Richard Klein

Carl Dahlhaus oder Die Musikwissenschaft im Clinch mit dem Musiktheater

I. Oper trifft absolute Musik

Carl Dahlhaus war ein Mann des Theaters. Dass die Präsentation eines Dramas auf der Bühne mehr ist als die performative Ausstattung eines literarischen Textes, erfuhr er schon sehr früh, und auch wenn er am Deutschen Theater in Göttingen offiziell als Schauspieldramaturg arbeitete und zuvor in Zürich einmal Brecht getroffen hatte, waren ihm die spezifischen Gesetze einer Opernproduktion darum nicht weniger vertraut. Solche Intimität im Umgang mit der Welt des schönen Scheins fiel in der musikwissenschaftlichen Zunft damals so sehr aus dem Rahmen, wie sie es noch heute meist tut. Durchweg arbeiten Musik- und Theaterwissenschaften mehr oder weniger stolz für sich, a solo. Auf ihre Weise sind zwar beide oft mit dem »unmöglichen Kunstwerk« zugange. Aber nur selten nehmen sie dabei produktiv voneinander Notiz – aus welchen Motiven auch immer. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Nicht zufällig setzen die Arbeiten des Opernforschers Dahlhaus häufig mit einer Distanzierung von der Tradition des eigenen Fachs ein. Der Kern der Oper, heißt es dann, sei nicht das »Wort-Ton-Verhältnis«, zu dem eine Bühnenrealität bloß hinzutrete. Vielmehr werde diese Gattung erst zugänglich und verständlich, wenn man die unteilbare Einheit von Komposition und theatralem Spiel als ihre wesentliche Bestimmung begreife.1 Nun ist das freilich der Titel eines Problems und nicht dessen Lösung. Sieht sich die Opernanalyse doch mit der Alternative konfrontiert, entweder die Partitur oder den Bühnenvorgang als Hauptsache zu setzen. »Werk« meint hier erstens den sprachlich-musikalischen Text, zweitens die Aufführung, durch die sich der Text als Theaterereignis realisiert. Wie beides miteinander zusammenhängt und eine konsistente, wenn auch nicht homogene Form ergibt, ist die Frage. Auch wenn es Dahlhaus erklärtermaßen darum geht, den Gegensatz zu überwinden, markiert sein Postulat einer »musikwissenschaftliche(n) Analyse, die zugleich eine theaterwissenschaftliche sein muss«2, einstweilen eher eine Forschungsutopie als eine reale akademische Praxis.

Carl Dahlhaus war aber nicht nur ein Mann des Theaters, sondern ebenso der Anwalt, wenn nicht der Advokat einer »Idee der absoluten Musik«, deren geschlossene Form sich von den Bedingungen der sozialen und historischen Welt emanzipiert habe.3 Selbstverständlich leugnet er die Existenz dieser Bedingungen nicht. Aber er besteht auf der Autonomie des musikalischen Werks ihnen gegenüber, d.h. er bestreitet – letztlich –, dass das Werk von ihnen her verständlich wird und sie etwas Wesentliches über es aussagen oder an ihm treffen. Von dogmatischem Formalismus durchaus entfernt, nähert sich Dahlhaus dennoch regelmäßig formalistischen Positionen an, wohl auch aus Not angesichts der gängigen soziokulturellen und politischen Interpretationsmuster. Weil sein Erkenntnisinteresse aber bei rein technischen Lösungen nie wirklich zur Ruhe kommt, bleibt er von hermeneutischen Fragestellungen zum »Gehalt« angezogen, ohne daraus aber wirklich Konsequenzen zu ziehen.

Praktisch mündet diese zum Habitus geronnene Skepsis in die defensive Nobilitierung einer Strukturanalyse, die weder von individueller Rezeption noch von performativer Praxis und schon gar nicht von sozialen Lebenswelten etwas wissen will. Musikgeschichte ist für Dahlhaus Kompositionsgeschichte, das Begreifen musikalischer Werke auf der Basis einer Rekonstruktion kompositorischer Probleme oder Fragen, auf die die Werke so oder so eine Antwort darstellen. Dass dieser Ansatz bedeutende Ergebnisse gezeitigt hat, ist unstrittig. Aber auch sein Preis ist nicht gerade gering, werden doch alle Phänomene und Prozesse, die den Rahmen einer »Problemgeschichte des Komponierens« sprengen, als kunstfremd verworfen. »Musikalische Vorgänge«, heißt es einmal, »sind, im Unterschied zu authentischen Texten, nur unzulänglich rekonstruierbar. Und das Beharren auf der Einsicht, dass nicht der ›tote Buchstabe‹, sondern erst der ›Kommunikationsvorgang‹ die eigentliche Musik sei, bleibt nahezu ohnmächtig gegenüber der enttäuschenden Erfahrung, dass die stereotypen Aussagen, auf die sich ein Rezeptionshistoriker aus Mangel an Dokumenten immer wieder zurückgeworfen sieht, neben der Differenziertheit, die eine musikalische Strukturanalyse zu erreichen vermag, kaum bestehen können.«4 Gewiss, die methodischen Probleme von Rezeptions- und Interpretationsforschung sind kein Pappenstiel. Sollte jedoch die Weigerung, den performativen Akt als wissenschaftswürdigen Gegenstand anzuerkennen, buchstäblich so gemeint sein, wie es in der zitierten Stelle geschrieben steht, zöge sich der Opernforscher selbst den Boden unter den Füßen weg. Denn das theatrale Ereignis als einen »Vorgang« zu klassifizieren, der gar nicht zur Oper gehört, sofern diese »authentischer Text« ist, käme einer definitorischen Willkür gleich, die sich in nichts von jener schriftorthodoxen Musikologie unterscheidet, gegen die sich der Theatermann Dahlhaus mit Recht wendet. Aus dem strukturanalytisch konzipierten Werkbegriff würden dann gerade solche Aspekte herausgehalten, die einen Gegenstand der Bühne wesentlich mitkonstituieren: die einmalige Zeitspanne der Aufführung, die Präsenz der darstellenden Personen, das Zusammenspiel von Visuellem und Akustischem, schließlich Verhaltensweisen des Publikums, die sich nicht geradewegs auf Strukturen des Werks zurückführen lassen. Jahrzehntelang war Dahlhaus so unbestritten die beherrschende Figur der musikwissenschaftlichen Wagnerforschung in Deutschland, dass kaum jemand den reizvollen Widersinn registrierte oder zu äußern wagte, der ihn immerfort die Nähe des »Gesamtkunstwerks« suchen ließ. Ist doch ein schärferer Gegensatz als zwischen der Ästhetik der Strukturanalyse und dem theatralen Werkkonzept Wagners erst einmal nicht denkbar. Mit Wagner hat Dahlhaus gleichsam den optimalen Kontrahenten des eigenen Ansatzes zum Gegenstand desselben gemacht.5 Nicht, um »die Idee der absoluten Musik« gegen ihn zu profilieren, sondern um sie mit Wagner zu vertreten derart, dass es der stärkste Beleg für die Macht jener Idee sei, wenn sogar die Ästhetik des Bühnenfestspiels sich genötigt sieht, sich im Hinblick auf sie zu legitimieren.

