Geh mit der Schell herum und schlaf dabei ...
ARISTOPHANES
Durchkämmt man das Werk Richard Wagners auf dramaturgische Muster, bleibt man an Knotenpunkten hängen, an denen mit der tradierten Vorstellung, eine Dramenhandlung müsse sich narrativ linear entwickeln, auf besondere, selbst für die Oper radikale Weise gebrochen wird: »Erwacht, ihr Schläfer nah und fern«1 singen die Lateran-Chöre im Rienzi, »He, Seeleut’! Seeleut’! Wacht doch auf!«2 die Mädchen im Fliegenden Holländer, »Erwache! Erwache! / Erwache meinem Jammer!«3 Marke im Tristan, »Wach auf, es nahet gen den Tag«4 das Volk in den Meistersingern, »Wache, Freund, / wache froh«5 die Rheintöchter sowie »Wotan! Gemahl! erwache!«6 Fricka im Rheingold; Wotan im Siegfried: »Fafner! Fafner! / Erwache, Wurm!«7, wenig später moduliert: »Wache! Wache! / Wala, erwache!«8, kurz zuvor Siegfried selbst: »Nothung! Nothung! / Neu und verjüngt! / Zum Leben weckt’ ich dich wieder«9, danach Gunther in der Götterdämmerung zu Brünnhilde: »Erwache, Frau! / Hier ist dein Gatte«10, schließlich Hagen: »Hoiho! hoiho! / Wacht auf! wacht auf! / Lichte! Lichte!«11, dann noch einmal Siegfried, der in Erinnerung an das »Erwache! erwache! / heiliges Weib!«12 sich selbst paraphrasiert: »Brünnhilde – / heilige Braut – / wach auf! öffne Dein Auge!«13, zu guter Letzt Gurnemanz im Parsifal: »He! Ho! [...] so wacht doch mindest am Morgen!«14
Es geht hier um Weckformeln, und sie deuten zuallernächst darauf hin, dass das Musikdrama wiederholt von Auszeiten »versetzt« wird – szenisch-choreographischen Pausen, Blockaden oder Regenerationszeiten, die vor dem Erwecken liegen müssen und dem tätigen Leben auf der Bühne praktisch entgegenstehen. Umso eklatanter ist das, sobald erkennbar wird, dass außer den Meistersingern, die, wie Peter Wapnewski es einmal ausgedrückt hat, dem Tristan wie »der Tag auf die Nacht folgen«15, sämtliche Hauptwerke Wagners mit einer Auszeit beginnen: Der Tanz der Bacchanten in Tannhäuser I/1 hinterlässt »Gruppen [von] Schlafenden«16, Tannhäuser »führt die Hand über die Augen, als ob er ein Traumbild festzuhalten suche«.17 »Schlaft ruhig, Kapitän!«18, singt der wachhabende Steuermann (sic!), der zu Beginn des Holländer selber »mit der Müdigkeit (kämpft) und [...] endlich ein(schläft)«.19 Lohengrin: »Träumt sie? Ist sie entrückt?«20 – ein Einleitungsvers, der zwar schon zu I/2 gehört, die Ausnahme jedoch bestätigt die Regel, sofern Elsas Erzählung »ich sank in süßen Schlaf«21 syntakisch vor die 1. Szene zurückweist, um dann, in wiederum umgekehrter Richtung, (an) diese anzustoßen. Tristan: Isolde schläft »auf einem Ruhebett«.22 Parsifal: Gurnemanz liegt »schlafend unter einem Baume«.23 Kundry: »Ich bin müde«.24 Und last but not least des »Goldes Schlaf«25 im Vorspiel zum Vorabend des Ring des Nibelungen, durch das explizit wird, dass Weckrufe bei Wagner buchstäblich bis »in den Grund«26 dringen und augenscheinlich – »jetzt küßt sie sein Auge, / dass er es öffne«27 – auch hochnotwendig. Es ist, als wollten