Meerschweinchen sind kleine Beutetiere, die nicht sehr wehrhaft sind. Auch wenn die domestizierten Meerschweinchen deutlich weniger stressanfällig sind als ihre wilden Verwandten ▶ [67], sind sie dennoch sehr empfindlich. Stress äußert sich bei diesen Tieren jedoch in der Regel eher subtil, und auch die Besitzer sind häufig nicht in der Lage Stress bei ihrem Tier sicher zu erkennen. Daher muss der behandelnde Tierarzt bzw. sein Praxisteam die Tiere aufmerksam beobachten, und den Besitzer gegebenenfalls aufklären.
Mit wenigen, einfachen Maßnahmen lässt sich der Stress für Meerschweinchen in einer Tierarztpraxis bereits deutlich reduzieren. Ein solides Grundwissen in Bezug auf das Normalverhalten und die Bedürfnisse eines Meerschweinchens sind daher die wichtigste Voraussetzung für eine tierfreundliche Behandlung.
Im Folgenden werden die für die tierärztliche Praxis besonders relevanten Verhaltensweisen besprochen, sowie ihre Implikationen für das Handling in der Praxis oder den Klinikaufenthalt.
Meerschweinchen sind obligat soziale Tiere. Dies bedeutet, dass sie zwingend mit Artgenossen zusammenleben müssen, um sich wirklich wohl zu fühlen. Als Besonderheit bei diesen Nagern kommt hinzu, dass sich sehr enge Bindungen zwischen einzelnen Individuen bilden können. Diese Bindungen sind so stark, dass die Anwesenheit des „Bindungsmeerschweinchens“ einen großen Einfluss auf das Stressempfinden des anderen Tieres hat ▶ [66], ▶ [68]. Das Bindungstier sorgt dafür, dass Stress besser verarbeitet wird. Es ist seinem Partner eine regelrechte emotionale Stütze. Dieser sogenannte „Social Support“ sollte auch in der Tierarztpraxis berücksichtigt werden. Besitzern muss somit empfohlen werden, immer das Bindungsmeerschweinchen des eigentlichen Patienten ebenfalls mitzubringen. Bei weiblichen Meerschweinchen ist die Anwesenheit eines beliebigen, bekannten Tieres bereits äußerst hilfreich ▶ [66]. Dennoch sollten die Besitzer immer gebeten werden, den „besten Freund“ ihres zu behandelnden Meerschweinchens mitzubringen.
Praxistipp
Das Bindungstier des Patienten sollte bei jedem Tierarztbesuch, ganz besonders aber bei stationären Aufenthalten, mit anwesend sein. Dies hilft Stress zu reduzieren und beschleunigt die Erholung.
Als weitere Besonderheit bei den Meerschweinchen ist zu nennen, dass sie – im Gegensatz zu den meisten anderen sozial lebenden Nagetieren – kein gegenseitiges, soziales Putzen (Allogrooming) zeigen. Wann immer von einem gegenseitigen Putzen oder Beknabbern berichtet wird, ist zunächst von einem abnormalen Verhalten auszugehen. Die betreffenden Meerschweinchen sollten genauer untersucht werden.
Aufgrund des Fehlens von Allogrooming im normalen Verhaltensrepertoire von Meerschweinchen werden Berührungen wie Streicheln von diesen Nagern auch nicht als angenehm oder beruhigend empfunden.
Merke
Meerschweinchen empfinden Streicheln nicht als angenehm. Viele Meerschweinchen reagieren mit deutlichem Drohverhalten (Wegdrücken der Hand, Schnauzeheben etc.) auf Streicheln.
Da kleine Meerschweinchen zu den eher wenig wehrhaften Beutetieren zählen, sind sie zwingend von Beutegreifern wie Katzen und Hunden zu trennen. Idealerweise geschieht dies bereits im Wartebereich, in dem ein eigenes Wartezimmer für kleine Heimtiere zur Verfügung steht.
