Kapitel 3: Der Schlüssel: Überzeugung von der eigenen Kompetenz
Das Loslassen erfordert ein starkes Vertrauen in die eigene Performance. Dabei ist die Überzeugung von der eigenen Kompetenz eine wesentliche Voraussetzung.
Zum Aufbau einer stabilen Überzeugung von der eigenen Kompetenz ist das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Körper maßgeblich. Der Körper wirkt bei Einschätzungen des bewussten Denkens mit ein.51 Es geht um Erfahrungen, die man in vergleichbaren Situationen bereits gemacht hat. Das schnelle Denken liefert Assoziationen, die in einem Bauchgefühl resultieren: »Gefährlich – ich kenne die Situation, ein Scheitern droht« oder »Kein Problem – ich kenne die Situation, das haben wir schon einmal hinbekommen«. Diese subtilen Einschätzungen des unterbewussten schnellen Denkens sind weder logisch noch rational, dennoch beinhalten sie eine Prognose für das eigene Verhalten.
Es wird eine Prognose darüber aufgestellt, wie erfolgreich oder angenehm eine bevorstehende Situation gemeistert werden wird. Je nach Vorerfahrung fällt diese Prognose optimistischer oder pessimistischer aus.
Je nachdem, wie man die Anforderung meistert, wird sich die Prognose in die eine oder andere Richtung stabilisieren. Hat man eine Aufgabe erfolgreich bewältigt, wird sich die Erwartung einstellen, dass es auch beim nächsten Mal mit leicht erhöhter Wahrscheinlichkeit gelingen kann. Das Gehirn nutzt den Neurotransmitter Dopamin, den Glücksbotenstoff, um diese Einschätzungen zu aktualisieren. Agiert man besser als erwartet, wird bei erneuter ähnlicher Aufgabenstellung die Dopaminausschüttung erhöht (Vorfreude). Gelingt es nicht, wird bei erneuter Konfrontation mit dieser Aufgabe die Dopaminausschüttung reduziert.52
Am Beispiel Bungee-Jumping (dafür ist nicht sonderlich viel Training und Expertise erforderlich) kann man dieses Zusammenspiel verdeutlichen. Hat man sich erst einmal zu einem Sprung durchgerungen und diesen Adrenalinkick erlebt, reagieren sehr viele Menschen mit Euphorie. Bei der nächsten Möglichkeit wird eine erhöhte Dopaminausschüttung eine positive Prognosekorrektur zur Folge haben und man wird sich mit viel weniger Sorgen und Befürchtungen zum nächsten Sprung aufmachen.
Diese Erwartung, auch beim nächsten Mal erfolgreich bestehen zu können, wird nach Albert Bandura Kompetenzüberzeugung (engl. perceived self-efficacy) genannt.53 Um ein bestimmtes Verhalten unter hohem Erwartungsdruck und in einer bestimmten Situation durchführen zu können, muss die Kompetenzüberzeugung positiv ausgeprägt sein. Beim Strafstoß im Fußball (Elfmeter), beispielsweise im Finale der Champions League, muss der Schütze zunächst davon überzeugt sein, prinzipiell einen Elfmeter sicher verwandeln zu können. Die Kompetenzüberzeugung beinhaltet die sichere Prognose des Spielers, auch jetzt – in der gegenwärtigen Situation beim Elfmeterschießen im Champions-League-Finale – diesen Strafstoß sicher verwandeln zu können. Man kann es manchen Spielern teilweise im Gesicht ablesen, ob sie im Moment des Elfmeterschießens von ihrer Kompetenz überzeugt sind oder nicht. Obwohl eigentlich jeder Fußballprofi einen Strafstoß sicher verwandeln kann, wird diese Aufgabe in manchen Situationen zur mentalen Herausforderung. Außerdem ist diese Überzeugung von der eigenen Kompetenz mal so und in einer vergleichbaren anderen Situation ganz anders. Das liegt daran, dass eine Kompetenzüberzeugung von vielen unterschiedlichen Variablen abhängt, die sich stündlich, manchmal sogar minütlich, verändern können.
