In den zwanziger Jahren nahm auch die politische Verfassung des neuen Regimes eine dauerhafte Gestalt an. Was unter den Zwängen des Bürgerkriegs teils wild, teils nach ideologischen Vorgaben gewachsen war, wurde in reguläre Formen gegossen. Grundsätzlich bestand dabei die Chance, unerwünschte Entwicklungen zu korrigieren. Es zeigte sich jedoch, dass zwar manche Zuspitzungen des Kommandosystems beseitigt, aber die Machtverteilung und Herrschaftsstruktur beibehalten wurden. Dazu trug, wie erwähnt, paradoxerweise jene NĖP maßgeblich bei, die der Wirtschaft und Gesellschaft wieder Freiraum verschaffte. Der Parallelbeschluss war schicksalhaft: Was zu Beginn des friedlichen Aufbaus versäumt wurde, konnte danach nur noch durch Gewalt nachgeholt werden. So wurden vor allem folgende Merkmale des neuen Staates festgeschrieben: (1) die Degradierung seiner regulären Führungsorgane zu bloß repräsentativen Gremien und die Umwandlung der Sowjetdemokratie in eine reine Fassade; (2) die Konzentration aller Macht bei der bolschewistischen Partei und das Verbot anderer Parteien sowie jeglicher öffentlicher Organisationen mit anderen Zielsetzungen; (3) die endgültige Entdemokratisierung auch der Partei und die ausschließliche Bündelung der Entscheidungen in deren obersten exekutiven und administrativen Gremien sowie (4) die faktische Missachtung der föderativen Strukturen in der neu geschaffenen UdSSR und die Verlagerung aller diesbezüglichen wichtigen Beschlüsse in die zentrale Parteiführung samt der von ihr kontrollierten Regierung. Zwar dürfte auch an der Peripherie des neuen Staates sinngemäß die alte Weisheit gegolten haben, dass der Zar weit weg sei. Selbst die Partei zerfiel im wenig entwickelten russisch-sowjetischen Riesenreich in zahlreiche Regionalverbände, die ein ausgeprägtes Eigenleben führten. Solche Erkenntnisse helfen, Fehlvorstellungen von einer ‹gut geölten› Staatsmaschinerie und allgegenwärtiger zentraler Kontrolle zu korrigieren. Aber sie widersprechen dem grundlegenden Befund nicht, dass alle wesentlichen Weichenstellungen ohne gesonderte Legitimation durch gewählte Plenarversammlungen nicht einmal durch die höchsten Gremien des Staates, sondern im engen Kreis des obersten Exekutivgremiums der Partei beschlossen wurden. Ungeachtet aller Hemmnisse und ‹Umleitungen› ihres Transfers lag die letzte Entscheidung bei der Führung einer Organisation. Gerade in dieser Hinsicht sollten Kontinuitäten zwischen Lenin und Stalin nicht übersehen werden: Der Diktator trieb ins Extrem, was nicht so kommen musste, aber angelegt und schon weit fortgeschritten war.

Wer diese Entwicklung verstehen will, muss berücksichtigen, dass sie für die Betroffenen nicht von vornherein absehbar war. Verbal gab sich die Sowjetmacht durchaus den entgegengesetzten Anschein; allerdings hätte ein Blick auf die Machtverhältnisse schon früh zu erheblicher Skepsis Anlass geben können. Denn die Nagelprobe wurde in dem Maße erforderlich, wie die Revolutionäre militärisch die Oberhand gewannen und die weißen Armeen den Rückzug ins Hinterland antraten. Die Bolschewiki operierten vom Zentrum aus. Ihr Sieg war gleichbedeutend mit der Unterwerfung der Peripherie, von Moskau bis Fernost. Dabei half, wie erwähnt, die unglückliche Politik der weißen Gegenregierungen. Keine von ihnen gab sich besondere Mühe, dem Eindruck entgegenzuwirken, sie strebe mit der Wiederherstellung eines nichtbolschewistischen Staates auch die Rückkehr zu großrussischen Vormachtsansprüchen an. Neben der Neutralisierung und Unterdrückung des Dorfes bildete dies gewiss den zweiten Grundstein des bolschewistischen Triumphes: dass das neue Regime auch die mächtige Schubkraft der nationalen Identifikation auf seine Mühlen zu leiten wusste. Voraussetzung dafür aber war eine Politik, die den Emanzipationsbewegungen glaubhaft versicherte, dass sie ihr Ziel nur im Bunde mit der neuen Macht würden erreichen können.

Kaum jemand in der bolschewistischen Führung wusste das besser als Lenin. Schon im Exil hatte er die Bedeutung dieser Frage für die revolutionäre Bewegung erkannt. In einem Streit mit Rosa Luxemburg, dessen Ausstrahlung weit über die russischen Zirkel hinausging, hatte er zugunsten der nationalen Sache Partei ergriffen. Vom Standpunkt der reinen marxistischen Theorie aus gesehen, stand er dabei auf verlorenem Posten. Natürlich hatten nationale Kategorien der proletarischen Bewegung fremd zu sein. Sie gehörten dem Zeitalter der ‹bürgerlichen› Demokratien und des aufstrebenden Kapitalismus an. Der reife Kapitalismus ließ, wie Marx vorausgesehen hatte, die staatlichen Grenzen hinter sich und bereitete jenen Internationalismus vor, der in seiner Sicht (unter anderem) die Überlegenheit des Sozialismus begründete. Lenin lag es fern, diesen Charakter der erstrebten Ordnung oder die Wahlverwandtschaft zwischen Nation und bürgerlicher Revolution zu bestreiten. Aber er argumentierte gleichsam vom anderen Ende her. Maßstab für die Zulässigkeit nationaler Bestrebungen musste ihm zufolge der sozioökonomische Entwicklungsstand der jeweiligen Nationalität sein. Dort, wo Kapitalismus und Demokratie noch in den Anfängen steckten, war die nationale Emanzipation ebenso ein Gebot der Stunde wie die bürgerliche Freiheit. Dieser Einsicht blieb Lenin im Revolutionsjahr treu. Sie erlaubte ihm, die heftigen Konflikte zwischen den regionalen Unabhängigkeitsbewegungen und der ohnehin kaum durchsetzungsfähigen Februarregierung für die bolschewistischen Ziele zu nutzen.[1]

Auch nach dem Oktoberumsturz verlor Lenin die nationale Frage nicht aus dem Blick. Obwohl andere Probleme im Vordergrund standen, blieb ihm die Abhängigkeit des neuen Regimes von der Unterstützung auch des fremdethnischen Hinterlandes bewusst. Kaum zufällig gehörte bereits zur ersten Regierung ein Volkskommissariat für Nationalitätenfragen. Während die anderen Ressorts trotz der veränderten Benennungen aus den alten Ministerien hervorgingen, wurde diese Behörde neu geschaffen: Sie setzte ein demonstratives Signal für den grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen politischer Zentralgewalt und Peripherie. Dank Lenin fand diese Strategie auch Eingang in das neue Programm der Bolschewiki, das der achte Parteitag im März 1919, sechzehn Jahre nach dem ersten, verabschiedete. In mancher Hinsicht lebte die Debatte über die Vereinbarkeit von Sozialismus und Nationalismus bei dieser Gelegenheit wieder auf. Lenin warf Bucharin und seinen internationalistischen Anhängern in scharfen Worten vor, wie in anderen Grundfragen des Staatsaufbaus «den Wunsch für die Wirklichkeit» zu halten. Realität sei nicht der Sozialismus mit der grenzüberschreitenden Solidarität der Arbeiterschaft, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Stadien auf dem langen «Weg vom Mittelalter zur bürgerlichen Demokratie und von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen Demokratie». Jede Nation, und darin lag der gegenwartsbezogene Kern der Leninschen Botschaft, könne und müsse selbst bestimmen, wie sie sich dem Ziel nähern wolle. Allerdings beschränkte auch Lenin die Wahlfreiheit auf den Entwicklungspfad. Das Ziel blieb vorgegeben. An der historischen Notwendigkeit des Sozialismus ließ er ebenso wenig Zweifel wie an der Angemessenheit der Räteverfassung für diese Etappe der staatlich-sozialen Entwicklung. So war es nur konsequent, dass im neuen Programm beide Aspekte des Problems ihren Niederschlag fanden. Die Bolschewiki verpflichteten sich, jegliche Privilegierung einer Nation zu beseitigen, um das «Misstrauen der werktätigen Massen» der benachteiligten ethnischen Gruppen zu überwinden; die Frage nach dem legitimen Träger sezessionistischer Bestrebungen in Anbetracht der «geschichtlichen Entwicklungsstufe» der betreffenden Nation zu entscheiden (mithin eventuell auch «bürgerliche» Gruppen anzuerkennen); und als ‹Übergangsform› zur «völligen Einheit» die Bildung von Rätestaaten und deren «föderativen Zusammenschluss» anzustreben. Formal verankerten diese Beschlüsse das Selbstbestimmungsrecht unmissverständlich. Zugleich ließen sie Spielraum für unterschiedlichste Koalitionen. Aber auch das beabsichtigte Endresultat blieb nicht im Unklaren: Es ergab sich von selbst, wer nach einer Föderation, die ausdrücklich für temporär erklärt wurde, die endgültige Vereinigung betreiben und kontrollieren sollte.[2]

Als die weißen Verbände zurückwichen und die Rote Armee eine nichtrussische Region nach der anderen eroberte, war die Antwort auf die Frage nicht länger aufzuschieben, welche politische Verfassung die einst vom Zarenreich annektierten Völker erhalten und wie ihre Territorien mit der RSFSR verbunden werden sollten. Schon früh zeigte sich dabei ein taktischer Unterschied: Wo die Zentralregierung ihres übermächtigen Einflusses sicher war, im ‹ersten Gürtel› der Peripherie, verankerte sie ihre Weisungsbefugnis unverzüglich. Vorsichtiger ging sie in ferneren Gebieten zu Werke, die sich ihrem Zugriff noch entzogen und wo sie Verbündete brauchte. Wie zu zarischen Zeiten spielte auch eine Rolle, wie stark eine Minderheit war und auf welches historisch-kulturelle Erbe sie zurückgreifen konnte. Kleinen nomadischen Völkerschaften wurde eine andere Form der Selbstverwaltung zugestanden als Nationen mit eigener Tradition, denen man in der Regel auch eine höhere Kulturstufe attestierte. Auf diese Weise zog die RSFSR zunächst die kleineren, oft nomadischen und islamischen Nationalitäten, von den alteingesessenen Tataren an der mittleren Wolga über die Komi im Norden bis zu den Kazachen im Südwesten, an sich. Förmlich entstanden 1920–1923 siebzehn solcher «autonomen» Gebiete, die auch der Kernrepublik von Anfang an einen multiethnischen Charakter verliehen.[3]

Anders verfuhr man mit den ‹großen› Nationalitäten. Die meisten hatten, wie die Ukraine, den Reichsverband verlassen und ihre Unabhängigkeit erklärt. Nicht wenige waren in Beziehungen zu auswärtigen Mächten getreten, genossen Protektion oder sogar völkerrechtliche Anerkennung. Man konnte sie nicht einfach einverleiben, es sei denn um den Preis offensichtlicher Rückkehr zur imperialen Machtpolitik. Auf der anderen Seite wurden die angrenzenden nichtgroßrussischen Territorien schon lange vor Kriegsende erobert. Im Überlebenskampf lag die Versuchung nahe, ihre zum Teil erheblichen materiellen Ressourcen zu nutzen. Als im September 1918 unter dem Vorsitz Trotzkis ein Revolutionärer Militärrat gegründet wurde, erstreckten sich seine Kompetenzen auch auf die Ukraine als hauptsächliches Kampfgebiet der kommenden Monate. Gleiches galt für den kurze Zeit später eingerichteten STO, der ausdrücklich Weisungsbefugnis für alle regionalen Dependancen erhielt. Fraglos markierten diese und andere Maßnahmen wichtige Schritte auf dem Wege zur Integration in das bolschewistische Herrschafts- und Wirtschaftsgebiet. Hinzu kam nach und nach die Präsenz der Roten Armee. Vor allem sie wurde zu einem Zentralisierungsinstrument von außerordentlicher Durchsetzungskraft. So war die Eigenständigkeit der nichtrussischen National- und Regionalbewegungen auf dem Territorium des einstigen Reiches bereits ausgehöhlt, als sie – mit welcher Eigenständigkeit auch immer – zu Verhandlungspartnern wurden. Der erste Vertrag dieser Art wurde nach der Eroberung Azerbajdžans Ende September 1920 abgeschlossen. Er schrieb fest, dass die RSFSR die ausschließliche Kompetenz in Angelegenheiten des Militärs, der Versorgung, der Finanzen, des Transports, der Kommunikation und der Außenwirtschaft übernahm. Bemerkenswerterweise beließ er Azerbajdžan die institutionelle Möglichkeit, eine eigene Außenpolitik zu betreiben. Gleichlautende Abkommen unterzeichneten Ende Dezember 1920 und Mitte Januar 1921 die Ukraine und Weißrussland, die beide inzwischen fest in bolschewistischer Hand waren und die Räteverfassung übernommen hatten.[4]

Dennoch war die lange Auseinandersetzung über die Gestalt der Union aller ‹zurückgewonnenen› Territorien und Nationalitäten kein Scheingefecht. Nicht zufällig begann sie ebenfalls nach dem Ende des Bürgerkriegs. Auch sie gehört in den Zusammenhang der endgültigen Ausgestaltung des neuen Regimes und der Kritik an erkennbaren Fehlentwicklungen. Zugleich trat in ihr die Brüchigkeit notgeborener Kompromisse zutage. Nicht zuletzt dank der probaten Leninschen Taktik hatten sich Nationalismus und Kommunismus zur Abwehr eines gemeinsamen Feindes, der imperialen Restauration (oder dessen, was man dafür hielt), verbunden; nach dem Ende der Kämpfe zeigte sich, dass diese Allianz auf keiner wirklichen Gemeinsamkeit beruhte. Die nationalen Bewegungen wollten Unabhängigkeit, die Bolschewiki den sozialistischen Gesamtstaat. Als die unitarischen, von ideologischem Rigorismus und Kriegszwängen verstärkten Absichten der Revolutionäre unübersehbar wurden, blieben Konflikte nicht aus. In Mittelasien richteten partisanenähnliche Freiheitskämpfer, die Basmatschen, ihre Angriffe nun gegen die neuen Herren. In Russland selbst wurde der Abfall eines prominenten Mitglieds des Nationalitätenkommissariats zur cause célèbre (R. Pipes). Der Wolgatatare M. S. Sultan-Galiev, der den Erfolg der Bündnisstrategie gleichsam personifizierte, kam schon während des Bürgerkrieges zu der Einsicht, dass die Zukunft der nationalen Minderheiten bei den Bolschewiki keineswegs am besten aufgehoben sei. Vollends die Verkündung der NĖP, die auch den Schutz der Schwächeren gegen ausbeuterischen Geschäftsgeist verringerte, bestärkte ihn darin. Es war symptomatisch, wie seine Forderung nach einer eigenen islamischen Sowjetrepublik im Frühjahr 1923 beantwortet wurde: mit Haft und dem Ausschluss aus der Partei.

