Die neun Resilienzbausteine

Egal, wie schwer du in der Vergangenheit verletzt wurdest oder was dir zugestoßen ist – es ist jederzeit möglich, das innere Gleichgewicht wiederzufinden.

Psychische Widerstandskraft, die dir dabei hilft, insgesamt stabiler zu werden, heißt Resilienz. Sie schützt vor weiteren Verletzungen. Und sie hilft dabei, dass du mit Stress und schwierigen Alltagssituationen gelassener umgehen kannst. Du bleibst länger im Gleichgewicht, nichts bringt dich so schnell aus der Balance. Resilienz wirkt wie ein seelischer Friesennerz. Auch wenn es richtig stürmt und der Regen waagerecht kommt, bleibst du darin trocken.

Im nächsten Abschnitt lernst du die neun Resilienz-Faktoren näher kennen. Das hilft dir herauszufinden, welche davon du konkret trainieren kannst. Denn das ist die gute Nachricht: Resilienz kann man üben und stärken, ganz egal wie alt man ist und was man schon alles erlebt hat!

Anschließend findest du viele konkrete Tipps zur Stärkung eines oder mehrerer Resilienzfaktoren. Egal, mit welchem du anfängst: Jeder einzelne lohnt sich! Es ist eh leichter, einen nach dem anderen in deinen Alltag einzubauen oder zu stärken. Also fange da an, wo es dir am leichtesten fällt. Einiges, was deine Resilienz stärkt, tust du wahrscheinlich sowieso schon. Das ist gut! Manches erfordert aber vielleicht auch, dass du liebgewonnene Gewohnheiten veränderst, die dir vielleicht bisher sogar Sicherheit zu geben schienen oder zumindest den Eindruck davon. Ändere nicht zu viel auf einmal, sondern mache lieber einen kleinen Schritt nach dem anderen. Du gehst einen Schritt, und du spürst einen Erfolg. Wunderbar. Dann ist der nächste Schritt dran. Wichtig zu wissen ist: Jedes Puzzlestückchen stärkt dich und macht dich ein bisschen robuster. Du darfst und sollst auf jeden Schritt stolz sein!

Die Selbst- und Außenwahrnehmung

Was versteht man unter Selbst- und Außenwahrnehmung? Ganz einfach: die Fähigkeit zu bemerken, was gerade in dir und um dich herum wirklich passiert. Man sollte meinen, das sei einfach. Ist es aber nicht, und besonders, wenn du ein Trauma erlebt hast, kann es passieren, dass du manchmal gefühlt gar nicht wirklich da bist und manches nicht mitbekommst. Vielleicht kennst du das.

Auch Menschen, die sich ganz normal fühlen, sind, wenn man genauer hinschaut, oft nicht wirklich im Hier und Jetzt. Sie sind traurig, obwohl in dem Moment und an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden, alles in Ordnung ist oder sogar etwas passiert, was sie mögen und eigentlich genießen könnten. Die Katze liegt auf ihrem Schoß und schnurrt genussvoll, aber in Gedanken sind sie bei einer Situation im Job, bei der die Kollegin gereizt und ungerecht reagiert hat. Oder sie sind gerade mit einem eigenen Problem innerlich so stark beschäftigt, dass sie nicht mitbekommen, dass der Mensch gegenüber gerade völlig übermüdet aussieht oder Ränder unter den Augen hat. Oder sie sind in Gedanken und fühlen sich so, wie die Gedanken es vorgeben. Vielleicht kriegen sie nicht mit, dass jemand eine neue Frisur hat, obwohl sie ihn anschauen. Vielleicht haben sie ein komisches Gefühl im Körper und essen etwas, obwohl sie nur Appetit hatten und gar keinen Hunger oder obwohl sie vielleicht müde waren und Schlaf bräuchten, aber keine Kekse.

Im Hier und jetzt

Wer bemerkt, sieht, hört und spürt, was jetzt und hier gerade los ist, ist eindeutig im Vorteil bei der Bewältigung des Alltags. Es ist auch einfacher, mit anderen in Kontakt zu kommen oder den Augenblick zu genießen, wenn er gut ist. Und man fühlt sich viel lebendiger! Denn das Leben spielt sich nun einmal im Hier und Jetzt ab. Sind wir vertieft in Gedanken, beschäftigen wir uns vielleicht mit ungelegten Eiern. Selbst wenn wir das in der guten Absicht tun, dadurch unser Leben besser in den Griff zu bekommen, verpassen wir es. Es findet eben nur jetzt statt. Und wer gerade nicht bei sich ist und nicht in Verbindung mit der Welt ist, bekommt vom wirklichen Leben nicht viel mit.