Die Aussage »Im Wettkampf ist alles anders« (vgl. Kapitel 1) erklärt sich also nicht nur aus möglicherweise anderen Rahmenbedingungen und einer unzweckmäßig gerichteten Aufmerksamkeit, sondern auch aus einer unzureichenden Kompetenzüberzeugung. In der Wettkampfsituation mit den Zuschauern, den Gegnern und den bevorstehenden Konsequenzen (etwa den unangenehmen Folgen eines Misserfolgs) stellt sich die im Training erlebte Kompetenzüberzeugung nicht gleichermaßen ein, und so wird die Situation im Vergleich zur Trainingssituation als völlig unterschiedlich erlebt. Denn für die erfolgreiche Ausführung einer Handlung ist nicht nur das Wissen um korrekte Bewegungsabläufe entscheidend, sondern auch die subjektive Überzeugung, diese Bewegungsabläufe in der bevorstehenden Anforderungssituation erfolgreich umsetzen zu können.
Die Kompetenzüberzeugung bezieht sich allein auf eine subjektive Einschätzung, ob erfolgreiches Handeln möglich ist. Sie muss nicht mit den objektiven Handlungsressourcen (technisch-taktisches Können, Vorbereitung, körperliche Verfassung) übereinstimmen. Das heißt, dass die Kompetenzüberzeugung nicht zwangsläufig gestärkt wird, nur weil eine schwierige Situation erfolgreich gemeistert wurde. Eine größere Bedeutung haben die Interpretation und die Bewertung der Handlungsergebnisse, zum Beispiel welche Ursachen dem Erfolg zugeschrieben werden.
Wird der Erfolg günstigen Umständen, Glück oder der Schwäche des Gegners zugeschrieben, trägt dies nicht zu einer Steigerung der Kompetenzüberzeugung bei. Wird der Grund für das erfolgreiche Bestehen dagegen bei sich und den eigenen Fähigkeiten gesehen, resultiert daraus eine stärkere Kompetenzerwartung.
Zusammengefasst: Eine Person mit einer hohen Kompetenzerwartung ist in einer bestimmten Situation überzeugt, dass ihr alle für die Bewältigung dieser Situation notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen und sie diese auch erfolgreich einsetzen kann. Wissenschaftliche Ergebnisse weisen darauf hin, dass diese subjektive Überzeugung eine zentrale und essenzielle Rolle in der Entstehung von Spitzenleistung spielt.54
Demnach ist die Kompetenzüberzeugung ein guter Indikator zur Vorhersage von sportlicher Leistung.55 Zudem konnte in Studien56 gezeigt werden, dass eine hohe Ausprägung der Kompetenzüberzeugung vermehrt dazu führt, entschlossener und öfter die erste sich ergebende Lösung auszuwählen (»Take the First«-Heuristik, vgl. Kapitel 2). Anscheinend muss man sich also entsprechend sicher fühlen, um tatsächlich auf die erste sich bietende Lösung zu setzen und darauf zu vertrauen, dass das schnelle Denken zuverlässig die optimale Handlungsalternative vorgibt.
Mit ansteigender Expertise ist natürlich davon auszugehen, dass die handelnden Personen auch über eine ausgeprägte Kompetenzüberzeugung verfügen. Experten zeichnen sich dadurch aus, dass sie in schwierigen Situationen ihres Fachgebiets vielfach erfolgreich gehandelt haben.
Dies ist auch der Grund, warum Flugpiloten im Simulator schwierige Situationen wie Triebwerksausfall oder Notlandung trainieren. Die Folge: eine gesteigerte eigene Überzeugung, für nahezu jede mögliche Herausforderung eine Lösung und einen durchgespielten Plan zur Verfügung zu haben. So erklärt sich auch die spektakuläre und dabei äußerst souveräne Notlandung des US-Airways-Fluges Nr. 1549 am 15. Januar 2009 auf dem Hudson River in New York.