Erhebliche Probleme gab es auch in der Ukraine. Die nationale Idee hatte hier gleich mehrere Parteien und Bewegungen, darunter auch revolutionär-militante, hervorgebracht. Nach der endgültigen Eroberung durch die Rote Armee verschwanden diese Strömungen nicht einfach. Kompromisse wurden nötig. In der bolschewistischen Partei selbst machten sich regionales Selbstbewusstsein und Widerstand gegen die Bevormundung durch die Moskauer Behörden bemerkbar. Immerhin äußerte ein führender ukrainischer Bolschewik, M. A. Skrypnyk, seinen Unmut auf dem elften Parteitag im März 1922 sogar öffentlich. Und in der Ukraine löste auch ein so spektakulärer Akt wie die Rückkehr des Historikers Mychajlo S. Hruševs’kyj – ehemals Vorsitzender der Rada und Symbolfigur der bürgerlichen Nationalbewegung – aus dem Exil (1924) die Probleme nicht, sondern kaschierte sie nur.

Offen zutage aber trat der Grundsatzkonflikt vor allem im Streit zwischen der Moskauer Führung und den georgischen Genossen. Der menschewistisch beherrschte, kurzlebige unabhängige georgische Staat war im Februar 1921 von Verbänden der Roten Armee überrannt worden. Gegen Monatsende riefen einheimische Bolschewiki in Tiflis eine sozialistische Sowjetrepublik aus. Im Mai folgte ein förmlicher Vertrag zwischen der neuen Republik und der RSFSR, der dem Sieger nach bewährtem Muster die wirtschaftliche und militärische Oberhoheit übertrug, zugleich aber die prinzipielle Unabhängigkeit und innere Selbständigkeit Georgiens festhielt. Damit war die Zentrale in Moskau jedoch nicht zufrieden. Neben Stalin als Nationalitätenkommissar votierte auch Lenin, wenngleich zögernd, für den Zusammenschluss aller drei Republiken Azerbajdžan, Armenien und Georgien zu einer Transkaukasischen Föderation. Als ausführendes Organ wurde ein «kaukasisches Büro» der Partei eingerichtet, dessen Leitung Ordžonikidze übernahm. Allerdings zeigte sich bald, dass auch die eigenen Genossen, die frisch installierten georgischen Bolschewiki, unerwarteten Widerstand leisteten. Sie intervenierten bei Lenin und veranlassten ihn zum Umdenken. Die Transkaukasische Föderation wurde im März 1922 dennoch gegründet und goss weiteres Öl ins Feuer.[5]

Es waren diese Probleme, die vor dem Hintergrund des beendeten Bürgerkriegs den Anstoß dazu gaben, das Verhältnis zwischen den Sowjetrepubliken neu zu überdenken und eine endgültige Lösung zu finden. Den ersten Schritt tat das ZK, als es im August 1922 eine einschlägige Kommission einsetzte. Ex officio lag die Federführung bei Stalin. Damit machte die Partei den Bock zum Gärtner. Denn gerade Stalin verbarg seine Abneigung gegen echten Föderalismus nicht. Ein erster Entwurf aus seiner Feder plädierte daher auch für eine andere Lösung. Er verzichtete auf eine Unterscheidung zwischen «autonomen Gebieten» und selbständigen Republiken und sah trotz anderslautender Vereinbarungen vor, auch die größeren Nationalitäten in die RSFSR einzugliedern. Damit rief das Projekt nicht nur den Widerstand der Betroffenen hervor. Auch Lenin äußerte sich höchst ungehalten. Dem herbeizitierten Stalin empfahl er dringend, eine tatsächliche Assoziation zugrunde zu legen. Als der Gemaßregelte dem ZK-Plenum am 6. Oktober einen neuen Entwurf vorlegte, der dieser Vorgabe immer noch nicht entsprach, zögerte er nicht, seinen Protest in die drastischen Worte zu kleiden, er erkläre «dem großrussischen Chauvinismus … den Kampf auf Leben und Tod». Erst eine nunmehr neu eingerichtete Kommission legte die Struktur fest, die Lenin für unverzichtbar hielt: einen förmlichen, auch institutionell sichtbaren Zusammenschluss gleichberechtigter Republiken zu einem neuen Ganzen, einer Union. In dieser Gestalt wurde die Verfassung am 30. Dezember 1922 vom zehnten, durch Vertreter der obersten Sowjets der Ukraine, Weißrusslands und der Transkaukasischen Föderation erweiterten und zur ersten Allunionsversammlung erklärten Sowjetdeputiertenkongress der RSFSR gebilligt.

Lenin war jedoch auch mit diesem Resultat noch nicht zufrieden. Nach den Vorgängen in Georgien und anderen Erfahrungen mit Stalin durchschaute er die Unaufrichtigkeit der Zugeständnisse an die neuen Partner. In den erwähnten letzten Notizen für den bevorstehenden (zwölften) Parteitag drang er deshalb noch einmal auf Nachbesserung. Er forderte «strenge Vorschriften» zur Garantie wirklicher Autonomie der Republiken einschließlich eigener diplomatischer Vertretungen im Ausland. Der Schaden für den revolutionären Staat – und darin darf sein stärkstes Motiv gesehen werden –, den mangelnde Koordination zwischen Zentrum und Republiken hervorrufen könne, sei unerheblich im Vergleich zu dem Schaden, der für die ‹ganze Internationale› entstehe, wenn «zu Beginn» des «Erwachens» der nach Millionen zählenden «Völker Asiens» das «Prestige» des ersten revolutionären Staates der Welt «auch nur durch die kleinste Grobheit und Ungerechtigkeit» gegenüber den «eigenen nichtrussischen Völkern» befleckt werde. Angesichts der zunehmend enttäuschten Hoffnungen auf den Westen blickte Lenin nach Osten: Er griff auf, was ein ‹Kongress der Ostvölker› in Baku Anfang September 1920 bereits angekündigt hatte: dass die russische Umwälzung als ‹sozialistische› Erhebung in einem relativ rückständigen Land auch in den unterentwickelten Regionen der Welt Nachahmung finden könne und müsse. Die Russische Revolution wurde zum Modell des Aufstandes der Peripherie gegen das Zentrum im globalen Maßstab. Diesem großen und treffend erkannten Ziel ordnete Lenin kleinlichen Streit um Kompetenzen allemal unter. Man kann nur darüber spekulieren, ob die Union tatsächlich eine andere Gestalt angenommen hätte, wenn er seine Vorstellungen auf dem zwölften Parteitag noch selbst hätte vortragen können oder wenigstens Trotzki für das gemeinsame Anliegen eingetreten wäre. So aber verhallte die Kritik der georgischen und ukrainischen Delegierten ungehört. Stalin hatte den Entwurf im März noch um einen «Nationalitätenrat» als zweite Kammer neben dem Unionsrat erweitert. Dies genügte dem Parteitag. Die Verfassung trat am 31. Januar 1924 nach der Ratifizierung durch den zweiten Allunionskongress der Sowjetdeputierten in Kraft.[6]

Schon die institutionelle Struktur des neuen Staates verriet, wo sein Zentrum lag. Die Verwandtschaft mit der Verfassung der RSFSR war nicht zu übersehen. Formal ging alle Macht vom Kongress der Sowjetdeputierten aller Unionsrepubliken aus. Er delegierte, da er nicht permanent tagte, seine Kompetenz an ein Zentrales Exekutivkomitee (CIK). Allerdings wählte er nur die Mitglieder (anfangs 414) einer Kammer dieses Gremiums, des sog. Unionsrats; die übrigen Mitglieder (anfangs 100), die den Nationalitätenrat bildeten, wurden von den obersten Sowjets der Unions- und Autonomen Republiken sowie den höchsten staatlichen Organen der Autonomen Gebiete in einer nach deren Größe gestaffelten Zahl bestimmt. Alle Gesetze bedurften der Zustimmung beider Kammern. Das ebenfalls noch große CIK wählte seinerseits ein Präsidium, das die laufenden Geschäfte erledigte und zum wichtigsten administrativ-politischen Organ des Sowjets wurde. Der formalen Struktur nach hätten ihm die Aufgaben einer Regierung zufallen müssen. Doch auch der SNK wurde unter Beibehaltung seines Namens auf die Unionsebene übertragen. Er fungierte, formal dem CIK verantwortlich, wie in der RSFSR als Kabinett. Allerdings gab es fortan drei Arten von Volkskommissariaten. Allunionskommissariate bestanden nur auf dieser Ebene und besaßen exklusive Kompetenzen für auswärtige Politik, Verteidigung, Außenhandel, Verkehr sowie Post und Telegraphen. «Vereinigte Kommissariate» wurden in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Versorgung, Finanzen und für die «Arbeiter- und Bauerninspektion» geschaffen; sie bestanden auch auf Republikebene, wo sie aber nachgeordnet und zur Ausführung der zentral gefassten Beschlüsse verpflichtet waren. Eine dritte Kategorie von Kommissariaten existierte mit ausschließlicher Zuständigkeit für innere Angelegenheiten, vom Gesundheitswesen bis zur Erziehung, nur auf Republikebene.

Neu war gegenüber der Verfassung der RSFSR die Gründung einer Art von Verfassungsgericht und einer obersten Prokuratur. Ersteres genoss aber schon de jure keine wirkliche Unabhängigkeit, weil es im Wesentlichen auf Bitten des CIK tätig werden sollte. Letztere sollte zur Überwachung der Legalität des staatlichen Handelns und als weitere Vorkehrung gegen ‹Bürokratismus› eine starke Stellung erhalten (Lenin hatte sich besonders für sie eingesetzt); ihre Kompetenzen verhalfen ihr aber nicht dazu. Geregelt wurde schließlich auch der Status der Nachfolgeorganisation der Tscheka. Diese hieß nun «Vereinigte Politische Verwaltung» (OGPU) und erhielt, nachdem sie kurzzeitig (seit der Auflösung der Tscheka 1922) als GPU dem Innenkommissariat unterstanden hatte, den Status einer Obersten Behörde (und Quasi-Kommissariats) mit Sitz und Stimme im SNK.[7]

Verfassung und Verwaltung in der Praxis  Den Unionsvertrag schlossen ursprünglich nur vier Republiken: Russland, Weißrussland, die Ukraine und die Transkaukasische Föderation. Letztere bestand aber faktisch aus drei eigenständigen Nationen: Georgien, Armenien und Azerbajdžan. In den folgenden Jahren kamen aus dem Bestand der RSFSR noch Uzbekistan (1924), Turkmenistan (1925) und Tadžikistan (1929) hinzu.[8] Weder der erzwungene Zusammenschluss der kleinsten Republiken noch die flächengroßen, aber bevölkerungsarmen Neuzugänge veränderten die Kräfteverhältnisse. Die RSFSR blieb mit einem Anteil von gut zwei Dritteln an der Bevölkerung (100 Mio. von 147 Mio.) und 95 % am gesamten Staatsterritorium ein Senior und Hegemon von erdrückender Übermacht, der auch in seinem eigenen föderativen Charakter der UdSSR am ähnlichsten war.

