Ich habe in diesem Buch die These präsentiert und begründet, dass viele heute feststellbare Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bleiben werden. Fast unmerklich hat sich ein Übergang von der Transformationsgesellschaft zur Posttransformationsgesellschaft vollzogen. Letztere befindet sich nicht mehr auf einem klaren Angleichungskurs, trotz neuer wirtschaftlicher Impulse. Sowohl objektive Unterschiede bei Demografie und Sozialstruktur als auch subjektive bei Mentalitäten, Identitäten und im Bereich der politischen Kultur haben sich verstetigt. Kurz: Es gibt eine andauernde Zweiheit in der Einheit (etwas doppelbödiger könnte man von der geteilten Einheit sprechen). Das bedeutet keinesfalls, dass wir in einer Art Zweigesellschaftlichkeit oder gespaltenen Gesellschaft angekommen sind, in der es gar kein inneres Band gibt oder zwei Großkollektive unverbunden nebeneinander existieren. Es bedeutet vielmehr, dass innerdeutsche Disparitäten und Ungleichzeitigkeiten fortbestehen, die sich entlang der Achse Ost-West ausgebildet haben. Ihr Verschwinden ist unwahrscheinlich, ihr Verdauern – womöglich im Sinne einer Ossifikation – hingegen wahrscheinlich.
Als Warnung sei an dieser Stelle freilich hinzugefügt, dass das Ost-West-Unterscheidungsschema auch Grenzen und blinde Flecken hat. In der Analyse betont es die Differenzen mehr als die Gemeinsamkeiten, es bietet wenig Erklärungen für die wachsende innere – soziale, wirtschaftliche sowie kulturelle – Diversität Ostdeutschlands und es birgt die Gefahr, weiterhin alle Probleme in den Osten zu verlagern. Da126her sei noch einmal betont: Die Ost-West-Brille, die ich in diesem Buch aufgesetzt habe, sollte uns helfen, klarer zu sehen, wie Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt.
In den Sozialwissenschaften wird zur Erhellung solcher Phänomene gerne auf das bereits mehrfach angesprochene Theorem der Pfadabhängigkeit zurückgegriffen.1 Dieses wurde ursprünglich entwickelt, um zu erklären, warum bestimmte Technologien den Durchbruch schaffen und sich etablieren: Aus einer Fülle möglicher Lösungen setzt sich eine (beispielsweise die QWERTZ-Anordnung von Buchstabentasten auf einer Schreibmaschine) durch, später verselbstständigt sie sich (wird beispielsweise auch für Computer-Tastaturen übernommen, obwohl es nun einfachere Alternativen gäbe), weil sich Abläufe einspielen, Menschen sich daran gewöhnt haben usw. In der Folge wurde der Ansatz auf gesellschaftliche Phänomene übertragen. Zentral ist dabei unter anderem die Annahme, dass frühere, eventuell sogar eher zufällige Ereignisse oder soziale Konstellationen (man spricht hier von »critical junctures«, »entscheidenden Wendepunkten«) nachfolgende Prozesse beeinflussen, es sogar zu selbstverstärkenden Tendenzen kommen kann. Vergleicht man aus dieser Perspektive verschiedene Gesellschaften, dominiert weniger – wie beispielsweise bei der Modernisierungstheorie – die Vorstellung unterschiedlicher Entwicklungsstufen, bei der einige Länder oder Regionen auf der Leiter weiter oben und andere weiter unten stehen. Stattdessen sucht man nach kritischen Wegmarken und dadurch vorgegebenen Pfaden, die Entwicklungsrichtungen beeinflussen und die durch bestimmte kulturelle Logiken, mentale Prägungen und strukturelle Aspekte stabilisiert werden. »Old habits die hard«, heißt es dazu zuweilen in der Forschung.2
127Natürlich kann meine Diagnose dazu verführen, nun alles so zu lassen, wie es ist, und verbleibende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland einfach hinzunehmen. So ist meine Intervention aber nicht gemeint. Gewiss, in manchen Bereichen werden sich die Unterschiede normalisieren, und wir werden uns daran gewöhnen, die Besonderheiten Ostdeutschlands als regionale Eigenarten (siehe Bayern) neben anderen anzuerkennen, von denen man auch kein Verschwinden erwartet oder erhofft. Kulturelle Prägungen lassen sich eben nicht einfach abschütteln. In anderen Bereichen – ob ungleiche Vermögen oder Elitenrepräsentanz – ist es hingegen dringend geboten, das Gleichheitsziel vehementer denn bislang zu verfolgen. Auch aus den uneingelösten Versprechen der Angleichung ergeben sich viele Enttäuschungen, die von Populisten politisiert werden können.
