Der erste Schritt zum Gelingen, wenn’s darauf ankommt, ist fast schon trivial, eigentlich jedem von uns bekannt, aber dennoch extrem wichtig. Trotzdem wird dieser erste Schritt am meisten vernachlässigt: Der eigene Akku sollte geladen sein, sonst wird es schwierig, unter hohen Anforderungsbedingungen zu bestehen. Mit »Akku« ist hier die mentale Ausgeruhtheit gemeint.
Wir hatten bereits festgehalten, dass in wichtigen Anforderungssituationen der »bewusste Vorstandsvorsitzende«, also das langsame Denken, steuern und kontrollieren muss, was letztlich im Gehirn vor sich geht. Jetzt brauchen wir den »bewussten Vorstandsvorsitzenden«. Aber nicht in der Produktion am Fließband, also bei den bewegungstechnischen Aufgaben, die vom Sportler jetzt gefordert sind – hier soll er lieber nicht eingreifen, denn damit kennt er sich nicht aus! –, sondern in der Gewährleistung und Sicherstellung der autonom ablaufenden Prozesse. Dieses bewusste, langsame Denken ist anstrengend und benötigt Energie (in Form von Adenosintriphosphat, ATP). Völlig klar, dass wir im entscheidenden Moment die Kontrolle über die Vorgänge in unserem Gehirn aktiv übernehmen müssen und daher in dieser Situation nicht mit leeren Akkus dastehen wollen. Wenn kontrolliertes, langsames Denken Energie kostet, sollten wir vorbereitet sein und entsprechend Energie zur Verfügung haben. Erst dann kann kontrollierendes, bewusstes, langsames Denken aktiviert werden.
Welche Erkenntnisse helfen dabei, im entscheidenden Augenblick nicht mit leerem Akku dazustehen?
Das Grundprinzip der Leistungsfähigkeit bei beanspruchenden Anforderungen lässt sich anhand des von Hans Selye beschriebenen allgemeinen Adaptationsmodells verdeutlichen, welches die körperlichen Reaktionen auf Stress erklärt.68 Die Stressreaktion ist ein Mechanismus des unterbewussten, schnellen Denkens mit dem Ziel, in Gefahrensituationen das Überleben des Organismus zu sichern. Dieser Mechanismus erfolgt schnell, ohne Logik und ohne willentliche Anstrengung.
Bei wahrgenommener Gefahr – eine Interpretation des Unterbewussten – wird immer ein physiologisch höchst komplexer dreistufiger Reaktionsmechanismus in Gang gesetzt:
Kurz gesagt ist akuter Stress ein Leistungsbooster. Gerade Spitzensportler sind fast süchtig nach diesem Kick. Es ist dieses »Kribbeln«, bevor es losgeht. Daher wird es auch als Vorstartzustand bezeichnet. Insofern ist es wichtig, die entsprechenden körperlichen Reaktionen richtig zu interpretieren, bevor man die Situation angeht, in der es drauf ankommt. Dieses Kribbeln, bevor es losgeht, ist vielleicht ungewohnt, aber ein deutliches Zeichen, dass der Organismus bereit und maximal auf Leistung eingestellt ist. Ganz klar: ein positives Signal. Gerade jetzt ist Gelassenheit und Zutrauen in die lange aufgebauten und entwickelten Systeme angebracht.
Was bedeutet dieses Modell für die entscheidenden Situationen?