Doch nicht in erster Linie diese äußeren Rahmenbedingungen trugen dazu bei, dass der Eindruck der Wahrheit recht nahe kam, die Union sei eine bloße Erweiterung der Russischen Republik. Als wichtiger erwiesen sich andere Entwicklungen, die auf eine faktische Missachtung der geltenden Verfassung hinausliefen. Sie waren nicht neu, sondern setzten fort, was bereits mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges begonnen hatte: die Entmachtung der Sowjetorgane bei gleichzeitiger Konzentration der Entscheidungsbefugnisse in der Regierung, die personell aufs engste mit der Partei verwoben blieb. ‹Höchste Organe der Staatsmacht› war nicht das CIK und – zwischen den Sitzungen – dessen Präsidium, wie es die Verfassung vorsah (Art. 26), sondern der SNK. Entscheidend blieb, wohin die Partei ihre personellen Ressourcen delegierte. Dies lässt sich an mehreren Indikatoren ablesen. Zunächst hinderte schon die schiere Größe das CIK an effektiver Arbeit. Nach der Aufnahme Uzbekistans und Turkmenistans gehörten dem Unionsrat 450 Mitglieder sowie 199 Kandidaten und dem Nationalitätenrat 131 Mitglieder sowie 53 Kandidaten an. Sicher hätte auch ein solch kopfstarkes Gremium seine legislativen Aufgaben effektiv wahrnehmen können, aber dazu hätte es permanent sein und aus Berufspolitikern bestehen müssen. Auch das CIK tagte aber nur periodisch, und dies immer seltener: Statt dreimal im Jahr, wie vorgeschrieben, trat es schon bald nur noch einmal (oder noch seltener) für jeweils ein bis zwei Wochen zusammen. Eine solche Versammlung konnte nicht mehr tun als akklamieren. Kaum der Erwähnung bedarf, dass dies erst recht für die Plenarkongresse der Sowjetdeputierten galt. Man musste das Moskauer Bolschoj-Theater in Anspruch nehmen, um die mehr als 2000 Teilnehmer unterzubringen. Das Ambiente mag ihnen geholfen haben, die ermüdend langen ‹Rechenschaftsberichte› des SNK-Vorsitzenden und anderer Kommissare zu ertragen, die zum Ritual und zum hauptsächlichen Geschäft dieser Massenveranstaltungen wurden. Im Übrigen tagte das Sowjetplenum, nachdem es seine Arbeit getan, d.h. die Verfassung verabschiedet hatte, nur noch alle zwei Jahre. Arbeitsfähig war allein das Präsidium des CIK. Unter seinen gut zwanzig Mitgliedern gab es bald keines mehr, das seine Tätigkeit nicht als Beruf wahrgenommen und zur neuen Schicht der hauptamtlichen Sowjetfunktionäre gehört hätte. Aber auch unter ihnen fand sich kein Politiker von wirklichem Rang. Selbst der Vorsitz im Präsidium, formal das höchste Amt im Staate, brachte im Wesentlichen repräsentative Rechte und Pflichten mit sich. Nach Stalins Tod wurde er zum typischen, wenn auch nicht nur so genutzten Posten, um verdiente Staatsmänner zu honorieren und aus dem Zentrum der Politik zu entfernen.[9]

Der Ausschluss der Räte von der Macht ging einher mit weiterer Zentralisierung. Beides hing auch inhaltlich aufs engste zusammen: Es waren vor allem die Räte, die den Föderalismus und die Gleichrangigkeit der Unionspartner repräsentierten. Sie gaben ihnen eine institutionelle Gestalt und einen Apparat, dessen Funktionsfähigkeit zuallererst über den Grad ihrer praktischen Verwirklichung entschied. In dem Maße, wie auch die neuen Räte zu Foren willfähriger Huldigung herabsanken, verlor der regionale Widerstand gegen die Hegemonie Moskaus sein größtes Wirkungspotential und seine wichtigste Tribüne. Auch wenn er nicht verschwand, zog er sich gleichsam in interne Rivalitäten zurück und nahm die Form von Interessenpolitik im Rahmen großrussisch dominierter Gesamtorganisationen an. Auch diese Entwicklung zeichnete sich früh ab. Schon in den CIK-Sitzungen von 1924 fielen Entscheidungen, die sich als unwiderruflich erwiesen. Für die Möglichkeit tatsächlicher Emanzipation spricht der Umstand, dass es erstaunlicherweise ein Vertreter der russischen Regierung war, der aus Anlass der Beratung über die Kompetenzen des Obersten Gerichts gegen die umstandslose Unterordnung der analogen Kammern in den einzelnen Republiken protestierte. Man darf annehmen, dass auch die Repräsentanten der größten Republik in dieser Regelung eine Verletzung ihrer Souveränität erkannte. Gleiches galt für die Ukraine, deren Sprecher Skrypnyk die Belange der Mitgliedstaaten erneut mit besonderem Nachdruck vertrat. Offenbar sah er darin ebenso wenig einen Widerspruch zu seiner bolschewistischen Gesinnung wie der russische Kritiker N. V.Krylenko (der seine ideologische Zuverlässigkeit als Hauptankläger beim Revolutionären Militärtribunal im Bürgerkrieg tausendfach blutig bewiesen hatte). Die Partei- und Staatsführung war anderer Meinung. Sie verteidigte ihren Gesetzentwurf nicht nur, sondern sorgte auch dafür, dass öffentliche Debatten fortan unterblieben. Schon im Herbst 1924 verblasste der Föderalismus zum dekorativen Schein. Ernsthafte Versuche, ihn unter Nutzung der vorgesehenen Institutionen und Prozeduren zu verwirklichen, hat es danach nicht mehr gegeben.

Auch dieser Sieg der Zentrale lässt sich an symptomatischen Details ablesen. Die Verfassung wies das CIK an, seinen Sitzungsort im Turnus zwischen den Hauptstädten der Mitgliedsrepubliken zu wechseln. Tatsächlich kam es im März 1925 in Tiflis zusammen. Danach wurde die Bestimmung indes ohne hörbaren Protest missachtet. Wie selbstverständlich tagte man fortan, zudem immer seltener, in Moskau. Ähnlich bezeichnend war die Art und Weise, wie die meisten der neuen Unionskommissariate zustande kamen: Sie gingen, mit einem anderen Etikett versehen, aus den alten russischen hervor. Zumindest für die ausschließlichen Unions- und die «vereinigten» Kommissariate galt, dass sie die vorhandenen Apparate gleichsam requirierten und es der RSFSR überließen, neue aufzubauen. Damit wurde auch das qualifizierte Personal auf die Unionsebene transferiert. Der allrussische SNK verwandelte sich in die Kernressorts der Unionsregierung.

Zwei wichtige Konsequenzen dieses Verfahrens ergeben sich von selbst. Zum einen trug die Übernahme der alten Behörden maßgeblich zur fortgesetzten Dominanz des SNK bei. So wie die Konzentration der besten Köpfe im SNK nach dem Oktoberumsturz die Machtbalance zu seinen Gunsten hatte ausschlagen lassen, so führte die Möglichkeit, auf eine erprobte Verwaltung zurückgreifen zu können, auch in der neu gegründeten Sowjetunion zu einem unschätzbaren Handlungsvorteil. Dabei half der Umstand, dass die Leiter ebenfalls weitgehend dieselben blieben: Wer Volkskommissar der RSFSR war, hatte gute Chancen, zum Volkskommissar der Union aufzurücken. Schon deshalb hatte auch die enge personelle Verflechtung zwischen Partei- und Regierungsspitze Bestand. Mitglieder des SNK gehörten in der Regel zumindest dem ZK, die Inhaber von Schlüsselressorts auch dem Politbüro oder dem Kreis seiner Kandidaten an. Faktisch bestellte nicht das CIK, sondern die Parteiführung die Ministerriege, die deshalb vor allem ihr verantwortlich war, nicht dem CIK. Dieser Effekt trat umso eher ein, als die Verfassung dem SNK bezeichnenderweise ähnlich umfassende Rechte zugestand wie dem CIK. Er durfte Dekrete erlassen und Entscheidungen treffen, die ausdrücklich «auf dem gesamten Territorium der UdSSR» (Art. 38) galten. Dass dies im Rahmen der Kompetenzen geschehen sollte, die ihm das CIK übertrug, bedeutete nach Lage der Dinge keinerlei Einschränkung.[10]

Eine zweite Konsequenz bestand in der Festigung jenes ‹Bürokratismus›, gegen den die Opposition seit dem Ende des Bürgerkriegs Sturm lief. Dabei galt die Kontinuität für beide Hauptpunkte der Kritik. Zum einen behielten die zahlreichen «Spezialisten» Posten und Einfluss. Trotz des natürlichen, altersbedingten Rückgangs gaben noch 1927 27,8 % von ca. 963.000 befragten Mitgliedern der Gewerkschaft der Sowjet- und Handelsangestellten an, schon 1913 vergleichbaren öffentlichen oder privaten Tätigkeiten nachgegangen zu sein, davon allerdings nur 4,2 % (resp. 5,9 % der Mitarbeiter der Volkskommissariate) in zarisch-staatlichen Behörden selbst. Zum anderen blieben auch Veränderungen aus, die dem Schlendrian und autoritären Stil der Behörden hätten Einhalt gebieten können. Trotz RKI und wachsendem Unmut (auch bei der ‹Mehrheitsfraktion›, wie sich bald zeigen sollte) bewirkten nach wie vor zu viele Beamte zu wenig.

Manches deutet sogar darauf hin, dass die Missstände weiter um sich griffen, weil erst die Friedensjahre in breitem Maße Gelegenheit boten, reguläre Sowjetapparate auf lokaler und regionaler Ebene aufzubauen. Wie endlos die Reihe der neuen Amtsstuben war, zeigt schon ein Blick auf die Größe des Territoriums, das man in dieser Form reorganisieren wollte. So gab es in der gesamten UdSSR Anfang 1929 laut offiziellen Angaben 72.163 Dorfsowjets, die 123,5 Mio. Menschen betreuten, im Durchschnitt mithin jeder Einzelne ca. 1711. Ebenfalls im Mittel gehörten ihnen 18 Mitglieder an. Als Städte im engeren Sinne wurden zum selben Zeitpunkt 712 Orte registriert, darunter kleine Binnenhäfen und Verkehrsknotenpunkte ebenso wie Ballungsräume von Millionen. Hinzu kamen 415 Siedlungen verschiedenen Typs, in denen gleichfalls Stadtsowjets errichtet wurden. Dabei unterlag die Größe der städtischen Deputiertenversammlungen starken Schwankungen. Während sie in kleinen Ortschaften einige Dutzend kaum übertraf, erreichte sie in den Zentren tausend Deputierte und mehr (z.B. in Odessa 1360, in Baku 1327). Hinzu kamen besonders in den Städten mehrere, teilweise mitgliederstarke Kommissionen, die zu der insgesamt offenbar erheblich positiveren Tätigkeitsbilanz der Stadtsowjets beitrugen. Als temporär tagende Gremien bestimmten alle Räte ein Exekutivkomitee für die permanente Geschäftsführung und einen Vorsitzenden an dessen Spitze. Auf diese Weise kam eine erhebliche Anzahl von Personen zusammen, die in verschiedensten Funktionen an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten teilnahmen. Im Rückblick auf die ersten zehn Jahre des Sowjetstaates nannten offizielle Angaben (1928) 8,7 Mio. Personen in den Dorfsowjets, 800.000 in den Stadtsowjets, 9 Mio. in den höheren Sowjets sowohl der ländlichen als auch der städtischen administrativ-territorialen Pyramide bis zur Gouvernements- bzw. oblast’-Ebene sowie weitere 700.000 in den Exekutivkomitees dieser höheren Räte. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung von 1927 hätte damit jeder Neunte (11,4 %) einem dieser Organe angehört – eine Partizipationsquote, die selbst nach Abzug wahrscheinlich überaus zahlreicher Doppelzählungen noch erheblich bleibt.[11]

Nach den bloßen Daten zu urteilen, hätte man daraus auf einen Erfolg der revolutionären Staatsidee schließen können: Das Volk schien der Selbstverwaltung unter dem neuen Regime in der Tat nahegekommen zu sein. Im Vergleich zur Zarenzeit, als sich Elite und Experten ganz überwiegend aus dem Adel rekrutierten, wird man das auch nicht leugnen wollen. Ein Blick auf die Wirklichkeit hinter den Zahlen zwingt jedoch zu erheblichen Korrekturen. Zum einen fielen die Konsequenzen der sog. Regionalisierung ins Gewicht, die 1922 eingeleitet, aber erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre abgeschlossen wurde. Im Kern zielte diese Reform auf eine Straffung der Verwaltung durch Verringerung der territorialen Einheiten. Weniger Gremien sollten, schon weil es an qualifiziertem Personal und Geld fehlte, effektiver arbeiten. Hinzu kam die psychologisch sicher bedeutsame Absicht, nicht nur im Namen, sondern auch in der Sache die jahrhundertealte, zarische Verwaltungsgliederung zu überwinden. So ersetzte man, als nächste Ebene oberhalb des Dorfes, die volosti durch Rayons (rajon), die zu neuen Bezirken (okrug) als Nachfolger der alten Kreise (uezd) zusammengefasst wurden, die ihrerseits oblasti (Gebiete) oder krai (Gaue) entsprechend den früheren Gouvernements (gubernija) bildeten. Städte wurden in der Regel Bezirken (okrug) gleichgestellt, unterstanden also den oblasti direkt; größere Städte gliederten sich dabei in Stadtbezirke, ebenfalls Rayons (rajon) genannt. In der großen RSFSR entstand auf diese Weise eine vierstufige Verwaltungs- und Rätehierarchie (Dorf, Rayon, Bezirk, Gebiet), während die kleineren Unionsrepubliken mit einem oblast’ gleichgesetzt wurden und eine dreistufige Verwaltungs- und Rätehierarchie (Dorf, rajon, okrug) aufwiesen.

Freilich erzeugte diese Reorganisation zumindest auch einen anderen Effekt: dass vor allem die unteren Verwaltungsbezirke größer wurden und ihre Instanzen sich weiter von den Bewohnern entfernten.[12] Hinzu kam auf all diesen Ebenen die unveränderte Eigenart des Rätesystems, die Plenarversammlungen trotz aufwändiger Wahlen in kompetenzlose Alibiveranstaltungen zu verwandeln. Selbst in den kleinen und übersichtlichen Dorfräten konnten der Vorsitzende und das Exekutivkomitee in der Regel nach Belieben schalten und walten. Wo dies nicht der Fall war und ‹Eigenmächtigkeit› um sich griff (wie am ehesten in den Städten), brachten die entsprechenden Gremien der nächsthöheren Sowjets die untergebenen zur Raison. Darin rächte sich – oder zahlte sich im Sinne des Regimes aus –, dass die Räteverfassung hierarchisch aufgebaut war: Direkte Wahlen gab es, wie schon seit 1918 in der RSFSR, nur auf der untersten Ebene, d.h. zu den Dorf- oder Stadt- bzw. Stadtbezirkssowjets. Die jeweils übergeordneten Sowjets wurden von den nächstniederen durch Delegation aus ihrer Mitte gebildet. Man darf davon ausgehen, dass die Exekutivkomitees dabei durch Vorauswahl der Kandidaten den Ausschlag gaben. Was an Unwägbarkeit in Gestalt der Wahl übrig blieb, wurde gleichsam durch Monopolisierung beseitigt. Der ‹Apparat› machte sich höchstens selber Konkurrenz. Nicht die Räte befanden im Regelfall darüber, wer in ihrer Hierarchie aufstieg, sondern die jeweiligen Gremien derjenigen Organisation, die als einzige Kandidaten nominierte: der Partei. Die VKP (b), wie sie seit 1925 hieß, sorgte gleichsam für die ‹Eingabe› und kontrollierte das Resultat. Schon bei den Sowjetwahlen von 1927, erst recht zwei Jahre später, überließ sie nichts mehr dem Zufall. Auf Unionsebene begann ebenfalls die Reihe der Wahlergebnisse, die eine fast hundertprozentige Zustimmung auswiesen. Die Partei bestimmte Anfang und Ende der staatlichen Tätigkeit.

