Das Hauskaninchen (Oryctolagus cuniculus forma domestica) stammt vom Europäischen Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus) ab. Wildkaninchen leben in Familienverbänden, die sich zu großen Kolonien zusammenschließen, in selbstgegrabenen, unterirdischen Gangsystemen. Als kleines Beutetier haben Kaninchen Eigenschaften der Feindvermeidung entwickelt, denen in der tierfreundlichen Kleintierpraxis Rechnung getragen werden muss. Dazu gehören eine ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Fluchtbereitschaft, Erstarren und auch ▶ Gegenwehr bei Bedrohung. In der Praxis sollten mögliche Stressoren, die Flucht oder Abwehr auslösen könnten, unbedingt vermieden werden ▶ [60].
Kaninchen zeigen Schmerzen und Leiden nur sehr subtil. Ihre Körpersprache und Mimik sind nicht so differenziert und für den Menschen nicht so leicht zu deuten wie die bei Hund und Katze.
Für den Besitzer und den behandelnden Tierarzt ist es wichtig, insbesondere Zeichen der Angst und Drohsignale zu erkennen.
flaches Legen auf den Boden
mit angelegten Ohren
mit evtl. hervorgewölbten Augäpfeln
Freezing (Erstarren)
Ohren flach nach hinten angelegt
erhobener Schwanz
evtl. angespannte aufrechte Haltung mit flach angelegten Ohren und abgestrecktem Schwanz bei Auseinandersetzung mit Artgenossen
▶ Drohlaute werden häufig kombiniert mit angelegten Ohren und erhobenem Schwanz ▶ [47].
Schütteln des Kopfes/der Ohren/des Körpers zeigen Kaninchen bei einem unangenehmen Geruch oder um unerwünschtes Anfassen abzuwehren ▶ [47].
Kaninchen geben – verglichen mit anderen kleinen Heimtieren, z.B. Meerschweinchen oder Chinchilla – nur sehr selten Lautäußerungen von sich.
Schreien: Bei Schmerz oder großer Angst können Kaninchen mit weit aufgerissenem Maul schrille, langgezogene Schreie ausstoßen ▶ [57].
lautes Zähneknirschen: kann bei Abwehr oder bei Schmerz gezeigt werden ▶ [58]
Kaninchen können Drohlaute abgeben, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollen ▶ [58]:
Knurren
Grunzen
Fauchen
Mahlgeräusch („Schnurren“): Sind Kaninchen „zufrieden“, reiben sie ihre Zähne aneinander und können so ein leises Mahlgeräusch verursachen ▶ [58].
Clicken: Wenn ein besonders schmackhaftes Futter gefressen wird, machen Kaninchen manchmal leise Clickgeräusche ▶ [58].
Quiekgeräusch (Oinking, Honking): Geräusch, das beim Werbeverhalten gezeigt wird, oder um Aufmerksamkeit bzw. Futter zu erhalten ▶ [47].
Kaninchen zeigen selbst bei schmerzhaften Zuständen keine auffälligen Anzeichen ▶ [62]. Schmerzlaute kommen nur äußerst selten vor. Kaninchen müssen daher sehr eingehend beobachtet werden.
Kaninchen müssen immer mit Schmerzmitteln behandelt werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie Schmerzen haben oder wenn schmerzhafte Eingriffe in der Tierarztpraxis erfolgen – auch wenn keine offensichtlichen Schmerzzeichen beim Tier erkennbar sind.
Zur Erkennung und Bewertung von Schmerzen wurde der Rabbit Grimace Scale (RbtGS) entwickelt ▶ [56]. Der Normalzustand wird mit dem Score 0 bewertet, leichte Veränderungen mit 1 und offensichtliche Veränderungen mit 2 ( ▶ Abb. 4.1).
Es werden folgende Ausdrucksregionen beurteilt, die sich bei Schmerz verändern können:
Augen: Die Augenlider werden bei Schmerz geschlossen, evtl. die Augäpfel eingezogen, d.h., sie treten nicht so stark hervor. Verdecken die Augenlider die Augäpfel um mehr als die Hälfte, wird dies mit Score 2 bewertet.
Wangen: Die Muskeln um die Schnauze herum werden angespannt, sodass sich die Wangen abplatten. Der rund gewölbte Teil des vorderen Schnauzenbereiches verliert somit seine Rundung.
Nasenform: Die Nasenlöcher werden vertikal gezogen, evtl. wird die Nasenspitze nach unten gezogen, sodass die Nase statt einer U-Form eher eine V-Form annimmt.