Während uns Gedanken und am allermeisten die berühmten Gedankenspiralen aus dem Hier und Jetzt wegholen und dazu führen, dass wir eben nicht wahrnehmen, was gerade los ist, bringen uns unsere Sinne wieder zurück. Das ist eine gute Nachricht, denn wir können sie bewusst aktivieren, indem wir die Aufmerksamkeit zu ihnen lenken. Ganz wichtig dabei: Nicht werten. Also nicht überlegen, ob das, was wir wahrnehmen, gut oder schlecht ist. Das Herz schlägt schnell. Okay. Die Freundin hat eine neue Frisur. Bemerkt. Fangen wir an zu überlegen, welcher Friseur dieses Verbrechen begangen haben könnte, sind wir aus dem jetzigen Moment schon wieder abgedüst. Also zurück in die Wahrnehmung!

Im Abschnitt über ▶ Psyche – Geist und Gefühle erfährst du mehr über die ▶ Wahrnehmungsübung. Wenn du sie gut findest, darf die Übung auch in deinen Notfallkoffer – aber nur, wenn du sie trainiert hast und wirklich gut beherrscht. Darum findest du die Anleitung einerseits in Schriftform im Kapitel Notfallkoffer und eine Anleitung als Audio auf ▶ meiner Website zum Download.

Selbstfürsorge

Wenn du bemerkst, was gerade los ist, spürst du auch immer genauer, was du brauchst, damit es dir gutgeht. Du merkst, was dir guttut, und du merkst, was dir nicht guttut. Das reicht aber noch nicht!

Was bringt es, wenn du spürst, dass du eigentlich gar keinen Hunger hast, sondern eigentlich traurig bist oder Langeweile hast, wenn du dann trotzdem isst? Genau: Gar nichts! Sogar das Gegenteil ist der Fall.

Selbstfürsorge bedeutet, dass du gut auf dich achtest. Dass du dich selbst behandelst wie einen Menschen, den du wirklich liebst. Es ist dafür nicht nötig, dass du diese Liebe für dich selbst schon spürst. Es reicht so zu tun, als ob, und das zu tun, was du auch für einen Menschen tun würdest, der dir sehr am Herzen liegt. Du arbeitest noch, bist aber total müde? Dein Pflichtbewusstsein hält dich am Schreibtisch fest, obwohl es schon spät ist? Deinen besten Freund würdest du nun liebevoll ins Bett schicken, oder? Also tu es auch selbst. Geh schlafen, egal wie komisch sich das anfühlt. Achte darauf, dass du genug Schlaf bekommst, dich gut ernährst, ausreichend trinkst, dich bewegst, sodass dein Körper glücklich ist. Dann kannst du ungesunden Verführungen immer häufiger widerstehen, auch Süchten. Achte darauf, dass du deinen Körper nicht zerstörst und dich gut behandelst.

Natürlich gehört auch dazu, dass du immer wieder etwas tust, was dir Spaß macht, also dass du an einem heißen Sommerwochenende zum Beispiel zum See gehst und schwimmst, anstatt dich mit der Chipstüte aufs Sofa zu legen oder dich zuzudröhnen. Dass du Freunde triffst, die dich wertschätzen und die dich ebenfalls gut behandeln. Dass du dich von falschen Freunden trennst, solchen, die dich nur ausnutzen oder dich immer wieder verletzten. Solche, für die du dich verbiegen musst, damit sie dich mögen. Wichtig ist, dass du das nicht nur weißt, sondern dass du auch nach diesem Wissen handelst.