Deshalb verfehlte das Rezept, das die neuen Herren für die verschiedensten Erscheinungsformen des Übels bereithielten, auch in der Staatsverwaltung seine Wirkung. Nach wie vor sollten der Proletarier und sein Schicksalsbruder, der arme Bauer, den «Bürokratismus vertreiben», wie ein Redner vor dem russischen VCIK im November 1926 ausrief, und die Räte gleichsam zur Rückbesinnung auf ihre dienende Funktion bewegen. Immer noch kam niemandem in den Sinn, dass diese Helfer womöglich nicht nur eine gesunde Distanz zum Apparat mitbrachten, sondern auch schlichte Ignoranz. Ebenso gab niemand öffentlich seiner Befürchtung Ausdruck, gerade die Aufsteiger aus der Unterschicht könnten anfällig sein für die Versuchungen, die Ämter, Einfluss, Prestige und materieller Gewinn mit sich brachten. Vieles spricht für die Annahme, dass sie die Vorherrschaft der etablierten Gremien in der Tat stärkten und nicht verminderten. Andererseits blieb die Zahl dieser vydvižency relativ gering. Es war der gesamte Wandel im geistig-sozialen Profil der Partei und der von ihr beherrschten Räte, der sich in den beklagten Erscheinungen niederschlug. Insofern galt Trotzkis Befund ‹bürokratischer› Herrschaft auch für die Räte.[13]

Aus ihrem inneren Zusammenhang erklärt sich, dass die faktische Aushöhlung des Föderalismus auch die Nationalitätenpolitik untergrub. Den offiziellen Verlautbarungen zufolge stand diese im Zeichen einer Art von Kulturautonomie. Für die gesamtstaatlichen Fragen einschließlich der Verteidigung und aller Außenbeziehungen war die Union zuständig; innere Angelegenheiten sollten die nichtrussischen Republiken in erheblichem Maße eigenständig entscheiden. Man wird dieser korenizacija (Verwurzelung, Indigenisierung) auch eine gewisse Ernsthaftigkeit und erhebliche Erfolge nicht absprechen können. In ihrem Geist wurde das zarische Verbot der einheimischen Sprachen in Wort und Schrift endgültig aufgehoben, Unterricht in der Landessprache erteilt (wobei vor allem auf weiterführenden Schulen das Russische erhalten blieb), ein nationales Pressewesen begründet und das Schulwesen samt den meisten anderen kulturellen Aktivitäten den jeweiligen Regionalregierungen unterstellt. Erstmals fasste man die Dialekte von 48 kleineren Völkerschaften – bezeichnenderweise mit lateinischen, nicht kyrillischen Buchstaben – in schriftlicher, damit normativer Form zusammen. Fast überall führte man die Alphabetisierungskurse in der Muttersprache durch. In vielen Fällen festigten diese und ähnliche Maßnahmen das ‹indigene› Nationalbewusstsein, in manchen – wie im weißrussischen (wenn auch nicht ohne antipolnische Pointe) – schufen sie es nachgerade erst. Über die kulturelle Eigenständigkeit hinaus ließ das neue Regime zumindest den größeren ethnischen ‹Minderheiten› auch administrativ erheblichen Raum. Nicht nur die Regierungen und staatlichen Behörden, sondern auch die entscheidenden Parteigremien rekrutierten sich aus der lokalen Elite. Als Exempel dieser Politik galt in den zwanziger Jahren die Ukraine. Gewiss nicht ohne Erinnerung an die Freiheit der Revolutionsjahre achtete man hier in besonderem Maße auf eigene Konturen. Dabei mussten sich manche Ukrainer vor allem in den ‹klein- und großrussischen› Mischgebieten nach Jahrzehnten erzwungener Abstinenz erst wieder an ihre Muttersprache gewöhnen. Blau-gelb signalisierte nicht nur ‹Nationalität›, sondern auch Übereinstimmung mit der offiziellen Politik.[14]

Von dieser Politik profitierte nicht zuletzt die jüdische Minderheit, die in den Vorkriegsjahrzehnten unter einem zunehmend rabiaten Antisemitismus gelitten hatte. Wie die Februarregierung erlaubte ihnen das bolschewistische Regime, die Grenzen des «Ansiedlungsrayon» (dreizehn westliche Gouvernements von Litauen bis zum Schwarzen Meer) zu überschreiten und sich im ganzen Land niederzulassen. Auch alle übrigen, anders als in Mitteleuropa nie beseitigten rechtlichen Diskriminierungen wurden aufgehoben. Dass sich unter den Bolschewiki (wie unter den übrigen Revolutionären) auffallend viele Juden befanden, gab solchen Maßnahmen sicher einen kräftigen Impuls, sollte aber wegen der ungebrochenen großrussischen Dominanz in der Partei nicht überschätzt werden. Die Gleichberechtigung aller Minderheiten gehörte ebenso zum Sofortprogramm wie die Selbstbestimmung der Nationalitäten. Allerdings konnte sie eher als Teil der nachzuholenden demokratisch-liberalen Umwälzung gelten denn als genuin sozialistisch. Vor allem aber war ihre rechtliche Verankerung eine Sache, ihre Durchsetzung in der praktischen Politik und im Alltag eine andere.[15]

Indes erreichte diese ‹liberale› Nationalitätenpolitik, genau besehen, nicht mehr als eine Art Schwebezustand. Offensichtlich gab es von Anfang an Widerstand. Stalin stand kaum allein, als er Lenin mehr oder weniger offen widersprach. Es war kein Zufall, dass schon die ersten Äußerungen ‹republikanischen› Selbstbewusstseins im neuen CIK unbeachtet blieben und der Unionssowjet bald in Moskau eine feste Residenz bezog. Größere Bedeutung aber verdient der Umstand, dass Einheimische auch in der politischen Landesverwaltung normalerweise nicht über bestimmte Ebenen hinausgelangten und überdies eher in den unbedeutenden Staatsbehörden als in den entscheidenden Parteigremien vertreten waren. Selbstbestimmung blieb, soweit sie überhaupt Wirklichkeit wurde, auf die Sowjets und den kulturellen Bereich beschränkt. In den muslimischen Regionen Mittelasiens und der übrigen südöstlichen Peripherie kam hinzu, dass sich das großrussische Überlegenheitsgefühl in starkem Maße erhielt. Dem Sowjetsozialismus fiel es hier nicht schwer, unter neuen Parolen das Erbe imperialistischer Missionsgedanken anzutreten. Die korenizacija war zwar mehr als bloßes Dekor; aber in dem Maße, wie das Ende der Diadochenkämpfe eine neue, starke Zentralherrschaft festigte, lief ihre Zeit ab. Was immer die Opposition tatsächlich getan hätte – der reale Föderalismus verband sich mit ihrem Schicksal. So kam der frühen, von Stalin schon im April 1926 an das ukrainische Politbüro adressierten Warnung, die korenizacija nicht als «Kampf gegen Moskau» und «die Russen überhaupt» misszuverstehen, vorausweisende Bedeutung zu. Die alte Politik würde die neue sein. Nicht nur der baldige Führer brauchte sich dabei kaum zu ändern.[16]

Auf einem anderen Blatt steht, in welchem Maße sie diese Absicht verwirklichen konnte. Als Hüterin des sozialistischen Grals wollte sie nicht nur, wie jede moderne Partei, Reservoir der politischen, sondern auch der administrativen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Elite sein – und dies nicht komplementär zu anderen Organisationen, sondern allein. Wie sich zeigen sollte, bürdete sie sich damit eine Last auf, die ihr erhebliche Probleme bereitete. Unerlässlich war ein enormes quantitatives Wachstum ebenso wie eine deutliche Steigerung der fachlichen Qualifikation ihrer Mitglieder auf den verschiedensten Gebieten, von der allgemeinen Verwaltung über die Rechtsprechung und wissenschaftlich-technische Kompetenz bis zum Wirtschaftsmanagement. Beide Anforderungen blieben nicht ohne Auswirkung auf ihre Organisation und innere Struktur. Sie setzten aber, wie als weiteres Merkmal der Gesamtentwicklung festzuhalten ist, kein partizipatorisches oder gar demokratisch-pluralistisches Potential frei. Im Gegenteil, die bolschewistische Partei verteidigte nicht nur ihren äußeren, ideologisch untermauerten Alleinvertretungsanspruch, sondern bewahrte auch die oligarchisch-zentralistische Form der inneren Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Diese veränderte, in einer Art Kreisbewegung, nur ihr Gesicht: Nach Lenins Tod wich die persönlich-charismatische Führung einer apparatgestützt-kollektiven; als deren Exponent stieg Stalin zu den obersten Schalthebeln der Macht auf, um danach wie der Staatsgründer in zunehmendem Maße kraft seiner bloßen Person zu herrschen. So zeichnete sich die Partei in den zwanziger Jahren durch einen tiefgreifenden Wandel ebenso aus wie durch Kontinuität. Sie erneuerte sich personell von Grund auf, bewahrte aber ihre autoritäre innere Verfassung ebenso wie ihren ausschließlichen Machtanspruch. Mehr noch, als Korrektiv gegen die vermeintliche Verlangsamung des ‹sozialistischen Aufbaus› durch die NĖP glaubte sie sich in besonderem Maße zu Reinheit und Wachsamkeit verpflichtet. So gesehen bewahrte sie trotz des Personalwechsels ihre Identität und tat wenig, um die Spuren des Bürgerkriegs zu tilgen. Vor allem sie bildete die Klammer zwischen Bürgerkrieg und Stalinismus.

In den Jahren des Überlebenskampfes war die Partei ins Kraut geschossen. Je deutlicher sich das Kriegsglück den Bolschewiki zuneigte, desto größer wurde die Zahl derer, die ihre Zukunft aus Überzeugung oder Kalkül mit dem Sozialismus verbanden. Obgleich die Angaben gerade für die frühen Jahre widersprüchlich sind, steht das rapide Wachstum ebenso außer Frage wie die Meinung der führenden Bolschewiki, dass allzu viele ihr Herz für die Revolution entdeckt hätten. Der zehnte Parteitag beschloss daher als flankierende Maßnahme zur NĖP auch eine Überprüfung der eigenen Reihen. Mit dieser ersten «Säuberung» (čistka) begannen die gezielten Bemühungen um die Steuerung der Mitgliederzahl und -struktur. Im unangefochtenen Besitz der Macht brauchten die Bolschewiki nicht mehr jeden zu nehmen, der beitreten wollte. Sie konnten wählen und führten darüber mit Hilfe eines erweiterten Apparates auch genauer Buch. Die Ergebnisse beider Anstrengungen spiegeln sich in den Daten der Tabelle A–7/1 (im Anhang).[17]

Klar sind die Zäsuren und Probleme der Mitgliederentwicklung zu erkennen. Der Kehraus, den die Delegierten den eigenen Wählern verordneten, brachte knapp 160.000 Bolschewiki, immerhin fast ein Viertel aller registrierten, um ihre Mitgliedsausweise. Die Prüfkommissionen, die schon im Sommer 1921 in alle Gouvernements ausschwärmten, zeigten Courage. Sie erfüllten ihren Auftrag, die Partei vom Ballast zahlloser Trittbrettfahrer, Trunkenbolde und Provinzdespoten zu befreien, bemerkenswert gründlich. Keine der späteren analogen Maßnahmen, die unter Stalin zum Synonym für Willkür und Terror wurden, hat das ursprüngliche Ziel so konsequent verfolgt. Gemäß der Leninschen Mahnung, dass weniger mehr sein könne, suchte die Partei in höherer Qualität Kraft für die gewachsenen Aufgaben. Die Informationen über die Ausgeschlossenen zeigen nicht nur, dass die Leidtragenden vor allem unter den Bauern (44,8 %) und – in deutlich geringerem Maße – Angestellten (23,8 %) zu suchen waren, während die Arbeiter geschont wurden. Sie lassen auch erkennen, dass die meisten der Gemaßregelten erst kurz zuvor beigetreten waren und höhere Funktionen in den eigenen Reihen, der Armee oder anderen Organisationen übernommen hatten. Es lag mithin klar zutage, von wem sich die Parteiführung trennen wollte: von denen, die sie mit erneutem ideologischen Purismus als ‹klassenfremde›, nichtproletarische Aufsteiger und Karrieristen brandmarkte. Ex negativo spiegelte sich darin auch das Ideal, das ihr nach wie vor vorschwebte: die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein. Aus einer amorphen Massenorganisation sollte wieder eine Kaderorganisation werden, die Staat und Gesellschaft führen konnte, statt von ihnen aufgesogen zu werden. Zur Geschlossenheit gehörte dabei auch der Kampf gegen abweichende Meinungen. Es ist unklar, in welchem Maße die «Säuberung» von 1921 als Mittel zur Unterdrückung der Arbeiteropposition genutzt wurde. Alles spricht aber dafür, dass dies nur marginal der Fall war.[18]

Spätestens die «Scherenkrise» vom Sommer 1923 brachte zu Bewusstsein, dass die organisatorischen und ‹sozialen› Mängel der Partei mit der ersten «Reinigung» noch nicht behoben waren. Als beschäftigungslose Arbeiter ihre Unzufriedenheit erneut auf die Straße trugen, kamen alle prominenten Politiker zu der Auffassung, dass die Ursachen dafür auch in Defiziten der eigenen Organisation zu suchen seien. Aus ihrer Sicht verwiesen die Unruhen auf einen erheblichen Vertrauensverlust der Partei. Zur Abhilfe empfahlen alle Fraktionen ein und dasselbe: in großer Zahl neue Mitglieder aus der Arbeiterschaft zu rekrutieren. Dass die Linke zu diesem Heilmittel riet, konnte nicht verwundern. Sie blickte ohnehin mit Argwohn auf die bauernfreundliche NĖP und mahnte bei jeder Gelegenheit die besondere Sorge um die Bedürfnisse der Arbeiter an. Aber auch die ‹Troika› hatte gute Gründe, sich dieser Empfehlung anzuschließen. Kein Geringerer als Lenin hatte sie immer wieder ausgesprochen. Die Auffrischung der Partei durch ‹Arbeiterblut› ließ sich mit guten Gründen als sein vorrangiges Vermächtnis darstellen. Ob bei Stalins Zustimmung schon das Machtkalkül der Gefolgschaftssicherung im Spiele war, muss offen bleiben.

