ist das wirklich so schwer?“
Ponys Lippen zitterten plötzlich. „Wenn du die anderen Mädchen gesehen hättest, Vati! Du sagst, wir müssen bezahlen, für alles was wir lernen. Aber ich möchte gerne wissen, was die eigentlich bezahlen. Die haben doch alles, Autos, Villen und schöne Kleider!“ „Glaube mir“, antwortete der Vater mit seiner ruhigen, leisen Stimme. „Sie müssen auch bezahlen. Du wirst es vielleicht noch merken, wenn du sie einmal näher kennengelernt hast.“ Pony nahm den Umschlag mit dem Geld und murmelte: „Danke.“ Sie wußte nicht, warum ihr mit einemmal Tränen in den Augen standen.
„Wir müssen schnell in den Salon“, sagte Erika, als sie in die Vorortbahn stiegen. „Mutti hat natürlich vergessen, mir Geld bereitzulegen. Jetzt muß ich hinauf und erst ein paar Moneten aus ihr herauslocken. Außerdem bin ich hungrig wie ein Wolf. Ich muß unbedingt in der Stadt erst ein bißchen essen, oder vielmehr eine ganze Menge.“
Erika lachte ihr frohes, sorgloses Lachen. „Ja, aber Erika, hast du nichts zu Mittag gegessen?“
„Ach, ich hatte keine Lust, mir etwas herzurichten. Außerdem sah es in der Wohnung schauderhaft aus. Ich mußte erst aufräumen, staubwischen und so weiter. Da verging die Zeit im Handumdrehen. Ich konnte gerade noch ein paar Schnitten Brot in mich hineinstopfen. Aber jetzt soll mir Mama wahrhaftig ein Schnitzel spendieren. Ich könnte im Augenblick einen ganzen Ochsen aufessen.“
Bei der nächsten Haltestelle wurde die Bahn voll. Pony stand auf, als eine ältere Dame hereinkam. Sie wurde weiter nach vorn gedrückt, weg von Erika, und hatte Muße zum Nachdenken.
Also Erika war allein. Ganz allein. Sie mußte aufräumen und putzen und sich selbst ihr Mittagessen zurechtmachen. Vermutlich war das aber gar nicht so schlimm, wenn man genug Geld hatte. Wenn man wußte, daß Mutti einem dann ein Schnitzel spendieren konnte. Wenn es einen „Salon“ gab, in dem man immer Geld holen konnte.
Und Erika war so munter und vergnügt. Es schien sie keineswegs zu bedrücken, wenn sie das Haus in Ordnung halten und das Mittagessen mal ausfallen lassen mußte.
„Du bist ja beängstigend höflich“, sagte Erika, als sie aus der Bahn stiegen. „Fandest du wirklich, daß die Dame 50 alt und gebrechlich aussah?“
Pony lächelte. „Ach, sie war gewiß älter als meine Mutter. Ich mag nicht sitzen, wenn ältere Leute stehen. Es bedrückt mich irgendwie“, erklärte sie beinahe entschuldigend.
„Du bist sicher ein schrecklich braves Mädchen, Pony“, sagte Erika.
„Das glaube ja nicht“, lachte Pony. „Frage einmal meine Eltern, die werden dir etwas anderes erzählen.“
„Aber jedenfalls doch höflich“, sagte Erika.
„Nun ja, aber das ist ja eigentlich kein Fehler“, lächelte Pony. Erika zog sie in einen Neubau hinein. „Agnes Hammer, Schönheitspflege“ leuchtete es in Silberbuchstaben an einer matten Glastür im zweiten Stock.
„Morgen, Fräulein Espensen.“ Erika nickte einer jungen Dame im hellblauen Kittel zu. „Hat Mutti zu tun?“
„Ach du bist es, Erika. Ja, deine Mutter ist mitten in einer Behandlung. Willst du warten, oder.“
„Nein, ich brauche nur Kies! Mutter hat vergessen, das Geld für mich bereitzulegen. Es muß aber ein ganzer Haufen sein, ich will Schulbücher kaufen.“
Fräulein Espensen ging zur Kasse, während Pony stehenblieb und sich umschaute. Sie war zum ersten Mal in einem Schönheitssalon. Wie hübsch alles war! Der ganze Raum war in Blau und Silber gehalten, viele kleine Kabinen waren mit blauen Seidenvorhängen geschlossen, gedämpfte Stimmen kamen dahinter vor, elektrische Apparate surrten, auf einem Glastisch waren allerhand Flakons, Puderschachteln, Lippenstifte, Gesichtswässer und tausend andere Kleinigkeiten ausgestellt. Und im ganzen Raum herrschte ein feiner Duft von Hautcreme, guter Seife und Parfüm.
„Bitte unterschreib mir die Quittung, Erika. Ich hoffe, deine Mutter wird keinen Schock bekommen.“
Erika lachte. „Ach, Mutti ist auf das Schlimmste vorbereitet, die Arme! Grüßen Sie sie und sagen Sie ihr, daß wir um fünf wieder hier sind und mit ihr heimfahren möchten. Übrigens, habt ihr nicht ein paar neue Muster da?“
„Sieh selbst nach, Erika, ich habe jetzt keine Zeit mehr. Auf mich wartet schon eine Kundin.“
Fräulein Espensen verschwand, und Erika ging ungeniert hinter den Ladentisch und öffnete eine Schublade.
„Sieh mal her, Pony, das ist für dich, Zahncreme. Puder brauchst du wohl nicht? Aber hier, sieh mal, etwas für aufgesprungene Hände. und Gesichtswasser, Parfüm. noch eine Zahncreme. und was ist das? Fußbadesalz? Ja, nimm es ruhig mit.“ Erika stopfte eine Handvoll kleiner Tuben und Fläschchen in Ponys Tasche.
„Aber Erika, geht das denn?“
„Klar geht das. Wir sind großzügig mit Muttis Proben. Also gehen wir!“
In der Buchhandlung mußte Pony ein paarmal schlucken, ehe sie einigermaßen natürlich sprechen konnte.
„Ja, weißt du, ich gehe nämlich hinüber in die Abteilung für gebrauchte Bücher...“
Erika sah sie überrascht an. „Du, hör mal, das ist aber eine gute Idee. Daß ich nicht schon längst daran gedacht habe! Da sparen wir ja eine Masse Geld und können dafür nachher Eis essen.“
Es ging besser, als Pony gedacht hatte. Und sie war unsagbar erleichtert, weil Erika es nur für eine schlaue Idee hielt. Vielleicht hatte sie wirklich nicht begriffen, daß Pony es bitter notwendig hatte, das Geld zu sparen?
Eine halbe Stunde später standen beide Mädchen wieder auf der Straße.
„So“, sagte Erika, „jetzt muß ich aber erst einmal etwas zu essen bekommen. Du auch?“
„Ich nicht, ich habe doch Mittagbrot gegessen.“
„Aber irgend etwas wirst du schon noch vertragen können. Komm nur, ich lade dich wenigstens zu Kuchen ein, oder zu Eis oder auch zu beidem. Das hast du dir redlich verdient durch den schlauen Tip, den du mir gegeben hast, gebrauchte Bücher zu kaufen.“
Erikas muntere Art wirkte so selbstverständlich und unbeschwert, daß es Pony leicht fiel, ihre Einladung anzunehmen.
Erika kannte sich in dem Café gut aus. Wahrscheinlich fühlte sie sich überall schnell zu Hause. Sie studierte die Speisekarte mit geübten Blicken und bestellte dann rasch ihr Schnitzel.
„Ißt du oft außerhalb?“ fragte Pony.
„Ziemlich oft. Immer dann, wenn ich zu faul bin, mir selbst etwas zu kochen.“
„Und deine Mutter?“
„Die ißt jeden Tag in einem Lokal. Sie nimmt sich nur eine halbe Stunde frei von ihrem Salon. Aber abends essen wir daheim zusammen. Hinterher knobeln wir immer, wer abwaschen muß. Wenn Mutti verliert, mache ich es meist trotzdem und bekomme eine Krone dafür.“ Sonderbare Gedanken gingen durch Ponys Kopf, während sie ihr Eis löffelte. Wie hatte ihr Vater am Vormittag gesagt: „Glaube mir, die bezahlen auch!“
Sie fing langsam an zu begreifen, daß Erika für alles bezahlen mußte, was sie Pony voraus hatte. Mit Einsamkeit, mit einer Mutter, die nur abends und dann abgehetzt zu Haus sein konnte.
Doch die anderen in der Klasse? Daisy und Pansy, Margret mit den rot lackierten Nägeln und Berit mit den todschicken Schuhen und dem weißen Kostüm - womit bezahlten die wohl?
„Du hast es gut, du hast einen Vater“, sagte Erika plötzlich. „Was ist er eigentlich?“
„Ingenieur. Aber er mußte seine Stellung schon vor Jahren aufgeben. Er leidet sehr an Asthma und konnte nicht länger im Büro arbeiten. Die letzten fünf Jahre war er immer daheim.“
„Ach, der Ärmste“, sagte Erika. „Ist er bettlägerig?“
„Nein, er geht spazieren, wenn das Wetter gut ist. Meine Eltern sind schon vor vielen Jahren nach Bukkeberg gezogen, weil die Luft hier Vati gut tut. Er liest sehr viel und er weiß eine Menge. Manchmal schreibt er auch Artikel für Fachzeitschriften.“
„Aber deine Mutter ist doch gesund?“
„Ja, das ist noch ein Glück, sonst wäre es schlimm.“
„Wollte dein Vater, daß du auf den Gymnasialzweig gehst?“
„Ja, aber ich selbst wollte es auch. Das war bei uns zu Hause eigentlich von Anfang an selbstverständlich. Wir haben gar nicht weiter darüber reden müssen. Vati sagt, das Abitur ist die sicherste Gewähr für eine gute Allgemeinbildung. Und es ist der Ausgangspunkt für vieles, das man studieren oder lernen will.“
„Weißt du, ich fürchte mich eigentlich ein bißchen davor. Ob Latein nicht entsetzlich schwer ist? Bist du nicht auch ein bißchen bange?“
„Schon. Aber wenn es zu verwickelt wird, kann ich ja immer Vati fragen.“
„Kann dein Vater Latein?“
„Gewiß, er kann auch Griechisch, und von Mathematik und Physik versteht er natürlich schon durch seinen Beruf sehr viel.“
Pony ahnte nicht, daß in ihrer Stimme ein Ton wie ein leiser Triumph gelegen hatte. Es kam ihr auch nicht zu Bewußtsein, daß sie jetzt von etwas redete, das sie besaß und das vielleicht viel von dem aufwiegen konnte, was die anderen besaßen: die Autos, die schönen Häuser, die reichlichen Taschengelder und einen Schönheitssalon in Blau und Silber.