Auch im stationären Bereich müssen Meerschweinchen von Hunden und Katzen getrennt untergebracht werden. Im besten Fall ist ein getrenntes Heimtierzimmer vorhanden.
Als kleine, nicht besonders wehrhafte Beutetiere sind Meerschweinchen darauf angewiesen, sich bei Gefahr in Verstecke flüchten zu können. Nur wenn sie jederzeit Zugang zu einem Versteck haben, fühlen sich Meerschweinchen sicher. Dies zeigt sich u.a. auch an der ausgeprägten Thigmotaxis dieser Tiere, d.h., dass sie sich nicht gerne auf freien Flächen aufhalten, sondern vor allem in direkter Nähe von Strukturen wie Häuschen oder Wänden. Aus diesem Grund ist auch der Aufenthalt auf einem leeren Behandlungstisch für ein Meerschweinchen äußerst belastend.
Praxistipp
Meerschweinchen sollten auf dem Behandlungstisch Zugang zu einem Unterschlupf (Häuschen oder Transportbox) haben – besonders dann, wenn deutliches Stressverhalten erkennbar ist.
Wie bei allen anderen Nagetierarten spielt auch bei Meerschweinchen die geruchliche Kommunikation eine erhebliche Rolle. Es gibt einen Gruppengeruch, über den die Mitglieder der Gruppe erkannt werden. Zusätzlich markieren Meerschweinchen auch ihr Revier ausführlich mit Gerüchen (z.B. über Urin). In einer Umgebung, die nicht nach ihrer Gruppe und ihrem Revier riecht, sind Meerschweinchen daher in der Regel schnell gestresst. Aus diesem Grund müssen Tierbesitzer immer darum gebeten werden, benutzte Einstreu aus dem Heimatkäfig in der Transportbox mitzubringen. Dies beruhigt zum einen das Meerschweinchen während des Transports. Andererseits kann auch die Einstreu vom Praxisteam dazu genutzt werden, die Hände darin zu reiben, um den Geruch von Desinfektionslösung etc. zu übertönen, und so für das Meerschweinchen vertraut und angenehm zu riechen.
Ein bekanntes und beim Patienten beliebtes Häuschen gehört ebenfalls in die Transportbox.
Meerschweinchen verfügen über ein feines Gehör. Im Allgemeinen reagieren sie deutlich stärker auf akustische Stimuli als andere kleine Heimtiere.
Merke
Meerschweinchen erschrecken schnell bei plötzlichen oder lauten Geräuschen. Die Latenzzeit, bis sie nach einem solchen Erschrecken wieder Normalverhalten zeigen, ist häufig größer als bei den meisten anderen Nagerspezies.
Im Bereich von 4–8 kHz liegt die größte Sensitivität des Meerschweinchengehörs. Dennoch können sie auch im Ultraschallbereich von bis zu 46 kHz hören ▶ [65].
Aufgrund der hohen Lärmempfindlichkeit muss in allen Bereichen der Tierarztpraxis bzw. Tierklinik darauf geachtet werden, den Lärmpegel auf ein Minimum zu reduzieren.
Praxistipp
Reduzierung des Geräuschpegels
Im Wartebereich
getrennte Unterbringung von bellenden Hunden etc. (z.B. durch ein getrenntes Wartezimmer für Heimtiere oder durch das Absondern des bellenden Hundes oder des Meerschweinchenpatienten in einem anderen Bereich, wie z.B. einem aktuell nicht genutzten Sprechzimmer)
Im stationären Bereich
Unterbringung nach Möglichkeit getrennt von Hunden und Katzen
Unterbringung im ruhigsten Praxisraum
Für einen Tierarzt ist es besonders wichtig zu erkennen, wann ein Meerschweinchen gestresst ist. Dies lässt sich bei sorgfältiger Beobachtung der Körpersprache in der Regel gut feststellen.