Positiver Umgang mit Zweifeln und Bewertungen

Bestimmt hast du schon einige Male erlebt, wie dich bestimmte Gedanken richtiggehend fertigmachen. Oft sind das Gedanken, die sich mit etwas beschäftigen, das passieren könnte. Oder mit etwas, das schon passiert ist und das du ungerecht, verletzend oder gemein findest. Wir können uns stundenlang damit beschäftigen, wie schlimm etwas war, und mit der Vorstellung, was alles Schlimmes passieren könnte. Wir machen Pläne, um genau das zu vermeiden, und wir machen Pläne, um alles zu retten, wenn der Plan nicht funktioniert. Wir verirren uns in Szenarien, in denen wir wieder enttäuscht werden oder wieder verletzt, in denen jemand sauer auf uns ist oder uns nicht leiden kann, obwohl noch gar nicht passiert ist.

Dabei machen wir alle die gleiche Erfahrung: Wenn uns zehn Probleme auf dem Weg entgegenkommen, können wir sicher sein, dass neun davon im Graben landen, bevor sie uns erreichen! Die größten Gedankenkünstler schaffen es sogar, Probleme zu sehen, die ihnen gar nicht entgegenkommen, sondern nur entgegenkommen könnten.

Weil die Energie immer dahin geht, wo die Aufmerksamkeit ist, fühlen wir uns dann auch richtig mies. Das, woran du denkst, prägt nicht nur den Inhalt deiner Gedanken: Auch dein Körper reagiert darauf, und irgendwann bemerkst du ein richtig unangenehmes Gefühl. Du bekommst Angst, fühlst dich unwohl, verletzt, einsam, hilflos, traurig, wütend oder ärgerlich, du hast Schuldgefühle, schämst dich oder du ekelst dich. Und das, während du vielleicht durch die Weinberge läufst, an einem sonnigen Herbsttag, und die Reben gelb, orange und rot leuchten und hie und da die späten Trauben prall und dunkelblau oder golden zwischen den Blättern hervorblitzen.

Gedanken führen zu Gefühlen. Wenn du deine Gedanken nicht im Griff hast, machen sie mir dir, was sie wollen.

Gedanken beherrschen

Das Ziel ist hier deshalb, zu lernen, deine Gedanken zu beherrschen statt umgekehrt. Und ja, das geht. Manche Menschen können das perfekt. Sie denken in der Regel nicht ständig positiv, sondern sie sind im Hier und Jetzt und benutzen ihre Gedanken zielführend. Wenn ein Problem wirklich da ist, überlegen sie, wie es zu lösen ist. Und wenn sie eine Idee haben, probieren sie sie aus. Wenn es klappt, ist das Problem weg. Wenn es nicht klappt, überlegen sie, was sie stattdessen tun können, und probieren etwas anderes.

Gedanken zu beherrschen lernt man in zwei Schritten:

Im ersten Schritt übst du, Gedanken nicht mehr laufen zu lassen, ohne sie bewusst mitzubekommen, also automatisch, sondern sie zu beobachten, während sie durch deinen Kopf sausen. Es geht noch gar nicht darum, etwas zu verändern. Es geht darum, ein bisschen Abstand zu den Gedanken zu gewinnen, damit sie ihre Macht über dich verlieren. Die haben sie nämlich nur, solange du sie nicht beobachtest und sie im Verborgenen agieren: ein bisschen wie Schulkinder in einem Klassenzimmer, das lange ohne Aufsicht war. Du weißt, was da passiert: Es fliegen Papierflugzeuge, Kinder klettern über Stühle und Bänke, es gibt Schlägereien, an der Tafel stehen freche Sprüche und der Stuhl der Lehrerin wird mit Pattex bestrichen. Aus dem Fenster rufen die Kinder anderen Kindern Schimpfwörter hinterher, und je länger die Kleinen unbeaufsichtigt sind, umso wilder wird es. Dann, irgendwann, steckt die Lehrerin den Kopf durch die Tür und schaut sich das Treiben an. Noch ist nicht alles in Ordnung, ein paar Kinder haben nichts gemerkt, und einige sind so übermütig, dass die Lehrerin ihnen erst ganz egal ist. Aber ein paar andere Kinder wischen schnell die Tafel, sammeln die Papierflieger auf und setzen sich an ihre Plätze. Es wird ruhiger im Klassenzimmer.

