Seit 400 Jahren gibt es die Oper. Im 399. Jahr ihres Bestehens hat Ulrich Schreiber den fünften und letzten Band seines Opernführers für Fortgeschrittene vorgelegt1, jenes Buches, das in sich auf 18 Jahre Entstehungszeit zurückblickt. Damit liefert Schreiber neben theaterwürdiger Zahlenmagie nicht nur die größte Zusammenschau ihrer Art über die jüngste aller klassischen Kunstformen, sondern tritt selbst als Teil jener Geschichte hervor, von der zu erzählen er anhebt. Das klingt nach märchenhafter Verwebung– Vormachen und Nachdenken fallen, scheinbar, ineins.
In seiner heutigen Form ist das Werk ein Masterplan, ein Obelisk, zweifelsohne der K2 unter den Opernführern.2 Es liefert sowohl ein Panorama dessen, was Oper ist, als auch eines dessen, was Oper sein könnte. Schreiber, der in seinem neuesten Vorwort bereits auf das Echo reagiert, das seiner bisherigen Arbeit zuteil wurde, sagt, es stimme ihn »positiv für die Zukunft« (17) – erschütternd ungerecht daran ist allein, dass ihm eine Krebserkrankung verwehrt hat, selbst an dieser Zukunft noch teilzuhaben.3
Die Rückseite der Heldenanordnung aber liegt im Schatten. Es gibt auch einen Alltag mit Devotionalien, und erst mit dem vermehrten Gebrauch des Schreiber wird jetzt entzifferbar, dass dessen Detailliebe, die zur Detailleidenschaft, gar zur Obsession und Eskapade tendiert, über den Seitensprüngen fast die Hauptsache vergessen hat.
Zunächst erscheint auch der neueste Foliant substantiell wie alle Bände zuvor: durchkomponiert, unabgelenkt von Nacherzählungen ohne Wertung oder Schmuckzitaten mit zuviel Gefühl, sogar vom Ironievorbehalt der Feuilletonprosa findet sich nirgends eine Spur. Wieder liefert Schreiber durch die Brechungswinkel der Operngeschichte gleichfalls eine Kultur-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte. Wieder gibt es eine Fülle topographisch verschalteter Einzelwerkbesprechungen, reiche Quellenverweise, Glossare, Werk- und Personenregister. Auch kommt Schreibers stilistische Präzision abermals ohne lexikalische Verengung aus – er beherrscht Enzyklopädismus plus Essayismus. Bemerkenswert am fünften Band, der im Eigentlichen den dritten von drei Teilbänden ausschließlich zum Musiktheater des 20. Jahrhunderts darstellt, dass er ein Buch im Buch komplettiert. Gemeinsam mit 3/1 und 3/2 macht er knapp zwei Drittel (2191 S.) des gesamten Œuvres aus (3737 S.) und widmet sich damit dreifach so gründlich dem eigenen Äon vor den vergangenen. Man muss allemal dies ungewöhnlich nennen, denn meist verhält es sich umgekehrt. Wie wenige Titel der Markt zur zeitgenössischen Oper bereitstellt, wäre ein Beleg dafür. Die Kenntnis der eigenen Gegenwart wird zwar von Tagesinfos überflutet und Letztere verleiten dazu, Erstere überzubewerten. Eine echte Analyse aber war noch stets Sache der Zukunft. Schreibers Exegetenkunst indes macht aus dem Jetzt vorübergehend ein Gestern, damit uns morgen verständlich sein kann, was heute gewesen ist, und so findet er wissenschaftlich immer wieder zu einem Fokus, der wie von selbst mit dem Streuungsgrad seiner Interessen mitwächst.