Tatsächlich trifft dieser hermeneutische Gewaltakt einen bestimmten historischen Punkt. Dahlhaus hat ein feines Gespür dafür, dass die von Wagner vollzogene theatrale Umwertung der idealistischen Ästhetik mit dem »geistigen« Werk- und Textbegriff kommuniziert, der sich durch die Kanonisierung der Wiener Klassik, respektive der Symphonik Beethovens historisch herausgebildet hatte.6 Das Musikdrama lebt aus einem inneren Widerspruch, der zwei radikal verschiedene Kunstkonzepte zusammenzwingt: hier die Auflösung des Werkbegriffs in die Zeitspanne eines einmaligen Abends, dort die Monumentalisierung eines heiligen Textes, den die Aufführung zu realisieren hat; einerseits die schriftkritische »Verwirklichung« einer poetisch-kompositorischen Partitur im Ereignis von Bühne und Orchestergraben, andererseits die Stilisierung Bayreuths zu einer in Stein gehauenen Werkedition, vergleichbar dem Philologenethos der ersten Gesamtausgaben.7 Das ist etwas durchaus anderes als eine Apologie »absoluter Musik« à la Schopenhauer, aber es zeigt, wie tief das Musikdrama in die Tradition der Instrumentalmusik hineingehört, aus der es doch so sehr herausragt.

Zunächst wird die Idee eines in sich theatralen und musikalischen Werks in ihren Widersprüchen entfaltet. Der dritte Abschnitt zeigt dann, warum sich die These von Wagners zweifachem Musikbegriff nicht halten lässt, sondern die Verhältnisse geradezu auf den Kopf stellt. Thema des vierten Teils sind die ehemals bahnbrechenden musikalischen Analysen von Dahlhaus und ihre heute nahezu verstörende Klang- und Theaterferne.

II. Werk als Unruheherd

In Wagners Konzeption des musikalischen Dramas von 1971 hat die These des doppelten Werkbegriffs noch keine ausformulierte Gestalt. Ihre beiden Momente, das theatral definierte Werk und das, was in der Partitur gründet, tauchen unverbunden und zum Teil historisch verkürzt nebeneinander auf.8 Zuweilen könnte man meinen, Wagner vertrete das erste Moment und Dahlhaus das zweite, d.h. der Wissenschaftler stelle den Ansatz des Theatromanen stillschweigend auf den Kopf. Aber das täuscht. Die Front gegen den alten Topos, der das Musikdrama auf eine Verkehrung der konventionellen Wort-Ton-Relation festlegt, steht, aber die inneren Risse des neuen Konzepts sind noch nicht zu Ende gedacht.

Spätere Texte gehen deutlich darüber hinaus.9 Ihr Gedankengang lässt sich so rekonstruieren: Dass bei Wagner das Theater die Realität des Dramas darstellt, ist noch nicht der entscheidende Punkt. Zwar gelten ihm Dichtung und Musik als Mittel der szenischen Verwirklichung. Das könnte zunächst aber noch so verstanden werden, als sei der sprachlich-musikalische Text, wie in der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts, als Vorlage oder Umriss rein lokal zu konkretisierender Bühnenproduktionen gedacht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Der Theatromane denkt keineswegs daran, sein Werk an die Kontingenz variabler Aufführungsbedingungen preiszugeben, sondern er will gerade umgekehrt der szenischen Vergegenwärtigung, dem theatralen Spiel Werkcharakter verleihen. Seine Partitur ist kein Arbeitspapier, das der jeweiligen Lage vor Ort anzupassen wäre, sondern sie steht für ein Gebilde, dessen aktuale Präsentation idealiter keinen Buchstaben, d.h. keine Note ändern darf. Dennoch aber, und erst damit ist die Spitze des Problems markiert, versteht Wagner den szenischen Prozess als das eigentliche Werk, als das Drama, das der Zweck ist, dem Sprache und Musik als Mittel dienen.

In der Musik des 19. Jahrhunderts erinnert Dahlhaus zunächst an die tradierten sozialen und ästhetischen Vorurteile gegenüber dem Theater: an das Misstrauen, das die Sesshaften von alters her den Fahrenden entgegenbringen, und an die Entgegensetzung von vergänglicher Aufführung und beständigem Werk, die die reproduzierenden Künste den produzierenden prinzipiell unterordnet. Vor diesem Hintergrund impliziert Wagners These, das Theaterereignis sei das eigentliche Werk, »nichts Geringeres als eine ästhetische Revolution, die die Textgläubigkeit des Jahrhunderts ebenso herausforderte wie seine sozialen Vorurteile«. Dass Wagner ein Publikum, in dem das gebildete Bürgertum und mit ihm eine ideelle Kunsthierarchie (mit der Poesie an erster und dem Theater an letzter Stelle) den Ton angab, dazu nötigte, »das Drama […] mit dem flüchtigen Theaterereignis zu identifizieren […], war ein geschichtlicher Vorgang, dessen Tragweite kaum überschätzt werden kann« und, wie Dahlhaus in einer überraschenden Volte dann hinzufügt, »zu dessen Konsequenzen das ›Regietheater‹ des 20. Jahrhunderts gehört«.10 Dieser hellsichtige Einfall wird allerdings durch eine andere Formulierung fast widerrufen, derzufolge das Wagnersche Theater an der Idee der Kunst partizipiert, »obwohl es weniger Werk- als Ereignischarakter hat«.11

Das verwirrt nicht wenig. Erst die Werkwerdung des Ereignisses als Revolution feiern, dann die alte Zweiweltenlehre wieder ins Recht setzen, aber mit keinem Satz den Hiatus dazwischen überbrücken – dem Ästhetiker Dahlhaus scheint irgendwie dubios zu sein, was der Historiker als mächtige Entwicklungszäsur anerkennen muss. Aber sein Verweis auf das Regietheater ist zweideutig und sein Verhältnis zu dieser Produktionsform von wenig Sympathie geprägt.12 Zwar hatte Dahlhaus mit gralshüterischem Beschwören von »Werktreue« nichts am Hut, sondern verteidigte je nachdem engagiert Inszenierungen von Wieland Wagner, Patrice Chéreau und Peter Zadek. Dennoch blieb ihm »Regietheater« stets ein Synonym dafür, dass sich theatrale Interpretationen selbstmächtig vor die musikalische Struktur eines Werkes schieben.13 Indem er Richard Wagner zum Ahn solcher Experimente stilisiert, verleugnet oder mildert er seine Skepsis gegenüber ihnen keineswegs. Vielmehr lässt er auf diese Weise durchblicken, dass die revolutionäre Usurpation des Theaterereignisses durch die Ästhetik des Musikdramas historisch ihren Preis gehabt habe. Regietheater ist für Dahlhaus der Geist, den Wagner rief und wir nicht mehr loswerden.14

Nun kann natürlich keine Rede davon sein, dass Wagner in Kategorien z.B. einer inszenatorischen Aktualisierung auch nur hätte denken können. Zwar hat er die Antigone des Sophokles wie selbstverständlich im Sinne der linkshegelianischen Geschichtsphilosophie und Religionskritik ausgelegt. Der Gedanke aber, diese gegenwartsgesättigte Lesart eines antiken Dramas auf die Ebene praktischer Theaterarbeit zu übertragen, wäre ihm gleichwohl nie gekommen, war dieses doch historisch schlicht noch nicht möglich. Sofern Wagner das flüchtige Bühnenereignis als Werk feierte, setzte er insgeheim das Modell eines Inszenierungsstils voraus, der von historischen Veränderungen des Geschmacks unabhängig schien und, analog zur Integrität des dichterischen und musikalischen Textes, eine weitgehende Fixierung zuließ. Weniger die Verzeitlichung des Werks durch das Ereignis – die unsere Vorstellung vom Regietheater prägt – umriss damals den Fluchtpunkt inszenatorischer Arbeit als umgekehrt eine ideale oder hypothetische Fixierung des Ereignisses infolge der Zuschreibung von Werkcharakter.15 Heute wissen wir, dass das eine Illusion war, ja dass es die ideale Inszenierung, die Wagner vorschwebte, nie gegeben hat. Ohnehin war ihr die pseudonaturalistische Bühnenästhetik der Zeit nicht günstig gesonnen. Der stand Wagner betont kritisch gegenüber, ohne doch über Mittel zu verfügen, sie grundlegend zu verändern. Aber auch er selbst arbeitete – unabsichtlich – gegen das eigene Ideal, wo er in puncto Deklamation und Gestik seinen Partituren eine Aufführungspraxis einzuschreiben suchte, deren spezifischer Umgang mit Redundanz ihm von seinen früheren Theaterjahren her geläufig sein mochte, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sich jedoch fraglos schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit befand.16