Genau das kannst du mit deinen Gedanken machen: Wenn du sie beobachtest, ganz ohne sie zu bewerten, und auch ohne sie stoppen zu wollen, also eher mit einer buddhistischen Ruhe, die sagt: »Okay, schauen wir mal, was da gerade im Kopf so alles passiert«, und die dann beobachtet, welche Gedanken auftauchen, und das einfach interessiert registriert (»Aha, dieser Gedanke schon wieder, interessant!«), dann beruhigt sich das Chaos im Kopf meistens schon ein bisschen. Wenn du dir ein bisschen mehr Zeit nehmen möchtest, kannst du auch eine halbe Stunde lang alle Gedanken aufschreiben, die dir durch den Kopf gehen. Das machst du wortwörtlich, und zwar ohne Unterschied. Du wirst merken: Das hilft.

Im zweiten Schritt kannst du dann ganz bestimmte Gedanken, die immer wiederkommen und dich besonders quälen, doppelt hinterfragen:

Genau diesen Gedanken formulierst du dann bewusst für sich selbst und ersetzt den alten negativen Gedanken dadurch, jedes Mal, wenn der negative Gedanke noch einmal auftaucht.

Auch hilfreich gegen belastende Gedanken und Gefühle ist die ▶ Wahrnehmungsübung, die ich im Abschnitt zur Selbst- und Außenwahrnehmung schon erwähnt habe und die du im ▶ Notfallkoffer-Kapitel findest. Sie hilft sehr dabei, Gedanken und quälende Gefühle zu stoppen, wenn du sie regelmäßig trainierst. Ich gebe sie meinen Patienten oft als Hausaufgabe, ganz besonders Menschen, die unter Depressionen leiden oder die Gewohnheit haben, sich selbst fertigzumachen. Sie machen die Wahrnehmungsübung mehrmals am Tag, und nach einigen Wochen spüren sie eine deutliche Veränderung: weniger unangenehme Gefühle, mehr Freude, mehr Lebendigkeit und die Fähigkeit, Gedankenspiralen oft schon am Anfang zu unterbrechen.

Gefühle und Impulse kontrollieren

Stell dir vor, du wärst Gefühlen nicht mehr ausgesetzt, sondern könntest selbst entscheiden, ob du dich weiter in einem Gefühl aufhalten möchtest oder nicht – und dich aus jedem Gefühl herausziehen. Vielleicht klingt das fast zu schön, um wahr zu sein. Aber stell dir vor: Es ist möglich! Es geht nicht von jetzt auf gleich, es erfordert Übung, aber es geht, und ich kenne viele Menschen, die das können – zumindest meistens. Und schon das ist eine riesige Erleichterung!

Sicher fragst du dich jetzt, wie das möglich ist: die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Vielleicht bemerkst du sogar einen kleinen Widerstand. Deine Gefühle – bist du das nicht? Und nimmst du nicht einen Teil von dir weg, wenn die Gefühle nicht mehr da sind, so wie sie eben gerade kommen und gehen?

Gefühle führen meistens zurück in die Vergangenheit. Die meisten Gefühle sind Erinnerungen. Darum gehören sie zwar zu dir, ähnlich wie Bilder in einem Fotoalbum. Sie sind aber nicht identisch mit dir. Du bist in Wirklichkeit viel mehr als deine Gefühle. Du hast sie. Aber du bist sie nicht. Ähnlich, wie deine Kleidung zu dir gehört und dich schmückt oder das Gegenteil: Sie gehört zu dir, sie ist dir vertraut, aber du bist nicht deine Kleidung. Du bist viel mehr als das.

Natürlich bist du auch nicht deine Gedanken. Und du bist nicht identisch mit deinen Körperwahrnehmungen. Das alles ist da. Aber du bist mehr als all das. Deshalb verlierst du nichts von dir, wenn du entscheidest, nicht mehr so oft wütend zu sein oder nicht mehr so lange in einem trübseligen Gefühl zu verbleiben, das dich manchmal einholt. Schon die Erkenntnis, dass du nicht identisch mit deinen Gefühlen bist, hat eine wichtige Wirkung. Du merkst und lernst immer mehr, dass du bestimmte Gefühle nicht haben musst. Du musst dich deinen Gefühlen nicht ausliefern. Du kannst sie erleben, sie beobachten und sie nach einer Weile ablegen, wie einen alten Mantel, der gerade zu schwer ist.