Jedenfalls beschloss die 13. Parteikonferenz im Januar 1924, 100.000 neue Mitglieder aufzunehmen. Wenige Tage später, nach Lenins Tod, konnte man sein Prestige nutzen, um der Werbung Nachdruck zu verleihen. «Arbeiter von der Werkbank, kernfeste Anhänger der proletarischen Revolution» wurden in einer landesweiten Kampagne aufgerufen, die Reihen der Avantgarde zu stärken. Der Erfolg blieb nicht aus. Bis zum Jahresende wuchs die Zahl der Parteimitglieder um 300.000 auf gut 770.000. Ganz überwiegend kam dieses «Leninaufgebot», wie man die Aktion taufte, tatsächlich aus der Arbeiterschaft. Deren Anteil stieg merklich von 44 % auf 56,7 %, am ausgeübten Beruf (und nicht der Herkunft) gemessen sogar von ca. 16–17 % Anfang 1924 auf 42 % im Mai desselben Jahres. Den Initiatoren war freilich bewusst, dass dieser Zustrom ambivalente Folgen haben konnte. Er stellte nicht nur die Integrationsfähigkeit der Partei auf eine harte Probe, sondern barg auch die Gefahr, dass jene Empörung eindrang, die sich im Vorjahr in Demonstrationen Luft gemacht hatte – von der Möglichkeit eines weiteren Qualifikationsverlusts nicht zu reden. Um diesen Risiken zu begegnen, wurden die Neulinge einer eingehenden Schulung unterworfen. In Kurzlehrgängen mussten etwa drei Viertel von ihnen ein politisch angereichertes ABC (politgramota) lernen. Parallel zur gesamten Kampagne führte man außerdem eine neue «Säuberung» durch. Die Kommissionen überprüften bis Ende 1925 ca. 23 % der Parteimitglieder (230.000), von denen 17 % bestraft wurden. Die Art der Verfehlungen, im Wesentlichen «nichtkommunistisches Betragen» und Tatenlosigkeit, sowie der geringe Anteil von Ausschlüssen (2,7 %) zeigen an, dass man sich dabei eher um die Hebung von Disziplin und Kompetenz als um die Durchsetzung der offiziellen Politik bemühte. Dennoch ließen die Kontrolleure die Opposition nicht ungeschoren. Deren Hochburgen, vor allem in Moskau, wurden gezielt geschleift. Auch manche Neulinge fielen der Revision zum Opfer; gut 11 % traten in den folgenden Jahren wieder aus.

Aber nicht primär aus diesem Grunde sah sich die Parteiführung veranlasst, die Mitgliederwerbung wenige Jahre später zu wiederholen. Anlass dazu gab vor allem die hohe Zahl der Beitritte von Bauern. Dies entsprach eigentlich dem Geist der offiziellen Politik. Auf dem Höhepunkt der smyčka lag es nahe, dass sich die Bauern ermuntert fühlten, der Partei anzugehören, die um sie warb. Doch was allgemeinpolitisch opportun schien, galt noch lange nicht für die Partei selbst; und was 1925–1926 erwünscht war, geriet schon ein Jahr später, als sich die Wende zur forcierten planwirtschaftlichen Industrialisierung abzeichnete, in Misskredit. So antwortete der Beschluss, aus Anlass des zehnjährigen Revolutionsjubiläums im Oktober 1927 eine neue Kampagne an den Werkbänken durchzuführen, nicht nur auf vorhandene Missstände. Er setzte diesmal auch ein deutliches Signal für die nächste Zukunft.

Auch diese Aktion war erfolgreich. Von Anfang Oktober 1927 bis Ende März 1928 gewann die VKP (b) 151.000 neue Mitglieder, davon 71 % ‹wirkliche› Proletarier und sonstige Angehörige der nichtbäuerlichen Unterschichten. Die Gesamtzahl der Parteiangehörigen bewegte sich nun auf 1,5 Mio. zu, der Arbeiteranteil stieg abermals deutlich auf bald 62,4 % an. Die Partei war weniger denn je die alte. Sie hatte an der Basis vollständiger als von außen sichtbar ihr Personal ausgetauscht. Nichts belegt dies klarer als Daten über die Länge der Mitgliedschaft (Parteialter), die noch vor Abschluss des «Oktoberaufgebots» von 1927 erhoben wurden. Nur noch 0,8 % der damaligen Bolschewiki waren ihrer Organisation vor 1917 beigetreten, 2,6 % im Revolutionsjahr, 19,6 % im Bürgerkrieg (1918–1920), 5,7 % bis 1923, aber 71,1 % zwischen 1924 und Januar 1927. Dennoch bewirkte auch diese Kampagne keine nachhaltige Proletarisierung im beabsichtigten Sinn. Die eingeworbenen ‹Arbeiter› entfernten sich schnell von der Werkbank. Wie ihre Vorgänger fanden sie im Partei- und Staatsapparat, in der Wirtschaft und vor allem in den Gewerkschaften neue Tätigkeiten; auch sie wurden zu ‹Bürokraten›. Dies aber schmerzte die Parteiführung 1927 nicht mehr. Sie mochte sich mit anderen Resultaten des Identitätswechsels trösten: nicht nur der Ausmerzung der aktuellen Opposition, sondern auch der weitgehenden Austrocknung des Reservoirs für künftigen Dissens durch den Zustrom aufstiegswilliger, großenteils handverlesener junger Mitglieder, die wenig Interesse an theoretischen Fragen hatten. Die beiden Spitzen der Parteialterskurve markierten sehr genau, welche Generationen nunmehr den Ton angaben: die Bürgerkriegshelden und die vydvižency der jüngsten Zeit. Sie aber waren Stalins Kohorten, als Führungskader die Ersten, als Gefolgschaft die Letzten.[19]

Es versteht sich, dass mit der Aufgabenvielfalt und Mitgliederzahl auch die Organisation der Partei wachsen musste. Der Umbau begann mit dem achten Parteitag im März 1919. In der Erkenntnis, dass die Partei nicht mehr in das «Notizbuch» Sverdlovs passte, verabschiedeten die Delegierten ein neues Statut und Regelungen zur Erweiterung vor allem der zentralen Gremien. Als Sverdlov wenige Tage später unerwartet starb, entstand auch dringender Handlungsbedarf. Das ZK, von 15 (und 7 Kandidaten) auf 19 Mitglieder (und 9 Kandidaten) erweitert, wählte aus seinen Reihen ein Politbüro mit fünf Mitgliedern und drei Kandidaten sowie ein Organisationsbüro und ein Sekretariat. Das Politbüro avancierte schnell – und auf Dauer – zum eigentlichen Führungsgremium, das (mit Ausnahme der hohen Zeit der Stalin-Diktatur) häufig tagte und eine erhebliche Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit bewies. Auch das Sekretariat erwies sich, formal gesehen, als gelungene Schöpfung. Es zog alle wichtigen administrativen Tätigkeiten an sich, baute schnell einen umfangreichen Mitarbeiterstab auf und behob den ärgsten Defekt: Dank der militärischen Wende vermochte es bis Jahresende regelmäßige Kontakte zu gut 90 % der Kreiskomitees herzustellen. Lediglich das Organisationsbüro, dessen Kompetenzen unklar waren, erfüllte die Erwartungen nicht.

Bei alledem blieben natürlich Mängel. Chaos und Zerstörung waren auch nach dem Ende des Bürgerkriegs viel zu groß und das Territorium schon in den Grenzen der alten RSFSR viel zu ausgedehnt, als dass überall reguläre Organe hätten gebildet und eine regelmäßige Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie hätte etabliert werden können. Das wichtigste Ressort im Sekretariat, zuständig für die «Registration» und «Verteilung» des Personals (Učraspred), entfaltete zwar viel Aktivität. Auch die Agitations- und Propagandaabteilung (Agitprop) bemühte sich nach Kräften nicht nur um die Verbreitung bolschewistischer Ideologie, sondern auch um elementare Allgemeinschulung ihrer Funktionsträger. Desgleichen gelang es, das Netz der örtlichen Zellen vor allem durch die Gründung von Kreis (uezd), volost’- und Dorfkomitees deutlich zu erweitern. Zählte man am Tage des Oktoberumsturzes 334 Stadtkomitees in 24 Gouvernements, so bestanden Ende 1918.350 Kreiskomitees in 48 Gouvernements und bei der ersten umfassenden Bestandsaufnahme Anfang 1922 in 95 Gouvernements, oblasti und nationalen Republiken 734 Kreiskomitees, 13.994 registrierte städtische sowie 18.287 ländliche Zellen (ohne volost’-Komitees). Dennoch sah die Parteiführung keinen Grund zur Zufriedenheit. Über die Fraktionsgrenzen hinweg war man sich darin einig, dass sowohl die Tätigkeit vor Ort als auch die Kommunikation zwischen den Organisationsebenen viel zu wünschen übrig ließen. Allerdings machte man dafür sehr verschiedene Ursachen verantwortlich: Dirigismus und Gängelung seitens des Sekretariats die einen, Mangel an Kontrolle, Schulung und ‹Zivilisation› die anderen. Weder die einen noch die anderen erkannten in der bestehenden RKP (b) bereits die Kaderpartei, die beide anstrebten.[20]

Schon aus diesen Gründen hielten die Bemühungen um eine Reform der Parteiorganisation an. Dabei glitten sie immer stärker in autoritäres Fahrwasser. In dem Maße, wie die Opposition ins Hintertreffen geriet, erfolgten Veränderungen nur noch auf Anweisung von oben. Effizienz wurde mit Kontrolle und Fügsamkeit verwechselt. Vom «demokratischen Zentralismus», den das Parteistatut von 1919 als Grundprinzip bestätigt hatte, blieb in Wirklichkeit endgültig nur das Substantiv übrig. Vor allem zwei Entwicklungen, die Ursache und Folge der politischen Richtungskämpfe zugleich waren, trugen dazu bei: zum einen die Entmachtung der direkt gewählten Repräsentativgremien auf allen Parteiebenen einschließlich der höchsten bei gleichzeitiger Konzentration der Macht in den auxiliären «Büros» der «Sekretäre»; zum anderen der weitere organisatorische Ausbau unter Heranziehung einer neuen, zunehmend von oben ernannten Generation von Funktionsträgern.

Die – schon eingeleitete – Erweiterung des ZK erhielt vor allem durch die erwähnten letzten Schriften Lenins einen kräftigen Impuls. Stalin beeilte sich, das sakrosankte Vermächtnis des großen Führers zu erfüllen und es dabei für seine Zwecke zu nutzen. Anders als Trotzki wusste er, dass die Arbeitsfähigkeit von Gremien in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Größe zu stehen pflegt. Er beließ es deshalb nicht bei der angemahnten einmaligen Aufstockung des ZK-Personals, sondern wiederholte sie mehrfach (vgl. Tabelle A–7/1). Auch aufgrund dieser Entwicklung büßte das ZK, ähnlich wie die Exekutivkomitees der Sowjets, seine formal höchste Macht zwischen den Parteitagen mehr und mehr ein. Die Entscheidungen verlagerten sich ins Politbüro und von dort ins Sekretariat mitsamt dem reformierten Organisationsbüro. Zweifellos lag hier der Schlüssel zu Stalins Aufstieg. Nicht nur gelang es ihm, vom elften Parteitag im April 1922 mit dem neu geschaffenen Amt eines Generalsekretärs betraut zu werden und damit an die Spitze des Apparates aufzurücken. Was ihn dafür qualifizierte, bleibt im Einzelnen unklar, vielleicht eben jene Stellung im zweiten Glied der ersten Garde, die ihm alle einstigen Mitstreiter bescheinigten: Als Mitglied des ZK seit 1912 gehörte er zwar zu den ‹alten› und führenden Genossen, hatte aber stets im Schatten der eigentlichen Prominenz gestanden. Er war – auch in Lenins Augen, der seine Wahl unterstützte – ein Mann für wichtige Aufgaben, aber im Hintergrund. Kaum weniger fiel ins Gewicht, dass er von Anfang an Vertraute zu gewinnen und ihnen einflussreiche Funktionen in seiner Umgebung zu übertragen vermochte. Die meisten dieser Gefolgsleute waren ihm bis zur Unterwerfung ergeben und blieben erstaunlich loyal.