„Hallo, Mutti, hier sind wir. Das ist eine neue Klassenkameradin von mir. Pony Jessen heißt sie.“ Eine hübsche, elegante Dame lächelte Pony an.
„Guten Tag, Pony. Willst du mir im Ernst erzählen, daß du Pony heißt?“
„Nein, ich heiße Rita.“
„Aber alle nennen sie Pony, außer wenn sie böse auf sie sind“, erklärte Erika. „Bist du fertig, Mutti?“
„In fünf Minuten. Ihr könntet inzwischen die Pakete hinuntertragen. Hier ist der Autoschlüssel. Bitte, Erika, fahr den Wagen zur Hintertür. Er steht am anderen Ende des Hofes. Heute morgen bekam ich keinen anderen Platz. Packt alles ein bißchen geschickt zurecht, damit Platz für euch beide bleibt.“
Mit Paketen beladen gingen Pony und Erika auf den großen Hinterhof zu einem hübschen kleinen blauen Auto, das weit weg vom Eingang geparkt war. Erika schloß auf.
„Kannst du denn schon Auto fahren?“
„Aber sicher. Ebensogut wie Mutti. Für den Führerschein bin ich allerdings noch zu jung. Aber hier auf dem Hof kann ich fahren, das ist Privatbesitz. Auf der Straße darf ich es leider nicht. Doch sobald ich achtzehn bin, mache ich meinen Führerschein. Das steht bombenfest.“
Ein eigenartiges Gefühl stieg in Ponys Herzen auf. So gut hatten es also manche! Sie konnten einfach zur Kasse hingehen und sagen: Ich brauche eine ganze Menge Geld, sie konnten auswärts essen und eine Freundin dazu einladen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, sie durften Auto fahren, während andere nie Geld hatten und mit einem einfachen Pferdeschwanz herumlaufen mußten, weil der Friseur zu teuer war.
„Was hast du eigentlich alles eingekauft, Mutti?“ fragte Erika, als Frau Hammer sich ans Steuer setzte.
„Ist das eine ganze Aussteuer für mich oder willst du ein neues Geschäft eröffnen?“
Die Mutter lachte. „Ganz so schlimm ist es nicht. Aber durch einen Zufall hatte ich heute vormittag eine Stunde frei. Und als ich in die Stadt ging, bekam ich plötzlich einen Anfall von Kauflust. Etwas für die Küche und neue Vorhänge fürs Eßzimmer und Winterwäsche für uns beide und.“
„Und eine Dose Pfirsiche“, lachte Erika, die in den Paketen gekramt hatte. „Hm! Pfirsiche, mein Lieblingskompott“, sagte sie lächelnd zu Pony.
Pony wagte nicht zu erzählen, daß sie erst ein einziges Mal in ihrem Leben Pfirsiche gegessen hatte.
Frau Hammer drehte sich ein wenig nach ihr um. „Du kommst wohl noch mit zu uns hinein, Pony? Ich muß doch Erikas neue Freundin kennenlernen“, lächelte sie.
„Ja, vielen Dank.“
„Und da spendieren wir heute abend die Pfirsiche, ja, Mutti?“
„Das kannst du bestimmen. Die Dose gehört dir.“ Erika plauderte mit ihrer Mutter, erkundigte sich nach der Arbeit im Salon, erzählte das wenige, das von der Schule zu berichten war, und das kleine blaue Auto schnurrte und brummte und brachte sie nach Bukkeberg zurück.
Pony war schweigsam und nachdenklich.
Vor Jessens Tür hielt Frau Hammer an. Pony lief schnell mit den Büchern ins Haus und erzählte, daß Erikas Mutter sie eingeladen habe. Wie der Wind flog sie wieder zum Auto zurück, wandte sich um und winkte ihrer Mutter zu. Frau Jessen blieb einen Augenblick am Fenster stehen und sah dem Auto nach, das ihre Tochter wegführte. Plötzlich war es ihr sonderbar zumute: Führte dies Auto Pony nicht viel weiter weg, als nur bis zum Föhrenweg 2? Es führte sie in eine andere Welt.
Dann schüttelte Frau Jessen das dumme Gefühl ab, lächelte ein wenig und richtete das Abendbrot für sich und ihren Mann her.
Aber Pony saß mit großen Augen in einem merkwürdigen dreieckigen Lehnstuhl vor einem Nierentisch in einem hellen, großen Zimmer, mit zweierlei Tapeten und modernen Schwarz-WeißZeichnungen an den Wänden. Alles war hypermodern, hell und geräumig. „Wie hübsch Sie es hier haben“, sagte Pony. „Nett, daß du das findest“, lächelte Erika. „Weißt du, wir haben das ganze alte Gerümpel weggeworfen, als wir hierherzogen. Von oben bis unten ist hier alles neu. Komm und iß, Pony! Wir haben rasch etwas zusammengebrutzelt. Ich hoffe, es ist eßbar. Wir haben draußen in der Küche gedeckt, da essen wir nämlich immer.“
„Das tun wir meistens auch“, sagte Pony erfreut. Es war ihr irgendwie ein Trost, daß sie mit Hammers wenigstens dies gemeinsam hatten.
Als Pony aber dann in die Küche kam, war dies Gefühl der Gemeinsamkeit wieder weg. Blanke, weißlackierte Schränke und Tische, ein Grill, ein Kühlschrank und Mixgerät. Abgesondert von der übrigen Küche war auf der einen Seite eine kleine Eßecke eingebaut, durch einen praktischen Tisch mit blanker schwarzer Platte vom übrigen Raum getrennt.
„Wir machen es uns bequem“, erklärte Erika. „Eine Hausgehilfin haben wir ja nicht. Unsere Haushaltshilfen sind diese Dinger hier“, dabei zeigte sie auf die Küchengeräte, auf den Kühlschrank und die
Waschmaschine. Frau Hammer zog den Grill zu ihrem Platz am Tisch, und während sie sich setzten und ihr Brot strichen, briet sie im Handumdrehen drei kleine Koteletts. Erika hatte in einer Minute im Mixer einen Rohkostsalat zubereitet. Frau Hammer plauderte und Erika plauderte. Alles war so hell und leicht, sauber und sorglos, als gäbe es gar keine Schwierigkeiten und gar keinen Kummer. Da waren keine Rücksichten auf einen kranken Vater nötig. Keine Kaninchen wollten versorgt werden. Niemand saß da mit einem sorgenvollen Gesicht, weil die Butter wieder ein paar Öre teurer geworden war oder weil Holz und Kohlen langsam zu Ende gingen. Sie redeten über alles und über nichts. Erika erkundigte sich, ob im Salon der Mutter irgend etwas Besonderes vorgefallen war, und Frau Hammer erzählte lachend von einem jungen Mädchen, das sich ihre Augenbrauen herauszupfen lassen wollte, damit sie sich neue in einem hohen, interessanten Bogen malen konnte.
„Habt ihr das gemacht?“ fragte Erika interessiert.
„Was denkst du denn! Ich bin doch nicht dazu da, ein hübsches junges Gesicht zu verschandeln“, lachte die Mutter. „Ich habe sie weggeschickt. Sie war tief gekränkt.“
Frau Hammer streckte die Hand nach der Zuckerdose aus. Wie gut gepflegt ihre schmalen Hände waren, die spitzen Nägel sorgfältig lackiert! Und Pony sah die Hände ihrer eigenen Mutter vor sich, rauh und gerötet von Hausarbeit, vom Werkeln im Kaninchen- und Hühnerstall. Eine große Zärtlichkeit für die Mutter erfüllte sie plötzlich. Ein zitterndes Mitleid - und ein wenig Bitterkeit gegenüber dem Schicksal, das es den Eltern und auch ihr so schwer machte.
Nach dem Abendessen gab Erika keine Ruhe, bevor ihre Mutter alle Einkäufe ausgepackt und hergezeigt hatte. Und wieder wunderte sich Pony darüber, daß jemand ganz einfach nur in die Stadt gehen und nach Herzenslust einkaufen konnte, mehr einkaufen, als ihre eigene Mutter während eines ganzen Jahres erstehen konnte.
Sie konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken. Wie wäre es wohl gewesen, wenn die drei hübschen Wäschegarnituren plötzlich ihr gehört hätten, wenn die neuen Vorhänge für ihr Zimmer bestimmt gewesen wären - bloß weil ihre Mutter plötzlich Lust zum Kaufen bekommen hätte?
Sie gingen ins Wohnzimmer hinüber, setzten sich an den ulkigen kleinen Nierentisch und aßen Pfirsiche. Sie schmeckten wunderbar, unglaublich gut. Erika schaltete das Fernsehgerät ein, und sie amüsierten sich über das Unterhaltungsprogramm. Gesprochen wurde nicht mehr.