Das Gleiche gilt auch für deine Impulse. Du bemerkst, dass du eine Zigarette rauchen willst. Wenn du in der Lage bist, klar zu entscheiden, ob du das tust oder dem Impuls widerstehst, wenn du ihm wirklich widerstehen kannst, kannst du viel besser für dich selbst sorgen. Und oft bist du auch ein netterer Mitmensch. Denn wenn du bemerkst, dass du sauer wirst, und dem Impuls widerstehst, dein Gegenüber anzuschreien oder einfach wegzulaufen, kannst du für das, was dich vielleicht gerade ärgert, eine bessere Lösung finden als die alten und destruktiven Verhaltensweisen. Vielleicht sprichst du dein Gefühl stattdessen an und sagst, was dich geärgert hast. Vielleicht unterbrichst du das Gespräch, um dich erst zu beruhigen und später weiterzureden. Gerade in Partnerschaften kann das viel Streit verhindern.

Wenn du denkst, dass es sich lohnen könnte, deinen Gefühlen weniger Macht über dich zu geben, wenn du manchmal unter ihnen leidest, kannst du gleich heute damit anfangen, mehr Kontrolle über sie zu gewinnen. Im Download-Bereich auf ▶ meiner Website findest du unter dem Titel »Beobachten – Meditation« eine kurze Meditation, die du täglich anhören kannst. Sie hilft dir dabei, mehr und mehr Abstand zu Gefühlen und Impulsen zu bekommen, die dir nicht guttun, und freier zu werden, das zu empfinden und zu tun, was wirklich zu dir passt, in einem gesunden und guten Zustand. Außerdem stärkt sie das Bewusstsein dafür, dass du nicht das Gleiche bist wie deine Gefühle.

Positive Ausrichtung – Ressourcenorientierung

Ist dein Glas halb voll oder halb leer? Erinnerst du dich am Ende des Tages an den Regen oder an den Regenbogen? Siehst du bei anderen vor allem die Fehler oder die guten Seiten?

Was du siehst ändert nichts am Zustand des Glases oder am Regenbogen. Aber es hat einen riesigen Einfluss darauf, wie es dir geht und wir robust du bist. Warum?

Menschen, die vor allem das Negative sehen, bewerten vieles auch negativ. Dass das Glas halb leer ist, ist ja nichts Neutrales. Sondern es fehlt die Hälfte, da ist ein Mangel. Wer einen Regenbogen nicht wahrnimmt oder nicht für wichtig befindet, nimmt sich keine Zeit für die guten und stärkenden Momente des Lebens und tankt nicht auf – weder Energie noch positive Gefühle. Und wer in anderen vor allem das Schlechte sieht, kann ihnen nicht dabei helfen, ihre Stärken zu entfalten und sich positiv zu entwickeln. Wer bei anderen vor allem die Fehler wahrnimmt, hat außerdem mehr Streit, weniger Freunde und oft das Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können. Weil alle anderen blöd sind.

Die Übung des ▶ Diamantensammelns hilft dabei, mehr auf das Gute zu achten und es auch mehr zu spüren. Du kannst aber in deinem Alltag noch viel mehr tun: andere bewusst häufiger loben, und zwar nicht nur deine Kinder oder deinen Lieblingsmenschen. Auch den freundlichen Verkäufer, die Arbeitskollegin, einen Menschen auf der Straße, der eine weggeworfene Coladose aufhebt, oder jemanden, der einfach besonders geschmackvoll angezogen ist. Du wirst merken, dass das Positive, das du aussendest, zu dir zurückkommt!

Und natürlich tut es gut, wenn du dir selbst notierst, was du alles kannst oder schon erreicht hast. Manchmal bitte ich Patienten, mindestens 50 Dinge aufzuschreiben, die sie können. Das tut richtig gut! Wenn du das regelmäßig im Alltag tust, stärkst du damit auch dein Selbstwertgefühl. Es ist klar, dass Menschen, die sich selbst wertvoll und kompetent finden, in Krisensituationen stärker dastehen also solche, die sich eh noch nie etwas zugetraut haben.

Zielfokussierung

Ziele hat fast jeder. Und wer keine Ziele hat, hat zumindest Träume. »Wäre es nicht schön, wenn …?« Wie viele Menschen tun aber auch wirklich jeden Tag etwas ganz Konkretes, damit diese Träume wahr werden? Ich kenne wenige.