Im Nachhinein hat deshalb ein personelles Revirement große Aufmerksamkeit gefunden, das schon früh eine Vorahnung von seiner Kunst der Klientelbildung und ihres politischen Einsatzes gab. Der neunte Parteitag hatte 1920 neben Rykov und Stalin drei intellektuelle Revolutionäre alten Schlags ins Organisationsbüro berufen, die Trotzki nahestanden. Sie bildeten zugleich das Sekretariat, das sie mithin allein beherrschten. Alle drei wurden aber vom nächsten Parteitag, dem zehnten vom März 1921, in diesen Ämtern nicht mehr bestätigt. An ihre Stelle traten drei Anhänger Stalins, allen voran Molotov, dessen steile, skrupellose und lange Karriere nun begann. Zugleich übernahmen die drei Neuen auch das Sekretariat. Als Stalin zum Generalsekretär avancierte, behielt er Molotov als seine rechte Hand und zog Kujbyšev als weiteren langjährigen Schildknappen nach sich. Beiden sicherte er außerdem einen Platz im Organisationsbüro. Er selbst reservierte sich dabei nicht nur die Oberaufsicht, sondern auch den Kenntnisvorsprung, den er zu ihrer tatsächlichen Wahrnehmung brauchte: Als Einziger gehörte er allen drei obersten Parteigremien, dem Politbüro, dem Organisationsbüro und dem Sekretariat, an. In dem Maße, in dem er die Rivalen an die Wand drückte, vermochte er seine eigenen Leute in höchste Organe zu bringen. Der Aufstieg Molotovs, Kalinins, der ebenfalls aus dem Organisationsbüro kam, und Vorošilovs auf dem 14. Parteitag 1925 ins Politbüro war symptomatisch dafür. Zwei Jahre später wählte der 15. Parteitag nach dem Bann über die Vereinigte Opposition ein Führungsgremium, in dem die künftigen Gegner der gewaltsamen Kollektivierung von vornherein wenig Chancen hatten.[21]

Diesem dramatischen Wandel auf höchster Ebene entsprachen Veränderungen im übrigen Apparat. Von entscheidender Bedeutung war dabei Stalins Sekretariat, insbesondere die Personalabteilung; diese wurde unterstützt von der Organisationsabteilung (Orgotdel), die nach erheblichen Anfangsproblemen unter der Leitung von Kaganovič eine bemerkenswerte Aktivität entfaltete. Während Orgotdel Instruktoren durchs Land schickte, Informationen über die Komitees sammelte und die Tätigkeit vor Ort – mit welchem Erfolg auch immer – zu überwachen suchte, traf Učraspred viele wichtige Personalentscheidungen. Beider Zuständigkeiten waren aber nie recht voneinander zu trennen, so dass die Abteilungen 1924 zur Orgraspred zusammengeschlossen wurden. Gewiss überforderte die Masse der zu verteilenden Kader den anfangs noch recht kleinen Stab. Während der Demobilisierung nach dem Bürgerkrieg wurden bis zu sechzig Fälle pro Tag bearbeitet. Und auch in den folgenden Jahren verminderte sich das Entscheidungsvolumen kaum: Zwischen dem elften und 14. Parteitag (1922–1925) verteilte man insgesamt 28.716 hauptberufliche Mitarbeiter über das Land, davon 18.726 in verantwortliche Positionen. Wohl meinte die Abteilung selber nicht ohne Grund, fast die Hälfte aller Gouvernementssekretäre müssten wegen Unfähigkeit abgelöst werden. Sicher sollte man auch die Funktionstüchtigkeit der Parteiorganisation ebenso wenig überschätzen, wie das Gewicht lokaler Gegebenheiten und Belange außer Acht gelassen werden darf. Dennoch vermag die These nach wie vor zu überzeugen, dass Stalin über Orgraspred Einfluss auf alle wichtigen Lokalkomitees zu nehmen und ein dichtes Netz persönlicher Loyalitäten zu knüpfen vermochte. Auf diese Weise häufte er nicht eigentlich ‹bürokratische› Macht in einem sinnvollen Wortgebrauch, sondern höchst traditionelle personale, dennoch konkurrenzlose Macht an.[22]

Dabei half der weitere Ausbau des Parteiapparates. Allem Anschein nach wurde das Kernproblem für alle russischen Parteien, ihre Komitees auch in die endlose Provinz auszudehnen, besser gelöst als zuvor, wenn auch nicht ohne bleibende Defekte. Den Werbekampagnen entsprechend beherzigte das Sekretariat zudem die Lehren der Streiks von 1923 und achtete auf die Einbindung der ‹proletarischen Masse›. Zwischen 1924 und 1928 wuchs die Gesamtzahl der Parteizellen um mehr als 60 % von 28.785 auf 46.433. Nach Zellentypen aufgeschlüsselt, vermehrten sich dabei die bolschewistischen Komitees in Industriebetrieben und Einrichtungen des Transportwesens deutlich überproportional um mehr als 214 % bzw. sogar 258 %. Zugleich fällt auf, dass vergleichbare Anstrengungen auf dem Dorf ausblieben. Die ohnehin relativ geringe Zahl ländlicher Organisationen wuchs auch in diesen Jahren weitgehender politischer Konzessionen an die Bauern nur langsam. Wie zu zeigen sein wird, kommt diesem Sachverhalt für das Verständnis der Entscheidung zur Zwangskollektivierung zentrale Bedeutung zu.

Alle drei Kennzeichen der organisatorischen Entwicklung der Partei – die Expansion des Zellennetzes bei paralleler Regularisierung, die zentrale Ernennung der mitwachsenden Sekretärsschicht und die Werbung um neue Mitglieder vornehmlich aus der Arbeiterschaft – fanden den gewünschten Niederschlag im sozialen Profil ihrer Funktionsträger. Von Interesse sind dabei vor allem die soziale Herkunft und das ‹Parteialter›. Für die verschiedenen Ebenen der Parteihierarchie und die beiden wesentlichen Formen der Teilnahme – hauptamtlich und permanent zumeist in der Verwaltung oder ehrenamtlich in den konstitutiven Gremien – ergab sich gegen Ende der NĖP etwa folgendes Bild: Die Masse der Abgeordneten in den Vollversammlungen (vom Stadtbezirks- und Dorfkomitee bis zum Gouvernements- bzw. oblast’-Komitee) stammte aus der Arbeiterschaft (63 %); Bauern waren (im Vergleich zur Bevölkerungsstruktur insgesamt) deutlich unter- (14 %), Angestellte eher überrepräsentiert (23 %). Auf den niederen Ebenen setzte sich die bloße Überzahl der jeweils dominanten sozialen Schichten in besonderem Maße durch. So gaben Bauern in den untersten Landkomitees und Arbeiter in den Stadtbezirkskomitees den Ton an. Die Selektion auf den höheren Ebenen erfolgte zum einen nach Bildungsgrad und allgemeiner Qualifikation, was den Angestellten zu einem bezeichnenden Übergewicht verhalf. Hinzu kam eine Korrelation zum Parteialter. Dabei stellten aber nicht mehr die ‹Altbolschewiken› aus zarischen Tagen den Kern der Delegierten der höheren Plenargremien, sondern die Konvertiten des Revolutionsjahrs und der Bürgerkriegszeit (35,6 % bzw. 30,8 %). Ganz ähnliche Merkmale ergeben sich für die Parteisekretäre, die eigentlichen apparatčiki. Mehr als die Hälfte (51,3 %) der Gebiets (oblast’)- und Gouvernementssekretäre stammte aus der Angestelltenschaft, etwas weniger aus der Arbeiterschaft (48,7 %), keiner aus der Bauernschaft. Unter den Zellensekretären auf der untersten Ebene dagegen machten die Angestellten nur ein knappes Fünftel aus und besaßen selbst die Arbeiter nur ein geringes Übergewicht über die Bauern (40,8 % zu 39,7 %). Mehr als drei Viertel der Gebiets- und Gouvernementssekretäre waren der Partei vor 1916 beigetreten, weitere 12,8 % 1917. Dagegen wurden die Bezirkskomitees (okrug) zu knapp zwei Dritteln von den Neumitgliedern der Jahre 1917–1919 geführt, die Kreiskomitees überwiegend von denen der Bürgerkriegszeit.

Die Aussage solcher Befunde liegt auf der Hand: Die Partei vergrößerte und verjüngte sich; eine neue Generation suchte die Aufstiegschancen zu nutzen, die im Monopol der Bolschewiki gründeten; an der Spitze dominierten, neben einigen altgedienten Revolutionären, die ‹Veteranen› der ‹heroischen›, d.h. der Bürgerkriegszeit; aber schon auf den mittleren Etagen wurde sichtbar, dass die Neulinge aus der Arbeiterschaft nachdrängten, die diese Herkunft abgestreift und administrative Funktionen übernommen hatten. Sie wurden von den höheren Parteisekretariaten bis hinauf zum Zentralsekretariat ausgewählt; sie verdankten ihre Ämter und Privilegien Stalin und seinen Mannen; auf sie konnte sich der Generalsekretär verlassen, wenn er nicht grob gegen ihre Wünsche und Ideale verstieß.

Umso größeres Interesse verdient die Frage, ob der personelle und strukturelle Wandel wenigstens die Fähigkeit der Partei verbesserte, ihrem Führungsanspruch in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht zu werden. Zu Beginn der NĖP reichten ihre Ressourcen fraglos nicht aus. Nur verschwindende 0,6 % der 1922 registrierten Bolschewiki hatten eine Hochschule, nur 6,3 % ein Gymnasium oder eine vergleichbare Einrichtung besucht; der große Rest war über die Elementarschule nicht hinausgekommen oder sogar Analphabet (4,6 %) geblieben. Ein günstigeres Bild ergab sich für die Führungskader. In den zentralen Komitees und denen der oblasti verfügten immerhin 30 % der Genossen über eine höhere und 23,8 % über eine mittlere Bildung, in den entsprechenden Organen der Gouvernements 28,5 % bzw. 37,9 %. Auch dies war freilich für eine Partei, die eine Ordnung neuen Typs aufbauen wollte, nicht genug. Selbst um die elementare politische Information der Parteimitglieder stand es nicht besser. Entsprechende Erhebungen brachten eine erschreckende Ignoranz an den Tag. In neun durchaus nicht abgelegenen Gouvernements musste über die Hälfte der Befragten in die unterste von drei Kategorien, als «politische Analphabeten», eingestuft werden.[23]

So nimmt es nicht wunder, dass die Bolschewiki große Mühe hatten, in die Führungsetagen des eigenen neuen Gemeinwesens vorzudringen. In den beiden wichtigsten Bereichen, der Staatsverwaltung und der Wirtschaftsleitung, wahrten die ‹bürgerlichen Spezialisten› ihren numerischen Vorrang noch geraume Zeit. Eine Erhebung unter dem Personal aller Volkskommissariate der RSFSR ergab Ende 1922, dass bloße 4,2 % der einfachen Angestellten und 5,1 % der Spezialisten in den mittleren Rängen der RKP (b) angehörten. Lediglich die Leitungspositionen hatten die Bolschewiki zu einem größeren Teil übernehmen können (13,2 %), so dass sich Zweifel an ihrem tatsächlichen Einfluss auf die Arbeitsweise der Behörden aufdrängen. Nicht besser stand es um die bolschewistische Stellung im Wirtschaftsmanagement. Unter 775 Angestellten des Obersten Wirtschaftsrates fanden sich nur 4,3 % Bolschewiki. Naturgemäß änderte sich diese Relation in den folgenden Jahren. Mit der Festigung ihrer Herrschaft und dem Neuaufbau konnten die Bolschewiki auch ihre Präsenz in der administrativ-technischen Elite des Landes stärken. Anfang 1924 ergab eine Enquête bei den 88 größten (Staats-)Unternehmen, dass 91 % der Direktoren der RKP (b) beigetreten waren, während sich nur 7,5 % der Angestellten dazu entschlossen hatten. Dennoch fiel das Gesamtfazit noch einige Jahre mindestens ambivalent aus. Zum einen zeigen die Umfragen auch, dass die Partei schon unter den stellvertretenden Direktoren, bei denen vielfach die eigentliche Sachkompetenz lag, deutlich weniger Anhänger besaß und ihr Einfluss im proportionalen Verhältnis zur Beschäftigtenzahl sank. Zum anderen blieb die formale Bildung ihrer Mitglieder als Indikator allgemeiner Qualifikation gering. Noch 1927 verfügten fast zwei Drittel aller Bolschewiki nur über schulische Elementarkenntnisse; die Quote der Hochschulabsolventen kam über 0,8 % nicht hinaus. Selbst wenn sich in der großen Rubrik der «Autodidakten» gelegentlich eine hohe Qualifikation verbarg, dürfte gerade die forcierte Werbung um den ‹echten Proletarier› eine breite Anhebung des durchschnittlichen Niveaus verhindert haben. Dies war umso eher der Fall, als den vydvižency in aller Regel umgehend administrative Tätigkeiten zugewiesen wurden, die ihnen keine Zeit zur Weiterbildung ließen. Dem entsprach der Befund, dass die Bolschewiki auch gegen Ende der NĖP noch weit von einer tatsächlichen Übernahme des Wirtschaftsmanagements entfernt waren. Nach wie vor hatten ‹bürgerliche› Spezialisten die meisten Führungspositionen inne, vor allem die Funktionen, die tatsächlich organisatorisches und technisches Fachwissen erforderten. Nur 16,8 % des gehobenen Personals bekannten sich 1929, als es längst gefährlich geworden war, abseits zu stehen, zur VKP (b). Zugleich galt auch hier, dass sich die Kader in der obersten Leitung konzentrierten: Unter den Betriebsdirektoren fanden sich bis zu 90 % Parteimitglieder.