Der Werkzeugkasten zur Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« ist weitgehend bekannt. Industrieansiedlung und Infrastrukturentwicklung sind schon lange fixe Elemente eines jeden Ostdeutschland-Manuals, nun sehen wir hier endlich Fortschritte. Die Angleichung der ostdeutschen Renten an das »Westniveau« wurde – lange hat es gedauert! – jüngst abgeschlossen. Andere Bestrebungen erweisen sich als noch schwergängiger: Dass eine Annäherung der Löhne auf absehbare Zeit gelingt, ist unwahrscheinlich, trotz neuer und durchaus konfliktreicher gewerkschaftlicher Arbeitskämpfe im Osten und trotz eines erheblichen Fachkräftemangels. Wollte man die großen Vermögensunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen angehen, wäre es notwendig, entweder über die Besteuerung von Erbschaften und Vermögen im großen Stil zwischen West und Ost umzuverteilen – eine Art Lastenabgabe bzw. ein »Soli 2.0« – oder den Vermögensaufbau der ostdeutschen Habenichtse anderweitig zu unterstützen. Geschieht dies nicht, werden sich die un128gleichen Verhältnisse über viele Generationen fortschreiben und aufaddieren (aufgrund mangelnder Erbschaften ist Ostdeutschland ironischerweise dichter am leistungsgesellschaftlichen Ideal als die alte Bundesrepublik). Auch das ostdeutsche Elitendefizit lässt sich nur verringern, indem man Förderinstrumente entwickelt oder Quoten einführt (hier untergräbt umgekehrt der Mangel an gleichen Chancen das Ideal der Leistungsgerechtigkeit). Immerhin hat die Bundesregierung 2023 ein Konzept zur Steigerung des Anteils von Ostdeutschen in Führungspositionen der Bundesverwaltung verabschiedet. Deutschland ist im internationalen Vergleich eine mobilitätsblockierte Gesellschaft. Ohne aktives Gegensteuern wird sich daran nichts ändern. Man sollte sich jedoch keinen Illusionen hingeben: Alle denkbaren Lösungen sind kleinteilig, ihre Umsetzung wäre oft zäh, viele Prozesse lassen sich politisch nur bedingt steuern. Die Politik kann sich allenfalls darum bemühen, Ungleichheiten abzubauen oder einen Rahmen zu setzen, in dem sich die Vereinigungsgesellschaft entwickelt. Allerdings gibt es für viele Maßnahmen keinen starken politischen Willen, womöglich auch keine Mehrheiten und nur begrenzte fiskalische Mittel. Die deutsch-deutsche Gesellschaft hat sich weitgehend mit der ökonomischen sowie sozialstrukturellen inneren Ungleichheit abgefunden und ist nicht bereit, diese auf die Agenda zu setzen.
Eine solche De-Priorisierung gelingt im Feld der Politik allerdings viel weniger, denn das Thema zwingt sich angesichts des Aufstiegs rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte von selbst auf. Die Klagen über das »Demokratiedefizit« der Ostdeutschen (oder darüber, dass diese mit der Demokratie »fremdeln« würden) sind zwar nachvollziehbar, erweisen sich aber in der Analyse als eindimensional, was sich vor allem zeigt, wenn wir uns die Rezepte ansehen, die zur Behebung dieses Defizits vorgeschlagen werden: 129besser zuhören, politische Bildung, Anerkennung der Lebensleistungen, mehr Sozialtransfers etc. In Ostdeutschland hat sich eine eigene politische Kultur ausgebildet, die noch eine lange Zeit bestehen wird, unabhängig davon, was sich die Politik wünscht. Trotz vieler Ähnlichkeiten ist das Verständnis demokratischer Verfahren, politischer Partizipation und der Rolle der Parteien ein anderes. Gesteht man sich dies ein, liegt es nahe, andere Antworten zu suchen oder sogar andere Fragen zu stellen als diejenigen, die sich aus der westdeutschen Erfahrung aufdrängen und die Lösung allein in Nachahmung und Mimikry sehen. Aus den Besonderheiten ergibt sich, dass der politische Raum anders gedacht und gestaltet werden muss. Womöglich ist Ostdeutschland sogar dazu prädestiniert, ein Labor der Partizipation zu werden, nicht nur eine Werkstatt des Nachbauens nach Schema F bzw. West.
Selbstredend ist die Drift größerer Bevölkerungssteile in ein klar rechtsextremes Lager kein spezifisch ostdeutsches Phänomen (das zeigt uns schon der Blick in unsere Nachbarländer), aber es macht in der ostwestdeutschen Perspektive einen Unterschied, ob weniger als 20 Prozent auf dem Wahlzettel die AfD ankreuzen oder mehr als ein Drittel und ob die »Parteien der Mitte« (wenn man dieses ungenaue Etikett nutzen will) überhaupt noch in der Lage sind, arbeitsfähige Regierungen zu bilden. Parteiübergreifende Bündnisse gegen die AfD könnten zum unausweichlichen Normalfall werden. Wenn es jedoch nur noch Abwehrkoalitionen gegen die AfD gäbe, würden ihre Konkurrenten sich wichtiger Profilierungsmöglichkeiten berauben, und die Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler könnte weiter zunehmen.
Die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP spielen in Ostdeutschland in der Fläche eine immer geringere Rolle; in den Umfragen sind sie vielerorts zu Kleinstparteien geschrumpft. Es könnte sogar sein, dass einige von ihnen bei 130den anstehenden Landtagswahlen im September 2024 unter das parlamentarische Existenzminimum von fünf Prozent fallen. Das Risiko einer langfristigen und unumkehrbaren Verzwergung ist groß. In Sachsen und Thüringen spielt sich das Hauptgeschehen heute zwischen AfD und CDU ab. Möglicherweise werden Parteien wie Die Linke, die SPD, das Bündnis Sahra Wagenknecht, die Grünen oder die Freien Wähler in Sachsen, Thüringen und 2026 in Sachsen-Anhalt für Vielfarbenkoalitionen oder die Tolerierung von Minderheitsregierungen gebraucht. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sieht es für die SPD zwar noch freundlicher aus, aber auch hier ist die AfD in Umfragen klar stärkste Kraft und zwingt die anderen Parteien in ungeliebte Bündnisse mit viel Selbstblockadepotenzial. Zugleich steigt der Druck auf die CDU, ihren Umgang mit der Linken (siehe etwa den Unvereinbarkeitsbeschluss) zu überdenken, will man nicht in den Sog der AfD geraten, auch zum BSW wird man sich positionieren müssen.