Prokofjew schrieb über Strawinskys Oedipus Rex, Schreiber zitiert es: »Der Librettist ist Franzose, der Text lateinisch, das Thema griechisch, die Musik deutsch-englisch [...], die Aufführung wird in Monaco sein, bezahlt aus amerikanischem Geld – in der Tat der Gipfel des Internationalismus« (149). In übertragenem Sinn ist das eine Exemplifikation dessen, was auch der letzte Band des Opernführers für Fortgeschrittene durchmisst. Er beschäftigt sich mit dem Musiktheater Russlands und der Sowjetunion, mit dem übrigen Nord-, Ost- und Südosteuropa, der Situation der Oper in den Benelux-Ländern, in Skandinavien, auf der Iberischen Halbinsel und desgleichen – Schreiber zieht immer größere, konzentrische Themenkreise um den Ursprungsort der Oper im Zentrum des Alten Europa – mit dem Nahen Osten und Israel sowie den Tendenzen des Musiktheaters in Asien, Australien, Amerika. Was jedoch nach einem bunten Allerlei, ja thematischer Großmannssucht aussehen könnte, zollt nur der Migration eines Genres Rechnung, dessen ästhetische Maximen sich im 20. Jahrhundert auch in geopolitische Zusammenhänge eingeflochten haben, einflechten mussten: Kolonialisierung, Exilierung und Globalisierung sind die Determinanten. Man hat Ulrich Schreiber das Politisieren vorgeworfen. An dieser Stelle jedoch sollten wir seiner Ahnung dankbar sein. Oper heute wäre nicht, hätte sie es sich um 1900 oder um 1930 oder um 1990 bei sich selbst gemütlich gemacht. Jene Komponistenprofile, denen in 3/3 die monographischen Würdigungen zuteil werden, beweisen es. Schreibers erster Schwerpunkt widmet sich Igor Strawinskys kosmopolitischen Aventüren, der zweite dem Werk Leoš Janáčeks, für das zählt, was auch Robert Walser einst über seine Heimat Biel im Schweizer Jura sagte: Eine »ganz kleine Weltstadt«.
Umso befremdlicher nun, dass Schreibers Unternehmung in einem bestimmten Revier selbst schockierend provinziell geblieben ist. Es geht um eine Auslassung, und diese Auslassung ist so grundstürzend, dass man zunächst an sich selber zweifelt, die Augen reibt, ob einem wohl etwas entgangen sei. Schließlich müsste man Dinge beanstanden, die gar nicht da sind – eine utopische Angelegenheit. Doch zwei volle Jahre mit dem schreiber bringen Gewissheit, dass man die Kluft im Grunde nur vor lauter Kahlschlag nicht gesehen hat. Es ist denn auch nicht mangelnde Konzentration, die das Buch durchlöchert hat, es ist eine Auslassung aus Ideologie: Ulrich Schreiber hat eine Geschichte des Musiktheaters verfasst, ohne das Theater in irgendeiner anderen Weise als der illustrativen oder organisatorischen zu berücksichtigen. Interpretation und Interpretationsgeschichte sind bis auf statistische Angaben strukturell ausgeklammert. Vom Darzustellenden sind alle Belange des Darstellerischen abgetrennt. Für das Musiktheater wird ein Werkbegriff insinuiert, der ohne Aufführungen auskommt.
Dazu ist viel zu sagen. Zunächst, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob das Buch unter der genannten Einschränkung überhaupt noch einen Beitrag zur »Kunst der Oper«4 darstellt, wie dessen Titel nach Schreibers eigenem Dafürhalten dringend hätte lauten sollen. Kein anderes Genre lebt – fast redundant, es erneut auszubuchstabieren – von so vielen, auf den Moment ihrer Platzierung hin zugeschnittenen Gewerken, Ambitionen und Routinen wie die Oper. Auf deren Bühne gibt es kein Werk ohne Interpretation, und Schreiber beweist es gleichermaßen (sich) selbst, wenn er – allerdings in Kautelen – notiert, dass die 1869 zur Eröffnung des Suezkanals geplante Aida kurzfristig abgesagt und durch einen semi-brisanten Rigoletto ersetzt werden musste, weil die Kostüme wegen des preußisch-französischen Krieges den Weg nicht rechtzeitig von Paris nach Kairo gefunden hätten (608). Gerade dies Ephemere jedoch, die allabendliche Anverwandlung, die Zeremonie des Affekts, das instabile und irisierende Gleichgewicht der Oper finden bei Schreiber keinen Eingang ins systemische Gefüge. Sie bleiben anekdotisch. In 3/2 bespricht Schreiber den letzten Teil des Licht-Zyklus von Karlheinz Stockhausen, ohne dass dieser überhaupt schon in Szene gesetzt worden wäre.5 Für einen Opernführer mag das recht sein. Nicht aber für Fortgeschrittene. Allzumal Ulrich Schreiber explizit kein Vademekum verfassen wollte. »Mich interessiert an der Oper vor allem«, sagt er, »was ihre Welt im Innersten zusammenhält – und was in den konventionellen Opernführern völlig fehlt. Und das ist für mich primär das Verhältnis zwischen Wort und Musik, zwischen Sinn und Klang.«6 Es ist ein Schlag. Die derzeit wichtigste Publikation zur Geschichte und Gegenwart des Musiktheaters, dessen eigene Relevanz sich gerade im 20. Jahrhundert durch solche Handschriften behauptet hat, die die individuelle Aufführung nicht nur als Nagelprobe, sondern als Katalysator der Komposition zu definieren suchten, begreift die Bühnenarbeit als eine dem Wort und dem Klang subordinierte Läpperei.