Das allgemeine Adaptationsmodell konnte Selye auch mithilfe von sozialem Stress bei Tupajas (Spitzhörnchen) belegen. Tupajas sind tagaktive Säugetiere, sie leben als Paare in Territorien und zeigen ein ausgeprägtes Revier- und Rivalitätsverhalten. Wird ein fremdes Tupaja-Männchen in den Käfig zu einem solchen Paar gesetzt, beginnt sofort ein Rivalitätskampf zwischen den beiden Männchen, der die Dominanzbeziehung klärt. Sobald der Unterlegene sich unterwirft, beendet der Sieger seine Attacken und zeigt kein Interesse mehr an dem Unterlegenen. Der Unterlegene wiederum verkriecht sich in ein möglichst geschütztes Versteck, das er nur zum kurzen Trinken und Fressen verlässt. In den folgenden Tagen finden keine oder nur seltene Kämpfe zwischen den Rivalen statt. Nichtsdestotrotz verschlechtert sich der Zustand des Verlierers dramatisch. Er verliert täglich bis zu 10 Prozent seines Gewichts, putzt sich nicht, wird apathisch und stirbt innerhalb weniger Tage. Doch die Todesursache liegt keinesfalls in den unmittelbaren Folgen des Kampfes. Vielmehr sorgt allein schon die permanente Anwesenheit des Siegers für extremen anhaltenden Stress. Selbst wenn die Tiere durch eine Gitterwand getrennt werden, sodass Attacken nicht mehr möglich sind, aber der Verlierer trotzdem noch der Anwesenheit des Siegers ausgesetzt ist, stirbt er innerhalb von ein bis zwei Wochen.
Werden die beiden Tiere hingegen durch eine undurchsichtige Wand voneinander getrennt, regeneriert sich der Verlierer, selbst wenn man die beiden wochenlang täglich für einen kurzen Kampf zusammenbringt.70
Die Erkenntnisse aus dem allgemeinen Adaptationsmodell führen zu einem grundlegenden Prinzip der Trainingslehre. Nach diesem Prinzip erreicht ein trainingswirksamer Reiz nur dann seinen Effekt hinsichtlich einer Leistungssteigerung, wenn zwischen Trainingsreiz und erneutem Reiz eine angemessene Pause (Regeneration) liegt. Ist die Pause zu kurz, droht ein Übertraining; ist die Pause zu lang, ist der Effekt des Trainings verpufft. Im Spitzensport nennt man diesen passenden Wechsel von Trainingsreiz und Pause auch Belastungssteuerung. Dabei geht es darum, Trainings- und Wettkampfbelastungen so mit Regenerations- und Ruhephasen zu verbinden, dass der Sportler leistungsfähig bleibt und gegebenenfalls sogar ein Leistungszuwachs möglich ist.
Analog zur körperlichen Belastung muss die Leistungsfähigkeit mittels Regeneration auch für kognitiv beanspruchende Tätigkeiten aufrechterhalten werden. Aktivitäten, die hohe Anforderungen an unseren Verstand, also an das langsame Denken, stellen, erfordern Selbstkontrolle, und die Ausübung von Selbstkontrolle ist erschöpfend und anstrengend – sie kostet Energie. Diese sich erschöpfende Selbstkontrolle wird häufig analog zur Muskelbeanspruchung erklärt.71 Die Kraft eines Muskels erschöpft sich unter Beanspruchung fortwährend, kann allerdings bei hoher Motivation (etwa im Zielsprint beim Marathon) nochmals aktiviert werden – was bei anderen Energieträgern, beispielsweise einer Batterie, nicht möglich ist.
Den Verlust der Selbstkontrolle merkt man im Alltag gelegentlich auch bei sich selbst: Wenn der Akku leer ist, man sich also genervt, müde oder hungrig fühlt, reagiert man deutlich emotionaler als im ausgeruhten Zustand. Die Impulskontrolle lässt nach, man greift zur Süßigkeit oder zur Zigarette, und auch die Leistungskontrolle, das heißt das »Dranbleiben« an einer Tätigkeit, fällt deutlich schwerer.