Natürlich gelten Vielparteienbündnisse in Staaten wie etwa den Niederlanden als normal und unproblematisch, aber sie sind nur vor dem Hintergrund einer eingeübten politischen Kultur auch unangenehmer Kompromissfindungen halbwegs erfolgreich. Wie schwer es fällt, in einer ideologisch disparaten Allianz gut zu regieren, können wir auf der Bundesebene seit 2021 beobachten, wo Vorhaben oft ausgebremst werden und sich die Partner zum Schaden gemeinsamer Projekte verkeilen. Minderheitsregierungen sowie bunte – erzwungene – Koalitionen jenseits von Zweier- oder Dreierbündnissen könnten in Ostdeutschland jedenfalls in absehbarer Zeit zum Standard werden und so die Politik auch bundesweit (mit allen Risiken und Nebenwirkungen) nachhaltig verändern. In diesen neuen Konstellationen wird entscheidend sein, dass es gelingt, Handlungsfähigkeit her131zustellen, um die Angriffsfläche für die AfD nicht unnötig zu vergrößern.
Zu erwarten steht zudem, dass sich das Parteienspektrum insgesamt noch weiter fragmentiert. Unterhalb der Landesebene ist diese Entwicklung schon weit fortgeschritten, und es ist gut möglich, dass neue Parteien auch den Sprung in die Landtage in Dresden, Erfurt und Potsdam schaffen werden (allen voran das BSW, welches diese Hürde nach derzeitigen Umfragen aber nur in den ostdeutschen Bundesländern mit einiger Sicherheit nehmen kann, so dass es dort seinen regionalen Schwerpunkt ausbilden würde). Angesichts der nur schwachen Parteibindung im Osten und der Abwesenheit politischer Akteure, die »enge« Anliegen »weiten« und transzendieren können, droht ein Ausfransen der Interessenorganisation. Das Angebot vervielfältigt sich, hinzugekommen sind nicht nur die Figuren der rechten Mobilisierung, sondern auch auf spezifische regionale Themen fokussierte Initiativen und Listen, die oft einem partikularen Verständnis des Politischen anhängen. Damit wird es noch einmal deutlich schwieriger, Kompromisse auszuhandeln, während der sozusagen Reifegrad der beteiligten Personen und Bündnisse sinkt.
Auf der kommunalen Ebene ist ein weiterer angesprochener Aspekt relevant: Immer mehr Landräte oder Bürgermeister sind nicht parteigebunden und erobern über Wählerinitiativen ihr Amt. Diese Initiativen treten teilweise in Konkurrenz zu den Parteien, da auch sie Interessen bündeln, Wählerstimmen anziehen und auf die Übernahme politischer Verantwortung zielen; sie sehen und präsentieren sich aber gerade als Alternative zu den etablierten Organisationen. Ihr Aktivitätsradius beschränkt sich dabei jedoch in der Regel auf den kommunalen Bereich. Mit der Entscheidung für parteilose oder nicht parteigebundene Personen 132verlieren die entsprechenden Gebietseinheiten Möglichkeiten, ihre Interessen »nach oben« zu vertreten, da in den Landesparlamenten und im Bundestag die klassischen Parteien weiterhin die wichtigsten Player sind. Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die in einer Gemeinde gute Arbeit machen, können ohne Parteiticket kaum weiterkommen und aufsteigen. Sie müssen zwar auf der Landes- und Bundesebene gemachte Gesetze um- und durchsetzen, haben aber nur begrenzte Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, so dass sich keine hinreichende politische Verantwortlichkeit herstellen lässt. Andererseits gehen sie in der Auseinandersetzung mit rechten Kräften oft allein ins Risiko, können nicht auf unterstützende Strukturen wie Ortsvereine oder Parteizentralen bauen.
Diese Faktoren – Stärke der AfD, Niedergang der demokratischen Parteien, Zwang zu ungeliebten Bündnissen, Aufstieg der Wählerinitiativen und Partikularparteien – machen ein »Weiter so« riskant. Allgemeinere Debatten über die Herausforderungen einer »resilienten Demokratie«3 verweisen darüber hinaus auf die grundlegenden Probleme der Herstellung einer funktionierenden Öffentlichkeit, auf veränderte ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen sowie auf die Legitimationsdefizite und die Überlastung des politischen Systems insgesamt. Eine Revitalisierung der Parteiendemokratie alter Form ist vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich; in Ostdeutschland gibt es jedenfalls kaum Anzeichen dafür. Diese wenig zuversichtliche Diagnose kann beängstigen und mutlos machen, man kann sie aber auch als Aufforderung verstehen, noch konsequenter als bisher über eine Wiederbelebung der Demokratie nachzudenken. Dabei lautet die Schlüsselfrage, wie sich die Transmission von Interessen organisieren und Erfahrungen politischer Selbstwirksamkeit herstellen lassen.