Gestresste Meerschweinchen pressen sich flach auf den Boden, vor allem wenn sie keine Versteckmöglichkeit haben.
Thigmotaxis (Versteckbedürfnis)
ausgeprägte Mydriasis (evtl. aufgrund der dunklen Augenfarbe nicht/nur schwer wahrnehmbar)
hervortretende Augen (aufgrund von erhöhtem Blutdruck). Wird dies beobachtet, müssen umgehend stressreduzierende Maßnahmen eingeleitet werden.
steife, erstarrte Körperhaltung, das sogenannte „Freezing“ ( ▶ Abb. 5.1). Beim Freezing handelt es sich um eine tiefe, reversible motorische Hemmung; Meerschweinchen zeigen es vor allem, wenn sie Kontakt mit einem Beutegreifer haben. In der Tierarztpraxis ist dieser „Beutegreifer“ in der Regel der Tierarzt bzw. der Assistent. Typischerweise erstarren Meerschweinchen mit einem leicht erhobenen Kopf, hervortretenden Augen und eingezogenen Beinen, während sie sich an einen Gegenstand drücken ▶ [63]. Manchmal können sich Meerschweinchen dabei auch auf den Rücken rollen und reglos liegen bleiben ▶ [63].
„Haaren“ bzw. der Verlust von Haaren ( ▶ Abb. 5.1).
Abb. 5.1 Deutliche Stressanzeichen bei einem Meerschweinchen während der Blutentnahme. Beachte die Mydriasis, den Haarverlust und die durch das „Freezing“ bedingte steife Körperhaltung.
(Quelle: Dr. Ilona Backofen, Dietenheim.)
Schnauzeheben
Wetzen der Schneidezähne
Aufreißen des Maules
(gegen den Gegner) gerichtetes Gähnen
steifes Treteln mit den Hinterbeinen
„Blitzen“ (Hervordrücken der Hoden) bei männlichen Tieren
Praxistipp
Wird während der Untersuchung oder Behandlung Drohverhalten vom Meerschweinchenpatienten gezeigt, dann muss umgehend dafür gesorgt werden, dass die Situation für den Patienten weniger belastend ist. Dies kann beispielsweise durch eine Pause im Versteck, durch besseres ▶ Handling oder sanftere Sprache geschehen.
Ausschlagen
Urnieren (bei weiblichen Tieren häufiger gezeigt als bei männlichen Tieren)
Fell gesträubt (bei langhaarigen Rassen, wie z.B. dem Peruanermeerschweinchen jedoch nicht immer erkennbar)
gestreckter Körper mit nach vorne gerichtetem Kopf ▶ [63]. Dabei macht sich das Meerschweinchen zur Flucht bereit.
Praxistipp
Wenn ein Meerschweinchen Alarmhaltung zeigt, so muss damit gerechnet werden, dass es plötzliche, hektische Fluchtversuche unternimmt. Dabei kann es sich verletzen. Es muss also sanft festgehalten werden bzw. nach Möglichkeit die Gelegenheit bekommen, sich in einen Unterschlupf zurückzuziehen.
Im Folgenden werden einige für den Tierarzt wichtige Laute vorgestellt. Beachten Sie bitte, dass die Liste bei weitem nicht vollständig ist.
Meerschweinchen drücken Zufriedenheit durch ein leises, gurgelndes Geräusch aus. Bei dieser Vokalisation ist die Körperhaltung entspannt.
Der Angst- oder Warnruf ist ein hoher, lauter Ruf. Er klingt ähnlich wie das Quietschen des Futterrufes, ist in der Regel aber schriller.
Zähnewetzen
Zähneklappern
Quietschen
Kreischen
Zischen
Im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen kann auch das Gurren gezeigt werden. Dabei handelt sich um ein leises, knatterndes Brummen. Mit diesem Laut sollen andere Tiere beruhigt und auch auf Abstand gehalten werden.