die Musikdramen darauf hinweisen, dass sie »ruhen«, wenn sie nicht aufgeführt werden; sie rufen sich selbst aus der Versenkung; sie sind es, die eigens daran erinnern, dass sie – noch – da sind oder überhaupt da sein werden. Das ist in der Tat abgründig, es spielt in musik- und medienästhetische Anfangs- und Ursprungsdiskurse hinein. Darum lässt sich erst einmal festhalten, dass angesichts der Vielzahl und Systematik der Einfälle, wie, wo und wann eine Figur oder Figurengruppe geweckt wird, für Wagners Werk regelrecht von einer »Grammatik der Weckrufe« gesprochen werden kann. Fraglich ist nur, ob Wagners Weckrufer die zu Erweckenden aus ihren Träumen holen oder aber aus dem Schlaf selbst.28
Für eine Oper ist die erste Version gewiss die eingängigere. Träume bieten Handlung, selbst wenn diese aus materielosem Stoff besteht. Der Schlaf umgekehrt mag gebunden sein an Materie, den träumenden Körper. In sich aber ist er inhaltsleer. In dieser Hinsicht scheint eine Szene wie die zwischen dem Wanderer und der Wala in Siegfried III/1 nicht bloß prototypisch für Wagners Œuvre, sondern auch gut pädagogisch im Sinn einer dramaturgischen Absichtserklärung: Um an Rat zu gelangen, wie es mit der Welt weitergehen soll, reißt Wotan die allwissende Urmutter aus jenem Traum, der den Fortbestand der Weltordnung bislang garantierte. Schonungslos zwingt er Erda aus ihrem Felsenloch herauf ans Tageslicht. Doch helfen kann sie ihm nicht, weil ihre Erweckung das Gegenteil dessen auf den Plan ruft, was Hilfe per se hätte sein können. »Mein Schlaf ist Träumen«29, sagt Wagners »Urweltweise«30, »mein Träumen Sinnen, / mein Sinnen Walten des Wissens.«31 Das bedeutet, ihr Traum ist identisch mit dem schöpferischen Primärzustand. Er ist die Matrix aller Lebensnatur. Wach zu sein hingegen ist konnotiert mit Irritation, Täuschung, Despotie, Gewalt, Verrat und Untergang. Auf der einen Seite also Genesis in Permanenz, auf der anderen szenische Verstrickung, die vorübergehend handlungstreibend sein mag, aber unerlässlich auf ein Ende zuläuft.
Das spricht eine klare Sprache, obwohl wir uns im Bereich der Schatten bewegen. Der Herrschaft der Aktionisten und »Tagesknecht(e)«32 stehen in allen Musikdramen die sanften Brigaden der »Nacht-Geweihte(n)«33 mit einem subversiven Gespinst aus dunkel-eidetischen Zusammenhängen gegenüber. Die konzeptuelle Spannung der Wagnerschen Werke wird geradezu von den Rückseiten her aufgeladen. Das erscheint paradox: Progress speist sich aus verfließenden Quellen. Wagners Figuren gehen mit dem Steiß voran. Aber es ist nicht paradox. Ebenso wenig wie eine vollkommen ausgeleuchtete Bühne noch Überraschungen birgt, bietet der Tag als Spielfläche genügend Geheimnisse, und nicht zwangsläufig ist die Nacht ein verneinendes Prinzip. Vielmehr wird sie bei Wagner zum Antidotum des Tages kanonisiert; in romantizistischer Verschachtelung gar begreift er die Sol niger, die Nachtsonne, als Heilmittel gegen das Gift einer sich zunehmend verdüsternden Tagwelt.