Position der Vibrissen: Normalerweise machen die Vibrissen eine leichte Kurve nach unten. Bei Schmerzen werden sie entweder horizontal gestreckt oder nach hinten zu den Wangen gezogen.
Ohrposition: Die Ohren werden bei Schmerzen eher nach hinten gelegt, näher an Rücken bzw. die Körperseiten genommen und werden eher eingefaltet/eingerollt (röhrenartig).
Abb. 4.1 Rabbit Grimace Scale nach Keating et al. ▶ [56]. Zusammenfassende Darstellung der fünf Ausdrucksregionen (Augen, Wangen, Nasenform, Vibrissen, Ohren).
Abb. 4.1a Score=0: Normalzustand.
(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München. Quelle: Schneider B, Ketter D. Verhaltensmedizin bei Hund und Katze. Stuttgart: Schattauer, 2017; S. 40)
Abb. 4.1b Score=2: offensichtliche Veränderungen der Ausdrucksregionen, d.h. Augenlidschluss, Wangenabflachung, Nase V-förmig (statt U-förmig), horizontal gestreckte Vibrissen (statt kurvig nach unten geneigt), eingerollte, angelegte Ohren.
(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München. Quelle: Schneider B, Ketter D. Verhaltensmedizin bei Hund und Katze. Stuttgart: Schattauer, 2017; S. 40)
Folgende Veränderungen am Tier können auf Schmerzen hindeuten ▶ [47], ▶ [54], ▶ [62]:
Einstellen der Caecotrophie
verringerte Futter- und Wasseraufnahme (Folge: Gewichtsverlust, Dehydratation)
weniger oder gar kein Kotabsatz, kleinere Kotboli
dagegen Polydipsie und Polyurie bei gastrointestinalem Schmerz
schnelle, flache Atmung oder abdominale Atmung
ungewöhnliche Körperhaltung: Hockhaltung oder Schonung eines schmerzenden Körperteils oder bei Bauchschmerzen gestrecktes seitliches Liegen
halb geschlossene oder „matte“ Augen, ungerichteter Blick
Lichtempfindlichkeit (Rückzug in dunkle Ecke)
Tränenfluss mit Hervortreten der Nickhaut
angespannter Gesichtsausdruck
Zähneknirschen
Aggression eines sonst sanften Tieres
durchdringende Schmerzlaute bei Berührung
Ausreißen von Fell am eigenen Körper, Automutilation
Zu- oder Abnahme des Körperpflegeverhaltens
Merke
Schmerzen und Leiden können sich bei Kaninchen in verminderter Futter- und Wasseraufnahme, fehlender Caecotrophie sowie in Teilnahmslosigkeit zeigen. Da die Tiere nur sehr subtile Zeichen für Leiden zeigen, müssen sie gut beobachtet werden. Eine regelmäßige Gewichtskontrolle ist dringend zu empfehlen.
Um es den Besitzern zu erleichtern, Schmerzen und Leiden bei ihren Tieren zu erkennen, können Sie ihnen das ▶ Merkblatt im Anhang mitgeben.
Hauskaninchen sind – wie ihre wilden Vorfahren – obligat sozial. Das bedeutet, dass sie mit Artgenossen zusammen gehalten werden müssen. Ab der Geschlechtsreife sind unkastrierte Männchen unverträglich und sollten kastriert werden, um ihnen ein tiergerechtes Leben mit Artgenossen zu ermöglichen. Nach Morgenegg ▶ [61] ist die gemeinsame Haltung von drei bis fünf Kaninchen in einem Gemeinschaftsgehege empfehlenswert. Selbst kranke Kaninchen sollten nicht separiert werden, um den Tieren Stress durch Alleinsein und das Wiedereingliedern in die Gruppe zu ersparen – es sei denn, es ist für den Schutz des Tieres erforderlich ▶ [61]. Die Besitzer sollten daher darüber aufgeklärt werden, dass sie ein krankes Kaninchen möglichst mit seinem Partnertier bzw. der ganzen Gruppe ▶ [60] in die Praxis bringen.
Praxistipp
Kaninchen mit Partnertier in die Praxis bringen lassen
Kaninchen sollten nicht allein, sondern mit ihrem vertrauten Partnertier(en) in die Tierarztpraxis gebracht werden.
Kranke Tiere sollten grundsätzlich nicht von der Gruppe separiert werden. Muss ein Tier operiert (z.B. kastriert) werden, dann ist es gegebenenfalls durch ein Gitter zu schützen, bis es aus der Narkose erwacht ist.