Umso schmerzlicher ist dies, da Schreiber sein Konzept eigenen Aussagen zufolge »bis zum Ende ohne jeden äußeren Zwang realisieren (konnte)«.7 Bärenreiter, sein Verlagspartner, der sich selbst als The Musicians’ Choice annonciert, hat ihn darin offenkundig nicht nur nicht aufgehalten, sondern bestärkt. Und so verhandelt der Opernführer für Fortgeschrittene so wenig Theatrales wie er selbst – in Sprache und Ausführung – Theaterhaftes enthält. Er ist von starrer Eloquenz. Nur Scholaren würden das noch mit Purismus verwechseln. Das historische Logo des Verlagshauses mit dem schönen Bären unter dem Reiterstern bleibt die einzige Abbildung für Schreibers Buch. Sie aber hat weder mit Siegfrieds Wildnis noch mit Tannhäusers Ode irgendetwas zu tun. Keine Regiebuchskizze, keine Zeichnung, kein Aufführungsfoto, keine Figurine, kein Bühnenbildmodell, kein choreographisches Stenogramm, kein Beleuchterkürzel, nicht einmal Faksimiles, Partiturauszüge, Leitmotivtafeln oder Beispiele graphischer oder digitaler Notationen existieren in dieser heiligen Schrift. Der Ehrgeiz, auch Bildwerke als Argumente für die Oper zu gebrauchen, scheint dem ehemaligen Theater- und Opernkritiker Schreiber auf dem Weg zum Gelehrtentum fremd geworden zu sein. Die Schrift selbst wird zur Festung gegen das unsichere Metier der Walzbrüder.8
Konkrete Beispiele dafür können nicht anders als zahllos sein. Zwar lautet Schreibers Credo: »Im Vordergrund steht [...] der Kunstwerkcharakter der behandelten Opern [...] einschließlich gelegentlicher Querverweise auf andere Künste« (16). Doch geht er immer nur gerade so dicht an den Spielbezirk der Bühne heran, wie es aus den Partituren und Libretti abzulesen ist, verfertigt dann eine zuverlässige Liste mit Daten der Uraufführung der zu besprechenden Werke samt ausgewählten Informationen zum künstlerischen Personal, Neuinszenierungen und Einspielungen; bei all dem aber, was inszenatorisch oder szenographisch darüber hinausgeht, riskiert er nichts zu dem Preis, dass das, was er tatsächlich zum »Kunstwerkcharakter« sagt, wie in Watte gepackt wirkt. So heißt es etwa zu Strawinskys Geschichte vom Soldaten von 1918: »Am Seitenrand einer Jahrmarktbühne sitzt der Erzähler vor einem Lesepult genau gegenüber dem Orchester. Ein Zwischenvorhang, der in vier Szenen zweimal auf- und zugeht, trennt die Auftritte in Vorwegnahme der Brechtschen Gardine« (143). Unmittelbar im Anschluss werden die diversen Gattungen der im Stück nacheinanderfolgenden Nummern klassifiziert. Und dann fällt Schreiber auch schon wieder zurück und sichert die offene Flanke mit musikpublizistischer Munition: »Gerahmt wird die mit ihren Quintolen und dem solistischen Kornett an einen Pasodoble erinnernde Nummer von einem wuchtigen Militärmarsch und dem kleinen C-Dur-Choral, zu dem sich Prinzessin und Soldat in die Arme fallen« (144). Im Fluchtpunkt vergleicht er Strawinskys objektive Erzählhaltung, die beißenden Dissonanzen und die parodierenden Verfremdungseffekte schließlich mit den Readymades der zeitgenössischen Objektkunst. Marcel Duchamps Urinoir Fontaine findet die unvermeidliche Erwähnung wie auch dessen »Mona Lisa mit dem Schnurrbart« (145), dies allerdings mit der folgenden Bilanz: Anders als Duchamps Enterprises »sollen Strawinskys Verfremdungen nicht (nur) schockieren« (ebd.). Man hatte es kommen sehen. Beim »Querverweis auf andere Künste« schießt Schreiber ins Feld. Und diffamiert nicht nur den vermutlich einflussreichsten bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts als Omischreck, sondern offenbart in einer man möchte sagen: propagandistischen Fehldeutung ein tiefes Misstrauen gegenüber jenen Künsten, die sich dem Primat der Musik ab ovo entgegenstellen.