Wonach richten die meisten Menschen ihr Handeln aus? An dem, was andere von ihnen erwarten. An dem, was scheinbar am meisten brennt. Manche auch an dem, was am einfachsten geht: Schwierige oder unangenehme Aufgaben werden hintangestellt und stattdessen Dinge erledigt, die leicht von der Hand gehen. Außerdem folgen alle Menschen ihren Routinen. Immer der gleiche Ablauf. Dabei spielt meistens gar keine Rolle, ob dieser Ablauf wirklich gut und gesund ist. Klar, nach dem Essen Zähne putzen, das ist richtig. Müsste man sich jeden Tag neu dazu motivieren, hätten wahrscheinlich alle Zahnärzte viel mehr zu tun. Aber andere Routinen sind überhaupt nicht gut. Der abendliche Gang zum Kühlschrank, kurz vor dem Schlafengehen. Das Einschalten des Fernsehers, immer um die gleiche Zeit – bis man drei Stunden später auf dem Sofa wieder aufwacht und der Abend vorbei ist.

Im Jahr 2021 sahen die Menschen in Deutschland täglich im Durchschnitt 213 Minuten lang fern. Das sind mehr als drei Stunden! Wenn du dir jetzt vorstellst, dass man bei einer halben Stunde Lernen täglich innerhalb von zwei Jahren eine neue Sprache lernen kann, ahnst du, wie viele Träume täglich vor der Flimmerkiste sterben.

Zielfokussierung bedeutet, dass man jeden Tag etwas tut, um das zu erreichen, was einem wirklich wichtig ist. Dazu gibt eine Übung, die ich sehr mag, weil sie einfach sehr gut funktioniert.

Übung Zielfokussierung

Diese Erfahrung nennt man Selbstwirksamkeitserfahrung, und sie ist ein zentraler Bestandteil von Resilienz. Es ist die Erfahrung, selbst etwas am eigenen Schicksal verändern zu können und auch darüber hinaus etwas verändern zu können. Diese Erfahrung entsteht nicht durch mentale Arbeit, sondern durch das Tun. Darum ist dieses so wichtig.

Sinnorientierung

Im letzten Abschnitt hast du bei den Listen das Wort »Sinn« schon gesehen und gemerkt, dass es dabei nicht um den einen, ganz großen Sinn geht. Wir wünschen uns alle ein sinnvolles Leben, eins, auf das wir eines Tages zufrieden zurückblicken.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt die Menschen schon immer und Antworten sind nicht leicht zu finden. Manche Menschen finden Antworten in der Religion, andere im Austausch mit anderen Menschen. Mein Kollege Wolf Büntig sagte einmal: Der Sinn des Lebens ist, zu leben. Das klingt einfach, aber wie lebt man wirklich? Wie schafft man es, das Leben wirklich lebendig zu leben und mit Tiefe?

Die Philosophin Ariane von Schirach hat sich ebenfalls intensiv mit der Frage beschäftigt und in einem Vortrag vorgeschlagen, sich von drei zentralen Fragen leiten zu lassen. Sie führen nicht zu dem einen, ultimativen Sinn, den es vielleicht gar nicht gibt. Stattdessen helfen sie dabei, das Leben nach dem auszurichten, was uns wirklich wichtig ist, und es als erfüllter und lebendiger zu erleben. Ich finde sie wirklich fabelhaft.

Arianes Fragen:

Was für ein Mensch möchte ich sein?

Wie will ich mit anderen Menschen umgehen?

In was für einer Welt will ich leben?

Fast jeder findet Antworten auf diese Fragen. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, und das ist gut. Denn wir sind ja alle verschieden. Wenn wir dann das, was wir jeden Tag tun, danach ausrichten, leben wir anders als bisher. Täglich machen wir immer mehr die Erfahrung eines Gefühls von Sinn, das sich nicht erklären, aber spüren lässt.

Bindungs- und Beziehungskompetenz

Menschen fühlen sich sicherer und gefestigter, wenn sie wissen, dass sie nicht allein sind. Wir leben aber in einer Welt, in der Alleinsein nichts Außergewöhnliches ist. Über 17 Millionen Menschen leben in Deutschland allein. Noch mehr Menschen leben mit anderen zusammen, fühlen sich aber trotzdem allein. So normal uns das heute erscheint: Gesund ist es nicht. Denn Menschen sind aus biologischer Sicht genauso wie die Affen Großgruppentiere. Der Mensch hat seinen Erfolg auf der Welt und seine Entwicklung der Zusammenarbeit zu verdanken. Allein hätten Menschen früher nicht überlebt und auch wenn das Überleben allein in unserer modernen Welt einfacher scheint: Wir fühlen uns als Teil einer verlässlichen Gruppe einfach sicherer. Denn wir sind soziale Wesen, ob wir wollen oder nicht.