Langsam und nachdenklich ging Pony nach Hause. „Alle müssen bezahlen“, hatte Vati gesagt.
Was mußte Erika entbehren? Womit hatte sie all das Schöne bezahlen müssen? Doch - etwas fehlte in ihrem Heim, etwas, das sie, Pony, besaß: Vatis ruhiges, blasses Gesicht am Abendbrottisch in der Küche. Vatis klare Augen unter dem silberweißen Haar. Vatis leise, kluge Stimme, die alle Fragen beantworten konnte. Kurz gesagt: ein Vater!
Zu Hause war es dunkel und still. Die Eltern hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Pony ging in das Wohnzimmer und machte Licht. Sie blieb stehen und sah sich um.
Abgenutzte alte Möbel, die Vorhänge dünn und schmal und straff. Die Tapete war verblichen, das Zimmer wirkte kahl. Und die Kommode von der Urgroßmutter, und der altmodische, geschnitzte Bücherschrank standen da und wirkten lächerlich in einem Zeitalter, das Nierentische und Fernsehgeräte und dreieckige Sessel verlangte.
Pony seufzte. Sie drehte das Licht aus und schlich still nach oben.
„Danke, das genügt, Stella. Ausgezeichnet!“ Fräulein Bernhard lächelte und schrieb „sehr gut“ ins Protokoll. Pony folgte ihr ängstlich mit den Augen. Wenn bloß nicht - wenn bloß nicht. es war nämlich eine peinliche Tatsache, daß Pony gestern ihr englisches Übungsbuch überhaupt nicht geöffnet hatte. Aber dann kam es.
„Bitte, Pony, fahr fort.“ Pony fing an zu lesen, und das ging glatt. Ihre Aussprache war gut, sie stolperte nur ein einziges Mal über ein Wort. Aber als sie nachher übersetzen sollte, blieb sie alle Augenblicke hängen.
Fräulein Bernhard sah sie mit einem ernsten Blick an.
„Ich glaube, du hättest dich gestern etwas mehr um deine Englisch-Aufgabe kümmern können, Pony. Nun, wir werden uns dann mit der Grammatik beschäftigen. Du hast eben richtig übersetzt: Das sollte der Junge eigentlich wissen. Warum ist da für ,sollte’ das Wort ,ought’ gebraucht, und warum hast du das Wort ,eigentlich’ eingefügt?“
„Weil es eigentlich selbstverständlich ist, daß der Junge Bescheid weiß. Daß er es nicht weiß, ist ein Versäumnis.“
„Richtig. Nun denk aber mal an unser Wort ,sollen’. Wie kann man das im Englischen sonst ausdrücken?“
„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zuerst das Hilfsverb ,shall’. Das verwendet man aber auch einfach für das Futurum, als Übersetzung von ,werden’. Ja, und will man dann ein Gerücht oder eine Vermutung ausdrücken, so wie z. B. ,er soll krank sein’, dann wird das Passiv von den Wortern wie ,to say’ oder ,to suppose’ verwendet - ,he is said to be ill’. Und schließlich - wenn wir mit dem ,soll’ einen Befehl oder eine Notwendigkeit ausdrücken wollen, dann gebrauchen wir ,to be’ mit Infinitiv. So wie - ja, zum Beispiel ,I am to work...’ oder. oder.“ - ein kleines Lächeln zeigte sich um Ponys Mund - „oder ,you are to forgive’!“
Die ganze Klasse lachte fröhlich los, und Fräulein Bernhard lachte mit.
„Nun sag mir bloß, was fange ich jetzt mit dir an, Pony? Von deiner Aufgabe wußtest du herzlich wenig. Sobald du aber nachdenken mußt, bist du sofort auf der Höhe.“
„Ja, es macht doch Spaß, wenn man durch Nachdenken und Überlegen eine richtige Antwort finden kann. Vokabeln lernen ist
viel langweiliger.“
„So, kannst du mir vielleicht verraten, welche Note ich dir jetzt geben soll?“
„Ich finde, Sie müßten mir eigentlich zwei Noten geben. Für die Aufgabe vielleicht nur ,genügend’. Aber für Grammatik ,sehr gut’.“
„Du meinst also, daß du für die Aufgabe ,genügend’ verdient hast?“
„Ja, das Lesen ging doch ganz gut.“ Fräulein Bernhard schmunzelte. Sie sah sich in der Klasse um. „Nun, was meint ihr anderen? Findet ihr Ponys Vorschlag auch richtig?“
„Ja, klar!“
„Ihr seid mir eine schöne Bande“, lachte Fräulein Bernhard, „hängt wie die Kletten zusammen. Also gut, Pony, ich bin einverstanden. Im Grunde hast du recht. Trotzdem bitte ich dich, in Zukunft auch ein bißchen besser deine Aufgaben zu lernen. Ich will dich nicht fragen, was du gestern abend gemacht hast, anstatt zu lernen. Das geht mich schließlich nichts an. Trotzdem meine ich, du hättest es aufschieben sollen, bis du deine Aufgaben fertig hattest. -Bernt, fahre du jetzt fort.“
Es wurde wieder ruhig in der Klasse. Wenn Bernt übersetzen mußte, gab es keine besonderen Sensationen. Er konnte seine Aufgaben immer und war unbedingt der beste Schüler der Klasse.
Pony aber saß da mit vielen Gewissensbissen und. einem neuen Pulli. Dieser Pulli war schuld, daß sie ihre Aufgabe nicht gelernt hatte. Den ganzen Abend hatte sie daran gestrickt, weil sie ihn unbedingt noch fertigbekommen wollte. Das Wetter war umgeschlagen, es war kühl geworden, und ihre Mitschülerinnen liefen seit Tagen in schicken Pullis herum. Pony hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, immer in ihrer langweiligen alten Strickjacke daneben zu sitzen. Also hatte sie eine alte Jacke ihrer Mutter aufgetrennt, die Wolle gewaschen und dann hatte sie eine Woche gestrickt, daß die Nadeln heißliefen. Sie wollte die gleiche schicke Form mit dem modernen halsfernen Rollkragen haben, wie Stella sie trug.
Nun hatte sie ihn also. Wenn er auch nicht so elegant war wie der andere von Stella. Denn Stella hatte einen funkelnagelneuen Pulli aus hellgelbem Orion, und Ponys war aus dunkelblauer aufgeriffelter Wolle gestrickt.
In der großen Pause saßen die Mädchen der neuen Latein-Klasse alle zusammen auf dem „Felsen“. Das war der Rest eines wirklichen
Felsens vom Bukkeberg, der beim Bau der Schule gesprengt worden war. Ein paar glatte Stufen, wo man behaglich sitzen und sein Frühstücksbrot essen konnte, waren zum Lieblingsplatz der Mädchen geworden.
„Du, Pony“, sagte Erika plötzlich, „kannst du mir verraten, ob es noch ein anderes Wort als ,Watt’ gibt, das ein Maß für elektrische Spannung bedeutet?“
Erika hatte aus ihrer Tasche ein Blatt mit einem Kreuzworträtsel herausgeholt und sah die Freundin fragend an.
„Watt ist doch kein Maß für elektrische Spannung“, sagte Pony, „das muß wahrscheinlich Volt heißen. Paßt das nicht?“
„Laß mich sehen, ja, natürlich, ich fand es schon sonderbar, daß man Veranda mit einem ,W schreiben sollte. Vielen Dank, Pony! Natürlich habe ich keine blasse Ahnung, worin der Unterschied zwischen Volt und Watt besteht.“
„Das ist doch gar nicht schwer: Volt bezeichnet die Stärke und Watt bezeichnet die Menge. Stell dir vor, der Strom käme wie Wasser aus dem Leitungshahn. Mit Volt könntest du die Stärke des Strahles messen und mit Watt die Wassermenge, die in die Schüssel hineinläuft.“
„Es ist geradezu rührend von dir, daß du Pony noch mehr von ihrer Weisheit auskramen läßt“, rief Margret spöttisch hinüber. „Willst du uns nicht noch einen kleinen Vortrag über Atomforschung halten, Pony?“
Pony sah Margret erschrocken an. „Es ist doch nicht so merkwürdig, daß ich zufällig etwas darüber weiß. Mein Vater ist doch Elektroingenieur“, verteidigte sie sich.
„Ja, und meiner ist Großhändler, aber deswegen halte ich noch lange keine Vorträge über Geschäftsführung“, fauchte Margret.
Erika versuchte zu vermitteln: „Du würdest aber sicher eine ganze Menge darüber sagen können, wenn man dich danach fragte. Ich weiß von meiner Mutter allerhand über Schönheitspflege und Stella sicher viel über Geologie, Daisy und Pansy über Schiffahrt und Berit wahrscheinlich über Jura.“
„Jura“, lachte Berit. „Daß es verboten ist, zu stehlen und zu morden, das weiß ich, aber das ist auch alles. Denkst du vielleicht, Vati unterrichtet mich abends in Jura, bloß weil er Rechtsanwalt ist?“
„Nein, ich meinte nur.“
„Du wolltest jedenfalls Ponys Angeberei entschuldigen“,
unterbrach Margret.
„Sei doch nicht so ekelhaft, Margret“, sagte Ursula, „sie hat dir doch nichts getan!“
„Ich finde es aber widerwärtig, wenn sich jemand bei den Lehrern so lieb Kind macht und mit dem prahlt, was er zufällig weiß“, sagte Margret.