Mithin drängt sich der Schluss auf, dass die Bolschewiki gegen Ende der NĖP zwar Fortschritte erzielt hatten, aber nach Maßgabe ihrer Ziele nicht weit genug gekommen waren. Sie vermochten die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu diktieren, verfügten aber noch nicht über genügend Kompetenz, um die «Spezialisten» aus alten Tagen weitgehend ersetzen zu können. Zweifellos schlug die Massenrekrutierung seit 1924 breite Trassen für den sozialen Aufstieg. Vor allem den städtischen Unterschichten eröffneten sich größere Chancen als je zuvor. Eben diese Mobilisierung brachte jedoch auch erhebliche Nachteile bei der Verwirklichung des Führungsanspruchs mit sich: Lenins ‹Köchin› rückte in Positionen auf, von denen sie vor der Revolution nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Aber sie brachte nicht die Kenntnisse mit, die sie eigentlich gebraucht hätte. Schon deshalb vermag das Argument zu überzeugen, dass die administrativ-technische Elite nach wie vor in erheblichem Maße eigene Belange verfolgte. So wie sie sich einem gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess verdankte, der längst vor 1917 begonnen hatte, so bewahrte sie auch in der frühen Sowjetzeit eine nicht unerhebliche Selbständigkeit. Wohl näherten sich die Interessen beider im Zuge des Generationswechsels an. Aber von einer Identität konnte ebenso wenig die Rede sein wie von der vollständigen Unterwerfung der Qualifikation unter die Macht. Beide Probleme, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die ‹Sperrigkeit› der Inhaber unverzichtbarer Qualifikation, bereiteten – im Verein mit weiteren Faktoren, darunter nicht zuletzt mentalen – den Boden für eine wachsende Bereitschaft im höchsten Führungskreis der Partei, den Knoten mit Gewalt zu durchtrennen. Dabei nahm man in Kauf, dass willkürliche Haftstrafen und Hinrichtungen, die mit dem sog. Šachty-Prozess gegen Bergwerksingenieure im Frühjahr 1928 begannen, nur Schaden anrichteten und das Problem nicht lösten. Es gehörte zum Wesen der neuen Politik, dass sie sich pragmatischen Bedenken und der Rücksichtnahme auf die Realität völlig entzog.[24]

Die Rote Armee Zu den zündenden Parolen der Bolschewiki im Sommer und Herbst 1917 gehörte der Ruf nach konsequenter Demokratisierung der Armee. Was die Februarregierung nur begonnen hatte, sollte zu Ende geführt werden. Kein Geringerer als Lenin hatte in Staat und Revolution begründet, warum dem Sozialismus – ebenfalls nach dem Vorbild der Pariser Commune und in Anlehnung an die Französische Revolution – eine wesensmäßig neue Armee angemessen sei. Das «Volk in Waffen» war das naheliegende Ideal der künftigen Streitmacht, allerdings mit einem anderen ‹Klasseninhalt›: Die Arbeitermiliz sollte an die Stelle der Bürgerwehr treten. Indes zerstoben solche Vorstellungen noch schneller als analoge basisdemokratische Träume von der Arbeiterherrschaft durch die Sowjets. Die Rote Armee war ein Geschöpf des Bürgerkriegs, der sie in ähnlicher Weise formte wie die Organisation der Staatsverwaltung oder der Wirtschaft. Im Juli 1918 stimmte der fünfte Rätekongress der Wiedereinführung der Dienstpflicht, der Verankerung einer Befehlshierarchie, dem Einsatz von «Militärspezialisten», der Erneuerung der Todesstrafe und anderen Maßnahmen zu, die auch der Armee zu dem verhelfen sollten, was überall zum obersten Gebot avancierte: Leistung und Effizienz. Die Delegierten erleichterten sich und anderen die Umkehr dadurch, dass sie zugleich eine Art Schutz- und Kontrollinstanz gegen eine mögliche «konterrevolutionäre» Entartung der Reformen bestätigten. Die Institution der politischen Kommissare reichte noch bis in die ersten Tage der Februarordnung zurück. Anfangs hatte sie der Aufgabe gedient, den Frontsoldaten zu erklären, was in Petrograd vorgefallen war, danach der Erläuterung der Politik der Provisorischen Regierung. Spätestens seit April 1918 entdeckte die Sowjetmacht den großen propagandistisch-psychologischen Nutzen, den sie barg, und baute sie systematisch zur Repräsentation der Partei und des Staates in der Armee aus. Jedem militärischen Kommandeur stand ein «Politkommissar» zur Seite, der ihn weniger beraten als beaufsichtigen sollte. Insofern galt in der Armee nicht das Prinzip rein vertikaler und tendenziell isolierter «Einmannleitung», sondern eine «doppelte Führung», die äußere Einflussnahme zuließ.

Dennoch blieben die Vorbehalte der Partei gegen den offenen Bruch der Versprechen von gestern groß. Der Konflikt zwischen Pragmatikern und Ideologen fand nicht zuletzt im militärischen Bereich reichlich Zündstoff. Zwar vermochte sich Trotzki faktisch weitgehend durchzusetzen. Vor allem er wurde zum Vorkämpfer der neuen hierarchischen Zwangsanstalt. Er warb um die alten Offiziere, verschaffte ihnen einflussreiche Funktionen und sorgte durch drakonische Disziplinarmaßnahmen dafür, dass dieselben Soldaten ihren Anweisungen widerspruchslos Folge leisteten, die sie eben noch davongejagt hatten. Entsprechend schnell wuchs die Zahl der zarischen Experten; Ende 1918 gab man sie mit 22.295 früheren Offizieren und 128.168 einstigen Unteroffizieren an. Aber die Gegenidee einer völlig anderen Armee bewahrte ihre Anziehungskraft. Sie verschmolz mit paralleler Kritik am Aufbau von Staat und Wirtschaft. Was die «Linken Kommunisten» und «Demokratischen Zentralisten» forderten, hatte ein Pendant in den Vorwürfen und Gedanken der «Militäropposition», die sich Anfang 1919 zu Wort meldete. Allerdings war nicht nur sachlicher Dissens im Spiel. Der Unmut richtete sich auch gegen den Verteidigungskommissar als Person, dessen brüske Art verletzte und der noch keine Erfolge vorweisen konnte, die ihn unangreifbar gemacht hätten.[25]

Eine erste Grundsatzdebatte wurde auf dem achten Parteitag im März 1919 geführt. Überwiegend im kleinen Kreis der «Militärsektion» stritt man über das Für und Wider beider Konzeptionen. Wie zu jener Zeit nicht anders zu erwarten, behielt Trotzki – mit Unterstützung Lenins – die Oberhand. Die einschlägige Resolution geißelte die Forderung nach einer Miliz als pseudorevolutionäre Phrasendrescherei und bestätigte den status quo einschließlich der ausdrücklichen Erlaubnis zur weiteren Anwerbung von Offizieren der zarischen Armee. Zugleich kam die Entschließung aber auch der Opposition entgegen. Sie betonte die Notwendigkeit strenger ideologischer Aufsicht durch die politischen Offiziere und griff die Formulierung Trotzkis auf, die aktuelle Armee trage alle Merkmale des «Übergangs». Damit lehnte der Parteitag die Idee der Miliz nicht grundsätzlich ab, sondern vertagte die endgültige Entscheidung auf das Ende des Bürgerkriegs.[26]

So konnte es nicht ausbleiben, dass sich der erste Friedensparteitag im März 1921 auch mit dem Armeeproblem befasste. Der Übergang zur Normalität musste bewältigt, eine millionenstarke Armee ohne soziale Härten und katastrophale Wirtschaftsfolgen demobilisiert werden. Dies setzte eine Grundsatzentscheidung darüber voraus, wie die bewaffnete Gewalt im sozialistischen Staat künftig aussehen sollte. Die Meinungen dazu waren im Kern unverändert. Für die völlige Liquidierung der Roten Armee und den Übergang zu einer reinen Miliz votierte N. I. Podvojskij, einer der Organisatoren des Oktobercoups und langjähriger «Militäragitator» der Partei. Zugunsten der Beibehaltung der Armee, hierarchisch und verpflichtend, wie sie war, warb Smilga, der die politische Abteilung im Militärkommissariat leitete und als Kopf der Kommissare gleichsam die militärische Parteiintelligenz repräsentierte. Neu hinzu kam eine Gruppe, die zwischen beiden stand und in starkem Maße von ihrer Abneigung gegen Trotzki lebte. Sie favorisierte einen deutlich «revolutionären» Zuschnitt der Armee, ohne sich auf ein reines Milizsystem festzulegen. Sie verband dies mit der Forderung nach einer einheitlichen militärischen Leitung; die Gesinnungskontrolle durch den politischen Kommissar schien ihr nicht nur dysfunktional, sondern auch obsolet geworden zu sein. Sie sprach in der Person von Frunze, Vorošilov, Budënnyj, Tuchačevskij oder S. I. Gusev für die erste Generation der «roten Kommandeure» und ihrer Verbündeten in Partei und Regierung; ihr gehörte die Zukunft.

Auch der zehnte Parteitag vermied indes eine Entscheidung. Die jungen Militärs aus den eigenen Reihen plädierten zwar vehement für die Durchsetzung des Klassenprinzips in der Armee. Sie wollten nicht nur die Einberufung – wie vor dem Sommer 1919 – wieder auf die Arbeiterschaft und quasiproletarische Bauernschichten beschränken, sondern auch die Aufgaben der Armee in neuer Form in den Dienst der Revolution stellen: als Hilfstruppe für aufständische Arbeiter in der internationalen Arena. Aber in derselben Absicht hielten sie es auch für angezeigt, Smilgas Votum für die Beibehaltung der Armee, so wie sie war, zu unterstützen. Angesichts der Aufstände im eigenen Land schien eine tiefgreifende Reorganisation der bewaffneten Macht zu riskant. Überdies fürchteten sie, dass ein territoriales Milizsystem außerhalb der Städte im Wesentlichen eines bedeuten würde – militärisches Training und Bewaffnung der Bauern einschließlich des «Klassenfeinds», der Kulaken. Mit ähnlichen Überlegungen bemühte sich auch Lenin darum, Frunze von der Unzeitigkeit seiner Pläne zu überzeugen. Dabei argumentierte er analog zur Begründung des Fraktionsverbots. Weil das Regime den ‹unzuverlässigen› Bauern weitgehende wirtschaftliche Konzessionen gemacht habe, dürfe es seine Zwangsgewalt nicht vermindern. Erst nach der Sicherung ihrer Loyalität könne man an die Reorganisation der Armee im Sinne einer Miliz denken.

Obwohl die Debatte auch auf dem nächsten Parteitag 1922 ohne Ergebnis blieb, wurden in der Zwischenzeit wichtige Weichen gestellt. Die organisatorische Struktur der Roten Armee nahm Gestalt an. Der Hinweis vermag zu überzeugen, dass vor allem finanzielle und wirtschaftliche Zwänge zu Vorentscheidungen führten, die nicht mehr korrigiert wurden. Die wichtigste bestand in der Festlegung der ungefähren Personalstärke. Die Armee schmolz von 4,4 Mio. Mann im März 1921 auf 560.000 Ende 1923. Angesichts der ungeheuren Mittel, die man für den Wiederaufbau brauchte, und der begrenzten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes verbot sich ein stehendes Heer von der Größe des zarischen. Es schien sinnvoller, die Zahl der Soldaten deutlich zu verringern, dafür aber Reservekader auszubilden, die bei Bedarf eingesetzt werden konnten. Nach diesem System wurde etwa ein Viertel der Dienstpflichtigen in die reguläre Armee aufgenommen, während die Übrigen nur eine kurze, maximal zweimonatige Ausbildung zu absolvieren hatten. So sparte man mit Hilfe des nicht eben neuen Rotationsprinzips (das nach preußischem Vorbild 1874 im Zarenreich eingeführt worden war) nicht nur Geld, sondern kam auch noch den Verfechtern des Milizsystems entgegen. Faktisch entstand eine Mischform aus der alten, stehenden Armee und der ad hoc mobilisierbaren, ‹revolutionären› Territorialverteidigung. Ein nicht geringer Vorteil bestand schließlich in einem politischen und sozialen Effekt. Die Bauern, nach wie vor die Hauptmasse der Bevölkerung, fanden sich mit den kurzen Ausbildungszeiten ab. Die Armee förderte dadurch ihre Versöhnung mit dem proletarischen Staat; sie wurde zu einer paradigmatischen Institution der smyčka.[27]

Solche Reformen verbanden sich aufs engste mit dem Ausgang des Kampfes um Lenins Erbe. Sie wurden möglich durch den Sturz des Mannes, der von seiner enormen Machtfülle am Ende des Bürgerkrieges nur noch eine einzige Bastion, das Militärkommissariat, gerettet hatte. Auch in der Armee standen Trotzkis Gegner in Gestalt der «roten Kommandeure» bereit. Sie gingen dabei ein gleichsam natürliches Bündnis mit Stalin ein, einige – wie Vorošilov – in unerschütterlicher und dauerhafter Ergebenheit, andere mit mehr oder weniger deutlicher Distanz, für die sie früher oder später bitter zahlen mussten.[28] Was sie verband, war neben persönlicher Aversion gegen den Kommissar vor allem eines: neues Selbstbewusstsein. Nach ‹ihrem› Sieg im Bürgerkrieg begriff sich die Armee als vollwertige, auf fremde Hilfe nicht mehr angewiesene Streitmacht, die sich ganz in den Dienst des revolutionären Staates stellte. Sie entwickelte eine eigene Identität, verbunden mit der Forderung nach einer angemessenen Wertschätzung und Rolle im Staate. Selbst wenn er ein anderer gewesen wäre, hätte Trotzki, der Schöpfer der Übergangsarmee und Protektor der alten Offiziere, schwerlich zum Verbündeten solcher Bestrebungen werden können. Geeigneter waren die Kräfte, die für die Konsolidierung des revolutionären Regimes in der gegebenen Form auf der Grundlage einer eigenen ‹Staatsräson› standen. Sie verschafften der Armee jenen Status einer tragenden Säule des neuen Staates, den sie bis zur Perestrojka bewahrte.

Umfassende Reformen in diesem Sinne kamen vor allem seit Januar 1924 voran, nachdem Trotzki die entscheidende Schlacht verloren hatte. Seine Vertrauten wurden ihrer Ämter enthoben und gehörten einer Kommission nicht mehr an, die Grundsätze für die künftige Gestalt und Stellung der Armee ausarbeiten sollte. Zum Vorsitzenden dieses entscheidenden Gremiums wurde Gusev bestellt; mit Frunze, Vorošilov, Ordžonikidze und anderen vereinte es ausnahmslos Gegner Trotzkis und viele Weggefährten Stalins. Und einer Brüskierung erster Ordnung kam die Tatsache gleich, dass einer fehlte: der Volkskommissar (der seinen Posten noch nicht verloren hatte) selbst. Gemäß den Empfehlungen dieser Kommission bestätigte die nachfolgende Gesetzgebung die Mischverfassung aus regulärem Heer in der genannten Größe und Territorialreserve. Sie verankerte ein neues Disziplinarrecht, das dem bedingungslosen Gehorsam strenge Geltung verschaffte. Sie schrieb die Aufstellung eines ordentlichen Etats vor und sorgte für eine spürbare Erhöhung der Zuweisungen. Der Sold vor allem der oberen Ränge stieg, die Qualität der Unterkünfte und der materiell-technischen Ausstattung insgesamt wurde verbessert. Auch wenn das Niveau, absolut gesehen, niedrig blieb, zeigten einschlägige Klagen Wirkung. Die Armee begann ihren Aufstieg zu einer privilegierten Institution.