Kurz, für das »Kunstwerk der Zukunft«34 suchte Wagner neues Fabelpotential und fand es in den Gegenwelten. Seine Werke quellen solchermaßen über von fremdelnden Charakteren mit chimärenhaften, introspektiven, un- oder überzeitlichen Aufträgen: Träumern und Visionären, Somnambulen und Halluzinanten – Migranten der bewussten Lebenssphäre, die die Pression des Plots, in den sie selbst eingebunden sind, nach innen retardieren. In allen Musikdramen Wagners stehen auf diese Weise Außenseiter im Zentrum, und abgesehen von signifikanten Ausnahmen wie dem nimmermüden Helden Siegfried, dessen Rast- und Traumlosigkeit geradewegs in die Katastrophe der Götterdämmerung hineinleitet, sind den Wagnerschen Protagonisten große Traumpassagen von teils revolutionärer Triebkraft zugedacht. Der Lohengrin geht beinahe unmittelbar aus Elsas Traumbericht hervor. Im Fliegenden Holländer wird dem Ahasverus der Meere erst dank Sentas visionärer Schübe Erlösung zuteil. Die Mär um Tannhäuser wird initialisiert durch einen klaustrophobischen Traum, aus dem es zu erwachen gilt. Tristans Fieberwahn des III. Akts kann als narkoleptische Phantasmagorie gedeutet werden. In den Meistersingern liefert Stolzings Traumerzählung die Basis für eine neue Poetik. Nicht zu vergessen die Autohypnose des Sitzschläfers Hagen im II. Aufzug Götterdämmerung, die in Erinnerung ruft, dass die Nacht auch das Böse hervortreibt, desgleichen Antriebsaggregat bleibt. Der Hang zur Verdichtung und zu schwebenden Verbindungen zeigt sich bei Wagner als spielbestimmendes Motiv. Momente der Rück- und Vorausschau, die beide im Traum möglich sind, kreieren Erzählreservoirs, die über die akute Gegenwart der Figuren hinausweisen und Wagners Werke strukturell für eine mäandernde Dramaturgie öffnen. Ist der Traum auch mehrdeutig, er behauptet sich als gängige Kulturpraxis. So faserig seine Auswüchse, so solide dennoch seine Wurzeln. Und waren es letzthin die Frühromantiker, die ihn als künstlerisches Experimentierfeld besetzt haben (die »Blaue Blume«, nach der sich Heinrich von Ofterdingen in Novalis’ gleichnamigem Programm-Roman sehnt, wächst in unterirdisch-unterbewusster Höhle), ist Traum bei Wagner bereits ein Modethema auf Grundlage eines gehobenen Populismus.
Diesbezüglich ist es nicht verwunderlich, dass er, zum Philosophem geronnen, weithin Eingang in Wagners kunstprogrammatische und musikästhetische Schriften gefunden hat. Er repräsentiert dort nichts Geringeres als die Äquivalenzerscheinung zur Musik, die als »unmittelbares Traumbild«35 herausgestellt wird; deren Emanationen sind höherwertig als das gemeine »Abbild«, um das sich die Bildenden und Darstellenden Künste wie auch die Dichtung bemühen. Komprimierung von Farben, Formen, Gestalten und Zeichen im Traum – der Hang zur ästhetischen Dichte, proteischen Wandelbarkeit und Sinnfülle werden zum Rüstzeug, um die Methodik der Musik zu veranschaulichen. Im doppelten Sinn geht es Wagner um einen »Kunsttraum«.36 Mit Rekurs auf Schopenhauer bringt er in der Beethoven-Schrift seine These vom »tiefsten« und »allegorischen Traum«37, die sich als eine Metaphysik des kreativen Aktes liest. Während in der ersten, »tiefsten« Traumstufe, die dem »wahrsten Wahn«38, mithin dem Unbewussten entspricht, das Gallert künstlerischer Produktion aufquillt und zirkuliert, übernimmt die zweite, katalytische Stufe die Vermittlung, die dieses Ungefügte, Unabbildbare in ein verdichtetes, wiewohl nun nicht mehr verschlüsseltes, »wahres« Bild umwandelt und so bis an die Schwelle des Bewusstseins trägt. Anders ausgedrückt: Soweit Träume Wunscherfüllung generieren, kann der gesellschaftliche Ermüdungsprozess durch eine utopistische Form der Kunstfabrikation überwunden werden, die als »Wahrtraumdeuterei«39 manifest wird. Auf diese Weise entstehen auf Wagners Bühne die »Wahrtraum-Gestalten«40 des Musikdramas als Ausströmungen kollektiver Inspiration: des Festspielpublikums einerseits, das im verdunkelten Bayreuther Zuschauerraum das »in die Wirklichkeit hinausgesetzte Bild [der] inneren Einbildungskraft«41 zu mobilisieren lernt, des prototypischen Künstlers andererseits, der – zum Erwecker berufen – träumen soll, um für alle zu erwachen.