„Nein, jetzt bist du aber wirklich boshaft“, brauste Pony auf, „ich habe schließlich nur auf das geantwortet, was man mich fragte. Weiter gar nichts.“
„Abgesehen von den Vokabeln! Da scheinst du ja nicht auf das zu antworten, was man dich fragt.“
„Willst du mir das vielleicht auch vorwerfen? Hast du vielleicht noch niemals eine Aufgabe nicht gewußt?“
„Jetzt hört aber auf“, sagte Stella. „Fräulein Bernhard redet davon, daß wir wie Kletten zusammenhalten und nun zankt ihr euch so. Und dabei wollte ich euch gerade einen gemeinsamen Radausflug für Sonntag vorschlagen. Habt ihr Lust?“
„Fein! Pfundig! Klar!“ antworteten alle begeistert. Nur Pony schwieg.
„Na, und du, Pony?“
„Muß erst mal sehen. Mein Rad ist in Fetzen.“
„Dann laß es bis dahin doch noch richten.“
„Wenn das bis Sonntag möglich ist.“
„Tu, was du kannst. - Wann wollen wir starten?“ Nun war also die Radtour das Gesprächsthema. Sie redeten über das Ziel, über den Weg, über den Proviant, und keine merkte, wie schweigsam Pony mit einemmal war.
Denn mit ihrem Rad war es so eine Sache. Es war seinerzeit schon alt gekauft, sehr alt sogar, und jetzt waren neue Schläuche fällig. Auch die Reifen waren ein trauriges Kapitel. Und Pony wußte nur allzu gut, daß Vatis Schreibmaschine gerade zur Reparatur war und daß er die Maschine brauchte wie das liebe Brot, wenn er seine kleinen Artikel für Fachzeitschriften schreiben wollte. Sie wußte auch, daß Mutti inzwischen Brennmaterial für den Winter bestellt hatte und daß auch dafür Geld dringend notwendig war.
Am Nachmittag stieg sie also in den Keller hinunter und fing an, ihre Radschläuche wieder einmal zu flicken. Sie seufzte. Wahrscheinlich würden die Dinger trotzdem keine fünf Kilometer weit halten. Dann putzte und wienerte sie das Rad, so gut sie konnte. Es hatte lange unbenutzt dagestanden, da dauerte es eine ganze Zeit, bis sie ein wenig Glanz darauf brachte. Es war schon spät, als sie wieder hinaufging.
„Pony, kannst du die Kaninchen versorgen?“
Die Mutter stand in der Küche vor einer großen Wanne mit Wäsche.
„Aber Mutti, wenn ich doch.“, Pony unterbrach sich. „Klar, ich tue es schon.“
Rasch ging sie hinaus, machte rein und fütterte. Aber heute streichelte sie dabei die Kaninchen nicht und kraulte sie nicht hinter den Ohren. Alles erledigte sie im Nu und rannte dann schnell hinauf in ihr Zimmer zu ihren Aufgaben.
Norwegisch und Latein nahm sie zuerst dran. Für Fräulein Bernhards Stunden wollte sie diesmal unbedingt gut vorbereitet sein, lieber sollte Studienrat Lang seinen Kopf schütteln über ihre Mathematik, oder Fräulein Christensen sich über ihr mangelhaftes Deutsch beklagen.
Kaum nahm sie sich Zeit zum Abendessen, dann lief sie sofort wieder hinauf zu den Schularbeiten, und plötzlich fiel ihr siedendheiß ein: der Aufsatz! Der norwegische Aufsatz mußte am nächsten Tag abgegeben werden.
Nicht ein Wort hatte sie davon geschrieben.
Rasch holte sie das Heft hervor. Von einer Ausarbeitung war keine Rede. Sie mußte sofort ins Reine schreiben.
„Welche Erfindung hat nach deiner Meinung die größte Bedeutung für die Menschheit gehabt?“ so lautete das Thema.
Pony dachte einen Augenblick nach. Da erinnerte sie sich an ein Gespräch mit dem Vater. Er hatte ihr damals gesagt, die Erfindung des Rades sei vielleicht die größte, die jemals gemacht wurde.
Pony starrte in die Luft. Vor sich sah sie die ersten schweren scheibenförmigen Räder aus mühsam zusammengehauenem Holz. Was mochte es für die Menschen in alten Zeiten bedeutet haben, daß sie nicht mehr einen Schlitten über Stock und Stein ziehen mußten, sondern eine Karre fahren konnten! Ihre Gedanken gingen weiter zu einem Holzrad mit Speichen, zu eisenbeschlagenen Rädern, gummibeschlagenen Rädern, zu Rädern mit luftgefüllten Gummischläuchen, und sie sah Räder, Räder überall; winzig kleine Räder in Uhrwerken, schwere Stahlräder, die mächtig sausende Maschinen in Gang hielten, Mühlenräder und Wasserräder. Ihre Phantasie war in Gang gekommen. Als sie endlich zu schreiben anfing, flossen ihr die Gedanken und Sätze nur so zu. Ähnlich erging es ihr oft. Bis zum letzten Augenblick schob sie einen Aufsatz auf, aber wenn sie dann einmal angefangen hatte, ja, da ging es wie. wie auf Rädern!
Sie schrieb drauflos. Eine Seite nach der anderen. Immer wieder fiel ihr etwas ein, was noch erwähnt werden mußte. Worte kamen wie von selbst und fügten sich zu guten, glatten Sätzen zusammen. Jetzt zeigte sich wieder einmal, wie sehr sie vom Vater zu einem klaren, systematischen Denken erzogen worden war. Und als sie spät am Abend das Heft schloß, da hatte sie wieder einen von jenen Aufsätzen geschrieben, über die ihre Lehrer die Köpfe schüttelten und seufzten: Nein, diese Pony! Diese Pony! Ein faules kleines Ding ist sie schon, aber sie kann, wenn sie nur will.
Und das dachte Fräulein Bernhard auch, als sie am nächsten Tag den Aufsatz las. Sie hatte eine Freistunde und nahm sich im Lehrerzimmer gleich die neu eingesammelten Hefte vor. Aufsätze korrigieren war eine Arbeit, die sie interessierte. Dabei lernte sie ihre Schüler am allerbesten kennen. Sie sah plötzlich, was unter den eleganten Kleidern und modernen Frisuren steckte. Ein paarmal schüttelte sie beim Lesen den Kopf. Wie sollte sie Margret erklären, daß das Auto nicht die wichtigste Erfindung für den Menschen war? Oder Rolf begreiflich machen, daß das Radio zwar eine große Erfindung war, aber.
Dann nahm sie das Heft von Bernt Rywig in die Hand. Er hatte über die Buchdruckerkunst geschrieben. Ein gescheiter Junge, der Bernt, der jüngste in der Klasse, aber absolut Nummer eins, wenn es um Wissen und Intelligenz ging. Es war ein Vergnügen, seinen Aufsatz zu lesen, und auch ein Vergnügen, ihm ein klares „Sehr gut“ zu geben.
Dann kam Ponys Aufsatz dran. Fräulein Bernhard seufzte ein wenig. Sie mochte Pony gern, aber ihre Schrift um so weniger. Pony schmierte drauflos, die Seiten waren mit Klecksen und Korrekturen geschmückt, aber, aber. Ein merkwürdiges Mädchen! Der Aufsatz war nicht nur gut, er war in einem ausgezeichneten Stil geschrieben, mit richtig gewählten Ausdrücken, so unglaublich erwachsen.
Erwachsen, ja das war das richtige Wort. Pony würde doch nicht etwa.? Nein, Fräulein Bernhard konnte sich einfach nicht denken, daß Pony schwindelte und daß sie sich von jemand hatte helfen lassen. Aber andererseits. dieser Aufsatz.?
Es läutete zur Pause. Die anderen Lehrer kamen für ein paar Minuten in das Zimmer.
„So fleißig, Fräulein Bernhard?“ fragte Fräulein Madsen, eine ältere Kollegin.
„Ja, ich. sagen Sie bitte, Fräulein Madsen, Sie hatten doch im vergangenen Jahr Pony Jessens Klasse. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Pony einen Aufsatz schreiben kann, auf den ein Erwachsener stolz sein könnte?“
Fräulein Madsen lächelte. „Aha, Sie sind jetzt an der Reihe zu staunen! Ja, doch, ich halte es durchaus für möglich. Pony ist ein merkwürdiges Mädel. Sie kann so unglaublich faul sein, daß man verzweifeln möchte, und gleichzeitig weiß sie eine ganze Menge Dinge, die sie in der Schule gar nicht gelernt haben kann. Ich glaube, es macht die Atmosphäre in ihrem Zuhause. Ihr Vater.“ Fräulein Bernhard nickte. „Ja, das sagte Studienrat Lang auch.“
„Darf ich den Aufsatz lesen?“
„Selbstverständlich, sehr gern.“ Fräulein Madsen las aufmerksam.
„So ein Mädchen! Welche Note wollen Sie ihr geben?“
„Nun, ich dachte: Vorzüglich.“
„Das wäre nicht das erste Mal. In der Examensnote hat Pony auch damit abgeschlossen.“
„Wissen Sie, ich kann einfach nicht glauben, daß Pony schwindelt. Ich bin überzeugt, daß kein anderer den Aufsatz für sie geschrieben hat. Aber trotzdem.“
„Wenn Ihnen eine alte Kollegin einen Rat geben darf, Fräulein Bernhard, dann sagen Sie zu Pony kein Wort, daß Sie mißtrauisch sind. Es ist besser, einer Schülerin ein unverdientes ,Vorzüglich’ zu geben, als sie unverdient zu kränken. Lassen Sie Ihre Schüler lieber bei nächster Gelegenheit einen Klassenaufsatz schreiben, dann können Sie ja sehen, was Pony zuwege bringt, wenn sie keine Gelegenheit hat, sich helfen zu lassen.“
Fräulein Bernhard lächelte dankbar, dann schrieb sie mit roter Tinte unter den Aufsatz: Schrift: schauderhaft, Inhalt: vorzüglich. Als Pony am Sonntagmorgen ihr Rad aus dem Keller holte, fragte ihre Mutter bekümmert: „Glaubst du wirklich, daß es hält?“
Pony zuckte mit den Achseln. „Ich hoffe es; geflickt habe ich es, so gut ich konnte.“
„Aber riskierst du nicht.“
„Natürlich ist es ein Risiko. Aber es ist auch kein Vergnügen, zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen, wenn die anderen alle auf einer Radtour sind.“
Eine ganz leise Bitterkeit klang aus Ponys Stimme. Sie faltete ihren Regenmantel zusammen und band ihn auf dem Gepäckträger fest.