133Hinsichtlich der Sicherung der demokratischen Errungenschaften und besserer Möglichkeiten der politischen Partizipation kann man sich natürlich vieles vorstellen, und vieles wird auch bereits intensiv diskutiert. Als Demokratieinnovationen werden etwa die Absenkung des Wahlalters, Quotenregelungen oder andere Stimmabgabeverfahren gehandelt. Speziell für Ostdeutschland muss es meiner Ansicht nach darum gehen, die Gesellschaft enger mit der Politik zu verbinden und Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten jenseits der klassischen Parteien zu vergrößern.
Angesichts der sich vielerorts verschärfenden Repräsentations- und Vertrauenskrisen in der parlamentarischen Parteiendemokratie erleben auch Formate der direkten Bürgerbeteiligung eine Renaissance. Ein Vorschlag, der schon seit Längerem zirkuliert, um Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung zu verbessern, ist die Einführung oder Stärkung von Bürgerräten.4 Bisweilen spricht man auch von »deliberativen Foren« oder im Englischen von »mini publics«, »kleinen Öffentlichkeiten«. Erste Vorläufer der Idee findet man bereits in den 1970er und 1980er Jahren, als sie unter – heute beinahe kurios anmutenden – Begriffen wie »Planungszelle« oder »Konsensuskonferenz« firmierten. Ihre Befürworter verstehen die Bürgerräte als Antidot gegen politische Entfremdung und Parteienverdrossenheit.
Diskutiert werden diese Räte in ganz unterschiedlichen Varianten und konkreten Ausgestaltungen, die Grundidee ist jedoch immer ähnlich: Eine (etwa über Losverfahren oder eine Beteiligungslotterie) zufällig zusammengesetzte und heterogene Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern – also eine Art »Mikrokosmos der Bevölkerung« – soll sich über politische Fragen intensiv austauschen und zu einer gemeinsamen Position finden.5 Diese könnte dann im nächs134ten Schritt zur Richtschnur für politische Entscheidungen werden, gesetzgeberische Initiativen veranlassen oder auch in Referenden zur Abstimmung gestellt werden. In der Regel ist es jedenfalls so gedacht, dass die Bürgerräte die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die meisten Befürworter wollen ihnen eher beratende Kompetenzen einräumen und die Entscheidungen auf einen eng umgrenzten Sachbereich (etwa Infrastrukturvorhaben) beschränken. Allerdings können auch allgemeinere politische Leitlinien oder Zielstellungen zum Gegenstand werden. Das war beispielsweise beim Klimarat in Frankreich oder bei der vom irischen Unterhaus eingesetzten Citizens' Assembly zu Verfassungsreformen der Fall, die zwischen 2016 und 2018 tagte und deren Empfehlung zur Legalisierung von Abtreibungen anschließend in einer Volksabstimmung angenommen wurde. In Deutschland gab es ebenfalls erste Experimente mit dem Konzept, etwa einen Rat zu »Deutschlands Rolle in der Welt«, der 2021 ein Gutachten zur Außenpolitik abgab.6 Die drei Ampelparteien haben sich in ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 darauf geeinigt, »neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte [zu] nutzen« und dabei »auf gleichberechtigte Teilhabe [zu] achten«.7 Im Mai 2023 setzte der Bundestag einen Bürgerrat zum Thema »Ernährung im Wandel« ein, die Teilnehmer wurden im Juli 2023 ausgelost, im Februar 2024 legte der Rat Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungspolitik vor.8
Dem Konzept der Bürgerräte liegt die von (den offenen Austausch von Argumenten betonenden) Theorien der deliberativen Demokratie inspirierte Vorstellung zugrunde, dass wir als normale Bürgerinnen und Bürger zu vielen Dingen keine »informed preferences« haben, also keine auf ausgefeilten Überlegungen oder detaillierten Kenntnissen basierenden »informierten Positionen«. Befragt man uns spontan 135zu einem Thema, antworten wir eher intuitiv auf der Basis von Bauchgefühl oder mit einer Einschätzung, die wir irgendwo aufgeschnappt haben und die sich zumindest grob in Einklang mit unseren sonstigen Überzeugungen zu befinden scheint. Im Gegensatz zu Wahlen, bei denen es um die reine Willensbekundung geht und individuelle Präferenzen (in diesem Fall für bestimmte Parteien) zusammengerechnet werden, stehen bei den Bürgerräten demnach Prozesse der Willensbildung im Vordergrund. Zentral sind dabei die Offenheit der Debatte und die Vielfalt der Argumente, schließlich sollen Meinungen nicht schlicht geäußert und dann aggregiert, sondern im Zuge der Beratschlagung erst geformt werden.9 Wesentlich dafür sind die Verschränkung unterschiedlicher Perspektiven und die Bereitschaft, sich in andere Standpunkte hineinzudenken.10
Deliberative Foren erlauben es, die eigene Position im Lichte einer Vielzahl von Ansichten zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern. In manchen Modellen können die Teilnehmer außerdem zu bestimmten Aspekten Experten einladen. Meist werden die Diskussionen moderiert. Von Stammtischrunden unterscheiden sie sich zudem dadurch, dass es Regeln gibt, die Gleichheit, Respekt, Zwanglosigkeit und eine Orientierung auf das Gemeinwohl sicherstellen sollen, damit sich, so die Hoffnung, das bessere Argument durchsetzen kann. Die Vorschläge dieser Runden gelten als eine Art aufgeklärte öffentliche Meinung, die sich durch die Art ihres Zustandekommens von Positionen unterscheidet, wie wir sie alle tagtäglich spontan vertreten. In einer Zeit, in der Medien, Parlamente oder Interessenverbände nur noch unzureichende Bedingungen für produktive Auseinandersetzungen herstellen und in der Problemverdrängung, polemische Übersteuerung und Stimmungsmache an der Tagesordnung sind, könnten Bürgerinnen und Bürger in den 136»mini publics« im Kleinen das einüben, was im Großen diskursiv oft nicht gelingt.