Zu Recht weist Dahlhaus den Versuch, den Werkcharakter des theatralen Ereignisses an einen idealen Inszenierungsstil zu binden, als ahistorische Fiktion zurück. Ebenso plausibel stellt er den Unterschied zwischen Sprache und Musik einerseits und szenisch-gestischer Darstellung andererseits im Verhältnis zur Zeit heraus: »Musik, die vor hundert Jahren komponiert wurde, ist noch nahezu – nicht gänzlich – unversehrt; der Theaterstil des späten 19. Jahrhunderts aber erschiene, wenn er restlos rekonstruierbar wäre, als bloßes Petrefakt: nicht als Kunstwerk, das aus seiner Entstehungszeit herausragt, sondern als Dokument einer toten Vergangenheit.«17 Mit anderen Worten: Die von Wagner »mitkomponierten« Gesten gehörten einem signifikant engeren Zeithorizont an als die Musik, die sie angeblich ausdrückt.

Aus diesen plausiblen Einsichten zieht Dahlhaus jedoch einen problematischen Schluss, den er zudem in Varianten vorträgt, die unvereinbar sind. Zunächst stellt er fest, »dass nicht sämtliche Künste Werkcharakter haben«.18 Das theatrale Spiel z.B. habe keinen; eine Inszenierung sei nicht Gebilde, sondern Vollzug; analog dazu bildeten choreographische Symbole keinen Text, der ein Werk in sich schließe, sondern Anweisungen, eben eine Choreographie zu realisieren – und nichts sonst. Die erste Variante weicht davon schon entschieden ab: »Eine szenische Darstellung, die Gestik ist nicht im gleichen Maße Werk oder Teilmoment eines Werkes wie die Musik oder die Sprache. Und dass sie es nicht ist, bedeutet, dass sie die Zeit der Entstehung des Werkes nicht ohne Substanzverlust zu überdauern vermag.«19 Keinen Werkcharakter zu haben oder aber nicht im gleichen Maße Teilmoment eines Werks zu sein, sind logisch wie semantisch sehr verschiedene Behauptungen.

Dass der Theatralität der Werkcharakter abgesprochen wird, hat zunächst eine »progressive« Seite: Inszenierungen müssen einem Werk gegenüber nicht »treu« sein, weil sie diesem, recht verstanden, nicht angehören. Das Werk ist allein im Notat von Text und Ton enthalten, d.h. es ist Schrift. Schrift aber signalisiert Dauer, Ordnung, Kontinuität, relative Zeitinvarianz. Damit verglichen ist das Theater dem Moment hingegeben, es flammt auf, um zu verlöschen, seine besten Effekte bleiben Kairos unterworfen. Für den Musikwissenschaftler trifft dies insofern von außen auf das Werk, als eine heterogene, wenngleich bezwingende Macht. Statt das »Unmögliche« der Oper und sei es experimentell zusammenzuschließen, spaltet Dahlhaus es definitorisch in zwei Teile auf: in das Werk auf der einen Seite und seine Interpretation bzw. Rezeption auf der anderen. Eine Inszenierung mag dann noch so bedeutsam, innovativ und aufregend sein, sie bleibt eine wirkungsgeschichtliche Zutat zum Eigentlichen, will sagen: sie gehört nach draußen, den »Urtext« tastet sie nicht an.20

Diese Argumentation irritiert, weil Dahlhaus doch, so dachte man, angetreten ist, das überkommene disziplinäre Konkurrenzgerangel zwischen Musik und Theater in der Oper aufzuheben. Jetzt scheint es, dass er es genau umgekehrt ohne Not und noch dazu mit falschen Argumenten zuspitzt. Aus der medialen Differenz des Theaters zu Text und Musik folgt fraglos, dass es auf andere Weise Werk ist als fixierbare Repräsentationsformen, nicht aber, dass es überhaupt keinen Werkcharakter oder einen in geringerem Maße hätte.21 Dahlhaus’ Kritik der texttreuen Opernregie des 19. Jahrhunderts mag völlig korrekt sein, aber ist Theater darum nichts als Vollzug? Nur weil die Tradition es will, dass die ersten Inszenierungsbücher des kommerziellen Opernbetriebs eine einzelne Theatergestalt als allgemeine Wahrheit über das Werk zu fixieren suchten, wird die Trennung jeder Inszenierung vom Werk noch nicht richtig. Aufgrund solcher Brüche mag das Gesamtkunstwerk sich in seine Einzelteile zersetzen und in seinem Bezug auf diese reflektieren. Diesen Prozess aber in Werk und Nichtwerk zu tranchieren, in Elemente, die einem Text von langer Dauer einbeschrieben sind, und in solche, die kaum ihre eigene Genese überleben, ist ein Versuch, Ordnung am falschen Platz zu schaffen und trennscharfe Distinktionen einzuführen, wo sie der Sache nach unmöglich sind. Warum sollte das Ereignis, das uns das Werk erst erfahren lässt, von diesem selbst ausgeschlossen sein?22 Warum die Inszenierungsgeschichte von Opern nicht in die Geschichte dieser Werke gehören, sofern sie komponierte Gebilde sind?23

Inszenierungen mögen ein so kurzes Leben haben, wie Dahlhaus es beschreibt, aber die Geschichte, die aus ihnen hervorgeht, betrifft die Geschichte der Werke wesentlich mit. Gewiss ist der europäische Werkbegriff aus der Schrift entstanden, und er konnte, wie wir ihn geschichtlich kennen, auch nur so aus ihr entstehen. Aber zu dieser Geschichte gehört, dass er sich verändert und auf »neuere« Medien und wahrlich nicht bloß auf Theaterproduktionen übergreift. Eine solche Perspektive zu antizipieren war jedoch Carl Dahlhaus, einem Bildungsbürger im besten Sinne, zutiefst fremd. Dem Einfluss des Films auf die moderne Opernregie begegnete er mit unverhohlenem Misstrauen, dass die Musik in beiden Künsten zum Kulissenzauber degradiert werde, galt ihm als ausgemacht. An diesem Punkt zieht sich eine klare historische Grenze durch sein Denken hindurch.