„Du, Mutti“, sagte sie zögernd.
„Ja?“
„Sag. könnte ich nicht ein bißchen Geld bekommen? Weißt du, die anderen wollen alle in ,Drei Eichen’ einkehren und.“
„Ihr hättet euch ja Proviant mitnehmen können.“
„Ja, wenn von den anderen das doch keine wollte.“ Die anderen, die anderen! Niemand von den anderen. alle die anderen in der Klasse haben. alle die anderen haben Pullis mit Rollkragen, Schultaschen aus Leder, alle die anderen dürfen.
„Ja, warte ein wenig.“ Frau Jessen holte ihre Geldtasche und gab Pony ein paar Kronen.
„Vielen, vielen Dank, Mutti.“ In Ponys Gesicht leuchtete es auf, als sie sich aufs Rad schwang. Sie wandte sich um und winkte der Mutter zu. Und Frau Jessen winkte zurück und überlegte, wie sie bei ihrem knappen Wirtschaftsgeld die paar Kronen einsparen könnte.
Die acht jungen Mädchen radelten in den klaren Herbsttag hinaus. Sie plapperten und lachten. Pony war die fröhlichste von allen, bis - ja, bis ein scharfer Knall ertönte und das Rad wackelte. Es war gerade noch so, daß sie nicht herunterfiel.
Du liebe Zeit! Das war nicht nur eine einfache Panne, das war die reinste Explosion! Der mürbe, alte Gummireifen war ein langes Stück aufgerissen.
Die anderen Mädel stiegen von den Rädern und besahen sich den Schaden.
„Zum Kuckuck!“ rief Pony. Das sollte recht forsch klingen. Aber es gelang ihr nicht recht, denn sie spürte einen mächtigen Kloß im Hals.
„So etwas“, sagte Daisy. „Das kann man gar nicht mehr flicken.“
„Du wolltest doch dein Rad reparieren lassen“, sagte Margret.
„Das habe ich vergessen und da habe ich gestern selbst mit Flicken angefangen“, murmelte Pony. „Aber in diesem Fall kann man wohl nicht behaupten, daß selbstgemacht auch gut gemacht ist.“
„Was tun wir jetzt?“ fragte Stella.
„Was ihr tut? Ihr fahrt weiter und ich schiebe diese Ruine heim.“
„Soll ich mitkommen?“ fragte Erika. Jetzt wurde der Kloß im Hals so dick, daß Pony beinahe nicht reden konnte. Erika wollte ihren Sonntagsausflug opfern, um ihr Gesellschaft zu leisten! Das war so. so. Pony schluckte verzweifelt und zwang sich zu einem Lächeln.
„Du bist ein netter Kerl, Erika, aber das möchte ich nicht annehmen. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es eine Menge, was ich heute alles tun könnte. Deshalb ist es vielleicht gar nicht schlecht, daß nichts aus dem Ausflug wird. Macht’s gut, ihr anderen. Viel Vergnügen! Das nächste Mal sorge ich dafür, daß mein Rad in Ordnung ist.“
Dann machte Pony kehrt und trabte vier Kilometer lang die sonntagsstille Landstraße zurück nach Bukkeberg, nach dem Föhrenweg 44. „Ja, aber Mädel.“, sagte Mutti.
Pony schleuderte das Rad gegen die Hauswand und trocknete zum siebzehnten Mal die Augen. „Explodiert! Nichts zu machen!“
„Höre, liebes Herz.“
„Ach, laß mich!“ sagte Pony. Sie lief wie der Wind die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Ihre Mutter blieb stehen. Kleine Pony! Es war nicht leicht für sie, ganz bestimmt nicht. Welches Pech, daß sie gerade in einer Klasse mit so vielen Kindern reicher Eltern gelandet war. Pony war klug und sie war ein liebes Mädchen. Aber was zuviel ist, ist zuviel, besonders wenn man erst sechzehn und ein halbes Jahr alt ist.
Frau Jessen blieb nachdenklich stehen.
Mit vierzig kann man leichter verzichten, dachte sie. Aber was man mit sechzehn Schlimmes erlebt, das gräbt tiefere Spuren, das tut weher.
Wenn sie es sich genau überlegte, dann konnte sie ihren alten Wintermantel ganz gut noch einen Winter tragen und bei mildem Wetter auch den Popelinmantel anziehen, vielleicht mit einer Strickjacke darunter.
Und dann ging Frau Jessen ins Wohnzimmer und öffnete das oberste Fach des Schreibtisches. Obenauf lag ein Umschlag mit der Aufschrift „Wintermantel“. Daraus nahm sie einen Fünfzig-KronenSchein und ging zu Pony hinauf.
Pony saß an ihrem Arbeitstisch, hatte die Hände aufgestützt und starrte vor sich hin. Als die Mutter eintrat, wandte sie nicht einmal den Kopf. „Pony, Liebling.“
„Ich weiß schon, Mutti, aber manchmal ist es eben verflixt schwer, arm zu sein.“
„Sieh mal her, Pony! Hier hast du Geld für eine richtige Radreparatur.“
Pony drehte sich mit einem Ruck um. „Aber Mutti, wieso . Ich meine, wie kannst du.“
„Ja, siehst du, ich habe eine kleine Sparsumme, von der du nichts weißt. Sie ist für den äußersten Notfall bestimmt, und das ist wohl.“
„Das ist doch kein äußerster Notfall!“ sagte Pony, aber ihre Augen leuchteten.
„Doch“, lachte Frau Jessen „es ist äußerste Not - für dein Rad.“ „Ach Mutti“ - und dann hatte Frau Jessen Ponys Arme um den Hals, und die Freude in den Augen des Mädchens entschädigte Frau Jessen reichlich für den Wintermantel, den sie aufgegeben hatte.
Pony ließ die Mutter los und sah auf den Geldschein hinunter. „Weißt du, Mutti, es gibt ja eine Menge Sachen, die ich nicht habe. Manchmal ist das schon arg. Aber eine Sache habe ich, oder vielmehr zwei gute Sachen.“
„Und was sind das für Sachen, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe die besten Eltern der Welt“, sagte Pony und ihre Stimme zitterte ein wenig, aber die Augen strahlten wie Sterne.
Pony genoß es, von und zur Schule mit dem Rad fahren zu können. Daß sie dabei Zeit sparte, war gut, aber es war auch so niederdrückend gewesen, den langen Weg zu Fuß gehen zu müssen, während alle anderen radelten. Pony, Erika, Berit und Ursula hatten denselben Weg, und nun fühlte sich Pony mehr in Kontakt mit ihren Kameradinnen. Daß sie nun auch radfahren konnte, machte sie ihnen gleichwertiger; in diesem Punkt wenigstens stach sie nicht von ihnen ab.
Sonst gab es noch genug solcher Punkte. Kleider und Taschengeld und die Frisur und tausend andere Dinge. „Daß du dir nicht die Haare abschneiden läßt! Pferdeschwänze sind doch ganz unmodern“, sagte Berit eines Tages.
Pony lächelte etwas angestrengt.
„Du kennst meine Haare nicht“, sagte sie. „Du ahnst nicht, wie unmöglich die sind. Ich getraue mich einfach nicht, sie abzuschneiden, die würden nach allen Seiten herausstehen wie ein alter Kehrbesen.“
„Sie können unmöglich schlimmer sein als meine“, sagte Berit eifrig. „Wenn du willst, kann ich dir die Adresse meines Friseurs geben, er ist einfach ein Tausendkünstler. Du mußt doch zugeben, daß er meinen Struwwelkopf ganz nett zurechtgekriegt hat.“
Berit lächelte selbstsicher unter ihrer Mode-Frisur. „Ach, ich weiß nicht - “, sagte Pony unsicher. Mein Friseur, dachte sie, wie sicher, wie selbstverständlich, wie wohlhabend das klang!
Erika kam ihr zu Hilfe. „Ach nein, schneide es nicht ab, Pony!“ sagte sie. „Wir wollen dich lieber ganz so haben wie du bist, und dieser Pferdeschwanz gehört nun mal unbedingt zu dir.“
Pony warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Meinst du wirklich? Ja, ja, dann behalte ich ihn eben.“ Wenn sie bloß ahnten, wie satt sie diesen Pferdeschwanz hatte! Wie brennend sie sich eine schicke, moderne Frisur wünschte, mit einer Andeutung von Stirnfransen, ein paar lustig zerzausten Strähnen und der Andeutung eines kleinen Scheitels. Kurz gesagt: eine Frisur, die eine Menge Geld kosten würde, das sie eben absolut nicht hatte.
Das war ja gerade die Schwierigkeit. Ihre Freundinnen konnten leicht sagen: „Schneide doch deine Haare ab“, oder: „Laß doch dein Rad reparieren“, oder: „Du solltest einen Petticoat unter dies Kleid anziehen“ - sie sagten das so einfach, so selbstverständlich, als ob es keinerlei Geldsorgen in der Welt gäbe. Es fiel ihnen gar nicht ein, daß Haarschneiden und Petticoats und Radreparaturen Geld kosteten.