Wird ein Tier nach dem Tierarztbesuch oder einem operativen Eingriff zu Hause wieder zurück in seine Gruppe gesetzt, besteht die Gefahr, dass es aufgrund seines veränderten Geruches von den Partnertieren angegriffen wird. Die Besitzer sind über ▶ Vorsichtsmaßnahmen zur Wiedereingliederung zu informieren.
Duftkommunikation spielt bei Kaninchen eine große Rolle. Kaninchen markieren ihre Umgebung u.a. mittels Sekret aus ihrer „Kinndrüse“, mit Kot (wegen des anhaftenden Analdrüsensekretes) und Urin. Sie fühlen sich in vertraut nach ihnen riechender Umgebung sicherer als in einer Umgebung mit fremden Gerüchen. Diese Düfte kann man sich in der Praxis zunutze machen.
Praxistipp
Benutzte Streu für einen vertrauten Geruch
Die Kaninchenbesitzer sollten die ▶ Transportbox für die Kaninchen vertrauter gestalten, indem der eigene Geruch der Tiere genutzt wird.
Tierärzte sollten ihre Hände mit benutzter Streu einreiben, bevor sie das Kaninchen anfassen, um einen vertrauenserweckenden Geruch zu schaffen.
Kaninchen zeigen verschiedene Arten des Schutz- und Verteidigungsverhaltens. Wird ein Kaninchen im Nackenfell festgehalten, kann es mit den Hinterbeinen mit gespreizten Zehen nach oben schlagen und den Angreifer kratzen. Dieser „Befreiungsschlag“ dient vermutlich der Abwehr eines Beutegreifers. Er ist nicht nur unangenehm für den Menschen, der das Kaninchen hochheben oder tragen möchte, sondern kann auch für das Tier gefährlich werden, da es zu Verletzungen an der Wirbelsäule oder an den Hinterläufen kommen kann. Beim Handling ist daher ein Fixieren des Beckengürtels essenziell.
Praxistipp
Vermeiden des „Befreiungsschlages“
Wird ein Kaninchen hochgehoben oder festgehalten, müssen immer sein Becken bzw. seine Hinterbeine proximal fixiert werden, um zu verhindern, dass es einen „Beutegreifer-Befreiungsschlag“ mit den Hinterläufen ausführt.
Die Hinterbeine nicht an den „Füßen“ fixieren, sondern proximal im Oberschenkel-Becken-Bereich.
Ein Kaninchen sollte rückwärts, also mit dem Hinterteil voran, in seinen Käfig oder die Transportbox gesetzt werden.
Ein Kaninchen darf nie ausschließlich am Nackenfell hochgehoben und getragen werden, das Gewicht muss immer mit der anderen Hand abgestützt werden.
Als stets fluchtbereite kleine Beutetiere sind Kaninchen in der Regel schreckhaft und neigen zu panikartiger Flucht. In der Praxis sind schreckauslösende Reize, auch Gerüche und Ultraschallgeräusche, zu vermeiden ▶ [60]. Folgende Empfehlungen sind zu beachten:
Im Wartezimmer sollte es ruhige Bereiche für Kaninchen geben, wo die Transportbox erhöht abgestellt werden kann und wo die Tiere keinen Kontakt zu Hunden oder Katzen haben.
Laute Geräusche und plötzliche Bewegungen sind unbedingt zu vermeiden.
Fenster und Türen sind selbstverständlich zu schließen, bevor die Transportbox geöffnet wird.
Das Kaninchen immer auf dem Behandlungstisch unter Kontrolle haben. Auch wenn es eben noch ruhig da saß, kann es plötzlich vom Tisch springen, wenn man sich kurz von dem Tier abwendet.
Wenn möglich, entfernen Sie nur den Deckel der Transportbox und lassen das Kaninchen in der Unterwanne sitzen, während Sie es untersuchen oder behandeln.
Wenn das Tier auf den Behandlungstisch gesetzt werden soll, dann am besten auf eine rutschfeste, angenehme Unterlage. Dazu kann man ein Handtuch oder eine Decke auf den Behandlungstisch legen. Diese sollte am besten vom Besitzer mitgebracht werden und vertraut riechen.
Lassen sie ängstliche Tiere ihren Kopf in einem Unterschlupf oder unter einem Handtuch verstecken, damit sie sich sicherer fühlen.
Um ein Kaninchen einzufangen, das in der Praxis entwischt, sollte man es nicht verfolgen und es auch nie von oben greifen, sondern in eine Röhre/Box laufen lassen und diese samt Kaninchen hochheben.