III. Von der Wirrsal einer Zweiweltenlehre

An den Ausführungen zum »empirischen« und »metaphysischen Musikbegriff«24 bei Wagner fällt als erstes auf, dass die Unterscheidung, die ihnen zugrunde liegt, selbst nicht begründet wird.25 Die Strukturanalyse eines Werks, heißt es sehr allgemein, könne nicht zeigen, was an Musik metaphysisch sei, sie stelle aber eine notwendige Bedingung dar, unter der Musik metaphysisch bedeutsam zu werden vermöge. Der Sinn eines musikalischen Werks bestehe nicht in den Strukturen, die der Analytiker entdecke; vielmehr müsse Musik strukturell autonom sein, um einen Sinn, der an »Transzendenz« heranreiche, tragen zu können. Gelten soll diese Notwendigkeit von Autonomie natürlich auch für Wagner. Ein rein stofflicher, handlungsnarrativer Zugang zu seinen Werken, so Dahlhaus mit Recht, käme einer Regression in wortgläubige Inhaltsästhetik, also in schlechte Metaphysik gleich. Was gute Metaphysik wäre, eine, die den Bezug von Autonomie und Transzendenz plausibel macht, erfahren wir nicht. Die Skepsis gegenüber einer Vermittlung dieser beiden Großkategorien bleibt so wirksam, dass die Dualität des Ansatzes jede mögliche Integration torpediert.26

Textanalytisch setzt Dahlhaus bei dem alten Vorurteil ein, der späte Wagner habe seinen frühen Musikbegriff widerrufen. Gemeint ist: In den Zürcher Texten übt Musik eine Funktion im Drama aus, sei als dessen Mittel folglich immer schon durch es bedingt und dichterischen wie szenischen Kategorien untergeordnet. Dagegen avanciere sie später, nach der Lektüre Schopenhauers, zum Ursprung des Dramas, zu seinem »Mutterschoß« in dem Sinne, dass es, das Drama, aus ihr, der Musik, hervorgeht und nicht umgekehrt. Entweder aber sei Musik ein bedingtes Mittel des Dramas oder dessen bedingender Ursprung. Beides könne nicht gleichzeitig gelten, ergo seien die Konzepte unvereinbar.

Bei Wagners musikalischem Drama geht es für Dahlhaus nicht um die Frage, ob das Drama oder die Musik den Vorrang habe. Auch in den Zürcher Schriften sei jenes dieser keineswegs vorgegeben, sondern als Resultat eines Prozesses der »Verwirklichung« gedacht, in dem »dichterische Absicht« und »musikalischer Ausdruck« aufgehoben seien. Zwar lege die späte Rede vom Drama als »Tat der Musik« ein größeres Gewicht auf das musikalische Moment; »verfehlt aber wäre es, den Unterschied zwischen einer Musik, die aus der ›dichterischen Absicht‹, durch deren ›Verwirklichung‹, das Drama hervorgehen lässt, und einer Musik, deren Tat das Drama ist, zu einem Gegensatz auseinanderzuzerren«.27 Das Argument lädt zur »Vermittlung« förmlich ein, aber dann wird die vermittelnde Bewegung zum Stillstand gebracht: »Dass die scheinbar so entgegengesetzten Bestimmungen der Musik als Mittel und Ursprung des Dramas nicht unvereinbar sind, darf andererseits über den tiefgreifenden Unterschied zwischen der nüchtern kompositionstechnischen Formel in Oper und Drama und der emphatisch metaphysischen in dem Aufsatz Über die Benennung »Musikdrama« nicht hinwegtäuschen.«28

Diese These krankt jedoch daran, dass sie das Verhältnis der beiden Begriffe, die sie zu bestimmen vorgibt, ungeklärt lässt. Eben noch hat Dahlhaus davor gewarnt, die Beziehung zwischen Musik als Mittel und Musik als Ursprung des Dramas »zu einem Gegensatz auseinanderzuzerren«. Jetzt wechselt er schlagartig die Ebene und ordnet die erste Figur einer empirisch-kompositionstechnischen Praxis zu, die zweite einer »emphatisch metaphysischen« Spekulation. Diese Unterscheidung soll Wagners Widersprüche kontextuell verorten und inhaltlich verständlich machen. Leider ist sie jedoch so statisch verfasst, dass ihre beiden Bezugsglieder gegeneinander gleichgültig zu werden drohen. Der Idee ohne Empirie steht eine Empirie ohne Idee gegenüber. Dahlhaus sieht das, versucht gegenzusteuern und im Widerspruch zum eigenen Ausgangspunkt die Ebene der Spekulation mit Elementen der Entstehungsgeschichte, vorrangig des kompositorischen Produktionsprozesses aufzumischen.29 Die Aktion gerät so wortreich wie halbherzig und verläuft sich im Vagen. Von einer inhaltlichen Vermittlung zwischen Idee und Empirie kann keine Rede sein.

Aber damit nicht genug. Bereits die projektive Aufteilung beider Grundbegriffe auf verschiedene Schriften Wagners – Oper und Drama als Beispiel »nüchterner« technischer Analyse, Beethoven als Exempel von Musikmetaphysik – entbehrt der Plausibilität.Oper und Drama ließe sich ohne weiteres als ein »metaphysischer«Text lesen, sofern dort eine Geschichtsphilosophie umrissen wird, die das eigene Werk als notwendiges Ziel einer historischen Entwicklung rechtfertigt, die Kunst anderer dagegen als Vorstufe, Voraussetzung oder zu kritisierende Verfallsform in den Blick nimmt. Just die »nüchtern kompositionstechnischen« Passagen dieser Schrift sind je schon in die geschichtsphilosophischen Denkmuster eingelassen und nicht etwa außerhalb davon noch gar Dokumente ideologiefreier Praxis. Viel näher läge es umgekehrt, die angeblich »metaphysische« Beethoven-Schrift und andere Texte aus der Zeit um 1870 als Versuche zu lesen, die sich quasi auf dem Weg nach Bayreuth befinden und wie verschwommen auch immer die Anlage des Festspielhauses als Basis für die Aufführung der Werke anzudenken beginnen.30

Das Ineinander von Musik, Bühne, Leben, Traum und Täuschung, das die Beethoven-Schrift exemplarisch ins Auge fasst, zielt nicht auf eine innere Klangwelt, die von szenisch Realem absähe, sondern auf die Veräußerung von Innerlichkeit in einen realen Theaterraum.31 Noch weniger steht hinter Wagners berühmtem Klageruf nach dem »unsichtbaren Theater« die Ästhetik des Schopenhauer-Adepten, sondern eine nur allzu empirische Enttäuschung über die inadäquaten inszenierungspraktischen Mittel und Möglichkeiten seiner Zeit, insgeheim wohl auch das Gefühl der Überforderung mit dem eigenen Werk.32 Wagner mag durch die Lektüre Schopenhauers darauf gestoßen worden sein, dass die Akzente seiner »Musiktheorie« in den Zürcher Schriften einseitig gesetzt waren. Auch kam es in einigen Texten nach 1854 zu Widersprüchen, weil er seine vermeintlich neue philosophische Erfahrung der Welt mitteilen und doch die alten Theoreme festhalten wollte.33 Man darf aber nicht so tun, als sei er über dieses Zwischenstadium niemals hinausgelangt und habe nicht in Beethoven versucht, den führenden Status der Musik, den er mit Schopenhauer ja längst wieder vertrat, zugleich gegen Schopenhauer mit den Bedingungen eines Theaters zu vermitteln, das ein Gesamtkunstwerk zu sein beansprucht. Dahlhaus bezeichnet diese Schrift als »bedeutendstes musikästhetisches Dokument der Wagnerschen Schopenhauer-Rezeption«34, nimmt aber die Distanzierung von Schopenhauer, die dort vollzogen wird, ebenso wenig zur Kenntnis wie die Externalisierung musikalischer Innenwelt im Dienste des Theaters. Es bleibt eine zentrale Verständnisschwierigkeit des Textes zu klären. Auf der einen Seite betont Wagner mit Schopenhauer die radikale Verschiedenheit des Wesens der Musik gegenüber den anderen Künsten, die weltautonome Innerlichkeit ihres Klangs angesichts des unaufhebbaren Gegenstandsbezugs von Malerei, Dichtung und Architektur. Diese Distanz zwischen beiden Seiten versteht man leicht als einen Abgrund, der nicht zu überbrücken ist. Auf der anderen Seite geht es Wagner aber gerade darum, sie zu überbrücken. Dass die Künste heterogen erscheinen, obwohl sie es in Wahrheit nicht sind, macht ja gerade den Täuschungseffekt des rationalistischen Vorstellungsschemas aus.35 Zudem bezieht sich der Topos der totalen Differenz allein auf Instrumentalmusik, respektive Beethoven, damit aber, aller Centenariumsfeierrede zum Trotz, auf eine Voraussetzung des eigenen Werks, nicht auf dieses selbst. Nur wenn man sensu stricto Beethoven im Blick hat und das latent geschichtsphilosophische Motiv der Schrift über ihn ausblendet, kann man zu dem guten Glauben gelangen, hier werde einer Metaphysik der absoluten Musik das Wort geredet.