Mit dem Positionslaut, einem leise auf und ab schwellenden, purrenden Quietschen, bleiben Meerschweinchen in Stimmfühlung. Dieser Laut wird vor allem dann ausgestoßen, wenn kein Sichtkontakt zu den restlichen Gruppenmitgliedern besteht.
Schmerzen sind bei Meerschweinchen in der Regel nur schwer erkennbar. Als kleine Beutetiere versuchen sie, Unwohlsein zu verbergen. Selbst wenn Meerschweinchen verändertes Verhalten zeigen, ist es oft schwierig herauszufinden, ob die Ursache dafür Stress oder Schmerzen sind. Große individuelle Unterschiede in der Reaktion auf Schmerzen und Stress erschweren das Erkennen von Schmerzen zudem.
In einer Studie von Ellen et al. ▶ [64] konnten vor allem in der Körperhaltung Unterschiede zwischen Meerschweinchen mit und ohne Schmerzen festgestellt werden. Bei Schmerzen legten sich die Tiere mit unter den Körper eingezogenen Beinen hin. Manche Tiere zeigten auch eine abnormale Beinposition, bei der ein Hinterbein abgespreizt oder nach hinten ausgestreckt war ▶ [64]. Aber auch bei diesem, aus Sicht der Autoren eindeutigsten und konsistentesten Anzeichen für Schmerzen gab es große individuelle Unterschiede, u.a. in der Latenzzeit, bis das Verhalten gezeigt wurde.
Zu beachten bei der Dosierung von Schmerzmitteln bei Meerschweinchen ist laut Ellen et al. ▶ [64], dass angegebene Dosierungen immer auf klinischen Erfahrungen basieren, da systematische Studien zur analgetischen Wirkung von Schmerzmitteln bei Meerschweinchen fehlen. Aus diesen Gründen muss sich der behandelnde Tierarzt auch immer zusätzlich auf eine Analyse des Verhaltens berufen, wenn Schmerzen bestimmt werden sollen.
Folgende Veränderungen am Tier können auf Schmerzen hindeuten ▶ [63], ▶ [64]
Liegen mit unter den Körper eingezogenen Beinen
abnormale Beinposition im Liegen (ein Hinterbein abgespreizt oder nach hinten ausgestreckt)
Anorexie
Absetzen von weniger oder kleinen Kotboli
fehlender Kotabsatz
Polydipsie (v.a. bei gastrointestinalem Schmerz)
erniedrigte Körpertemperatur
sich kühl anfühlende Ohren und Gliedmaßen
Schonhaltung einer betroffenen Stelle nach deren Palpation
Quietschen bei Palpation einer betroffenen Stelle
flache, schnelle Atmung
Beknabbern einer betroffenen Stelle (evtl. mit Alopezie einhergehend)
vorgestreckter Kopf
angestrengter Gesichtsausdruck mit hervortretenden Augen
leerer, unfokussierter Blick und/oder halbgeschlossene Augen
Abdomen wird auf den Boden gedrückt
Immobilität
Lethargie, mangelnde Abwehr beim Handling
blasse Schleimhäute
Aggression bei normalerweise freundlichem Tier
Folgende Veränderungen am Tier können auf Zahnprobleme oder Probleme in der Maulhöhle hindeuten ▶ [63]
Dysphagie oder Anorexie
Gewichtsverlust
Hypersalivation
periorale Dermatitis/Dermatitis in Kinn- und Halsregion
mangelndes Selbst-Putzen, Flecken auf den Vordergliedmaßen
Bepföteln des Maules
Zähneknirschen
verlangsamtes Fressen
überwiegend einseitiges Kauen
Polydipsie
Aufnehmen und Fallenlassen von Futter, ohne es zu fressen
Vermeidung bevorzugter Nahrung
Auch Meerschweinchen können und sollten an die Transportbox gewöhnt werden, vor allem dann, wenn regelmäßige Tierarztbesuche (z.B. zum Zähnekürzen aufgrund einer Zahnfehlstellung) notwendig sind. Diese Gewöhnung wird in ähnlicher Weise durchgeführt wie bei der ▶ Katze beschrieben. Zum einen kann die Transportbox (oder nur der Deckel davon) als Unterschlupf in Käfig oder Auslauf verwendet werden. Zum anderen kann aber auch jeder Freilauf damit beginnen, dass die Meerschweinchen in die Transportbox gesetzt und zum Auslaufort getragen werden. Bei beiden Varianten machen die Tiere positive Verknüpfungen mit der Transportbox.