Folgende Aspekte stellen wichtige Beratungsaufgaben dar:
Beratung von Züchtern und von zukünftigen Kaninchenbesitzern vor der Anschaffung eines Tieres hinsichtlich der Sozialisierung von Kaninchen
Beratung bei Kaninchen jeden Alters zur „Zähmung“ und zur Gewöhnung an Handling
Beratung zur konkreten ▶ Vorbereitung auf den Tierarztbesuch
Beratung darüber, was ▶ nach dem Tierarztbesuch hinsichtlich der Gruppenverträglichkeit zu beachten ist
Verschiedene Studien zeigen, dass ein frühes Handling von Kaninchen späteres Angstverhalten reduzieren kann. Werden Kaninchen in der 1. Lebenswoche innerhalb von 30 Minuten nach dem Säugen einem kurzen Handling unterzogen oder auch nur dem menschlichen Geruch ausgesetzt, reagieren sie in späteren Annäherungsversuchen signifikant „kontaktfreudiger“ als Tiere ohne Handling ▶ [48], ▶ [50], ▶ [51], ▶ [52]. Es kann somit Züchtern empfohlen werden, dass man kurz nach dem Säugen ein Kleidungsstück mit menschlichem Geruch für kurze Zeit in das Nest legt ▶ [49].
Außerdem kann empfohlen werden, junge Kaninchen behutsam durch freundlichen Kontakt an Menschen zu gewöhnen, wenn sie ihr Nest verlassen – insbesondere im Alter von 4–6 Wochen ▶ [58]. Zukünftige Kaninchenhalter sollten beim Kauf darauf achten, nur Kaninchen zu wählen, die an Menschen gewöhnt sind und daher den Kontakt mit ihnen genießen.
Das Absetzen junger Kaninchen sollte in der Heimtierhaltung erst mit zehn Wochen erfolgen ▶ [61]. Dabei sollte das Muttertier entfernt werden und die Jungtiere im vertrauten Käfig oder Gehege miteinander verbleiben.
Praxistipp
Beratung über Sozialisierung
Informieren Sie Züchter darüber, dass neugeborene Kaninchen innerhalb der 1. Lebenswoche sensitiv gegenüber dem menschlichen Geruch sind, jedoch nur innerhalb einer halben Stunde nach dem Säugen. Hier kann man mit getragener Kleidung eine Gewöhnung an den menschlichen Geruch vornehmen.
Nach dem Verlassen des Nestes sollten Jungtiere außerdem behutsam positiven Kontakt mit verschiedenen Menschen haben und an Handling und Hochheben gewöhnt werden.
Kaninchen sollten sich angstfrei von ihren Besitzern anfassen lassen, damit sie Maßnahmen zur Gesundheitskontrolle oder auch – wenn nötig – Fellpflegemaßnahmen (u.a. Fellschneiden bei Langhaarrassen) stressfrei tolerieren. Wöchentlich sollten die Tiere durch ihre Besitzer untersucht werden, insbesondere sollten Maulbereich und Analregion überprüft werden ▶ [61]. So können Probleme wie Durchfall, mangelnde Caecotrophie oder gegebenenfalls Fliegenmadenbefall rechtzeitig erkannt werden. Auch die Pfotensohlen sollten regelmäßig kontrolliert werden. Während des Fellwechsels empfiehlt Bays ▶ [47] regelmäßiges Bürsten. Bradbury u. Dickens ▶ [49] empfehlen Kaninchen nur hochzuheben, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und Maßnahmen zur Gesundheitskontrolle möglichst auf Ebene des Bodens und in sitzender Position des Kaninchens vorzunehmen. Andererseits stellt sich immer wieder die Notwendigkeit, ein Kaninchen hochheben und fixieren zu müssen – zur Gesundheitskontrolle oder für Behandlungen. Daher ist es hilfreich, wenn Kaninchen daran gewöhnt werden, angefasst und hochgehoben zu werden.
Da das Hochheben für die meisten Kaninchen mit Stress verbunden ist und zu Angstzeichen und Abwehrreaktionen führt ▶ [49], sollte es behutsam trainiert werden. In ▶ Abb. 4.2 wird gezeigt, wie man ein Kaninchen in kleinen Schritten an das Umfassen und Hochheben gewöhnen kann. Dazu reicht man ihm begehrtes Futter, hier Löwenzahn, und umfasst das Tier während des Fressens leicht mit der einen Hand. Wenn das Kaninchen dieses Umfassen entspannt toleriert und weiterfrisst, kann nach einigen Übungen ein leichtes Hochheben des Vorderkörpers geübt werden etc. Man geht in so kleinen Schritten voran, dass das Kaninchen weder mit Zeichen der Verunsicherung noch mit Meideverhalten oder Gegenwehr reagiert.