Dementsprechend ist zum Aufbau einer Kompetenzüberzeugung die wirksamste Quelle die eigene erfolgreiche Praxis in der entsprechenden Anforderungssituation. Wie wichtig diese kontinuierlichen Erfolgserlebnisse sind, wird am Beispiel von Gregor Schlierenzauer, dem österreichischen Skispringer, deutlich. Er gilt als einer der besten Skispringer der Welt und scheint dies auch zu wissen: »Ich kann es mir nicht vorstellen, einen Wettkampf nicht zu gewinnen!«57 Diese Aussage mag arrogant und überheblich klingen, doch ein Blick auf seine sportliche Entwicklung und seine Erfahrungen zeigt, was dahintersteckt. In allen Kaderstufen, die er durchlief, zählte er fast immer zu den Bestplatzierten in den entsprechenden Wettkämpfen. Nicht nur sein Ausnahmetalent und Fleiß, sondern auch die umsichtige Betreuung durch seinen damaligen Trainer bescherten ihm ungewöhnlich viele erfolgreiche Wettkämpfe. Diese kontinuierlichen Erfolgserlebnisse ließen ihn eine äußerst starke Kompetenzüberzeugung im Skispringen aufbauen.
Die direkte Erfahrung, eine Anforderung zum definierten Zeitpunkt abrufen zu können, kann auch durch geschickte Trainingsgestaltung erreicht werden. Etwa beim …
Strafstoßtraining im Fußball58
Die vom Trainer gestellte Aufgabe lautet: zehn Strafstöße nacheinander. Der Spieler soll selbst vorhersagen, wie viele er verwandeln wird. Um den Einfluss des Torwarts so gering wie möglich zu halten, wird auch dieser gefragt, wie viele Strafstöße er halten wird. Die Vorhersagen aller Spieler werden schriftlich festgehalten und den anderen Spielern mitgeteilt, das heißt, jeder kennt auch die Vorhersage seiner Mitspieler. Eine individuelle Änderung oder Anpassung der Vorhersage durch die Spieler sollte zulässig sein; bisweilen kann es auch sinnvoll sein, dass der Trainer eine Mindestanforderung (zum Beispiel fünf verwandelte Elfmeter) festlegt.
Zum vereinbarten Zeitpunkt (»Bereitet euch vor, in zehn Minuten legen wir los!«) werden die Elfmeter in zuvor festgelegter Reihenfolge geschossen. Danach erfolgt die Ergebnisbekanntgabe vor der Mannschaft. Anschließend sollte unbedingt – mit der Mannschaft oder individuell – möglichst objektiv analysiert werden, welche Ursachen für Erfolg (Erfüllung oder Übererfüllung der Vorhersage) oder Misserfolg (Nichterreichen der Vorhersage) infrage kommen. Dabei sind personeninterne Faktoren wie Technik, Taktik, Anstrengung, Aufregung, Gedanken etc. und personenexterne Faktoren wie Torwartleistung, Wetter etc. zu berücksichtigen.
Statistik lügt nicht
In vielen Sportarten nutzt man Statistiken, um eine entsprechende Kompetenzüberzeugung zu entwickeln. So werden im Basketball etwa 100 Dreier (Drei-Punkte-Würfe aus dem Feld, hinter der durchgezogenen Drei-Punkte-Linie) direkt nacheinander durchgeführt und die Anzahl der Treffer als Prozentwert notiert. Jeder Spieler benötigt einen bestimmten Prozentsatz an erfolgreichen Würfen, um sich entsprechend sicher zu fühlen (zum Beispiel 70 Prozent). Je näher der erreichte Prozentwert diesem erwarteten Wert kommt, desto sicherer wird die interne Prognose, dass ein Dreier verwandelt wird. Daraus resultiert eine stark ausgeprägte Kompetenzerwartung, einen Wurf hinter der Linie annehmen und verwandeln zu können. Entsprechend hoch ist dann in einer passenden Spielsituation die Wahrscheinlichkeit, dass der Spieler, sobald sich die Möglichkeit bietet, den Wurf »nimmt« (»Take the First«-Heuristik) und nicht »überlegt« und dann die weniger erfolgreiche, aber sicherere Variante des Abspiels wählt.