Ähnlich reagiert er auf Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson, jene Oper, deren Einrichtung einen Paradigmenwechsel für das Musiktheater bedeutete: »Die neben der Videoproduktion kommerziell erfolgreichen Schallaufzeichnungen der Oper von 1978 und 1993 beweisen, dass ihre Musik sich auch ohne die optische Dominanz der Urproduktion [...] uneingeschränkt mitteilt« (561). Für Louis Andriessens Writing to Vermeer von 1999, ein Werk, das seine Existenz immerhin einem Regisseur, nämlich Peter Greenaway verdankt, der in dieser Funktion auch für die Uraufführung verantwortlich zeichnete, befindet Schreiber, es sei »ohne die bildhaften Überstülpungen der Urproduktion [...] repertoirewürdig« (384). Im Klartext heißt das, dass Musiktheater durch Darstellung befleckt wird. Desgleichen verweigere sich der dänische Komponist Per Nørgård schon in der Konzeption seiner Oper Gilgamesh (1973) »der Guckkastenbühne, was die dem Rang des Werks unangemessene Rezeption durch aufführungspraktische Probleme erklären mag« (398). Worin aber bestanden diese Probleme? Bzw. sind sie, die nicht näher definiert werden, bei Nørgård, dem Exoten der Introversion, nicht gerade konstitutionell und somit rücklings wieder Teil der kompositorischen Struktur? Von Schreiber dazu kein Wort. Dieser wirkt stattdessen wie imprägniert gegen jederlei gestische und proxemische Phänomene, die einer Notation quasi nur wild zuwachsen und Luftwurzeln in ihr ausbilden ohne Sinn und Grund außer dem der Dekoration. Freilich müsste Ulrich Schreiber dann auch nicken, wenn es heißt, dass das Werk Giacinto Scelsis keine Musik sei, nur weil es nicht notiert ist. Und er würde nicken. Das aber deutet auf eine Sprachlosigkeit hin, die sich hinter der Macht des Wortes verbirgt, und fast möchte man meinen, Schreiber hat zuletzt geschrieben, als ob Wagner nie gelebt hätte.
Ein abschließendes Beispiel: Morton Feldmans Beckett-Oper Neither von 1977, die ganz besondere Zuwendung verdient, insofern sie sich selbst jedem Aufführungsalgorithmus entzieht und damit auch Schreibers Diktion ungefragt auf die Probe stellt. Kein vergleichbares Werk ist so glasklar ungefähr in Bezug auf konkrete Angaben, Neither ist die klanggewordene Rückseite der Dinge, ein porzellanes Stück Musiktheater, das erst am äußersten Rand des Betriebs mit dem eigenen Verlöschen in Erscheinung tritt. Wie aber verfährt Schreiber? Er widmet dem Werk ganze 7 Zeilen Text, was keinesfalls als letzte Form der Abstraktion gedeutet werden kann. In Notwehr gegen die Tatsache, dass man über das Vergängliche die meisten Worte hätte verlieren müssen, um es von unserer Gedächtnisfähigkeit zu überzeugen, reduziert Schreiber Feldmans Kunst auf den Begriff »Reduktionismus« (518) und stellt diesem schließlich den »Minimalismus« von Glass gegenüber. Es ist eindeutig: Hier hat Schreiber keinen Ausweg gesucht und deshalb nur den unpassendsten gefunden. Zu erklären, was es für die Bühne wirklich bedeutet, dass ein Werk »keine Charaktere, keine Handlung, keine Szene« (517) beansprucht, setzt eine Begriffsbildung eben dieser Parameter voraus. Vergliche man Neither mit einer Anordnung aus silbernem Staub, Ulrich Schreiber hätte versucht, diesen wegzuwischen wie die Putzfrau die Fettecke von Beuys.
Will sagen, in einer Sphäre, in der Arbeiten wie die von Morton Feldman Anspruch auf eine Evidenzform verteidigen, die jenseits des Aplombs liegt, muss es falsch sein, ausgerechnet dem performativen Ereignis, durch das das Musiktheater zu sich selber kommt, die Zugehörigkeit zu diesem abzusprechen. Die zerbrechlichste Szenographie fixiert, dass es nicht bloß zum Fußnotenapparat eines Opernwerks gehört, dieses auch aufzuführen. Vielmehr ist die Aufführung das Werk, jedenfalls eine bestimmte Gestalt von ihm. Das Vorübergehende an ihm wäre nicht Beleg gegen, sondern für seine Lebensdauer – gerade das 20. Jahrhundert hat uns durch seine diskursiven Theaterformen darüber belehrt, dass Widersprüche produktiv sein können. Insofern ist auch Musik in der Oper mehr als das, was man hört, wenn man die Augen verschließt. Und vielleicht liegt denn auch der Makel von Ulrich Schreibers Opus summum einzig darin, dass es als Buch nur buchhaft gedacht ist. Der Preis des Reichtums ist Erstarrung. Schreibers Werk ist eine Welle, gefroren im Moment ihres Überschlags.