Während des Trainings darf das Tier nicht überfordert oder geängstigt werden. Muss man es einfangen, solange es sich noch nicht angstfrei greifen lässt, sollte man es in ein Behältnis locken (z.B. Röhre, Box) und damit hochheben, um nicht den Trainingserfolg zu gefährden.
Abb. 4.2 Schrittweise Gewöhnung an das Hochheben.
Abb. 4.2a Das Kaninchen wird sanft mit der linken Hand umfasst, während es mit Löwenzahn gefüttert wird.
(Quelle: Stephan Vollmar, München.)
Abb. 4.2b Im nächsten Trainingsschritt kann das Tier bereits am Vorderkörper leicht angehoben werden, während es weiter Löwenzahn frisst. Nach und nach wird das Anheben gesteigert.
(Quelle: Stephan Vollmar, München.)
Kinder dürfen Kaninchen weder hochheben noch tragen, da sie sie fallen lassen könnten. Sie dürfen sie auch nicht zum Schmusen zwingen.
Zeigt ein Kaninchen ängstliches Verhalten oder Angstaggression gegenüber dem Besitzer, kann eine Desensibilisierung und (klassische) Gegenkonditionierung durchgeführt werden. Vorab sollte man die Hände mit benutzter Streu (oder auch Urin) der Tiere einreiben, sodass ein vertrauter Geruch entsteht. Zeigt das Kaninchen bereits bei der Annäherung des Besitzers Fluchtverhalten, setzt man sich erst einmal ruhig vor den Käfig oder in das Gehege und füttert das Tier (notfalls zuerst durch das Gitter) mit begehrtem Futter wie Löwenzahn oder Karottenstücken. Frisst es nicht aus der Hand, kann man das Futter in die Nähe des Tieres legen und erst einmal ruhig abwarten. Nach und nach kann dann der Abstand des Futters zum Menschen verringert werden. Schritt für Schritt wird das Kaninchen immer näher am Körper gefüttert, bis es aus der Hand frisst und schließlich auf dem Schoß oder neben dem Besitzer sitzt, um sein Futter zu fressen. Dabei ist zu beachten, dass das Kaninchen nicht bedrängt wird, sondern dass die Anwesenheit des Menschen immer nur mit positiven Empfindungen verbunden wird. Dazu gehört auch, dass ein Kaninchen nie zum Schmusen gezwungen wird, sondern nur gestreichelt wird, wenn es freiwillig kommt. Auch auf den Schoß sollte es nicht gezwungen, sondern immer nur gelockt werden ( ▶ Abb. 4.3).
Abb. 4.3 Diese Kaninchen kommen freiwillig auf den Schoß, da sie mit Grünfutter gelockt wurden.
(Quelle: Stephan Vollmar, München.)
Praxistipp
Beratung zum Gewöhnungstraining
Kaninchenbesitzer sollten ihr Tier vorsichtig und in kleinen Schritten an das Hochheben gewöhnen. Scheue Tiere müssen besonders behutsam mittels Desensibilisierung und Gegenkonditionierung an den Umgang mit dem Menschen gewöhnt werden.
Viele Kaninchen werden bereits durch den Transport zum Tierarzt in Stress versetzt. Diese Stressbelastung kann durch einige Maßnahmen verringert werden. Sie können Ihren Klienten ein entsprechendes ▶ Merkblatt mitgeben.
Als Transportbox eignen sich geräumige Plastikboxen, deren oberen Teil man komplett entfernen kann. Die Transportbox sollte zu Hause immer geöffnet im Aufenthaltsbereich der Kaninchen stehen und Heu sowie begehrtes Futter enthalten, sodass die Tiere daran gewöhnt sind, in sie hineinzugehen ( ▶ Abb. 4.4). Behutsam, Schritt für Schritt, kann man die Kaninchen dann daran gewöhnen, dass sie kurz darin eingesperrt und herumgetragen werden.
Abb. 4.4 Die Transportbox steht im Aufenthaltsbereich der Kaninchen. Mit begehrtem Futter kann der Aufenthalt in der Box angenehm gestaltet werden. Dies ist die beste Voraussetzung für das Transporttraining.
(Quelle: Stephan Vollmar, München.)