Der Akzent liegt dabei auf dem Erwecken, viel mehr noch: dem Erwachen selbst. Es ist Wagners Husarenstück, und mit ihm hat er sich auch aus seinem amateurphilosophischen Labyrinth befreit. Orientierung bietet nach wie vor Schopenhauer mit seinen Assoziationen zur Interrelation von Traum und Musik. War es Schopenhauer jedoch, der die Oper als weltfreudigste Kunst de facto verachtete, noch darum gegangen, den Zustand des Wach-Seins ganz in den des Träumens hineinzuholen und dort als erstes Lebensprinzip zu kultivieren, brauchte Wagner, der nicht nur schöpfen, sondern auch veröffentlichen wollte, eine Schleuse zur Außenwelt, damit sein Werk theatral einschnappen konnte. Schopenhauer dachte an Regression, Wagner aber will die Kunsttat. Und so steigert er in treuester Gefolgschaft die fremden Überzeugungen, bis sie in die eigenen umschlagen. Ohne sich vorgeblich von Schopenhauer zu lösen, führt Wagner den naturphilosophischen Traumbegriff bis an seine äußerste Grenze: Träume sind wie die Musik höchst vital – sie fluten, sie wogen, sie schwellen der Vermittlung entgegen – es dämmert, nahet gen den Tag – Druck entsteht – und mit einem Mal platzt die Membran – das allegorische Traumbild wird nach außen katapultiert – der Träumer erwacht mit einem »Schrei«42, der im Vergleich zum Traum, den er noch anzeigt, sogar »die allerunmittelbarste Äußerung des Willens«43 darstellt. Fast wie von selbst mündet Kunstproduktion im Schallraum. Die »selige Morgentraumdeut-Weise«44 und das Musikdrama sind geboren.
Damit jedoch geht ein Ruptus durch die alten Dichotomien von Tag und Nacht, Wachzustand und Traumwelt, und diese verschieben sich zugunsten einer Größe ohne Eigengewicht. Denn die echte Voraussetzung für das Erwachen ist nicht der Traum. Aus Träumen kann man nicht erwachen. Erwachen kann man nur aus dem Schlaf. Ist unser Traumerleben auch noch so mächtig, unser Schlaf noch so schlecht, jenes muss durch diesen hindurch, an seiner Bresche wird über Erinnern oder Vergessen entschieden. Insofern verschafft uns der Traum den Zugang zu einem Thema, das ihn unter herkömmlichen Gesichtspunkten erst selbst zugänglich machte. Traum ist nur Einschub, Schlaf indes Kontinuum – hier erst beginnt Wagners eigentliche Innovationskraft in Bezug auf die Neudefinition des Stoffbegriffs auf der Musiktheaterbühne.
Dass damit nichts leichter, sondern im Gegenteil vieles komplizierter wird, wäre ein erster Beweis für das Neue an diesem Neuen. Wo Schlaf gegen den Traum ins Licht rückt, entsteht ein eigener Wirkungsraum ohne Deutungsangebot. Statt Überfülle herrscht plötzlich eine Leerstelle. Was ist der Schlaf? Alle ahnen es, niemand weiß es. Wer schläft, kann es nicht sagen, aber wer nicht schläft, kann es auch nicht sagen.45 Mit Blick auf die Realien des Theateralltags stellt vor allem dies ein Problem dar. Walküre III/ 3: Wotan legt Brünnhilde in einen Schlaf, in dem sie über die Werkgrenze zu Siegfried hinaus rund 15 Jahre ruhen wird – so lange, bis ihr Erwecker alt genug geworden ist sie wachzuküssen. Das Rätsel um diese Sequenz verbirgt sich hinter dem Tatbestand, dass dem Schlaf der schönsten Schläferin des Ring kein einziger Traum einkomponiert ist, und das, obschon Wagner sonst als redseliger Arrangeur gelten darf. Dass bei einer solch zentralen Szene und etwas so Spektakulärem so lange nichts passiert, ist auf seine Art spektakulär und: auch auf seine Art zentral. Prüft man die Bezüge, ergibt sich, dass in Wagners Opus magnum tatsächlich keine Szene existiert, die nicht dem Einzugsbereich des Schlafes subordiniert wäre, eingerechnet jener Auftritte, in denen sich einzelne Figuren der Schwerkraft der Somnolenz bewusst zu widersetzen suchen. 