Es ist sogar beängstigend, wenn man sieht, wie sehr äußerst relevante Entscheidungen in unserer Gesellschaft davon beeinflusst sind, ob die betroffene Person einen vollen oder einen leeren Akku hat. In einer bemerkenswerten Studie wurden Urteile von Richtern zur Frage der Haftverschonung von Häftlingen untersucht.72 Spricht der Richter eine Haftverschonung aus, geht er ein gewisses Risiko ein. Der Häftling könnte ja rückfällig werden. Ein sorgfältiges Abwägen des Für und Wider ist erforderlich: langsames Denken. Das ist anstrengend und kostet Energie. Die Haftverschonung abzulehnen ist dagegen ohne Risiko, also die für den Richter einfache und sichere Variante. Die Forscher entdeckten dabei ein immer wiederkehrendes Muster im Tagesverlauf aller Richter: Zu Beginn eines Sitzungstages lag die Freilassungsquote bei ca. 65 Prozent, dann urteilten die Richter aber zunehmend ablehnender, bis sie schließlich fast jedes Gesuch ablehnten. Nach einer Frühstücks- und Mittagspause sprang die Freilassungsquote abrupt auf 65 Prozent hoch und nahm anschließend wieder kontinuierlich ab. Anscheinend gibt also nicht allein die objektive Faktenlage den Ausschlag für das Urteil, sondern auch der Zeitpunkt im Tagesverlauf – in Abhängigkeit von der mentalen Leistungsfähigkeit des Richters.
Wenn Menschen müde und kognitiv erschöpft sind, greifen sie häufig auf einfache Faustregeln zurück, um eine Entscheidung zu treffen (siehe das Rechenbeispiel mit Schläger und Ball im zweiten Kapitel). Bei mentaler Erschöpfung lassen sich Menschen in ihren Entscheidungen eher von inhaltsleeren Botschaften und Informationen, zum Beispiel in Werbespots, leiten.73
Es hört sich vielleicht seltsam an, aber um im entscheidenden Moment nicht mit bewusstem Denken in den antrainierten und automatisierten Bewegungsablauf einzugreifen, ist tatsächlich Energie und Aufwand nötig. Das bewusste Denken muss aktiv beschäftigt werden. Man kann es in solchen Situationen nicht einfach abschalten – man muss es steuern und kanalisieren können (mehr dazu im elften Kapitel). Denn das bewusste Denken soll unterstützen und nicht stören. Doch dazu benötigt man nicht zuletzt Energie, einen vollen Akku.
Daher ist ein situationsangemessener Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung eine essenzielle Fertigkeit, um Topleistung zu erbringen: Die Mobilisierung, wenn’s drauf ankommt, sollte gezielt angesteuert werden können – genauso wie Regeneration und Erholung in den Pausen. Denn auch der Zustand der Kompetenzüberzeugung stellt sich eher ein, wenn man das Gefühl hat, entsprechend gut regeneriert zu sein und im entscheidenden Moment adäquat Spannung aufbauen zu können.74
Wie kann das gelingen? Welche Strategien nutzt man im Spitzensport, um den Sportler optimal regeneriert in den Wettkampf zu schicken? Eine einfache Möglichkeit zur Umsetzung dieser Fertigkeit ist das Erstellen eines Tages- und Wochenplans, in dem die Zeiträume für Mobilisation und Regeneration festgehalten werden: »Wann ist mein Wettkampf? Wann ist Zeit für eine Pause?« Meist sind die Zeiten für die »Wettkämpfe« von außen vorgegeben. Daher ist es entscheidend, sich bewusst Zeit für die Erholung einzuräumen. Wenn also nach einem langen Arbeitstag abends um 19 Uhr noch ein wichtiges Teammeeting ansteht, sollte unmittelbar vor dieser Sitzung noch eine kurze, aber intensive Erholungspause eingeplant werden.
Um Erholungsphasen möglichst effektiv zu gestalten, sind verschiedene Verfahren entwickelt worden, zum Beispiel Atementspannung oder progressive Muskelentspannung.75 Prinzipiell wirken Entspannungsverfahren auf zwei verschiedene Weisen:
In der Kombination solcher Elemente liegt der Erfolg effektiver und schnell erlernbarer Entspannungsmethoden. Ziemlich effektiv ist eine Kombination aus Atementspannung und Fantasiereise mit Unterstützung von Musik.