Zum Transport sollte in die Transportbox ein vertraut riechendes Handtuch oder eine Kaninchendecke sowie etwas benutzte Streu (kein Heu oder Stroh) gelegt werden, damit sich das Tier beim Transport und in der Tierarztpraxis wegen des vertrauten Geruches weniger ängstigt.
Kranke Kaninchen sollten nicht alleine, sondern gemeinsam mit ihren Partnertieren zum Tierarzt gebracht werden. Zum einen reduziert das den Stress des kranken Tieres, zum anderen vermeidet man, dass es nach der Heimkehr des behandelten Kaninchens zu Unverträglichkeitsreaktionen der zu Hause gebliebenen Tiere kommt.
Praxistipp
Was zum Tierarztbesuch mitgenommen werden sollte
etwas benutze Streu und ein vertraut riechendes Handtuch (in der Transportbox)
die Partnertiere des Patienten
begehrtes Futter
Das Handling muss immer so sanft und sicher wie möglich erfolgen. Es empfiehlt sich, neue Handling-Methoden vorab an einem Stoffkaninchen oder an einem sehr zutraulichen Privattier zu üben.
Im Umgang mit Kaninchen sind folgende Verhaltensweisen wichtig, um das Tier nicht zu erschrecken:
Praxistipp
Umgangsregeln
langsame Annäherung an das Tier
ruhige, sparsame Bewegungen
freundliches, sanftes Ansprechen mit leiser Stimme
nicht in die Augen starren
nicht von oben über das Tier beugen
nicht von oben nach dem Tier greifen
Insbesondere bei ängstlichen Tieren kann man sich neben den Behandlungstisch setzen, um sich nicht über das Kaninchen beugen zu müssen.
Auf Abwehrbewegungen oder aggressives Verhalten des Kaninchens darf man auf keinen Fall mit physischer Strafe oder Schimpfen reagieren. Denn dem aggressiven Verhalten liegt meist Angst zugrunde, die durch Strafen verstärkt wird. Freundliches und geduldiges Verhalten seitens des Menschen dient dagegen einem guten Vertrauensverhältnis zwischen Tier und Mensch.
kein Hochheben an den Ohren, auch nicht gemeinsam an Ohren und Nackenfell
kein Hochheben ausschließlich am Nackenfell. Manche Autoren raten vom Halten und Fixieren im Nackenfell auch dann ab, wenn das Körpergewicht abgestützt wird, da es vermutlich Angst und vielleicht auch Schmerzen hervorruft ▶ [49].
Hinterteil bzw. Hintergliedmaßen fixieren (proximal im Becken-Oberschenkel-Bereich, also nicht nur die Füße festhalten) zur Vermeidung von gefährlichen Abwehrbewegungen, die Verletzungen beim Kaninchen bis hin zu Knochenbrüchen und Wirbelsäulenschäden mit Querschnittslähmung ▶ [53] zur Folge haben können → „ ▶ Beutegreifer-Befreiungsschlag“.
Am besten sollten die Gliedmaßen des Kaninchens einen festen Halt bekommen (z.B. auf dem Arm oder dem Körper des Menschen) und man sollte vermeiden, den Bauch des Kaninchens anzufassen ▶ [49].
Heben mit Brust-Hinterteil-Stütze: Man kann das Kaninchen anheben, indem man mit der einen Hand das Hinterteil umgreift und mit der anderen Hand von unten den Brustbereich hinter den Vorderbeinen hält ▶ [47].
Halten mit unter dem Ellbogen verstecktem Kopf: Man kann das Tier tragen oder festhalten, indem man es sanft an seinen Oberkörper drückt, wobei der Kopf des Kaninchens in der Ellbogenbeuge versteckt ist ▶ [47]. Ein Nachteil kann sein, dass die Vorderbeine des Kaninchens dabei keinen Halt finden ▶ [49].
Hochheben mit einer Hand und Fixierung des Hinterteils unter dem Ellbogen: Rechtshänder können Kaninchen sanft und sicher mit der linken Hand hochheben und fixieren, sodass sie die rechte Hand zur Behandlung frei behalten. Dazu wird das Kaninchen von hinten sanft mit dem linken Arm umfasst, die linke Hand greift von unten an die Brust des Kaninchens und fixiert die beiden Vorderbeine (mit einem Finger getrennt voneinander). Dann zieht man das Tier sanft an seinen Körper und fixiert mit dem linken Ellbogen den Hüftbereich des Tieres ▶ [55] ( ▶ Abb. 4.5).