Über die Traumlehre verliert Dahlhaus kein Wort. Möglicherweise schien sie ihm zu dunkel, als dass er über sie hätte reden wollen, oder er hielt sie für so irrelevant, dass er meinte, nicht über sie reden zu müssen. Immerhin hätte ihn die Tatsache, dass die Traumlehre bei Schopenhauer in keinem systematischen Zusammenhang mit der Musikästhetik steht, Wagner also sehr eigenständig auf sie zugreift, auf die richtige Spur setzen können. Auf den Text übers Geistersehn kommt Wagner nicht zu sprechen, um sich in esoterischen Unsagbarkeitsphantasien zu ergehen36, sondern um den neuralgischen Punkt der Theatralität seines Werks auszumachen. Gewiss bleibt dabei einiges dunkel verquollen, um von der chauvinistischen Rhetorik zu schweigen, die damals bei Wagner ihren Höhepunkt erreichte, aber der Ansatz hat trotzdem einen sehr praktischen Kern.

Am Ende gelangt Dahlhaus, wie die von ihm kritisierte Tradition, über den Gegensatz von extravertiertem Theater und musikalischer Innerlichkeit nicht hinaus. Aus seiner Sicht setzt Wagner der Realität des Theatralen unvermittelt »die Idee [sic!] einer in der Musik begründeten Rückwendung nach innen entgegen«.37 Das Drama, das vor unseren Augen die Musik bestimme, könne aber nicht gleichzeitig als Szene eine Tat der Musik darstellen.38 Die Figur einer wechselseitigen Begründung beider Ebenen sei paradox und die Ästhetik des unsichtbaren Theaters unvereinbar mit jenem musikalischen Drama, das in der Tradition Feuerbachs geradeheraus die Sinnlichkeit des Hier und Jetzt feiere.39

Aber diese Behauptung liest nicht nur an zentralen Passagen der Beethoven-Schrift vorbei, sie ignoriert auch ein theaterpraktisches Defizit der Zürcher Texte, das der späte Wagner via Traum, Schlaf und »Geistersehen« zu korrigieren sucht. Es ist primär einer Sprache geschuldet, die bereits den rustikalen Empirismus von Feuerbach charakterisiert, sich bei Wagner aber in rhetorischen Leerformeln überschlägt.40 Liest man die frühen Texte, könnte man bisweilen denken, die Bühne sei ein Podium der Natur, sie zeige sinnliches Leben in Reinform, oder besser gesagt im Idealfall. Demgegenüber ist die Rolle der Musik so bestimmt, dass sie über dem dramatischen Inhalt, den sie vermittelt, vergessen wird und eben darin, d.h. im Vergessen, sich erfüllt. Die Musik erreicht den Gipfel ihrer Macht, wenn sie im Drama untergeht und alle Spuren von Absicht und Arbeit tilgt. Die Frage ist nur, wie die Verbindung beider vonstattengehen kann, wenn die Szene so ganz und gar und ohne Fehl da, anwesend, vor unseren Augen, zum Greifen nahe ist. In einer so schlicht präsentistisch konzipierten Theaterrealität kann keine Musik im höheren Sinne verschwinden, sondern allenfalls als Kulissenzauber fungieren. Solange die Szene auf stabile, absenzfreie Aktualität festgelegt wird, während die Stellung der Musik zwischen Verschwinden und forcierter Präsenz schwankt, können beide Medien nur additiv zusammengezwungen werden, nicht aber von sich her zueinander finden. Es bedarf der Einführung eines distanzstiftenden Elements in den Bühnenraum, das diesen von seiner empirischen Realität unterscheidet und in die Ferne, in die Absenz rückt. Genau das versucht Wagner mit seiner Unterscheidung von unmittelbarem und allegorischem Traum in der Beethoven-Schrift zu leisten.41 Dass in dieser Schrift das leibhafte, extravertierte Sehen durch eine »Depotenzierung des Gesichtssinnes«42 ersetzt würde, die alles Optische zum wesenlosen Außenreiz herabsetzte43, ist falsch.

Das Träumen verweist vielmehr auf ein »zweites« Sehen, das vom Hören inspiriert ist, sofern es Absenz und Ferne, wenn man will: das Unsichtbare des Sichtbaren in eine Erfahrung des Dramas, ein Zusammenspiel von »Lichtwelt« und »Schallwelt« (Nietzsche) zu integrieren vermag. Ehemals positive Sinnlichkeit stünde dann im Zeichen vorgängiger perspektivischer Distanznahme. Und wäre eigentlich erst damit kunstfähig geworden. Was sich unserem Bewusstsein so fundamental entzieht wie der Schlaf, ist keine positiv vorhandene sinnliche Natur, sondern ein abgründiges Lebensmedium, das allein über Brechungen, Verschiebungen, Formen der Indirektheit und des Entzugs künstlerisch zugänglich wird. Dieser Aspekt, der so wenig »metaphysisch« ist, dass er sogar eine Erweiterung des Theaterbegriffs nach sich zieht, hat in den Zürcher Schriften systematisch gefehlt bzw. war dort allein der Musik als – unübertragbares – Privileg zugeschrieben.

Wagners Rekurs auf die Traumlehre entspringt nicht allein seiner sonst zu Recht verspotteten Lust an ideologischem Nebel. Vielmehr verbindet er mit der Unterscheidung verschiedener Traumschichten eine Differenzierung des musikalischen Materials in sich, die gewissermaßen vom Tiefschlaf bis zum Tagesanbruch, d.h. von der primären Phänomenalität des Klanges bis hin zu syntaktisch-motivischen Formbildungen reicht.44 Gedanklich wird damit ein Vermittlungsfeld kreiert, in dem Musik ebenso einem »unsagbaren«, d.h. vorsprachlichen, physischen Grund erwächst wie mit den Strukturen der plastischen, anschaulichen Welt sich zusammenschließt. Natürlich bedarf es hierbei eines fluiden Kontinuums mit vielfältigen Zwischenformen, keines Ortes der Kontraste oder gar Extreme. Der Gegensatz von unmittelbarem und allegorischem Traum markiert die Eckpunkte des Modells, nicht ihre Vermittlung. Trotzdem kann man sagen, die Musik habe eine »innere« und eine »äußere« Zone, wobei die innere Zone (paradoxerweise) für die unterste, klangmaterielle Schicht des »Wesens der Welt‹« steht45, die ihrerseits dem unmittelbaren, »dem wachen zerebralen Bewusstsein gänzlich entrückte(n) Traum des tiefsten Schlafs« entspricht. Dass die äußere Zone mit dem allegorischen, »dem Erwachen unmittelbar vorausgehende(n) [...] Traum«46 korrespondiert, meint demgegenüber, dass sie die Bereiche genuin musikalischer Kundgabe umfasst, mit denen Prozesse in der Zeit – eben damit aber auch szenische Bewegungsabläufe und Gebärden – strukturiert werden.