Schon nach wenigen Minuten sollte sich eine merkliche Entspannung einstellen; zur Kontrolle kann man über eine Pulsuhr die eingetretene Entspannung am beruhigten Puls feststellen.
Aber auch der kurze Gang um den Block, das Zubereiten einer Tasse Tee oder ein Plausch mit Kollegen hat einen entspannenden Effekt und sollte systematisch in den Tagesablauf eingeplant werden.
Pausen zu machen ist eine professionelle Vorbereitung auf die nächste Hochleistungsphase. Eine Pause sollte kein schlechtes Gewissen hinterlassen. Ein Durcharbeiten ohne Pause ist möglich – aber nicht auf hohem Niveau.
Neben diesen akuten Erholungsmethoden sollten auch längere Regenerationsphasen eingesetzt werden, um die langfristige Leistungsfähigkeit zu erhalten. Allerdings hat einer Studie zufolge Urlaub nur einen begrenzten Nutzen, denn die positiven Auswirkungen auf die Erholung sind im Schnitt bereits nach rund zwei Wochen wieder verschwunden.76 Also sind neben dem Urlaub noch zusätzliche Auszeiten nötig.
Hans Eberspächer nennt diese regelmäßigen, größeren Auszeiten »Gegenwelt«.77 Eine Gegenwelt ist der Gegensatz zur Berufswelt – hier gelten andere Normen und Werte. In der Gegenwelt muss man nicht den beruflichen Anforderungen entsprechend konform gekleidet sein, sich entsprechend verhalten und Ergebnisse liefern, sondern sie dient als Ladestation: Hier wird Energie getankt und der »Akku« wieder aufgeladen. Wichtig ist die Regelmäßigkeit, mit der man sich seiner Gegenwelt widmet. Als grobe Faustregel sollten es mehrere Stunden in der Woche sein. Welche Gegenwelt einen am besten unterstützt, muss jeder für sich selbst herausfinden. Es kommt ganz darauf an, was einen abseits des Berufsalltags glücklich und zufrieden macht. Egal, ob es nun Wandern, Motorradfahren, Kochen oder das Haustier ist, folgende Merkmale kennzeichnen eine Gegenwelt:78
Häufig meint man, dass für die Gegenwelt keine Zeit mehr übrig sei, oder es stellt sich sogar ein schlechtes Gewissen ein, wenn man die Gegenwelt aufsucht. Doch ein Blick auf die oben genannten Kriterien zeigt, dass die Gegenwelt wesentlich mehr ist als nur Freizeit. Sie unterstützt die psychische Leistungsfähigkeit, wenn man sie bewusst und regelmäßig zur Regeneration aufsucht. Vielmehr zeugt es von Professionalität, die Gegenwelt als Maßnahme zur Vorbereitung auf eine Anforderungssituation systematisch einzusetzen.
Um in der Wettkampfsituation zu verhindern, dass das langsame Denken in den vorhandenen Automatismus eingreift, benötigt man Energie. Ein voller Akku ist dann eine wichtige Voraussetzung für den Moment, wenn’s drauf ankommt. In vielen Fällen ist es deshalb hilfreich, sich den eigenen Beanspruchungszustand durch ein regelmäßiges Monitoring vor Augen zu führen. Das regelmäßige Abfragen (zum Beispiel auf einer Skala von 1 bis 10) von Schlafqualität, körperlicher und mentaler Befindlichkeit und die regelmäßige Aufzeichnung dieser Daten im Verlauf, Tag für Tag, kann helfen, rechtzeitig mit passender Pausengestaltung darauf zu reagieren und somit einem Erschöpfungszustand vorzubeugen beziehungsweise dann fit zu sein, wenn Wettkampf ist.
Man sollte für sich die Frage beantworten können, wann Wettkampf und somit Höchstleistung erforderlich ist. Wenn der Leistungszeitpunkt bekannt ist, kann man durch Pausengestaltung und eine Gegenwelt aktiv die Aktivierung so regulieren, dass der Akku voll ist, wenn’s drauf ankommt.