Das Zusammensein mit anderen Menschen ist nun aber keine einfache Sache. Genauso wie wir haben auch andere ihre Ecken und Kanten, und dazu kommt, dass ja auch manchmal in der Vergangenheit das Zusammensein zu Verletzungen geführt hat. Vertrauen wurde gebrochen, Versprochenes nicht eingelöst. Manchem mag es sicherer vorkommen, sich nur auf sich selbst zu verlassen.

Studien konnten zeigen, welche Faktoren nicht nur zu einem langen, sondern auch einem gesunden Leben führen. Interessant: Beziehungen liegen auf den ersten beiden Plätzen, noch vor einer gesunden Ernährung. Das Gute dabei: Selbst wenn es dir schwerfallen sollte, enge Beziehungen einzugehen, sind schon viele oberflächliche, aber freundliche Beziehungen ein wichtiger Faktor für seelische und körperliche Gesundheit. Wenn du also beim Einkaufen ein paar Worte mit der Kassiererin wechselst, auf dem Parkplatz einer alten Dame Hilfe beim Tragen anbietest, in einem Verein Sport machst, wo du zumindest beim Ankommen die anderen begrüßt und in der Umkleide kurz mit ihnen redest, egal worüber, wenn du mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt bist, den ganzen Tag über, wirst du widerstandsfähiger und stärker.

Wenn du außerdem eine oder zwei Beziehungen hast, in denen du dich zeigst, wie du bist, und in denen du sein darfst, ohne dich zu verstellen, hast du alles richtig gemacht. Zeit in Beziehungen zu investieren, lohnt sich immer.

Ich erlebe manchmal, dass mir Menschen erzählen, sie hätten keine Freunde mehr. Vielleicht sind einige Freunde weggezogen oder haben sich abgewendet, man hat sich aus den Augen verloren oder der engste Freund ist gestorben. Das gibt es. Freunde bleiben nicht immer für das ganze Leben, und das kann verschiedene Gründe haben. Neue Freunde zu finden ist im Erwachsenenalter nicht mehr ganz so leicht wie in der Schulzeit oder während der Ausbildung oder des Studiums, wo man zwangsläufig wochen- und monatelang zusammen mit anderen Herausforderungen bestehen muss und täglich mit ihnen in Kontakt steht. Da ist es oft gar nicht zu vermeiden, dass sich der eine oder die andere als sympathisch herausstellt und zum Freund wird. Später ergibt sich das nicht mehr von allein. Das heißt, du musst etwas aktiver sein als noch in jungen Jahren. Dennoch kann man in jedem Alter neue Freunde finden. Es braucht ein bisschen Mut und Initiative.

Neues wagen

Ich habe vor ein paar Jahren ein kleines Experiment gemacht. Das Ziel: jeden Monat mindestens einen Menschen näher kennenlernen. Wie habe ich das gemacht? Ich habe zum Beispiel von einem Kollegen gehört, der gute Arbeit machen soll. Ich habe ihn dann angerufen, ihm genau das erzählt und gesagt, dass ich ihn gern kennenlernen möchte. Ob er Lust habe, bei Gelegenheit einen Kaffee mit mir zu trinken, sodass wir uns über unsere Arbeit und unsere Erfahrungen austauschen könnten? Manche haben freundlich abgesagt, keine Zeit, kein Bedarf, aber in über der Hälfte der Fälle war mein Gegenüber erfreut und wir haben einen Termin gefunden. Natürlich waren diese Erfahrungen nicht alle fantastisch. An manchen Treffen war der Kaffee das Beste. Aber egal – es war ja nur eine Stunde, ein Drittel der Zeit, die die meisten Deutschen täglich vor dem Fernseher verbummeln. In ein paar Fällen haben sich berufliche Kooperationen oder sogar gemeinsame Projekte daraus ergeben. Und einige dieser Menschen sind zu Bekannten und sogar zu neuen Freunden geworden.