Darüber hinaus müssen die Besitzer dazu angehalten werden, eine ausreichend große Transportbox zu verwenden, und diese mit Unterschlupf (in dem alle mitgebrachten Meerschweinchen gleichzeitig bequem Platz finden) und benutzter Einstreu auszustatten. Der Unterschlupf sollte nicht zu schwer sein (kein massives Holz), um die Verletzungsgefahr zu verringern. Die Einstreu bietet einen vertrauten Geruch und kann vom Praxispersonal zum Einreiben der Hände verwendet werden.
Praxistipp
Was zum Tierarztbesuch mitgenommen werden sollte
etwas benutzte Streu und ein vertraut riechendes Handtuch (in der Transportbox)
das Bindungstier des Patienten
ein bekanntes und beliebtes, leichtes Häuschen
besonders begehrtes Futter
Im Wartebereich müssen Meerschweinchen immer in einer erhöhten Position abgestellt werden. Dies kommt dem Sicherheitsbedürfnis der kleinen Nager entgegen, die sich bei Bewegungen von oben sehr erschrecken können. Einfache Schilder im Wartezimmer können die Besitzer ebenso darauf hinweisen, wie die Praxismitarbeiter am Empfang.
Praxistipp
Meerschweinchenbesitzer müssen dazu angehalten werden, ihre Tiere beispielsweise auf ihrem Schoß, einem Stuhl oder einem Raumteiler-Regal abzustellen.
Eine Bedeckung der Transportbox mit einem Handtuch als Sichtschutz kann ebenfalls sehr hilfreich sein und dem Meerschweinchen eine größere Sicherheit vermitteln.
Merke
Grundsätzlich gilt: Sobald notwendige Untersuchungen beendet sind, müssen Meerschweinchen umgehend die Gelegenheit haben, sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen und zu erholen.
Eine wichtige Voraussetzung für ein tierfreundliches Handling von Meerschweinchen ist, dass auf die Lärmempfindlichkeit und Schreckhaftigkeit der Nager Rücksicht genommen wird. Aus diesem Grund muss die Stimmlage des Praxispersonals während der Untersuchung und Behandlung leise und ruhig sein. Sämtliche Bewegungen müssen sanft und möglichst langsam ausgeführt werden; dabei sollte man ruckartige oder von oben kommende Bewegungen unbedingt vermeiden. Zu diesem Zweck müssen beispielweise alle evtl. benötigten Utensilien bereits vor der Untersuchung in Reichweite liegen.
Wenn möglich, sollten dem Meerschweinchen kleine Stückchen eines beliebten Saftfutters angeboten werden. Auch wenn das betreffende Tier die Leckerlis zunächst ablehnt, sollten sie weiterhin zur Verfügung stehen, da das Kauen einen beruhigenden Effekt hat.
Wie alle Nagetiere, sollten Meerschweinchen immer mit zwei Händen hochgehoben werden. Eine Hand sollte dabei den Schultergürtel sanft aber sicher umfassen. Es ist darauf zu achten, den Brustkorb nicht zu quetschen. Die zweite Hand muss den Beckenbereich und die Hinterfüße stützen. Ein solcher Griff mit zwei Händen ist für ein eher schweres Heimtier wie das Meerschweinchen nicht nur angenehmer, sondern vermittelt ihm durch die bessere Stütze auch mehr Sicherheit. Bei einer oralen Medikamentengabe oder bei der Untersuchung der Mundhöhle ohne Hilfsperson kann das Meerschweinchen auch einhändig am Schultergürtel fixiert und angehoben werden. Der Rumpf des Untersuchers stützt dabei den Rücken des Meerschweinchens, wenn nötig. Die Hinterbeine müssen dabei allerdings auf einer festen, rutschsicheren Unterlage ruhen.