Verfechter dieser Formate führen noch weitere Argumente ins Feld. Aufgrund ihrer Konstruktion – Teilnahme per Losverfahren, Repräsentation unterschiedlicher Gruppen, Transparenz, Vielfalt der Standpunkte – können ihre Positionen auf hohe Akzeptanz zählen, weil andere Menschen darauf vertrauen, dass Bürger in einer offenen und ernsthaften Auseinandersetzung zu ihrer Einschätzung gekommen sind. Die Empfehlungen der Räte kommen »aus der Mitte« der Gesellschaft und lassen sich nicht mit Argumenten wie dem einer Abgehobenheit oder Entfremdung der politischen Klasse abtun. Bürgerräte schaffen zudem Partizipationschancen auch für diejenigen, die sich sonst kaum am politischen Prozess beteiligen. Sie sorgen für eine Versachlichung emotionalisierter Debatten, leiten sie zur konkreten Arbeit am Thema hin, ohne dass Polarisierungsunternehmer sie affektpolitisch bewirtschaften könnten. Schließlich sind sie auch Lernorte der Demokratie, und zwar in dreierlei Hinsicht: Bürgerinnen und Bürger machen erstens die Erfahrung, mit anderen in ein respektvolles wechselseitiges Gespräch einzutreten. Zweitens bieten sie Gelegenheiten, damit Menschen sich selbst als Zoon politikon entdecken können – und zwar nicht nur im Hinblick auf enge eigene Interessen, sondern auf ein Gemeinwesen, für das alle zusammen Verantwortung tragen. Und drittens können Bürgerräte auch so etwas sein wie Proberäume für den politischen Nachwuchs, wenn Einzelne merken, dass sie das Talent haben, andere zu überzeugen und mitzunehmen.
Um genauer herauszufinden, wie Bürgerräte in der Praxis funktionieren und in sozialpolitischen Sachfragen entscheiden würden, hat ein internationales Forschungsteam, an dem 137auch ich beteiligt war, vor einigen Jahren (die empirische Arbeit fand im Herbst 2015 statt) eine ländervergleichende Studie zu diesem Verfahren durchgeführt.11 Wir luden 35 Bürgerinnen und Bürger, die nach bestimmten, die Repräsentativität der Runde gewährleistenden Kriterien (in diesem Fall also nicht zufällig) ausgewählt wurden, nach Berlin ein, um dort einen Tag lang über Fragen der Gerechtigkeit sowie Sozial- und Steuerpolitik zu diskutieren (die Sitzung dauerte acht Stunden, für Catering war natürlich gesorgt). Zwei Wochen später trat die Gruppe erneut im gleichen Setting zusammen und debattierte weiter, in der Zwischenzeit wurden die Teilnehmer mit Basisdaten und Fakten zum Thema versorgt (etwa zu den Kosten des Sozialstaates, Steuerlasten etc.). Besonders interessierten wir uns dafür, wer welche Position einnahm, wie diskutiert, welche Argumente vorgebracht wurden und wie sich die Diskussionsdynamik entfaltete. Obwohl die Teilnehmer aus allen Schichten kamen und auch in ihren Einstellungen sehr divers waren, gelang es ihnen, am Ende Positionen zu formulieren, die sich in der Breite der Gruppe als zustimmungsfähig erwiesen.