Und Pony war noch nicht so erwachsen, so frei und überlegen, daß sie hätte sagen können: „Nein, das muß ich schön lassen, das kann ich mir nicht leisten.“
Minderwertigkeitskomplexe wuchsen in ihr, und so geschah es, daß sie versuchte, sich da zu behaupten, wo sie es vermochte. Sie war es, die auf Fragen antwortete, die an sich nichts mit den Aufgaben zu tun hatten. Was man büffeln mußte, das war nicht Ponys starke Seite. Aber bekam sie eine Sache in einer Schulstunde erklärt oder in einem abendlichen Gespräch mit Vati, dann saß es in ihr fest. Und Vati hatte immer Zeit, mit ihr zu plaudern, hatte immer Zeit, ihre Fragen zu beantworten. Es wurde bald zur Gewohnheit bei den Klassenkameradinnen, Pony zu fragen, wenn es sich um ein schwieriges Fremdwort handelte oder um eine verwickelte Kreuzwortaufgabe. Und in ihren Aufsätzen zeigte Pony oft ein Wissen und eine Fähigkeit zu logischem Denken, das ihren Jahren weit voraus war.
Aber das Minderwertigkeitsgefühl war trotzdem vorhanden. Und am Nachmittag und an den Abenden saß Pony oft da und bastelte an ihren Kleidern herum, machte Dreiviertelärmel aus langen Ärmeln, einen neuen Ausschnitt an einer alten Bluse, versuchte ihre einfachen Kleidungsstücke schicker und moderner zu ändern.
Das Ergebnis war nur „soso“. Pony hatte keine Nähbegabung.
Aber es wirkte sich an ihren Aufgaben aus. Immer öfter kam sie nur halb vorbereitet zur Schule, und die Lehrer schüttelten die Köpfe über die schlechten Noten, die sie ihr notgedrungen geben mußten. Obwohl sie doch wußten, daß sie sehr gut konnte, wenn sie nur wollte.
Es tat ihnen wirklich leid, denn alle mochten Pony gern. Trotz allem.
Fräulein Bernhard öffnete den letzten Aufsatz aus dem Stoß.
„Diesen Aufsatz habe ich bis zum Schluß aufgehoben“, sagte sie. „Es kommt nicht oft vor, daß man die Freude hat, ein ,Vorzüglich’ für einen norwegischen Aufsatz geben zu können. Aber diese Freude hatte ich jetzt. Ja, es ist dein Aufsatz, von dem ich spreche, Pony. Ich möchte ihn euch vorlesen. Sollte ich dabei stottern, ist es nicht mein Fehler, Ponys Handschrift ist nämlich keineswegs vorzüglich.“
Pony errötete, und Fräulein Bernhard begann zu lesen. Bernt saß mit erhobenem Kopf da und horchte gespannt. Dann wandte er sich einen Augenblick um und nickte Pony anerkennend zu. Erika, Berit und Stella warfen erstaunte und bewundernde Blicke auf Pony, nur Margret saß mit einem kleinen spöttischen Lächeln da, und nun ließ sie auch noch ein leises verächtliches Schnaufen hören.
„Sag mal, Pony“, fragte Fräulein Bernhard, als sie fertig war, „wie bist du eigentlich auf diese Gedanken mit den Rädern gekommen?“
„Ich weiß nicht - ach doch, ich weiß schon. Wir sprachen einmal daheim über große Erfindungen, und da sagte Vati, eigentlich sei die Erfindung des Rades die bedeutendste von allen. Darüber dachte ich nach und ich fand, daß Vati recht hatte - es kam dann alles ganz von selbst, als ich den Aufsatz zu schreiben begann.“ Fräulein Bernhard nickte. „Ja, dann gratuliere ich dir, Pony, und möge dieses Vorzüglich’ nicht das letzte sein, und mögest du im Mündlichen ebenso gut werden, wie du es im Schriftlichen bist.“ Pony nahm ihr Heft an sich und war glücklich. Wie sie sich darauf freute, ihren Eltern erzählen zu können.
Aber die Freude war von kurzer Dauer. Sie dauerte gerade bis zur Pause, in der die acht Mädchen der Lateinklasse sich auf dem „Felsen“ lagerten.
„Pony, wollen wir wetten, daß du eine Schriftstellerin wirst?“ sagte Erika. „Dein Aufsatz war tatsächlich eine Wucht.“
Margret warf den Kopf in den Nacken. „Ich danke! Wir könnten wohl alle pfundige Aufsätze schreiben, wenn wir unsere Väter zu Hilfe riefen. Ich für meinen Teil möchte lieber ein ,Genügend’ haben für einen Aufsatz, den ich wirklich selbst geschrieben habe, als ein ,Vorzüglich’ für eine Arbeit, die ein anderer gemacht hat.“
Pony fuhr auf wie von einer Nadel gestochen.
„Was sagst du da, Margret? Wagst du zu behaupten, daß ich meine Aufsätze nicht selbst schreibe?“
„Behaupten? Hast du vielleicht nicht selbst erzählt, daß es dein Vater war, der.“
„Mein Vater, ja, daß er einmal mit Mutti und mir über große Erfindungen sprach. Aber das ist eine Ewigkeit her. Und wenn du denkst, daß er auch das geringste mit meinem Aufsatz zu tun hätte.“
„Es ist meine Sache, was ich denke. Gedanken sind zollfrei.“ „Dann behalte gefälligst deine Gedanken für dich, und sprich einen so schmutzigen Verdacht nicht aus!“
„Liebe Zeit, wie du hochgehst! Fühlst du dich etwa getroffen?“
Pony konnte sich nicht helfen. Sie war so wütend, daß ihr die Tränen aus den Augen kullerten.
„Nein, ich fühle mich nicht getroffen! Aber ich schäme mich für dich! Ich schäme mich, daß wir ein so gemeines, ein so schäbig denkendes Mädchen in unserer Klasse haben!“
Pony schrie beinahe die letzten Worte. Sie schrie so laut, daß Fräulein Bernhard, die grade Aufsicht auf dem Schulhof führte, den Kopf wandte. Und da sah sie Pony stehen, mit geballten Fäusten und mit dicken Tränen in den Augen. Fräulein Bernhard kam auf die Gruppe zu.
„Nanu, nanu, was ist denn hier los? Zankt ihr euch wie kleine Kinder?“
Alle schwiegen. Pony schnüffelte und kramte in ihrer Tasche nach dem Taschentuch. Natürlich lag das wieder in der Schulmappe.
Fräulein Bernhard drückte ihr ein weißes, weiches Taschentuch in die Hand.
„Hört mal her, ihr Mädchen. Ich weiß, daß es ein ungeschriebenes Gesetz unter Schülerinnen ist, nie zu petzen, und das respektiere ich. Aber ich sehe, daß hier etwas los ist, und falls ich euch helfen kann, tue ich es gern. Nun? Will jemand - nicht petzen, sondern vielleicht erzählen, worum es ging?“
Sie sahen sich gegenseitig an. Zuletzt sprach Erika.
„Wir haben uns gestritten. Es ging um die Frage, ob es irgendwie unehrlich ist, daß Pony eine Idee ihres Vaters benutzt hat - ob es überhaupt ein Schwindel ist, wenn man die Gedanken eines anderen für einen Aufsatz verwendet.“
Fräulein Bernhard sah die Mädels forschend an. Viel Menschenkenntnis gehörte nicht dazu, um zu sehen, wer die Beschuldigung vorgebracht hatte. Margrets Gesicht war finster und verbissen.
„Unehrlich?“ wiederholte Fräulein Bernhard. „Wie könnt ihr überhaupt auf solch einen Gedanken kommen? Gebraucht nicht jeder von uns jeden Tag Gedanken anderer Menschen? Das ist es ja grade, was man fruchtbare Zusammenarbeit nennt, das ist es ja grade, wovon wir gegenseitig etwas lernen! Da, wo unsere eigenen Gedanken nicht ausreichen, müssen wir glücklich sein, daß es große Geister gibt, die für uns denken, und uns helfen. Unehrlich wäre es gewesen, falls Pony oder sonst jemand eine Arbeit für sich ausführen ließe. Aber die Ideen darf man sich holen, wo man will. Um so mehr, wenn eine Auffassung, die man von einem anderen Menschen gehört hat, auch die eigene Auffassung werden kann. Ja, das ist also meine Meinung.“
Sie blickte auf Ponys geschwollenes Gesicht.
„Es hat doch wohl keine von euch angedeutet, daß Pony den Aufsatz nicht selbst geschrieben hat?“
Niemand antwortete. Margret blickte zu Boden und war puterrot. Jetzt wurde Fräulein Bernhards Gesicht sehr ernst.
„Ich frage nicht, wer es war, ich frage überhaupt nichts. Aber du, Ursula, du bist doch mit Pony schon ein paar Jahre in dieselbe Klasse gegangen, soviel ich weiß. Wenn es sich so verhält, daß Pony einem Verdacht ausgesetzt war, kannst du ihr vielleicht helfen. Ich glaube nämlich, daß Pony immer sehr gute Aufsätze geschrieben hat. Ist es nicht so?“
Ursula nickte. „Doch. Sie hat ein paarmal ,Vorzüglich’ bekommen. Zuletzt beim Examen im Juni.“
„Das weiß ich. Und niemand kann Pony wohl verdächtigen, bei einem Examensaufsatz, der in der Schule, im Klassenzimmer und im Beisein von drei Inspektoren geschrieben wurde, Hilfe bekommen zu haben.“
Sie richtete einen ernsten Blick auf die Mädchen. „Hört zu, ihr Mädchen. Ich finde, wir haben es so nett in unserer Liliputklasse. Ihr seid so wenige, nur acht Mädchen, ihr solltet zusammenhalten und Freundinnen sein. Ihr habt keinen Grund, aufeinander neidisch zu sein. Die eine kann das besser, die andere etwas anderes. Daisy und Pansy können besser Englisch als ich. Ursula ist gut in Mathematik. Margret soll sehr begabt im Zeichnen sein, stimmt es nicht? Also, jede hat etwas, und darüber sollt ihr froh sein. Neid ist tödlich für jede Kameradschaft, und jemand der Schwindelei zu beschuldigen ist sehr häßlich, in diesem Fall sogar absolut aus der Luft gegriffen. Ich hoffe, es ist das erste und letzte Mal, daß wir so etwas erleben. So, jetzt läutet es. Macht einen dicken Strich durch diese Pause und fangt als gute Kameraden neu an.“
Fräulein Bernhard nickte und ging davon. Die Lateinklasse verließ den Felsen und ging der Treppe zu. Pony trocknete sich die Augen.