In der sogenannten „C-Position“ kann das Tier in der Regel gut und stressarm fixiert werden. Hierbei wird das Meerschweinchen mit zwei Händen so gehalten, dass die Position der Wirbelsäule an den Buchstaben „C“ erinnert. Der Körper des Handlers dient dabei als Stütze für den Rücken und verleiht dem Tier Sicherheit. Wenn nötig, kann er mit seiner zweiten Hand den Kopf des Meerschweinchens zusätzlich sanft am Kiefer fixieren.
Nach jedem Hochheben sollte Meerschweinchen ein Augenblick Zeit gelassen werden, sich an die neue Position zu gewöhnen, bevor mit weiteren Manipulationen fortgefahren wird ▶ [69].
Praxistipp
Zusammenfassung der wichtigsten Handling-Empfehlungen
vor dem Anfassen die Hände mit (vom Patienten) benutzter Einstreu einreiben
ruhige, sanfte Bewegungen (niemals hektisch oder von oben)
Lärm reduzieren und mit ruhiger, leiser Stimmlage sprechen
Hochheben und Fixieren immer mit zwei Händen (Schultergürtel und Becken)
Am besten werden Meerschweinchen am Schultergürtel gefasst und unter dem Becken mit der zweiten Hand gestützt. Die orale Eingabe von Medikamenten kann unter Umständen auch einhändig erfolgen, wenn das Meerschweinchen am Schultergürtel sanft fixiert und hochgehoben wird, während die Hinterbeine auf einer rutschfesten Unterlage stehen.
Das Praxisteam muss sich darüber im Klaren sein, dass Meerschweinchen sehr anfällig für Stress sind und oft Veränderungen in ihrer Umgebung nicht gut akzeptieren ▶ [63]. Sie stellen bei Stress häufig die Futteraufnahme ein und verlieren rapide an Gewicht. Im Krankheitsfall sind Meerschweinchen noch stressanfälliger. Aus diesem Grund muss der stationäre Bereich für die Meerschweinchen so angenehm wie möglich gestaltet werden.
Im stationären Bereich müssen Meerschweinchen getrennt von Beutegreifern wie Hunden oder Katzen untergebracht werden, um Stress zu reduzieren. Ein komplett getrenntes Heimtierzimmer ist in der Regel auch ruhiger als eine Station, in der auch Hunde untergebracht sind.
Praxistipp
Mit Rücksichtnahme auf ihre Stress- und Lärmempfindlichkeit müssen Meerschweinchen in einem besonders ruhigen Bereich untergebracht werden – getrennt von Hunden und Katzen.
Zur Einrichtung des stationären Käfigs muss der Besitzer von zu Hause bekannte Unterschlüpfe mitbringen. Zudem muss auch, wenn nur irgend möglich, das Bindungsmeerschweinchen mit stationär aufgenommen werden, um dem Patienten eine emotionale Stütze zu sein. Die Anwesenheit eines Bindungspartners beschleunigt auch die Erholung nach einer Operation, indem sie Stress reduziert.
Merke
Ein behandeltes Meerschweinchen sollte sobald wie möglich (z.B. nachdem der Patient steht und postoperativ Nahrung zu sich nimmt) wieder mit seinem Bindungsmeerschweinchen zusammengesetzt werden ▶ [63].
Da kranke Tiere auch häufig negativ auf Handling reagieren, sollte jegliches Handling auf das Nötigste reduziert bleiben, vor allem wenn der Patient verängstigt, nervös oder krank ist ▶ [63].