Untersuchung des Kaninchens auf dem Schoß: Wird das Kaninchen wie in ▶ Abb. 4.6 von einer Hilfsperson oder dem Besitzer auf dem Schoß mit beiden Händen fixiert, hat es sicheren Halt und kann keine Abwehrbewegungen mit den Hintergliedmaßen ausführen. Die Hände umschließen sanft, aber sicher den Schulterbereich des Kaninchens.
„C-Position“: Wenn man den Bauch oder die Perianalgegend des Kaninchens untersuchen, rektal die Temperatur messen oder die Krallen schneiden möchte, kann man das Kaninchen in der „C-Position“ fixieren ▶ [47]: Dabei „sitzt“ das Kaninchen auf der einen Hand, die andere umschließt den Vorderkörper unterhalb der Vorderbeine, und man drückt den Rücken des Kaninchens sanft an seinen Körper ( ▶ Abb. 4.7).
Abb. 4.5 Halten eines Kaninchens mit einem Arm. Das Becken des Tieres wird mit dem Ellbogen sanft fixiert.
(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München)
Abb. 4.6 Sanfte Schultergürtelfixierung beim Festhalten auf dem Schoß.
(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München)
Abb. 4.7 Die „C-Position“ ermöglicht das Untersuchen von Bauch und Analregion.
(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München)
Schutz vor Herunterfallen: Strampelt das Kaninchen stark, sollte man versuchen, seine Augen abzudecken, und das Tier auf eine sichere Unterlage absetzen ▶ [47].
Schutz vor Überhitzung: Werden Kaninchen länger auf dem Arm gehalten, z.B. für eine tierärztliche Untersuchung, und geraten sie dabei in Stress, kann es zu einer gefährlichen Überhitzung kommen ▶ [47]. Dies ist daran zu erkennen, dass das Kaninchen zu hecheln beginnt. Darauf muss sofort reagiert werden, indem das Kaninchen abgesetzt und der Raum gut belüftet wird.
Schutz der Atmung: Da Kaninchen obligate Nasenatmer sind, mögen sie nicht an der Nase angefasst werden ▶ [47]. Man sollte daher immer darauf achten, dass man die Nase des Tieres nie mit der Hand überdeckt. Bei der Untersuchung der Maulhöhle muss man die Lippen so umfassen, dass die Nase frei bleibt. Der Kopf des Kaninchens darf nie überstreckt werden, da sonst die Atemwege verlegt werden können ▶ [47]. Am besten achtet man daher darauf, den Kopf des Kaninchens auch bei der Untersuchung und Behandlung von Maul und Zähnen in Normalposition zu belassen.
Merke
Handling in der Tierarztpraxis – wichtige Vorsichtsmaßnahmen
nie die Nase berühren oder mit der Hand bedecken
nie den Kopf des Kaninchens (über-)strecken
Überhitzung des Tieres vermeiden
Beim „Hypnose“-Trick wird das Kaninchen auf den Rücken gelegt, mit leicht gestreckten Hinterbeinen, und es wird sanft über den Bauch gestreichelt. Viele Kaninchen bleiben ohne Fixation evtl. mehrere Sekunden bis minutenlang liegen. Es wird vermutet, dass es sich dabei um eine Form des Freezings („Totstellens“) handelt ▶ [58]. In Untersuchungen wurden bei Tieren während dieser „tonischen Immobilität“ Stresssymptome nachgewiesen ▶ [59]. Es wird daher davon abgeraten, Kaninchen überhaupt in diese Position der Rückenlage zu bringen ▶ [49]. Schmerzhafte Eingriffe dürfen auf keinen Fall ohne Analgesie durchgeführt werden, da die Tiere in dieser Position schmerzempfindlich bleiben. Ihr Zustand hat nichts mit einer Hypnose zu tun!