Unsere Studie war dabei so angelegt, dass wir mehr darüber erfahren konnten, wie sich Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Haltungen, Interessen und sozialen Erfahrungen in solche Diskussionen einbringen. Um die Teilnehmer politisch zu verorten, ließen wir sie zu Beginn Fragebögen ausfüllen, etwa zu ihren Parteipräferenzen, aber auch zu ihren Meinungen zu den diskutierten Themen. Wir sahen, dass sich radikale Positionen in den moderierten, gleichberechtigten Gesprächen einhegen ließen, während sich diejenigen mit ausgewogenen – und mehrheitsfähigen – Standpunkten besser durchsetzen konnten. Natürlich, auch der Stammtisch mit seinem Radau und all seinen Vorurteilen verschwindet in solchen Runden nicht, aber das kann im 138Austausch eingefangen werden. Zudem stellten wir durch eine weitere Befragung nach Abschluss der Sitzungen fest, dass zumindest einige Teilnehmer ihre Positionen verändert hatten, sei es aufgrund vorher nicht bekannter Informationen, aufgrund sozialen Lernens oder aufgrund überzeugender Argumente anderer Mitwirkender.12
Da wir in der Lage waren, die Diskussionen wie unter dem Mikroskop zu beobachten, hatten wir auch die Möglichkeit, recht genau auf Umschlagpunkte, Aha-Effekte und argumentative Verschiebungen zu achten. Das war vor allem deshalb aufschlussreich, weil solche Formate eine Chance bieten, die eigenen, wie es heutzutage oft heißt, »Blasen« zu verlassen und sich mit anderen Weltsichten zu konfrontieren. Wir erzeugten sozusagen »in vivo« Kreuzungen sozialer Kreise, die andere Erfahrungen erreichbar machten. Es war eindrücklich, wenn sich jemand, der zuvor die felsenfeste Überzeugung artikuliert hatte, jeder sei für sich selbst verantwortlich, mit der Lebensgeschichte einer chronisch kranken Frau im Sozialhilfebezug auseinandersetzen musste, um dann plötzlich einzuräumen, vieles sei ihm so gar nicht klar gewesen. Meinungen gehen zwar auf stabile Wertvorstellungen zurück, sie werden aber in der Interaktion mit anderen ge- und überformt, so dass es darauf ankommt, Gelegenheiten für Austausch zu schaffen.
Natürlich gibt es auch viele Einwände gegen solche direktdemokratischen Verfahren, und mir klingelt die Kritik an meinem Vorschlag bereits im Ohr. Man muss diese Vorbehalte ernst nehmen, sie richten sich aber meist gegen Volksabstimmungen, gegen die unter anderem vorgebracht wird, dass es durch soziale Selektivität bei der Beteiligung zu Verzerrungen kommen kann (etwa wenn nur direkt Betroffene oder aber Angehörige höherer Schichten mitmachen) oder 139dass Entscheidungen zu Lasten von Minderheiten ausfallen können (so wurde etwa 2009 in der Schweiz durch eine Volksinitiative der Bau weiterer Minarette untersagt).13 Gegen Bürgerräte im engeren Sinn wird häufig ins Feld geführt, die Verfahren seien zeitaufwendig und komplex, sie seien nur für begrenzte Entscheidungsbereiche denkbar, einige wenige würden den Ton angeben (was in der Politik eigentlich immer der Fall ist, wobei sich die Gefahr durch das Design der Räte minimieren lässt) oder die Kompetenzen der Beteiligten seien ungleich verteilt (was man freilich auch gegen die repräsentative Demokratie einwenden könnte). Demokratietheoretisch von Gewicht ist überdies der Vorbehalt, die Gesellschaft bestehe, anders als die Räte, nicht aus unverbundenen Einzelnen, sondern aus Verbänden und intermediären Institutionen. Gerade diese Vorfeldorganisationen der Politik blieben jedoch außen vor.14
Außerdem sind ungewollte Nebeneffekte zu bedenken, die sich auf das politische Gefüge insgesamt beziehen. So hat etwa der Politikwissenschaftler Philip Manow15 nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass die Ausweitung von Partizipationschancen zu einer Krise der Repräsentation führen kann, also des Mechanismus, der in der parlamentarischen Demokratie den unmittelbaren Volkswillen einhegt und abpuffert. Verlagert man Entscheidungskompetenzen hin zu Bürgerräten, beschleunigt man womöglich einen Prozess, der schon in Gang gekommen ist, trägt also eventuell zu einer weiteren Schwächung von Parteien und Parlamenten bei. Die gewählten Abgeordneten fragen sich dann vielleicht, was all ihre Professionalisierungsbemühungen wert sind, wenn sie von einer Gruppe von Laien ausgestochen werden können (wobei andersherum gilt, dass bei mangelndem Einfluss der Räte das Engagement verpuffen und sie schnell das Image von Alibiveranstaltungen bekommen könn140ten). Man sollte hier einerseits das Rationalitätsniveau der Politik, also das Vermögen, evidenzbasierte und sachgerechte Entscheidungen zu treffen, nicht überhöhen (unterschätzen allerdings auch nicht), andererseits ist genau abzugrenzen, welche Zuständigkeiten man Bürgerräten übergibt und auf welcher Abstraktionshöhe politische Weichenstellungen zu treffen sind: Geht es um einen allgemeinen Rahmen und eine Richtung oder um die konkrete Ausgestaltung von Gesetzen?
Die kritischen Stimmen gegenüber Bürgerräten stehen freilich auch in der Pflicht, angesichts von Parteienverdruss und Mitgliederschwund Alternativen zu benennen. Nur mit gutem Willen und einer verbesserten »Kommunikation« seitens der Parteizentralen wird sich die Demokratie nicht stärken lassen. Letztlich ist es eine Binse, dass grundlegende Veränderungen der Gesellschaft auch zu einer Weiterentwicklung der Demokratie führen müssen, da die Institutionen ansonsten zu einem Korsett werden, das die Mitwirkungsinteressen der Bürgerinnen und Bürger zunehmend einschnürt. Um hier klar zu sein: Aus meiner Sicht muss es bei diesen basisdemokratischen Innovationen darum gehen, den Populismus einzudämmen und zu zähmen. Dass dies gelingt, scheint mir mit Bürgerräten jedenfalls prinzipiell möglich – wenn nicht gar wahrscheinlich.