13 von insgesamt 22 handlungstragenden Dramatis personae sind ihm überantwortet und somit der Story an sich entzogen – es geht nicht nur um Wotan, sondern auch um Nothung, nicht nur um Fafner, sondern auch um das Gold, nicht nur um Brünnhilde, sondern auch um Grane. Neben den Menschen schlafen die Götter, neben den Metallen die Tiere, neben den Riesen die Elemente.46 Zwar werden manchen dieser Charaktere während ihres Schlafs vorübergehend paranoide, halluzinogene oder visionäre Traumbilder eingeträufelt. Wagners Œuvre aber führt vor, dass es den Traum niemals ohne den Schlaf gibt, den Schlaf aber sehr wohl ohne den Traum. Jener erschließt Räume, dieser bespielt sie nur. Der Überhang des Leeren über das Volle tritt nun hervor, und der Schlaf wiederholt den Traum auf anfälligere, neurasthenisch-nervösere, unverständlichere, gleichwohl offenere, schonendere, in toto: kreativere Weise. Ein sanfter Tyrann mit Janusgesicht. Wagner nannte ihn deshalb seine »complicirte Ruhe«47, die recht besehen eine »productive Ruhe«48 war. Angesichts der enormen Schlafmasse seiner Werke muss man deshalb von einer Agitatio ex negativo ausgehen. Wagners inkubierendes Völkchen hebt den dramaturgischen Gleichgewichtssinn aus den Angeln. Dieser ist jetzt unter anderen Prämissen, Präsenz- und Medienformen zu definieren im Sinne Heraklits: »Die Schlafenden sind Tätige und Mitwirkende beim Geschehen der Welt.«49 Sie retardieren den Plot nicht nur, sie verweigern sich ihm. Und zerstreuen ihn damit und leiten ihn um, damit er unter neuen, weicheren Gesetzmäßigkeiten auf einer Parallelebene fortgeführt werden kann.
Dass der Wagner-Forschung zu diesem Präzedenzfall des Nichts bislang nichts eingefallen ist, kann man aufschlussreich finden. Bis vor kurzem lag keine umfassende Auseinandersetzung mit dem dramaturgischen Motiv des Schlafes vor, der im Gegensatz zum Traum offensichtlich als unsensationell oder unrentabel empfunden wurde. Die einzigen Überlegungen zum Thema beschränken sich auf je eine Handvoll Seiten und stellen grosso modo Quantifizierungen von Schlafszenen oder aber eine Aufbereitung der bekannten Romantizismen und Psychopathologien dar, ohne die handwerkliche Seite des Theaters in Rechnung zu ziehen.50 Dabei ist der Schlaf eine Pforte, der eine Öffnung für erweiterte Durchsichten bietet. Er hält Nah- und Fernliegendes, Augenblicks- und Horizonterfahrung, Diesseits und Jenseits in Kontakt und macht es füreinander durchlässig. Mag er selbst auch eine Freistelle sein, gerade dadurch ermöglicht er dem Musikdrama die großen Momente struktureller Autonomie:
Durch eine Schlafsequenz wird der szenische Fortgang arretiert, die sichtbare Welt ausgeblendet. Im Dunkeln entsteht ein Spalt. Die akustische Erwartung wird gereizt. Und dann fließen mit der Musik in diesen Spalt reflexive Elemente ein, parabelartige Erinnerungs- oder Zukunftsbilder, meist gekoppelt an klangliche, lichtoptische und gestische Rückungen, durch die insgesamt die dargestellte Zeit sukzessive von der erzählten Zeit überprägt wird. Das heißt, der Riss öffnet sich nach innen zur Kaverne, die selbst voller Risse ist. Der traumgefüllte Schlaf der Wala, die kaum zufällig in einer Druse im Gestein lebt, liefert dafür in kompositorischer Hinsicht ein sehr plastisches Beispiel: Das Schlafmotiv tritt in Siegfried III/ 1 als eine chromatisch abwärts gleitende Folge aus dysfunktionalen Drei- und Vierklängen hervor, die eine Aura des Stationären und zugleich Schwerelosen erzeugen.51 Ernst Bloch nannte das Gefüge einen »einzigartigen Vorstoß«.52 Mit ihm werden desgleichen nicht bloß leitmotivische Erscheinungen etwa des Werdens, der Götterburg Walhall, respektive des Ringmotivs kombiniert. Die semantische Pointe besteht darin, dass dieselbe musikalische Figur, mit der zuvor Brünnhilde in den Schlaf gebannt wurde, ebenso verwendet wird, wenn es gilt, die ewig schlafende Mutter im Innern der Erde zu erwecken. Es zeigt sich, dass mit dem Schlaf der Wagnerschen Figuren die Spaltkraft der Musik in das Drama eindringt und mit ihr unterschiedliche Formen von Sub- und Metatexten, welche die alten aristotelischen Einheiten durchkreuzen, die narrative Mitte zugunsten eines weit ausfasernden, pluriperspektivischen Netzwerks dezentrieren. »Wagner appears to have realized the profound necessity of allowing the musicdrama to ›stop‹, to breathe and to reflect upon itself«53, notierte erstaunlicherweise gerade Adorno. Das Motiv des Schlafs steht zeichenhaft für die Brechungen der Zeit. Sein katalytisches Potential weist Wagners Werk als mediales Ereignis aus.