Muss ein Kaninchen in der Praxis oder Klinik stationär aufgenommen werden, sollte der Aufenthalt so angenehm wie möglich gestaltet werden:
Haltung nicht auf Bodenniveau, sondern erhöht
gemeinsame Haltung mit Partnertier(en)
Bereitstellung von Unterschlupf und Versteckmöglichkeiten
Bereitstellung eines eingestreuten Bereiches als „Kaninchentoilette“
vertraut riechendes (Hand-)Tuch von Zuhause in die Haltung legen
Wurde ein Kaninchen in der Tierarztpraxis untersucht und behandelt, geschoren oder operiert, kann es aufgrund der Abwesenheit von der Gruppe, aufgrund eines veränderten Geruches, Aussehens oder Verhaltens von den zu Hause gebliebenen Artgenossen angegriffen werden. In diesem Fall ist ein Wiedereingewöhnungstraining nötig. Es enthält folgende Elemente (s. ▶ Merkblatt:
Geruchsaustausch zwischen den Käfigen
angenehme Erlebnisse in Anwesenheit der anderen Tiere (z.B. gemeinsames Füttern eines besonders begehrten Futters auf beiden Seiten des Trenngitters)
Zusammensetzen der Tiere auf „neutralem Terrain“
Musste ein Kaninchen stationär in der Klinik aufgenommen werden, ist eine behutsame Wiedereingliederung besonders wichtig ▶ [47]. Um Probleme im Vorfeld zu vermeiden, kann man die Partnertiere mit in die Tierarztpraxis nehmen.
Praxistipp
Beratung der Besitzer zur Wiedereingliederung
Wird ein Kaninchen in der Praxis geschoren, operiert oder stationär aufgenommen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es nach der Heimkehr von seinen Gruppenmitgliedern angegriffen wird. Die Besitzer sollten über dieses Risiko aufgeklärt und über Möglichkeiten informiert werden, wie eine Wiedereingliederung erleichtert werden kann.
[47] Bays TB. Rabbit Behavior. In: Bays TB, Lightfoot T, Mayer J, eds. Exotic Pet Behavior: Birds, Reptiles, and Small Mammals. St. Louis, Missouri: Saunders, Elsevier, 2006: 1–49
[48] Bilkó A, Altbäcker V. Regular handling early in the nursing period eliminates fear responses toward human beings in wild and domestic rabbits. Dev Psychobiol 2000; 36: 78–87
[49] Bradbury AG, Dickens GJE. Appropriate handling of pet rabbits: a literature review. J Small Anim Pract 2016; 57: 503–509. Im Internet: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jsap.12549/pdf
[50] Csatadi K, Bilkó A, Altbäcker V. Specificity of early handling: Are rabbit pups able to distinguish between people? Appl Anim Behav Sci 2007; 107: 322–327
[51] Csatadi K, Kustos K, Eiben C et al. Even minimal human contact linked to nursing reduces fear responses toward humans in rabbits. Appl Anim Behav Sci 2005; 95: 123–128
[52] Ducs A, Bilkó A, Altbäcker V. Physical contact while handling is not necessary to reduce fearfulness in the rabbit. Appl Anim Behav Sci 2009; 121: 51–54
[53] Flecknell P. Restraint, anaesthesia and treatment of children‘s pets. In Pract 1983; 5: 85–95
[54] Gärtner K, Militzer K. Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren. Schriftenreihe Versuchstierkunde, Heft 14. Berlin, Hamburg: Verlag Paul Parey, 1993
[55] Hein J. Umgang mit Heimtieren in der Praxis. Prakt Tierarzt 2010 (91); 10: 869–871
[56] Keating SCJ, Thomas AA, Flecknell PA et al. Evaluation of EMLA Cream for Preventing Pain during Tattooing of Rabbits: Changes in Physiological, Behavioural and Facial Expression Responses. PLOS one 2012, 7, issue 9. DOI: 10.1371/journal.pone.0044437. Im Internet: http://www.plosone.org
[57] Kraft R. Vergleichende Verhaltensstudien an Wild- und Hauskaninchen. Das Verhaltensinventar von Wild- und Hauskaninchen. Z Tierzüchtg Züchtgsbiol 1978; 95: 140–162
[58] McBride A. Kaninchen verstehen. Ein Ratgeber für die artgerechte Haltung. Darmstadt: Pala-Verlag, 2008
[59] McBride EA, Day S, McAdie TM et al. Trancing rabbits: Relaxed hypnosis or a state of fear? In: Proceedings of the VDWE International Congress on Companion Animal Behaviour and Welfare. Flemish Veterinary Association 2006; 135–137. Im Internet: http://eprints.hud.ac.uk/id/eprint/11361/
[60] McBride EA. Small prey species‘ behaviour and welfare: implications for veterinary professionals. J Small Anim Pract 2017; 58, 423–436. Im Internet: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jsap.12681/pdf
[61] Morgenegg R. Artgerechte Haltung – ein Grundrecht auch für (Zwerg-)Kaninchen. Bozen: tb-Verlag, 2005
[62] Weiß J, Maeß J, Nebendahl K (Hrsg.) Haus- und Versuchstierpflege. 2. Aufl. Stuttgart: Enke Verlag, 2003