Für Ostdeutschland zielt mein Vorschlag einer Einrichtung und Stärkung von Bürgerräten vor allem auf eine dringend erforderliche Belebung der politischen Kultur. Die strukturelle Schwäche und die geringe Bindungs- und Mobilisierungskraft der Parteien erzwingen dabei geradezu ein Nachdenken über alternative Formen der Partizipation. Wenn ich Bürgerräte in die Diskussion bringe, dann nicht mit einer Präferenz für ein bestimmtes oder schon genau ausgearbei141tetes Modell. Ich möchte vielmehr dazu anregen, sich mit solchen oder ähnlichen Beteiligungsformaten intensiver auseinanderzusetzen und in Ostdeutschland Pilotprojekte auf den Weg zu bringen. Hier haben die Parteien besonders große Schwierigkeiten, Menschen einzubinden, und hier ist der Vertrauensverlust in die etablierten Akteure stark ausgeprägt. Diese Projekte könnten auf der lokalen, auf der Kreis- oder auf der Landesebene angesiedelt sein. Zunächst würden sich konkrete, im jeweiligen politischen Kontext bedeutende Themen anbieten, etwa größere Infrastrukturentscheidungen, Investitionsvorhaben oder Fragen der Stadtentwicklung. An dieser Stelle ist es ein interessantes kontrafaktisches Gedankenspiel, sich zu überlegen, was ein Bürgerrat wohl im Hinblick auf den Ostberliner Palast der Republik empfohlen hätte – ebenfalls Abriss und Wiederaufbau des Stadtschlosses? Wäre der Beschluss eines Bürgerrats zur Bebauung des Tempelhofer Feldes in Berlin anders ausgefallen als der 2014 dazu durchgeführte Volksentscheid? Was würde ein solcher Rat zu Flüssiggas-Terminals auf der Insel Rügen oder zum Ausbau des Tesla-Werks in Grünheide empfehlen? Könnten Bürgerräte nicht über den Einsatz der vielen Milliarden Euro an Steuergeldern mitbestimmen, die im Gegenzug für den Kohleausstieg nach Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg fließen sollen? Auf Bundesebene wären eventuell kontroverse Themen wie die Besteuerung von Erbschaften, eine Reform des Föderalismus, die Schuldenbremse oder das Tempolimit in den Händen von um eine gemeinsame Position ringenden Bürgerinnen und Bürgern gut aufgehoben. Bei ihnen droht keine Ideologisierung programmatischer Einzelposten zum Zwecke parteipolitischer Profilierung, wie wir sie sonst regelmäßig beobachten können. Und wahrscheinlich ergäbe sich damit auch die Chance, aus zugespitzten oder verkeilten Konflikten herauszufinden.
142Der potenzielle Einsatzbereich solcher Formate ist also denkbar groß. Nun sollte es im ersten Schritt darum gehen, in Pilotprojekten Erfahrungen dazu zu sammeln, wie Bürgerräte organisiert sein müssen, damit sie gut funktionieren, und wie sich die Qualität der Entscheidungen durch den genauen Zuschnitt optimieren lässt. Seitens der Politik ist dabei der Wille gefragt, über solche Gremien tatsächlich Partizipationsmöglichkeiten zu stärken, anstatt lediglich Beteiligungsillusionen zu erzeugen. Das wiederum setzt einen bestimmten Verbindlichkeitsgrad der Empfehlungen voraus. Nur so kann die Distanz zum politischen Prozess verringert und verhindert werden, dass das Apolitische ins Antipolitische umschlägt. Bürgerräte bieten die Chance, die Teilnahme zwar nicht zahlenmäßig, aber im Sinne einer größeren Vielstimmigkeit auszuweiten. Zudem lässt sich in so organisierten Formaten eine Politik des Gehörtwerdens besser realisieren, weil die Selektionsmechanismen andere sind als im »normalen« politischen und öffentlichen Diskurs. Und schließlich könnten Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, die ihnen sonst oft verwehrt bleiben.
Man sollte andererseits aber keinen politischen Tagträumen erliegen. Gerade im Osten birgt das vorgeschlagene Modell natürlich auch Risiken. Immerhin hat ein beachtlicher Teil der ostdeutschen Wählerinnen und Wähler die Brandmauer zur AfD schon überklettert. Sie säßen ebenfalls in solchen Räten, aber anders als auf der großen politischen Bühne besteht hier die Hoffnung, dass sich zumindest einige von ihnen entradikalisieren würden. Die parteipolitische Zuordnung und ideologische Orientierung träte in die zweite, die Bearbeitung konkreter politischer Themen und die Bindung an Kompromisse in die erste Reihe.
Dass man ein solches Wagnis eingehen sollte, ist vor allem 143der Tatsache geschuldet, dass eine Stabilisierung oder Verbesserung der aktuellen Situation als unwahrscheinlich gelten kann. Das Zerbröseln der demokratischen Fundamente und der Vormarsch der AfD zwingen uns dazu, Modelle der politischen Erneuerung radikaler zu denken. Wer glaubt ernsthaft, dass es zu einer Umkehr der verfestigten Trends der erodierenden Parteienbindung, des schwindenden Vertrauens in die Institutionen und der rechtspopulistischen Mobilisierung kommen wird? Versteht man Ostdeutschland in diesem Licht nicht als Nachzügler, sondern als Vorreiter einer Entwicklung, die so oder ähnlich auch anderswo eintreten könnte (und wahrscheinlich eintreten wird), ließe sich die Region zu einem Labor für Experimente mit neuen demokratischen Partizipationsformen machen. Ein Transfer erfolgreicher Modelle in den Westen wäre dann womöglich eine Art verspäteter Beitrag der Ostdeutschen zur institutionellen Weiterentwicklung der gesamtdeutschen Demokratie.