Berufliche Themen sind die besten Türöffner. Oder Kinder. Aber auch ehrenamtliche Arbeit führt zu bereichernden neuen Kontakten und oft zu Freundschaften. Ein gemeinsames Interesse und gemeinsames Engagement verbinden. Es gibt aber auch Naturtalente in Sachen Freundschaft. So habe ich erlebt, dass eine junge Frau neu in der Stadt war. Sie hatte ihr Studium abgeschlossen und ihren ersten Job gefunden, an einem Ort, wo sie niemanden kannte und außer ihrem wenig sympathischen Chef auch keine Kollegen hatte. Sie wurde Mitglied in einem Sportverein und spielte dort zweimal in der Woche Badminton. Nach kurzer Zeit lud sie alle Teamkollegen und -kolleginnen zu sich nach Hause ein: Sie hatte ihre Wohnung fertig eingerichtet und feierte Housewarming mit einem Topf Suppe und einigen Flaschen Wein und Bier. Auch die Nachbarn waren eingeladen, dazu ein paar Leute, die sie kennengelernt hatte, als sie in eine Wandergruppe hineingeschnuppert hatte. Nach kürzester Zeit hatte sie einen ganzen Freundeskreis um sich herum versammelt und war bestens integriert. Das hat mich damals überzeugt, dass man Freundschaften wirklich aufbauen kann. Im Englischen sagt man ja auch nicht, dass man Freunde findet. Man macht sich Freunde: »Make yourself some friends.« Das trifft es wirklich gut.

Vegetative Balance

Ein weiterer Baustein von Resilienz ist das vegetative Nervensystem. Das ist der Teil des Nervensystems, den wir nicht willentlich steuern können. Es reguliert Stoffwechselprozess, die Balance von Stress, Anspannung, Erholung und Schlaf, die Verdauung und die Sexualität.

Das vegetative Nervensystem besteht aus vier Komponenten:

Der Sympathikus wird aktiviert, wenn eine Gefahr besteht oder Aktivität nötig ist. Dann werden Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, wir sind wach und funktionieren.

Normalerweise sollte nach der Anstrengung der Gegenspieler aktiv werden, der Parasympathikus: Säbelzahntiger weg, Zeit zum Durchatmen. Bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsreaktionen ist der Sympathikus aber häufig in Daueraktivität, bereit für Kampf oder Flucht. Dann ist es wichtig, den Parasympathikus gezielt und aktiv zu mobilisieren, damit das vegetative Nervensystem harmonisch funktioniert.

Die dritte Komponente ist das enterische Nervensystem, das Bauchhirn. Um den Darm herum liegen viele Nervenzellen, eine Art zweites Gehirn. Von dort aus werden viele Impulse nach oben geleitet und ein paar Impulse zurück. Geht es dem Darm gut, weil er etwas zu tun hat, nicht zu viel und nicht zu wenig, und die Nahrung bekommt, die ihm bekommt, gibt das enterische Nervensystem das Signal für Entspannung. Muss sich der Darm gerade mit einem dreifachen Burger und fettigen Pommes quälen, gibt er das Signal für Stress. Darum ist die Ernährung für die psychische Stabilität sehr wichtig.

Die vierte Komponente ist der Polyvagus. Das ist ein Nerv, der vor allem durch bestimmte mimische Bewegungen aktiviert wird. Er wirkt wie eine Stress-Notbremse. Sicher hast du schon einmal einen Streit erlebt, in dem irgendetwas passiert ist, das die Streitenden zum Lachen gebracht hat. Danach weiterzustreiten ist unmöglich! Das ist der Effekt des Polyvagus. Lachen, Kuscheln, Nuckeln, Küssen oder auch Staunen hilft dabei, sofort und intensiv zur Ruhe zu finden.

Das Puzzle ist fertig

In der folgenden Grafik siehst du die neun Resilienzbausteine. Sie ergänzen einander wie die Teilchen eines Puzzles. Keiner ist wichtiger als die anderen. Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen, wenn es bei dir eine gewisse Dysbalance gibt. Manche Faktoren hast du schon perfekt entwickelt, andere noch nicht. Am besten konzentrierst du dich erst einmal auf jene, die im Moment noch am schwächsten ausgebildet sind. Je mehr Puzzleteilchen du nutzen kannst, umso besser!