Liegt die erreichte Quote unter dem individuellen Anspruchsniveau, sollte zunächst – am besten mit dem Trainer – analysiert werden, warum die gewünschte Quote nicht erreicht wurde (technische Fehler oder Ähnliches). Anschließend muss umfangreiches Training erfolgen, um später erneut zu prüfen, ob das individuell gewünschte Niveau (Prozentrang) wieder erreicht wird.
Letztlich gilt es aufzupassen, dass man nicht durch ungünstige Trainingsformen die Kompetenzüberzeugung der Spieler sogar negativ beeinflusst. Bei einer Eishockey-Bundesligamannschaft hatte es sich beispielsweise etabliert, zum Ende des Trainings den Wettbewerb »Last man standing« durchzuführen. Dabei werden von allen Spielern nacheinander Penalties geschossen. Wer trifft, geht duschen. Derjenige, der als Letzter übrig bleibt und demnach mehrere Penalties hintereinander nicht getroffen hat, bekommt den unrühmlichen Titel »Depp der Woche«. Nachdem ein Spieler mehrfach hintereinander diesen Titel erworben hatte, wurde der ihm im Spiel zugesprochene Penalty zur schier unlösbaren Aufgabe, war ein Scheitern quasi vorprogrammiert. Aus der Sicht des Spielers wurde der Penalty gar zu einer Bedrohung statt zum gerechten Ausgleich für ein Foul.59
Neben der direkten Erfahrung, in der Vergangenheit erfolgreich agiert zu haben, gibt es noch drei weitere Quellen, die sich positiv auf die Kompetenzüberzeugung auswirken können:60
Stellvertretende Erfahrung: Die Beobachtung einer anderen Person bei der erfolgreichen Aufgabenbewältigung wirkt als »stellvertretende« Erfahrung und kann die eigene Kompetenzerwartung stärken. Dabei kann auch die Betrachtung der eigenen Person (etwa auf Video) entsprechend genutzt werden. Letztlich kann die stellvertretende Erfahrung auch in der reinen Vorstellung von Bewegungen und Handlungen ablaufen.
Verbale/sprachliche Überzeugung: Adäquate sprachliche Informationen können gezielt auf die Kompetenzerwartung einwirken. Dabei muss prinzipiell zwischen externer Quelle (zum Beispiel dem Trainer) und interner Quelle (den eigenen Denkprozessen und Selbstgesprächen) unterschieden werden.
Emotionaler Erregungszustand: Anforderungssituationen rufen Aktivierungszustände hervor, die einen informativen Wert in Bezug auf die persönliche Kompetenz hervorrufen.
Wie diese Quellen in der Vorbereitung auf einen Wettkampf, unmittelbar vor Wettkampfbeginn und auch noch im Wettkampf selbst genutzt werden können, wird in den nächsten Kapiteln erläutert.
Da eine Kompetenzüberzeugung nicht überdauernd und situationsübergreifend aufgebaut werden kann, besteht eine wichtige Fertigkeit darin, durch bestimmte Strategien vor der jeweiligen Anforderungssituation die Kompetenzüberzeugung zu entwickeln. Es ist ein Kernziel der sportpsychologischen Trainingstechniken, einen Zustand der situationsspezifischen Kompetenzüberzeugung zu unterstützen. Der Aufbau der Kompetenzüberzeugung – und damit der Einsatz von sportpsychologischen Techniken – ist allerdings immer an das langsame, bewusste Denken gekoppelt.
Der Aufbau einer Kompetenzüberzeugung ist anstrengend und kostet Energie. Eine wertvolle Investition, um dann, wenn’s drauf ankommt, auf die Automatismen des schnellen Denkens vertrauen zu können.