Die mediale Verfasstheit freilich ist es auch, die die Musik über den Nexus »Schlaf« mit pejorativen Szenarien des Medialen, zum Beispiel hypnotischen Suggestionstechniken in Verbindung gebracht hat. Homöopathikum oder Narkotikum, Kunst oder Krankheit, Schlaf oder Tod, Rekonvaleszenz oder Dekadenz – seit Nietzsche diskutieren Kritiker, inwiefern bei Wagner musikalische in manipulative Strategien überdehnt und als solche instrumentalisiert werden. Auf Grundlage der motivischen Dichte ist dem Werk sicherlich »Schlafwirksamkeit« zu attestieren. Folgt man Wagners gesellschaftspolitischen Aufrufen, ist der Schlaf sogar wie die Musik einem Heilmittel gleichzusetzen. Die Anti-Wagnerianer gehen indes von der Maxime aus, dass es sich stets nur um einen für eine vermeintliche Heilung erzwungenen Schlaf, also einen angekränkelten Heilungsvorgang handeln kann – »schlafwirkend« ist laut Grimm die deutsche Entsprechung für »narkotisch«.54 Das ist ein wenig zu schnell geurteilt. Doch wie die Narkosetechnik wurde auch die Hypnotik nur nachlässig geprüft, dafür bereits im 19. Jahrhundert durch Ereignisse wie die Schausitzungen Hansens, d’ Honts oder Charcots blühend verfälscht. Sie wurde mit Hysterie, Spiritismus, Tischerücken zusammengedacht und mit Blick auf Wagner kurzerhand kolportiert als Erscheinung, die sich »von der Logik abwendet, im Dusel schwelgt«.55 Aber wäre Wagners Musik wirklich »hypnotisch«, so müsste das Bayreuther Publikum, entfesselt von der Wirkungsmacht des Musikdramas, noch vom Zuschauerraum aus die Revolution anzetteln, Kapital vernichten, in Liebe entflammen. Stattdessen bleibt es vergleichsweise still in diesem Zuschauerraum. Wagners Applausverbote sprechen für sich. Eine valide Entschärfung der Debatte kann wohl nur kraft medizinhistorischer Fakten gelingen. Die Hypnotik ist ein Verfahren, welches durch die Bindung an einen Hypnotiseur traditionellerweise fremdbestimmt ist und Erinnerungen freilegt, die im bewussten Leben nicht repetiert werden können. Aus Wagners musikästhetischen Schriften hingegen lässt sich ablesen, dass er die zu sich kommende, selbstbestimmte Persönlichkeit avisierte. Das kann, wer will, noch immer gegen den Verfasser interpretieren. Proof of concept aber bietet das praktische Werk, Wagners festspiellogistische und bühnentechnische Entscheidungen, denen die Absicht zugrunde liegt, konkrete Erinnerungshilfen zu schaffen, um die Urtraumbilder von Mythos und Utopie als bleibenden Erfahrungsraum urbar zu machen. Eine Abgrenzung zwischen »Schlaf« und »Hypnose« muss demnach zwischen den Bereichen »subjektiv« und »suggestiv« gezogen werden.