Es wurde nichts mehr gesagt bis nach der Schulzeit. Margret stand an der Seite Ponys im Korridor und zog ihre Jacke an. Dann kam es:
„Pony, ich weiß wahrhaftig nicht, was mit mir los war. Ich - also ich finde, was Fräulein Bernhard sagte, war richtig. Und - also du verstehst, ernstlich habe ich ja gar nicht geglaubt, daß du - ich meine, daß dein Vater - “
Niemand konnte behaupten, daß Margret die Gabe besaß, sich präzis ausdrücken zu können. Aber Pony verstand sie trotzdem. Sie lächelte, ein kleines, unsicheres Lächeln. „In Ordnung, Margret. Wir reden nicht mehr darüber.“
Nein, sie sprachen nicht mehr davon. Aber diese Episode hatte Pony einen Dämpfer gegeben. Sie verstand, daß sie an sich halten und nicht alles auskramen sollte, was sie wußte. Denn es war wohl nicht bloß dieser Aufsatz, der Margret irritiert hatte. Es waren die vielen Gelegenheiten, bei denen Pony imstande gewesen war, ein Fremdwort zu erklären, bei denen sie etwas gewußt hatte, das die anderen nicht wußten, und Ausdrücke gebrauchte, die zu erwachsen für ihr Alter klangen.
Aber gerade das war es ja, was Pony den anderen voraus hatte. Wurde ihr das genommen, hatte sie überhaupt nichts. Glaubte sie wenigstens.
Es war der schulfreie Tag im Monat und es regnete zu aller Enttäuschung. Pony fuhr in die Stadt. Mutti hatte sie gebeten, ein Paket Kaninchenfelle zum Kürschner zu bringen. Sie hatte Verbindung mit einem Geschäft in der Stadt, das die Felle zu einem recht guten Preis ankaufte. Und dieses „Kaninchengeld“ war immer mehr als willkommen.
Auf dem Heimweg traf Pony Berit und sie gingen von der Vorortbahn aus gemeinsam weiter.
„Wenn das gut geht, geht alles gut“, sagte Berit und blickte zu der grauen Wolkendecke empor. „Sieh dir das schwarze Gespenst da an! Fraglich, ob wir heimkommen, ehe wir all das auf die Birne kriegen.“
Pony gelang es nicht, ihr Haus zu erreichen. Sie kamen gerade noch bis zu Berits Gartentür, dann ging ein wahrer Wolkenbruch über sie nieder.
Berit zog Pony mit sich hinein. „Fix, ehe du bis auf die Haut naß wirst“, sagte Berit.
Rasch liefen sie über den Gartenweg und kamen in eine geräumige Diele, dann in eine Garderobe mit geschliffenen Spiegeln, einer antiken Kommode und Kristalleuchten an den Wänden.
„Wie wir bloß aussehen!“ lachte Berit, als sie ihr eigenes und Ponys zerzaustes Haar im Spiegel sah. „Komm, wir können uns hier
in Ordnung bringen.“
Wieder öffnete sie eine Tür, diesmal zu einem Waschraum mit zartgrünen Fliesen, einem Handwaschbecken und kleinen rosa Gasthandtüchern in einem hübschen Metallkorb an der Wand.
Auf einer niedrigen Konsole lagen Bürsten und allerlei Toilettesachen in Rosa, und auf dem Waschbecken ein großes, duftendes rosa Seifenstück. Vor den Fenstern hingen leichte, kleingeblümte Vorhänge in Apfelgrün und Rosa.
Etwas so Hübsches hatte Pony noch nie gesehen. Dann gingen sie weiter, zurück durch die Diele in ein riesengroßes Zimmer mit breiten Glastüren auf eine Terrasse. Und im Zimmer dudelte ein Radio Tanzmusik. Eine gertenschlanke junge Dame stoppte mieten in einem Tanzschritt, als die Mädchen hereinkamen.
„Hallo, Lilli. Das ist Pony, eine aus meiner Klasse. Ich mußte sie vor diesem Unwetter retten, sonst wäre sie ertrunken. Wir sind schrecklich verfroren; ich muß Hilde bitten, etwas Warmes für uns zu organisieren. Willst du auch etwas haben? Tee oder sowas?“
„Bist du verrückt? Denk an die Kalorien. Tag, Pony, nett dich zu treffen. Berit hat schon von dir erzählt.“
Pony grüßte etwas unsicher. Wer in aller Welt war bloß diese Lilli?
„Ich wußte nicht, daß Berit eine erwachsene Schwester hat“, sagte Pony etwas unsicher.
Berit brach in ein schallendes Gelächter aus.
„Damit hast du dir eine Freundschaft für Zeit und Ewigkeit erworben!“ lachte sie. „Es ist ja Muttis Traum, für meine Schwester gehalten zu werden. Ja, sie ist nämlich meine Mutter, verstehst du.“
Pony riß erstaunt die Augen auf.
„Nein sowas - nie hätte ich gedacht - “ Lilli lächelte erfreut.
„Schönen Dank, Pony. Das mit der Schwester ist das netteste, das ich seit langem gehört habe. Da hat man doch wenigstens etwas für alle Bemühungen. Übrigens, Berit, wenn ich es mir überlege, kannst du Hilde bitten, mir auch eine Tasse Tee zu bringen, aber nur Tee, ohne etwas dazu. Tatsache ist, daß ich 270 Gramm abgenommen habe, also - “
„Was du nicht sagst! Ach nein, ach nein, was für ein Glück!“ lachte Berit. „O.k. - du sollst Tee haben, Lilli. Bist du sicher, daß Sacharintabletten nicht dick machen?“ Damit ging Berit, gefolgt von Pony, in die Küche.
Und wieder mußte Pony staunen über eine wunderbare, ganz moderne Küche, beinahe noch vollkommener als die in Erikas Heim. Die Hausgehilfin bekam Bescheid und Berit bat sie, den Tee in das Herrenzimmer zu bringen.
„Dann kann Lilli das Zimmer allein für ihre Gymnastik haben“, sagte Berit erklärend zu Pony.
„Du, warum nennst du deine Mutter eigentlich Lilli?“ fragte Pony.
„Sie kann es nicht ausstehen, wenn ich sie Mutter nenne. Da fühlt sie sich so alt“, sagte Berit mit der selbstverständlichsten Miene der Welt. „Manchmal necke ich sie und sage, ich werde mit achtzehn heiraten und mit neunzehn ein Baby kriegen, so daß sie Großmutter sein wird, wenn sie zweiundvierzig ist, und dann wird sie beinahe hysterisch. Aber tatsächlich sieht sie ja aus wie 25, findest du nicht?“
„Doch“, sagte Pony leise. Und dann gingen ihre Gedanken wieder einmal heim, zu ihrer eigenen Mutter. Sie war nur ein Jahr älter als Frau Wolf. Nur ein Jahr älter als diese überraschende Frau, die allein auf dem Parkett tanzte, mitten am Vormittag, die, wie es schien, für ihre Schlankheit und ihr jugendliches Aussehen lebte und es nicht ausstehen konnte, Mutter genannt zu werden.
Was hatte ihre Mutter ihr einmal gesagt? Pony hatte gefragt, warum sie als kleines Kind nicht gelernt hatte, Mama zu sagen wie die meisten Kinder. Mutti und Vati hatten nie anders als eben Mutti und Vati für sie geheißen. Mutti hatte gelächelt, ihr gutes warmes Lächeln, und ihr gesagt: „Glaubst du, ich würde freiwillig auf den schönsten Namen in der Welt verzichten?“
Arme Mutter von Berit! Die Arme hatte an dem schönsten Namen der Welt keine Freude. - Im Herrenzimmer spielte auch ein Radio - nein, tatsächlich, es war ein Tonbandgerät. Ein Junge saß tief vergraben in einem Ledersessel und hörte sich das Geheul eines Jazzorchesters an.
Er machte keine Anstalten aufzustehen, als die beiden hereinkamen, er nickte nur so ein bißchen und winkte lässig mit der Hand. „Das ist Otto, mein Bruder. Also nicht mein Vater“, lachte Berit. „Hallo, Otto, das ist Pony, eine Schulfreundin von mir. Kannst du dir nichts besseres vornehmen, als hier bei deiner Spieldose zu sitzen?“
„Was soll man denn anfangen bei diesem scheußlichen Wetter?“ murmelte Otto. Er blieb im Sessel sitzen, machte keine Anstalten, die Musik zu dämpfen, und sie schien Berit auch nicht zu stören. Sie schwätzte drauflos und dieses Geplapper störte auch Ottos
Musikgenuß nicht. Und als Hilde kam und einen Teewagen hereinrollte, gab es außer Pony niemand, der dieses Gemisch aus Jazz, Gerede und Tassengeklirr störend fand.
Als Otto die Kuchenplatte erblickte, wollte er auch Tee haben. Und dann kam „Lilli“. Das Tonband lief, ebenso das Geschwätz, und Otto nahm sich als erster Zucker und Zitrone; er trank Tee mit dem Mund voller Kuchen, und als er endlich etwas sagte, geschah das auch mit vollem Mund.