Mein Vorschlag zielt auf eine Ergänzung des bestehenden Systems, nicht auf seinen Ersatz, wie es einige Vertreter radikaler Demokratietheorien fordern. Man kann, wenn man eine solche Form der Entscheidungsfindung auch auf der Bundesebene für sinnvoll hält, sogar über neue Hybridmodelle aus Repräsentation und direktdemokratischer Partizipation nachdenken, etwa eine dritte Kammer, in der Angehörige des Bundestages (25 Prozent), Mitglieder des Bundesrates (25 Prozent) und durch Losverfahren bestimmte Bürger (50 Prozent) Entscheidungen zu grundlegenden und weit über eine Legislaturperiode hinausreichenden Fragen erarbeiten (wie beispielsweise Energieversorgung, soziales Pflichtjahr oder Klimatransformation), um das Auseinanderfallen von kurzfristigen Politikzyklen und langfristigen gesellschaftlichen Herausforderungen aufzuheben. Es geht mir um eine experimentelle Öffnung und Weiterent144wicklung von Partizipationsmöglichkeiten mit dem Ziel, die Zugangsschwellen zur Politik zu senken, dabei aber auf regelbasierte Verfahren zurückzugreifen, damit sich macht- und organisationsstarke Gruppen sowie die Polarisierungsunternehmer mit ihrer Affektpolitik nicht immer stärker durchsetzen.
Aus meiner Sicht sind solche Experimente angesichts der politischen Lage in Ostdeutschland unumgänglich. Wollen wir die Hände nicht fatalistisch in den Schoß legen, muss uns ja die Frage umtreiben, wie man jene erreichen und einbinden kann, die zwar der AfD nicht hinterherlaufen, der Parteiendemokratie aber dennoch fremd gegenüberstehen. Selbstanpassung und Selbsttransformation sind Stärken der liberalen Demokratie, sonst gäbe es bis heute kein Frauenwahlrecht und keinen Minderheitenschutz. Daher besteht Hoffnung, dass hier die Einsicht wächst, dass ein einfaches »Weiter so« die Probleme nur potenziert. Mit etwas Fantasie kann man sich natürlich auch einen Parlamentarismus ohne Parteien imaginieren, aber in diesem Szenario würden am Ende womöglich diverse Wahlplattformen miteinander konkurrieren, deren Erfolg vor allem an Medienpräsenz, Geld und populistischer Ansprache hinge wie etwa heute schon in den USA. Aus meiner Sicht eine wenig attraktive Vorstellung, da wir dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe möglichst vieler am politischen Prozess so keinen Schritt näher kämen. In den Bürgerräten hingegen sehe ich eine Möglichkeit, den Graben zwischen Politik und Bürgern zu überwinden und einen neuen Transmissionsriemen für soziale Interessen einzubauen – nicht als Ersatz für, sondern komplementär zu den Parteien.
Die geschilderten strukturellen Bedingungen sind aber nur ein Grund dafür, über Ostdeutschland als Labor der Partizipation nachzudenken. Ein weiterer liegt darin, dass 145Bürgerräte im Osten an Erfahrungen mit Runden Tischen und Bürgerdialogen anknüpfen könnten, die bei den meisten Ostdeutschen mit positiven Erinnerungen an politische Selbstwirksamkeit verbunden sind. Der basisdemokratische und partizipative Impuls, der in Ostdeutschland nach wie vor vorhanden ist, würde in solchen Aushandlungsformen eventuell ein geeignetes Format finden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Bürgerrechtlerin und ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler sich in den letzten Jahren immer wieder für Bürgerräte starkgemacht hat, weil sie sich davon mehr direkte Mitwirkung erhofft.16 Experimentierfelder zu öffnen, in denen Menschen politisch mitmachen können, ist angesichts der Erschöpfung der Parteiendemokratie dringender denn je.
Unzufriedenheit, Protest und Radikalisierung – das scheinen gegenwärtig wesentliche Triebfedern der politischen Entwicklung in Ostdeutschland (aber nicht nur dort!) zu sein. Zugleich stellen wir fest, dass seitens der traditionellen Parteien und Großorganisationen die Absorptionskraft für gesellschaftliche Konflikte schwindet. Deshalb wird es – auch jenseits der Bürgerräte – in Zukunft darum gehen, über neue Formen der Institutionalisierung und Repräsentation von Interessen und der demokratischen Konsensfindung nachzudenken, die weder dem populistischen Impuls des »wahren« Bürgerwillens nachgeben noch sich im Verweis auf die formal gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten erschöpfen. Was wir brauchen, sind Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie – zur Abwehr von Allmählichkeitsschäden. Fürwahr: Die Demokratie steht unter Druck, aber wir haben die Möglichkeiten, sie zu verteidigen und zu sichern, noch lange nicht ausgeschöpft. Und zwar weder in Ost- noch in Westdeutschland.