Ergiebiger ist die Betrachtung dämmernder Areale tatsächlich in Bezug auf Wagners theaterpraktische Innovationen. Die Traumfabrik des Bayreuther Festspielhauses wurde nach dem Modell antiker Schlaftempel, die sich heutigen Schlaflaboren vergleichen lassen, in eine traumartige Biosphäre hineinkonzipiert. Die Lage des Hauses sei »selbst Regie« gewesen, gab Wieland Wagner einmal zu Protokoll. Abseits der Städte errichtet, ging es um das Zurücksinken in den Schoß der »in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur«56, aus deren jahreszeitlichem Zyklus die Festspiele erwachen sollten wie eine Knospe aus dem Winter, was immer das auf dem »Grünen Hügel« konkret heißen mochte, der 1876 noch weitgehend Brache war. Es ist Richard Wagners pantheistisches Manifest. Sein Naturschauspiel der Kunst konnotiert mit Auferweckung, welche der Anbindung an den Wachtraum des sich erneuernden Mythos nirgends enträt. Dem entspricht eine straffe Fest- und Zuschauerdramaturgie, die ihre Spannung aus dem Wechselspiel zwischen Metaphern des Schlafs und des Wachens bezieht: Geburt der Festspiele aus dem Schlaf der Natur – Embarquement im Sommer – Beginn der einzelnen Vorstellungen mit einsetzender Abenddämmerung – große Illumination des Festspielterrains und Festspielhauses – mattierende Ausstattungs-, Farb- und Lichteffekte im Foyer – Einzug des Saallichts im Zuschauerraum – Bayreuther Dunkel – am Ende künstliche »Nachtheiligkeit«57, die den Anfang des Musikdramas markiert und im Eigentlichen »künstlerisch« ist, weil sie den Horizont für jenen gestaltungskräftigen Halbschlaf des Publikums aufzieht, aus dem das Traumbild der Bühne aufsteigen soll. Notabene: Wieder begegnen sich Physiologie und Technologie. Was Wagner seinem Publikum für die Herstellung des »idealischen Kunstwerks« überträgt, ist dem Terminus technicus nach »Projektion«, in ihrer frühesten Ausformung: Die Perspektive reicht in Bayreuth zunächst nach innen, wo infolge der Introspektion ein Sehstrahl im Zuschauer erzeugt werden soll. Dieser Sehstrahl strebt vom Dunkeln ins Helle, unablässig dem Fluchtpunkt der Bühne zu. So trifft er auf den Bühnenprospekt, initialisiert dort das Musikdrama und wird sodann, von diesem angereichert, als Lichtbündel kollektiver Innenschau von der Rampe an die Zuschauer zurückgespiegelt. Durch diesen Visionsradius des gemeinsamen, all-einen Auges des Publikums, das musisch ist »wie das Auge des Träumenden, [das] nichts erblickt, was ohne Bedeutung wäre«58, kann das Schauen deckungsgleich werden mit dem Erschauten. Es entspricht der Systematik des »Wagner-Vorhangs« – einer bis heute im Theaterbetrieb in Gebrauch stehenden Erfindung Wagners, die ihrerseits dem Reflexverhalten eines Auges nachempfunden wurde, das sich wechselnd öffnet und schließt.59 In Bayreuth inszeniert Wagner das Inszenieren selbst, schaut darauf, dass das produktive Wegschauen anschaubar wird. Damit delegiert er den dramaturgischen Impuls ins Parkett. Der Zuschauer soll zum Künstler, der Konsument zum Ko-Produzenten werden.