Pony war still. Sie saß mit großen erstaunten Augen da.
Dann kam Hilde mit einer großen Schachtel in die Tür.
„Da ist das Kleid, gnädige Frau, eben angekommen!“ Frau Wolf sprang auf.
„Himmel, bin ich gespannt! Schau, daß du ‘rauskommst, Otto, ich muß das sofort probieren.“
Endlich stellte Otto seine Katzenmusik ab, stopfte noch ein Stück Kuchen in den Mund und zog mit seinem Tonbandgerät ab. Frau Wolf riß Schnur und Papier zur Seite, eine Menge Seidenpapier flog auf den Fußboden, und hervor kam etwas, das Pony wie eine weiße Wolke und sonst nichts erschien.
„Das Turnierkleid“, erklärte Berit.
„Turnier?“ Pony verstand nicht.
„Ja, Lilli und Vati werden nächste Woche an der norwegischen Meisterschaft teilnehmen, weißt du, die sind nämlich Asse im Tanzen. Das sieht aber schick aus, Lilli. Zieh es doch gleich mal an. Soll ich die Schuhe holen?“
„Ja, tu das. Links in der Garderobe, bringe alle drei Paar.“
Frau Wolf zog sich schon Pulli und Rock aus, Strümpfe und Hüfthalter folgten, und nun stand sie einen Augenblick da in etwas Winzigem, Weißem, einem Hauch von Nylon und Spitzen, und dann glitt die wogende Wolke über ihre schlanke Gestalt.
Pony hatte noch nie so etwas gesehen. Mit zitternden Händen half sie Frau Wolf, einen unsichtbaren weißen Reißverschluß zuzumachen. Und dann kam Berit mit einer Schachtel, die drei paar Abendschuhe enthielt, mit den höchsten und dünnsten Absätzen, die Pony je gesehen hatte.
„Na?“ sagte Frau Wolf und schwang sich rundum. „Sitzt es?“
„Todschick, Lill. Einfach atemberaubend. Nicht wahr, Pony?“
„Phantastisch“, sagte Pony, und es war genau das, was sie meinte.
„Weißt du, wieviel Tüll in so einem Kleid ist?“ sagte Berit. „75
Meter! Ja, tatsächlich, ob du es glaubst oder nicht.“
Pony lernte in diesen Minuten eine ganze Menge. Daß ein Turnierkleid aus unzähligen Lagen weißen Tülls besteht, daß man keine Strümpfe anzieht, daß man zwei, drei Paar Schuhe haben muß, damit man zwischen den Tänzen wechseln kann, und daß die Schuhe dünne Sohlen aus Wildleder haben, damit man auf dem blanken Parkett nicht ausrutscht.
Aber sie dachte auch an etwas anderes. Daß ein Zehntel des Stoffes zu einem eleganten Kleid für sie selbst genügt hätte, so ein Tanzkleid, wie sie es sich so brennend wünschte.
Und Frau Wolf plauderte von früheren Meisterschaftskonkurrenzen, und sie zeigte Silberpokale, berichtete von Turnieren im Ausland, bei denen sie und ihr Mann im Wettbewerb mit englischen, deutschen, belgischen und französischen Paaren getanzt hatten. Schließlich zog sie mit ihrem Kleid, den Schuhen, den Strümpfen und dem Hüfthalter in den Händen in ihr Schlafzimmer, um sich wieder zurechtzumachen. Die beiden Mädchen blieben bei ihren Tassen halbkalten Tees sitzen.
„Weißt du, wem deine Mutter ähnlich sieht?“ fragte Pony.
„Sich selber“, lachte Berit.
Pony lächelte ein wenig.
„Ja, und außerdem der Kaiserin Elisabeth.“
„Habe nicht die Ehre.“
„Ich auch nicht, denn sie starb 1898. Elisabeth von Österreich also.“
„Oh, jetzt weiß ich. Sissi! Ich habe den Film mit Romy Schneider gesehen. Wieso sieht Lilli ihr ähnlich?“
„Sie war auch so unwahrscheinlich schlank und so schön.“
„Lilli wäre geplatzt vor Stolz, wenn sie das gehört hätte.“
„Und sie paßte genauso auf ihre Diät auf, wie deine Mutter es tut. Sie wog sich jeden Morgen.“
„Lilli tut das sicher auch am Abend, wenn ich sie recht kenne.“ „Und sie war ebenso leidenschaftlich aufs Reiten versessen, wie deine Mutter es aufs Tanzen ist.“
„Wieso weißt du denn das alles von dieser Elisabeth?“
„Ich habe gerade eine Biographie über sie gelesen.“ Berit lachte ein bißchen.
„Du bist ulkig, Pony. Andere Leute würden sagen: Ich habe ein Buch über sie gelesen, du sagst: eine Biographie! Klingt so feierlich.“ Pony errötete.
„Ja, aber das war nicht nur ein Buch, sondern eben eine Biographie, nicht nur ein erdichtetes Buch, sondern eine autenti - ich meine eine wahre Biographie.“
„Ja, das stimmt sicher, es ist nur, daß es sich so schrecklich fein anhört. Übrigens wäre es sicher nett, dieses Buch - Verzeihung -diese Biographie zu lesen. Ich kann mich so gut an den Film erinnern, der war eine Wucht. Hast du das Buch?“
„Ja, das heißt, Mutti hat es. Ich kann es dir gern borgen.“
„Fein. Bring es doch mal mit in die Schule.“ Pony warf einen Blick aus dem Fenster.
„Es hat aufgehört zu regnen, ich muß heimgehen. Mutti weiß nicht, wo ich geblieben bin.“
Als Pony zur Gartentür hinausging, wandte sie sich einen Augenblick um. Vom Haus her hörte man einen flotten Mambo und Frau Wolfs schlanke Gestalt bewegte sich in Tanzschritten hinter den Vorhängen der Glastüre.
75 Meter Stoff in einem Kleid.
Drei Paar Schuhe, um einen Abend zu tanzen.
Ins Ausland reisen, um einen Pokal zu gewinnen oder vielleicht bloß zuzusehen, wie andere ihn gewannen.
Jaja, es gab schon welche, die lachen konnten.
Aber trotzdem senkte sich ein tiefer Friede über Pony, als sie über die regennassen Wege heimwärts ging.
Natürlich hatte ihr vieles imponiert, mächtig imponiert: das schöne Heim Berits, das Tüllkleid, das Tonbandgerät, alles zusammen - aber sie konnte sich nicht genug über Frau Wolf wundern, die ruhig zusah, wie sich ihr fünfzehnjähriger Sohn zuerst bediente, mit vollem Mund redete und nicht aufstand, wenn Gäste das Zimmer betraten.
Dann war Pony daheim angekommen. Mutti war bei einem verspäteten Frühstücksaufwasch. Der mußte oft warten, denn Staubwischen und Kaninchenversorgung gingen vor. Pony ergriff ein Küchentuch und begann abzutrocknen. Dabei erzählte sie mit erstaunten runden Augen von dem Besuch bei Berit.
„Mutti, was würdest du sagen, wenn ich dich plötzlich Christine riefe?“ fragte sie.
„Du meine Güte!“ lachte Frau Jessen, „da würde ich mich schrecklich betrogen fühlen. Wenn der einzige Mensch auf der Welt, der das Recht hat, mich Mutti zu nennen, es nicht täte!“
Frau Jessen sah die Tochter nachdenklich an, dann fügte sie hinzu: „Aber du weißt, Pony, es gibt heutzutage viele Kinder, die die Eltern mit Vornamen anreden. Denk an deine eigenen Kusinen.“ „Ja, das stimmt schon. Aber wenn sie Tante Charlotte ,Lottchen’ nennen, dann klingt es nur lustig und liebevoll - und Tante Charlotte hat es doch nicht selbst eingeführt, weil sie krampfhaft jung bleiben will, und sie findet es ja herrlich, wenn die beiden Kleinen ,Omi’ sagen - du, Mutti, vielleicht werde ich auch einmal heiraten und Kinder kriegen!“
„Ja, das hoffe ich doch wirklich, Pony!“
„Möchtest du gern Großmutter werden?“
„Na, und ob! Was das betrifft, darfst du von mir aus zwölf Kinder in die Welt setzen. Aber im Augenblick habe ich nicht zwölf Enkel, sondern sechs neugeborene Kaninchen zu versorgen. Tust du ihnen die Milch hin, Pony?“
Pony ging.
Und während sie mit den Kaninchen herumpusselte, überlegte sie, daß sie trotz allem auf gar keinen Fall mit Berit tauschen möchte.
Das Haus, den Wohlstand, das Radio, den Fernseher, den reizenden Waschraum und die Diele mit den Bildern, ja. Aber müßte sie dazu auch „Lilli“ mit in Kauf nehmen und sie als Mutter akzeptieren, nein - nie im Leben!
Was hatte Vater damals an ihrem ersten Gymnasialschultag gesagt? „Alle müssen bezahlen“, hatte er gesagt.
Berit hatte schicke Kleider und ein funkelnagelneues Rad, und ein sorgloses Dasein. Aber was sie dafür bezahlen mußte, das war -ja, das war einfach ein Wucherpreis des Schicksals, dachte Pony. Denn hier, wo sie allein vor dem Kaninchenstall stand, wagte sie es, in richtigen, „erwachsenen“ Worten zu denken, wie sie es sich vor ihren Freundinnen nicht mehr getraute.
Aber. ein solches Wohnzimmer zu haben wie die Wolfs und eine solche Küche - und so ein Rauchzimmer.
Pony war in diesem Augenblick genau das, was man „eine Beute sich widersprechender Gefühle“ nennt. Und mit diesen sich widersprechenden Gefühlen ergriff sie die Milchschale, schloß den Kaninchenkäfig und ging ins Haus.