»Die Musik«, so resümiert Klaus Kropfinger seine Kritik an Carl Dahlhaus, ist bei Wagner »nicht allein bedingend, sie ist vielmehr über eine rhythmische Vermittlungszone ihrerseits insofern bedingt, als der Rhythmus bereits – um überhaupt realisierbar zu sein – die Formelemente der szenischen Bewegung in sich trägt. Schopenhauers Position, die das Musikdrama ausschließt, konnte überhaupt nur durch die Verbindung zwischen metaphysischem und empirischem Musikbegriff neutralisiert werden.«47 Wagner selbst hat es etwas weniger akademisch ausgedrückt: »Ich muss meinen großen Wagen haben, an dem ich meine Musik abwickle, so[nst] kann ich nichts machen«.48

IV. Die Prosa, das Leitmotiv, die Zeit und der Klang

Als Carl Dahlhaus Mitte der 1960er Jahre über Richard Wagner zu publizieren begann, war das für die deutsche Musikwissenschaft ein Neubeginn, man könnte fast sagen ein Auferstehen aus Ruinen. Konnte doch von einer Wagnerforschung, die ihren Namen verdient hätte, nicht die Rede sein. Es gab die alten Bücher von Adorno, Paul Bekker, Ernst Kurth und Alfred Lorenz, vielleicht noch Guido Adler, ansonsten geistesgeschichtliche Heimatkunde, Wagneresoterik und Leitmotivtabellen.49 Man kann sich heute nur schwer vorstellen, welche Zäsur Dahlhaus damals bedeutete. Einfach dadurch, dass er einen musikanalytischen Zugriff formulierte, der poetische und dramaturgische Gesichtspunkte mit einschloss. Und zudem prononciert darauf setzte, den ideologisch aufgeladenen Parteienkampf um Wagner als »Vergangenheit« hinter sich zu lassen. Das führte zwar zu einer problematischen Politikferne oder Politikvermeidung – Dahlhaus hat, unbeschadet so mancher Nähe zu Adorno50, die historisch-politische Dimension des »Falls Wagner« stets aus dem Zentrum seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung herausgehalten –, aber es richtete einen Maßstab auf, den es vorher nicht gab, an dem sich jedoch, nachdem er einmal da war, musikwissenschaftliche Forschung über Wagner fortan zu orientieren und zu bewähren hatte.

Heute erscheint vieles davon fremd, respektive schriftgläubig und klangvergessen, nicht zuletzt viel weniger theaternah, als der Autor selbst es wohl dachte. Aber es wäre unhistorisch, Dahlhaus das Fehlen heutiger Fragestellungen anzukreiden und als »konservativ« zu etikettieren, was damals die Innovation seines Ansatzes ausmachte. Dass er auf einen »dritten Weg« setzte, sich methodisch weigerte, entweder vom Drama qua Szene oder qua Text aus auf die Musik hin zu denken oder aber jenes als bloße Kulisse für diese zu begreifen, war ein unerhörter Einschnitt in einer Zeit, in der Wagner nicht allein von der Musikwissenschaft als toter Hund behandelt wurde. Das dichotomische Klischee, bei Wagner gebe es keine Logik des musikalischen Werks, sondern einen dramatischen Prozess, den die Musik eben ausdrücke oder darstelle, lehnte Dahlhaus nicht minder ab wie dessen spiegelverkehrtes Pendant, musikalische Formprinzipien auf Kosten szenischer und sprachlicher Zusammenhänge zu behaupten. Ihm ging es um einen Typus von Analyse, der nicht immerzu auf Handlungsnarrative zu rekurrieren brauchte, um den dramatischen Sinn eines musikalischen Zusammenhangs formulieren zu können, der aber ebenso konsequent mit klassischer Formenlehre und Sonatensatztheorie in puncto Musikdrama Schluss machen sollte. Ob es Dahlhaus gelungen ist, über solche Dichotomien hinauszukommen, lässt sich bezweifeln, nicht aber, dass er der erste war, der das als zentrales Problem der Wagneranalyse erkannt und ausgesprochen hat.

In diesen Kontext gehört auch die Auseinandersetzung mit Alfred Lorenz.51 Ausmaß und Heftigkeit der entsprechenden Texte erscheinen heute fast rätselhaft. Man muss aber berücksichtigen, dass Lorenz damals als vergleichsweise seriöser Vertreter jener »Idee der absoluten Musik« gelten konnte, die auch Dahlhaus so viel bedeutete. Was Lorenz wollte, war, Wagner vor dem Vorwurf der »Formlosigkeit«, der immerhin die Autorität Nietzsches und Hanslicks hinter sich wusste, zu retten und zu zeigen, dass die Musikdramen nichts mit oberflächlichem Theatereffekt, aber alles mit symphonischer Formstringenz zu tun hätten. Dahlhaus sah darin eine echte Herausforderung und, anders als seine spätere Gefolgschaft52, keineswegs nur ideologischen Wust, der nicht ernst zu nehmen war.