Sollte ein Meerschweinchen ohne seine(n) Partner zu einem Tierarztbesuch gebracht worden sein, muss der Besitzer dazu angehalten werden, die Tiere nur unter Aufsicht wieder zusammen zu lassen. Gerade dann, wenn auch keine benutzte Einstreu im Transportkäfig war, können Probleme aufgrund eines veränderten Eigengeruchs entstehen. Der Besitzer muss die Zusammenführung genau beobachten und sollte die Tiere sofort trennen, wenn es zu Aggression kommt. In einem solchen Fall ist ein ausführliches ▶ Gewöhnungstraining notwendig.
Zusammenfassung
Meerschweinchen sind obligat sozial und gehen enge Bindungen ein. Die Anwesenheit des Bindungstieres wirkt stressreduzierend.
Da sie kein soziales Putzen kennen, empfinden Meerschweinchen ein Streicheln auch nicht als angenehm.
Das Droh- und Abwehrverhalten von Meerschweinchen umfasst u.a. Ausschlagen, Schnauzeheben, Kreischen, Quietschen, Abwehrharnen, gerichtetes Gähnen, Treteln und Beißen.
In der Tierarztpraxis sollten Meerschweinchen jederzeit getrennt von Hunden und Katzen sowie zudem in erhöhter Position untergebracht sein.
Meerschweinchen sind wenig wehrhaft und fühlen sich daher nur in Verstecken sicher. In Wartezimmer, Behandlungsraum und stationärem Bereich sollten daher Unterschlüpfe zur Verfügung stehen.
Meerschweinchen fühlen sich wohler in einer Umgebung, die vertraut riecht. Daher muss im Transportkäfig, aber auch im Käfig bei stationärem Aufenthalt benutzte Einstreu aus dem Heimatkäfig verwendet werden, sowie bekannte Häuschen.
Laute Geräusche sind immer auf ein Minimum zu reduzieren, mit Rücksicht auf die Lärmempfindlichkeit der Tiere.
Bei Stress können Meerschweinchen u.a. Freezing, hektische Flucht oder die Alarmhaltung zeigen.
Schmerz wird in der Regel nur subtil gezeigt. Zudem sind die Anzeichen für Schmerzen individuell verschieden. Auffällige Verhaltensänderungen, Immobilität oder Lecken der betroffenen Stelle sind Beispiele für deutliche Schmerzzeichen.
Meerschweinchen können ebenfalls an die Transportbox gewöhnt werden.
Meerschweinchen müssen immer mit zwei Händen hochgehoben werden.
[63] Bays TB. Guinea Pig Behavior. In: Bays TB, Lightfoot T, Mayer J, eds. Exotic Pet Behavior: Birds, Reptiles, and Small Mammals. St. Louis, Missouri: Saunders, Elsevier, 2006
[64] Ellen Y, Flecknell P, Leach M. Evaluation of using behavioural changes to assess post-operative pain in the guinea pig (cavia porcellus). PloS one 2016; 11.9: e0161941
[65] Heffner R, Heffner H, Masterson B. Behavioral measurements of absolute and frequency difference thresholds in guinea pig. J Acoust Soc Am 1971; 94: 1888–1895
[66] Kaiser S, Kirtzeck M, Hornschuh G et al. Sex-specific difference in social support – a study in female guinea pigs. Physiol Behav 2003; 79, 297–303
[67] Künzl C, Sachser N. Auswirkungen der Domestikation auf Verhalten und endokrine Anpassungsreaktionen beim Meerschweinchen. Arch Tierz Dummerstorf 2000; 43: 153–158
[68] Sachser N, Dürschlag M, Hirzel D. Social relationships and the management of stress. Psychoneuroendocrinology 1998; 23: 891–904
[69] YeunShin L. Guines Pigs. In: Tynes V, ed. Behavior of Exotic Pets. Chichester: Wiley-Blackwell, 2010: 78–90