Eine Verquickung von lebensweltlichen und werkimmanenten Aspekten findet sich für die Schlafbildlichkeit auch in Wagners eigener Biographie. Neben einer psychosomatisch grundierten Neigung für das Fluidum dämmernder Wohnungen und Einrichtungen, reüssierte Wagner mit einer Vorliebe für schmeichelnde Stoffe und Schlafröcke, satinierte Diwandecken und wattierte Hausanzüge. In der Rezeption hat ihm das viele negative Vorzeichen eingebracht. Bis heute kursiert die These, dass dadurch nur ein übersteuerter Luxusanspruch zufriedengestellt wurde; Witz, Karikatur und Persiflage prangern die vermeintliche Verworfenheit eines Künstlers an, dessen Ethos zwar vorsah, den fränkischen Bauern Gratiszutritt zum Festspielhaus zu gewähren, der sich jedoch gleichzeitig nicht zu fein gewesen sei, einen Purpurmantel von König Ludwig II. anzunehmen. Sehen wir ab davon, dass Wagner selbst gegenüber Cosima einmal bekannte, die Zuwendungen Ludwigs seien doch nur eine »Dornenkrone« gewesen, ist die genannte These nicht zu halten. Eine Analyse aus kostümhistorischer Sicht zeigt, dass die Kleiderformen, die Wagner bevorzugte, stoff- und schnitttechnisch eine Wiederauflage der altdeutsch-patriotischen Tracht einerseits, der französischen Revolutionsmode andererseits vorstellen. Damit geht es weniger um »Ersatzluxus«, viel mehr um »Ersatzkunst«, nicht um Fetischismus, sondern Stimulation. Die fließenden, magnetischen Stoffe der Schlafröcke repräsentieren die heilende Stofflichkeit eines Schlafs, in dem Muster für die Zeit nach dem großen Erwachen ausgesponnen wurden. Wagners Kostüm muss als das Sublimat einer erträumten Revolte verstanden werden und gliedert sich so rücklings in werkbildende Kontexte ein.60
Leben und Werk – mit Bezug auf das Motiv des Schlafs ist dieses von jenem nicht zu entkoppeln. So problematisch das in anderen Kontexten ist, so verfließend sind die Bezüge im vorliegenden, und nur gewaltsam könnte man hier trennen, was anderweitig ratsam. Dass Wagner selbst biographische Hürden zu Zäsuren stilisiert hat, um mythologische Anfangs- oder Endszenarien für seine Theaterarbeit elastisch zu halten – Schlaf ermöglicht Anfang ohne Geburtsschmerz und Ende ohne Tod –, gehört zum Konstruktionspotential dieses Motivs. Die ersten Takte des Rheingold, das vom Wiegenlied der Rheintöchter bewacht im Flussbett »schläft«61, wurden der Legende in Mein Leben zufolge aus dem »somnambule(n) Zustand«62 des Mannes evolviert, der sie auch auf die Bühne gebracht hat. Ähnlich verhält es sich mit der eingangs erwähnten Szene zwischen dem Wanderer und der Wala. Wagner hatte die Komposition des Siegfried 1857 unterbrochen mit den Worten: »Ich habe mitten in der besten Stimmung den Siegfried mir vom Herzen gerissen und wie einen lebendig Begrabenen unter Schloss und Riegel gelegt. Dort will ich ihn halten, und keiner soll etwas davon zu sehen bekommen, da ich ihn mir selbst verschließen muss. Nun, vielleicht bekommt ihm der Schlaf gut; für sein Erwachen bestimme ich aber nichts, und [niemand soll] ihn ohne mein bon plaisir wieder erwecken dürfen«.63 Von einigen fragmenthaften Einschaltungen abgesehen, nimmt er die Arbeit daran erst zwölf Jahre später 1869 wieder auf.64 Die ersten Versuche kommentiert Cosima wie folgt: »(M)it welcher Freude sehe ich den Freund an seinem geheimnissvollen wunderreichen ›Webstuhle‹, wo er die mit Gewalt zu Schlaf gebrachten Welten wieder erweckt.«65 Es ist die finale Duplizität von äußeren und inneren Gestaltungskriterien. Genau so, wie der Wanderer die Wala reißt auch Wagner sein Werk mit Macht aus dem Schlaf, um die Realität des Endes quasi in dieses hineinzudiktieren. Es erwacht mit dem Abbruch einer Schlafsequenz zu sich selbst; gleichzeitig ist es die Wiedererweckung des Schöpfers zu seiner eigenen Schöpfung. Schlaf behauptet sich als Anker in zwei Richtungen – ein Junktim nicht nur zwischen Apparat und Mythos, Theaterpraxis und Musikphilosophie, sondern auch zwischen Produkt und Produktion, Inhalt und Form. Das vergessene Motiv wird zu einem »vor-ersten« Katalysator der Wagnerschen Kunst.