Interessant an seiner Kritik an Lorenz ist nicht so sehr ihr Nachweis vieler Fehler in einzelnen Analysen, sondern dass sie sich von der Richtigkeit dieser Detailkritik zu einer Negation des Lorenzschen Ansatzes in toto verleiten lässt. Das Problem liegt nicht schon in der Gegenüberstellung von Form als Gewebe vs. Form als Architektonik, sondern in der Preisgabe des zweiten zugunsten des ersten Prinzips, d.h. in der Reduktion von Wagners Formen auf Gewebe. Lorenz, sagt Dahlhaus, habe diese Gewebestruktur verkannt, als er Wagners Musik gegen den Vorwurf, sie sei formlos oder amorph, durch Reduktion auf Bogen- und Barformen zu verteidigen suchte, statt den Formbegriff, auf dem der Vorwurf beruhte, als falsch zu erweisen. Diese Kritik trifft ohne Frage zu, aber in der Folge wird Dahlhaus selbst von ihr ereilt. Denn aus der Tatsache, dass Lorenz mit jenem falschen Begriff von Architektonik operiert, schließt er, architektonisches Formdenken überhaupt sei hier falsch. Wagner selbst habe musikalische Form »logisch« statt architektonisch begründet, nämlich das Prinzip von Periodenbau und Großrhythmus durch Techniken thematisch-motivischer Verknüpfung ersetzt. Das heißt aber: Dahlhaus stellt den statischen Buchstabenschemata des Klassizisten seine komplexen motivischen Netzgebilde abstrakt entgegen, ohne eine eigene, nichtschematische Vorstellung von Architektonik zu entwickeln. Seine eigenen Analysen gelten denn auch vorwiegend komplexen Details und dichten Miniaturen und nur ausnahmsweise »gebauten« Zusammenhängen im Großformat. Die Frage, ob das Scheitern der Lorenzschen Methode an den Proportionen von Klein- und Großform (Leitmotiv vs. Periode) auch eine legitime Erfahrung Wagnerscher Musik zum Ausdruck bringt, bleibt bei Dahlhaus ungestellt.53 Es wäre aber zu diskutieren, ob das Gewaltsame dieser Analysen bloße Konsequenz eines ideologisch rigiden Klassizismus ist oder nicht auch Resultat einer unbewussten Anähnelung analytischer Termini an eine kompositorische Realität, in der, wie Adorno einmal treffend bemerkt, »der Atomisierung des Materials« von vornherein »die Monumentalität des Baus« entspricht.54 Ein Versuch, die Analysen von Dahlhaus zum Werk Wagners seit Rheingold zusammenzufassen, muss von zwei Thesen ausgehen: erstens der Übertragung einer Dramaturgie des Schauspiels auf die Oper, dem Versuch, »ein musikalisches Drama in der Form von Dialogen zu konstituieren«55; zweitens einer musikalischen Form, die sich als Wechselwirkung zwischen irregulären Prinzipien der Syntax, der Tonalität, der melodischen Disposition und der Motivik beschreiben lässt. Nun tendiert ein Operndialog, dessen Struktur sich der eines Schauspieldialogs anzugleichen sucht, nach Dahlhaus zur Auflösung periodischer Symmetrien in »musikalische Prosa«56, einer Zerteilung der Syntax in unregelmäßige Phrasen, die nicht mehr bloß von einer syntaktischen Norm abweichen, sondern diese suspendieren, um für sich selbst zu stehen. Musikalische Prosa wiederum, die den Wendungen des Dialogs flexibel entsprechen soll, muss sich, um nicht in beziehungslose melodische Fragmente zu zerfallen, auf »ein orchestrales Fundament«57 stützen können, das Kontinuität stiftet und Korrespondenzen herstellt. Eigenartigerweise sieht Dahlhaus mit dieser Überlegung nicht Fragen der Klangtechnik oder der Orchestration im engeren Sinne berührt, sondern allein solche des motivischen Zusammenhangs. Sein Argument lautet: Die in sich zerrissene Melodik des Gesangs braucht einen instrumentalen Widerpart, der sie in ein Beziehungsnetz einbindet und den dramatischen Dialog durch eine Technik fundiert, die auf die »symphonische Tradition« zurückgeht, auch wenn sie eine andere Zeitstruktur als diese aufweist.58 In den Musikdramen konstituiert sich musikalische Form nicht mehr wie in den Romantischen Opern als »Rhythmus im Großen«, als Korrespondenz zwischen Halbsätzen von vier oder Perioden von acht Takten Länge. Vielmehr entsteht, wie zum Ausgleich für die aufgelöste Syntax der Gesangsstimme, ein System von Motiven, dessen Verweisungskapazität semantischen oder informationstechnischen Bedürfnissen dienen mag, primär aber und im Verlauf des Ring sogar zunehmend eine dynamische Differenzierung formaler Funktionen leistet. Die innere Einheit des Musikdramas hängt nicht mehr vom Kriterium einer wie immer gearteten Regelmäßigkeit, einer Ordnung gegliederter oder gesicherter Wiederkehr ab. Das leitmotivische Gewebe ist kein Dispositiv, das dem Hörer wie ein Gebäude oder ein Karton vor Augen stünde, sondern ein emphatisch asymmetrisches und unübersichtliches, nie ganz greifbares Gebilde. Nur verliert der Konnex durch Asymmetrie nicht an Stringenz, im Gegenteil.59

Auf einer ersten Ebene lässt sich gegen die Analysen von Dahlhaus kaum etwas einwenden. Der Zusammenhang von unregelmäßiger Syntax und leitmotivischer Konstruktion wird reich belegt und trifft zweifellos einen wichtigen kompositionstechnischen Punkt – zumal wenn das analytische Interesse auf den Übergang von den Romantischen Opern zu den Musikdramen gerichtet ist. Auch die Formel von der »wandernden« oder »schwebenden« Tonalität (Schönberg) gehört hier mit hinein. Bei Wagner sind die einzelnen harmonischen Partikel in sich tonal fundiert und mit technischen Mitteln, die aus dem Arsenal der Tonalität stammen, untereinander verknüpft. Demgegenüber fehlt der »Gesamtform [!]«60 ein tonales Grundmuster, das ein Kontinuum oder einen Entwicklungsgang nach Maßgabe stimmiger Entsprechungen und Kontraste aufbauen könnte. Wenn Dahlhaus sagt, irregulärer Satzbau, entwickelte Leitmotivtechnik und dezentrierte Tonalität seien Komplementärphänomene, leuchtet das zumal unter dem Aspekt einer »Problemgeschichte des Komponierens« unmittelbar ein.

Auch die Analyse der Hagen-Alberich-Szene aus dem II. Akt der Götterdämmerung ist plausibel, wo sie eine Reihe von Phänomenen treffend beschreibt: das Verhältnis der asymmetrisch gebauten Perioden untereinander, die funktionale Differenzierung von Leitmotiven innerhalb einer Periode, den Zusammenhang von Tonartenkontrasten mit der Dialogstruktur, die rhetorische und formale Zäsur des Refrains.61

Aber gerade weil diese Ausführungen deskriptiv einleuchten, bleibt umso dunkler, warum mit ihnen, wie Dahlhaus suggeriert, schon die formale Einheit der Szene insgesamt, und sei’s nur in nuce, bestimmt sein sollte. Insbesondere fragt es sich, ob die Sachverhalte, die beschrieben werden, überhaupt die zentrale kompositorische Schicht der Musik bilden oder nicht vielmehr, als Funktionen oder strukturierende Eigenschaften, dem Orchesterklang beigeordnet sind. Ohne Frage gibt es Motive, die im Unterschied zu anderen innerhalb einzelner Perioden die Szene als Ganzes vertreten oder auf sie verweisen. Aber ihr diastematischer und harmonischer Umriss allein wäre, und sei es im Zusammenspiel der verschiedenen Versionen, nicht einmal in der Lage, die spezifische Atmosphäre der Szene zu vergegenwärtigen, geschweige denn Stringenz und Dichte ihres Formprozesses vorzustellen. Eine solche Gestaltungsleistung wäre erst denkbar, wenn die periodischen, syntaktischen und motivischen Elemente an das Gefüge des Klanggeschehens kategorial rückgebunden würden. Das hieße freilich, »Klang« nicht mehr bloß als sinnlichen Stoff oder betörende Materialität zu rezipieren, sondern des Moments an Abstraktion und Absenz, an intellektiver Struktur in ihm gewahr zu werden und Kriterien einer Formbildung anzudenken, die allein im Lichte idealistischer Denktradition kein Existenzrecht genießt.

Nun hat Dahlhaus aber in seiner Analyse der Hagen-Alberich-Szene wie in allen Texten zu Wagner keinen einzigen Satz über den Orchesterklang, geschweige denn über dessen Bedeutung für das Verständnis musikdramatischer Form verloren. Ein Vierteljahrhundert hat er über diese Werke geforscht, aber zu ihrer »Sinnlichkeit« geschwiegen wie ein Grab. Man ist versucht zu sagen, dergleichen sei ein verkehrtes Kunststück und ein noch größerer Gewaltakt gegenüber der eigenen Hörerfahrung. Aber wie Dahlhaus Wagner erfahren hat, wissen wir nicht. Theorien entscheiden mit darüber, was und wie wahrgenommen wird, nicht allein sinnliche Fakten, die auf der Hand liegen. »Klang« hat in der musikwissenschaftlichen Forschung über Wagner bislang nur von Ausnahmen abgesehen eine periphere Rolle gespielt und ist erst in jüngerer Zeit in ihr Visier getreten.62 Man mag sich wundern, dass das so ist, und Überlegungen anstellen, wie es dazu kommen konnte. Wichtig bleibt, die historische Distanz selbst kritisch zu verstehen, statt die frühere Position dem eigenen Erkenntnisinteresse naiv zu unterwerfen.

Für Dahlhaus liegt die Grundlage musikalischer Form in motivischen Beziehungen, einem tönenden Diskurs, in »entwickelnder Variation« (Schönberg). Nicht in Klangkurven, klanglichen Morphologien oder in einer Technik der Mischfarbe kann für ihn ein großes Werk fundiert sein, sondern allein in sprachnahen Strukturen, aus denen sich übergreifende Sinnzusammenhänge generieren lassen. In Dahlhaus’ Schriften zu Wagner finden sich denn auch immer wieder Argumentationsketten, wo Schwierigkeiten rhetorisch übereinander getürmt werden, aus denen dann das leitmotivische Netz wie ein Deus ex machina herausführen soll. Nur Motive sollen zu jenem Niveau an musikalischer Komplexität fähig sein, das ein Werk, auch wenn es bereits von modernen Krisentendenzen gezeichnet ist, braucht, um noch Kunst im emphatischen Sinne sein zu können.

Derart bekommt das motivische Element Qualitäten zugeschrieben, die über die kompositionstechnische Verbindung mit musikalischer Prosa und dezentrierter Tonalität weit hinausgehen. Dahlhaus hat das nirgendwo begründet, aber ständig getan. Vor allem anderen ist hiervon das Thema Zeit betroffen. Während es in den frühen Texten wie der andere, im Dunkeln bleibende Name des Ganzen erscheint, wird seine Rolle in den späten Arbeiten differenzierter und zugleich systematischer betrachtet. Die Zeitstruktur des Musikdramas ist Gegenbegriff zu den Entwicklungsmodellen der symphonischen Tradition, der sie ihre Technik zum Teil verdankt, zugleich aber ein komplexes Prinzip, das neue musikalische Grunderfahrungen gestaltet, wie z.B. Vergangenheit als dimensionalen Raum kreiert oder dem Wechselspiel von Vergessen und Erinnern eigene Ausdrucksformen anschafft.63 Interessanterweise hat sich Dahlhaus erst über den Umweg Lévi-Strauss aneignen können, was er eigentlich schon bei Adorno gelesen haben musste: dass nämlich die Leitmotivik als Ausdruck eines gebrochenen Verhältnisses der Zeitmodi zu begreifen ist, was eine normative Option für Drama oder Mythos, tönender Diskurs oder episches Theater unmöglich macht. Die Widersprüche der Künste im Musikdrama zwingen dazu, dessen Zeitlichkeit perspektivisch zu streuen, d.h. im Zwischenraum von Progress, Regress, Entwicklung und synchroner Struktur zu situieren. Vielleicht wird aus diesen exemplarischen Andeutungen ersichtlich, dass bei Carl Dahlhaus, wenngleich auf einem viel höheren Reflexionsniveau als bei Alfred Lorenz, der Bruch zwischen Klein- und Großform, Detail und Architektonik wiederkehrt: hier Analysen kompositorischer Einzelheiten, dort die »philosophischen« Vorgriffe auf das Ganze des Dramas. Die Frage ist, wie sich beide Sichtweisen verbinden ließen. Anders als bei den Riesenperioden von Lorenz sind die Dahlhausschen Interpretationen zur Zeit im Musikdrama ja keineswegs Luftnummern. Vielmehr stützen sie sich auf detaillierte Beobachtungen, auch wenn sie Schlüsse aus ihnen ziehen, die das Werk in toto betreffen. Im Unterschied zu den kompositionstechnischen Analysen im engeren Sinn lassen sie freilich die Differenz von Form und Inhalt je schon hinter sich. Überlegungen zum Mythos oder zur »Tragödie des Vergessens« gehen unmittelbar in Analysen musikalischer Zeitstrukturen über und umgekehrt. Die Vermittlung von Musik und Drama scheint insofern zu funktionieren. Offenbar aber auf Kosten einer Analyse größerer musikalischer Zusammenhänge. Die Mitte von Wagners Form, die Dahlhaus verbal oft genug als das eigentliche Ziel seiner Bemühungen anvisiert, bleibt am Ende auch bei ihm spärlich besetzt.

Könnte das nicht gerade mit seinem Ausfall in Bezug auf den Klang zusammenhängen? Immerhin fällt auf, dass Dahlhaus, wenn es um Kompositionstechnik im engeren Sinn geht, primär Phänomene beschreibt, in denen sich materiale Parameter aus ihrem Verbund mit anderen Momenten herauslösen: die Harmonik aus dem Schema der Kadenz und der formbildenden Funktion der Tonalität, die Syntax aus Periodenschema und pulsierendem Rhythmus, die motivische Arbeit aus dem Zeitkontinuum, der Kontrapunkt von linearen Stimmverläufen, die Akkordik von homophonen Blöcken usw. Die Frage ist: Wie konnte ein solcher Zerfall von Materialschichten kompositorisch gelingen, ohne in eine Desintegration großen Stils umzuschlagen? Bei Dahlhaus gibt es darauf, wie wir inzwischen wissen, stets dieselbe Antwort: Nur intensive Motivik garantiere formale Integration. Allein, dichtes motivisches Gewebe deckt bestenfalls einen Teil des Ganzen ab. Ist doch der Prozess der Entmischung des Materials, den Dahlhaus selbst eindringlich beschrieben hat, erst im Schutze des hypertrophen orchestralen Gesamtklangs möglich geworden. Der dissoziativen Tendenz der Parameter in sich korrespondiert ihre Entäußerung zum Klang, allein auf der Basis einer so exquisit sensuellen Wende von Harmonik, Polyphonie und Motivtechnik ließen sich diese Materialparts isolieren und aus angestammten Zusammenhängen herausreißen wie geschehen, ohne dass alles zu einer kaleidoskopartigen Spielwiese degenerierte. Wagner konnte sich eine solche Fülle an Desintegration im Kleinen leisten, weil er über einen Klang verfügte, der sie im Großen aufzufangen und ihre Bestandteile zu verschmelzen vermochte. Umgekehrt war es ihm auch nur darum möglich, eine klangliche Neuformulierung des musikalischen Satzes in toto durchzuführen, weil er zuvor die einzelnen Parameter getrennt, entmischt, aufgeteilt hatte. Damit ist noch keine einzige Frage zur analytischen Integration von Klein- und Großform beantwortet, aber vielleicht der kompositionstechnische Ausgangspunkt skizziert, der ihre Möglichkeit plausibel machen könnte.

Dass Dahlhaus das Medium des Klangs und mit ihm das theatrale Apriori, sozusagen die innere Außenwelt der Musik ignoriert, ist dem Selbstverständnis jener Musikwissenschaft geschuldet, in der er groß geworden war und die Fragen zu dieser Thematik in den Bereich der Instrumentenkunde oder günstigenfalls der Instrumentationslehre verwies. Oft genug hat er die eigene Position selbstkritisch und von Neugier getrieben revidiert, hier aber wich er bis zum Schluss kein Jota von der uralten Linie ab. Letztlich siegte da der Musikwissenschaftler in ihm über den Opernmann. Wagner, der Urvater des Regietheaters, verschwand hinter dem vermeintlichen Metaphysiker der absoluten Musik.