Davon profitierte im Wesentlichen ihr Rückgrat und Kopf: das Offizierskorps. Allerdings gehörten diesem nun überwiegend andere Personen und Schichten an als zuvor. Auch die Stärke der oberen Ränge wurde an die neue Organisationsform angepasst. Von ca. 30.000 Offizieren 1921 blieben Ende 1923 etwa 12.500 übrig. Unter denen, die man behielt, überwogen aus naheliegenden Gründen die Jungen und Parteitreuen. Nur noch 16,8 % der Kommandeure hatten 1924 – bei naturgemäß fallender Tendenz – ihre Ausbildung ganz oder teilweise im Zeichen des Doppeladlers absolviert. Besondere Symbolkraft kam schließlich der Einführung neuer Uniformen zu. Tressen und Schulterstücke, die 1917 abgerissen worden waren, kehrten in anderen Farben, aber alter Funktion zurück. Die Armee gab sich eine klare innere Hierarchie und grenzte sich, als Teil der wiedergefundenen Identität, nach außen ab. Damit einher ging eine wachsende Distanz zwischen Offizieren und Gemeinen. Die oberen Ränge bildeten, unterstützt durch ihre materielle Privilegierung, einen neuen Korpsgeist und Ehrenkodex aus. Dabei verstanden sie sich nicht nur als Elite der Armee, sondern zunehmend auch als Elite des neuen Staates. In dieser ‹gemeinnützigen› Funktion beanspruchten sie daher auch Respekt und Hilfe des Ganzen. Nach ihren Vorstellungen hatten Partei und Regierung der Armee nicht nur bei der Erfüllung ihres Schutzauftrages zu helfen, sondern auch bei der Wahrnehmung ihrer nicht minder wichtigen zivilen Aufgabe: Erziehungsanstalt des revolutionären Regimes zu sein. In diesem Sinne waren die Reformen konservativ. Sie normalisierten die Armee als Institution und erhoben sie zu einem dauerhaften Machtfaktor der Gesamtordnung. Welche Bedeutung ihr als zentrale, integrative Einrichtung zukam, hat Stalin früh erkannt. Die Armee, so formulierte er schon 1923, sei «die einzige allrussische und republikübergreifende Begegnungsstätte, wo Völker der verschiedenen Provinzen und Regionen zusammenkommen …»; sie sei «Schule des Sozialismus» und verbindendes Glied zwischen Partei, Arbeiterschaft und Dorfarmut.[29]

Weil sich die «roten Kommandeure» als loyale Stützen des revolutionären Regimes verstanden, war ihnen diejenige Institution von Anfang an ein Dorn im Auge, die eben diese Zuverlässigkeit sicherstellen sollte: die politische Verwaltung der Armee (PURKKA) und ihre Kommissare. Die Reformkommission forderte denn auch, wie schon Frunzes Gruppe auf dem zehnten Parteitag, den Übergang zu dem, was man die «Einmannleitung» nannte, d.h. zur ausschließlichen Verantwortung der Militärkommandeure. Das Organisationsbüro des ZK schloss sich diesem Vorschlag an, überließ aber der Armee die Ausarbeitung von Details. Nach der Übernahme des Militärkommissariats von Trotzki im Januar 1925 bemühte sich Frunze, diese Lösung voranzutreiben. Aber die Partei leistete Widerstand. Die eingefleischten Bolschewiki mochten auf Kontrolle nicht verzichten, solange sich die Offiziere nicht vollständig zu ihnen bekannten. Ende 1925 war dieses Ziel noch nicht erreicht. Auch auf der höchsten Ebene, unter den Korpskommandeuren, gehörten nur 73,3 % der Partei an; bei den Divisionskommandeuren galt dies für 44 % und bei den Regimentskommandeuren nur für 33,4 %. Dennoch arbeitete die Zeit zugunsten der neuen Militärs. Der Anteil der erklärten Bolschewiki stieg kontinuierlich, im gesamten Offizierskorps von 22,5 % 1922 auf 47 % 1926, in der Armee als Ganzer mit 16,1 % 1927 auf einen Wert, der die Repräsentanz der Partei in der gesamten Bevölkerung um das Zwanzigfache überstieg. An diesen Zahlen gemessen, engte sich das Aufgabenfeld der politischen Kontrolleure mehr und mehr ein. Faktisch setzte sich die Einmannleitung weitgehend durch.[30]

Was an die Stelle des Alten treten sollte, ergab sich aus der marxistischen Weltanschauung. Allerdings blieben die Fingerzeige ähnlich vage wie in der gesamten Frage von Verfassung und Struktur des künftigen Staates. Recht und Rechtsordnung wurden als Instrumente der Klassenherrschaft gesehen. Wie das stehende Heer oder die «Bürokratie» galten sie als Eckpfeiler eines staatlichen Zwangsapparates, dessen hauptsächlicher Zweck darin bestand, die fortgesetzte Ausbeutung der ‹Lohnarbeit› durch das ‹Kapital› zu sichern. Recht war ‹bürgerliches› Recht, Neutralität nur vorgetäuscht. In Wahrheit würden seine vermeintlich allgemeinen Grundsätze und Verfahren sehr konkreten Interessen dienen, die sich in der Aufrechterhaltung der Ungleichheit auf der Grundlage ‹asymmetrischen Tauschs› bündelten. Als besonders krudes Beispiel dafür galt die zarische Justiz. Sie verfiel pauschal dem Verdikt, bestenfalls im Namen der ‹Gesellschaft› Recht über das Volk, nicht im Namen des Volkes gesprochen zu haben.[32]

Eine der ersten, allgemeinen Aufgaben, die sich daraus ergaben, besagte, dass die Entfremdung zwischen Recht und ‹Masse› aufzuheben sei. So wie die Unterschichten in Stadt und Land, auf die der Volksbegriff reduziert wurde, sich in den Räten endlich selbst verwalten und regieren konnten, so sollten sie auch die Rechtsprechung selbst in die Hand nehmen. Recht musste zum Volk und das Volk zu seinem Recht kommen. Als Mittel zur Beförderung solcher Annäherung bot sich die «Wahl der Richter aus den Reihen der Werktätigen nur durch die Werktätigen» an. Hinzu kam die vermehrte Beteiligung von Schöffen, die ebenfalls von der Werkbank oder vom Pflug geholt werden sollten. Und auch der Rechtsweg sollte ein anderer werden. In der ganzen komplizierten Hierarchie von Instanzen erkannte man weder eine hilfreiche Arbeitsteilung noch eine Verbesserung der Rechtsfindung, sondern im Wesentlichen ein Mittel zur Aussperrung des Volkes. Vereinfachung musste die Devise der Sowjetmacht heißen: «Schaffung eines einheitlichen Volksgerichts an Stelle der endlosen Reihe früherer Gerichte verschiedener Art».

Als der achte Parteitag im März 1919 diese Absichten im neuen Programm festschrieb,[33] wurden sie zum Teil schon praktiziert. Bereits das erwähnte erste einschlägige Dekret, das die alte Rechtsordnung aufhob, führte zugleich Volksgerichte ein, die von den lokalen Sowjets zu wählen waren. Mit Voruntersuchungen wurden im Bedarfsfall ebenfalls Mitglieder dieser Ortsgerichte betraut. Als Ankläger und Verteidiger durften «alle unbescholtenen Bürger» auftreten. Es bedarf keiner Erläuterung, was diese Maßnahmen konkret bewirkten: eine Entprofessionalisierung der Justiz (die im halben Jahrhundert vorher mühselig erreicht worden war) und ihre völlige Abhängigkeit von den Räten, die ihrerseits sehr bald ausschließlich den Bolschewiki gehorchten. Schon der Dezembererlass sorgte mithin für die Gleichschaltung des Rechtswesens. Das war umso eher der Fall, als auch diejenigen Institutionen bereits begründet wurden, die in den kommenden vier Jahren die tatsächliche jurisdiktionelle Gewalt ausübten. Zum «Schutz der Revolution und ihrer Errungenschaften» richtete die Sowjetmacht eilends «revolutionäre Arbeiter- und Bauerntribunale» ein. Formal wurden sie ebenfalls von den Räten, wenn auch denen der nächsthöheren Ebene, den Stadt- und Gouvernementssowjets, gewählt. Die Revolutionären Tribunale bildeten ein offensichtliches Pendant zur Tscheka. Zunehmend drakonisch verurteilten sie die Opfer, die Dzeržinskijs Einsatzgruppen am Leben ließen. Sie waren, wie die Tscheka, außerordentliche Organe mit irregulären Vollmachten. Aber auch sie begründeten ein Erbe, das Bestand hatte.[34]

Schon deshalb blieben inhaltliche Grundpfeiler des alten Rechts ebenfalls nicht unbeschädigt. Der «Kriegskommunismus» hatte in letzter Konsequenz jedes Privateigentum an Produktionsmitteln (mit der faktischen Ausnahme von Bauernland) und jeden Besitz verboten. Die einschlägigen Schutzbestimmungen waren ebenso aufgehoben worden wie das Vertragsrecht, arbeitsrechtliche Vorschriften und sonstige Kernstücke des Wirtschaftsrechts. Im Strafrecht erhob die marxistische Theorie Forderungen nach einem anderen Verständnis von Vergehen und Strafe. Sie rückte die sozialen Ursachen der Kriminalität in den Vordergrund, leugnete oder relativierte zumindest die Angemessenheit des Schuldprinzips und plädierte für die Eliminierung des Vergeltungsgedankens aus der Strafe. An dessen Stelle trat als leitende Absicht die Korrektion und Resozialisierung: Wo außersubjektive Ursachen zu gesellschaftsschädigendem Verhalten führten, musste im Grundsatz Abhilfe möglich sein. Statt Missetäter einzukerkern, so formulierte erneut das Parteiprogramm von 1919, sollte ein marxistisches Strafrecht sie zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit zurückführen; statt sie zu verurteilen, sollte kameradschaftlicher Tadel sie zur Einsicht bringen; statt durch wenige Richter aus der herrschenden Schicht Sühne üben zu lassen, müsse der sozialistische Staat danach streben, «die gesamte werktätige Bevölkerung» zu einer Rechtsprechung heranzuziehen, die «das Strafensystem endgültig durch ein System von Maßnahmen erzieherischen Charakters» ersetze. Hier scheinen theoretische Wurzeln der «Konzentrations»- und Arbeitslager durch, die früh ihres ursprünglichen Sinnes beraubt und zur organisatorischen Grundlage des Terrors ausgebaut wurden. Allerdings legten viele revolutionäre Praktiker an der Staatsspitze solch anthropologischen Optimismus schnell beiseite. Sie kamen zu der Einsicht, dass Kriminalität auch aus der neuen Gesellschaft auf absehbare Zeit nicht verschwinden werde und dafür Vorsorge zu treffen sei. Hinzu kam schließlich der Übergang zur NĖP. Die partielle Wiederzulassung des Marktes konnte nur wirksam werden, wenn den selbständigen Wirtschaftssubjekten, die den Aufschwung tragen sollten, ein Mindestmaß an Rechtssicherheit gewährt wurde. So ergab sich nach dem Ende des Bürgerkrieges die dringende Notwendigkeit, beinahe das gesamte rechtliche Fundament des Staates zu erneuern und das in gesetzliche Bestimmungen zu fassen, was man «revolutionäre Legalität» nannte.[35]

Als Erstes verabschiedete das VCIK der RSFSR im Mai 1922 ein neues Strafgesetzbuch. Auch wenn es unverkennbar vom revolutionären Geist getragen war, erhielt es seine Prägung nicht durch den Versuch, marxistische Grundsätze zu verwirklichen. In den Vordergrund trat stattdessen bemerkenswert früh der Schutz der neu geschaffenen Ordnung. Verbrechen wurden nicht nur als Verstoß gegen das friedliche Zusammenleben der Gemeinschaft generell, sondern als Verletzung der «Räteherrschaft» und ‹Arbeiter- und Bauerndemokratie› definiert. Auch gewöhnliche Straftatbestände rückten durch die grundsätzliche Unterscheidung, ob sie im Interesse der ‹Bourgeoisie› oder aus bloß persönlichen Motiven unternommen wurden, in die Nähe politischer Vergehen. Dem entsprach eine Tendenz, kriminelle Delikte relativ milde, Vergehen gegen die staatliche Ordnung aber streng zu ahnden. Die Höchststrafen, Zwangsarbeit und Erschießung, blieben ausschließlich sog. Staatsverbrechen vorbehalten. Man wird nicht fehlgehen, auch darin Palliativmaßnahmen gegen Eventualitäten der NĖP zu sehen. Wenigstens das Regime sollte als Bollwerk gegen die Brandung von Kapitalismus und Markt Bestand haben. Diese Akzentsetzung hatte insofern besonders gravierende Fernwirkungen, als sie einige Generalklauseln hervorbrachte, die leicht zu Blankovollmachten werden konnten. Traurige Berühmtheit erlangte bald Artikel 57, der nicht nur manifeste Angriffe auf die Sowjetmacht, sondern auch jede «Schwächung» oder Hilfsaktion für die «internationale Bourgeoisie» unter Strafe stellte. Er verband sich nahtlos mit Artikel 58, der strenge Maßnahmen gegen «konterrevolutionäre Verbrechen» androhte, und Artikel 87, der auch die «Unterlassung» der Weitergabe von Kenntnissen über antisowjetische Umtriebe mit Gefängnis bis zu einem Jahr ahndete. Weil auch diese dehnbaren Formulierungen nicht alle Lücken in der Auflistung von Vergehen schließen konnten, empfahl der Gesetzgeber darüber hinaus, in unklaren Fällen analog zum Nächstliegenden zu verfahren (Art. 10). Man mag einen Fortschritt darin erkennen, dass nun nicht mehr das undefinierbare «revolutionäre Bewusstsein» über die Strafwürdigkeit von Handlungen entschied, wie es das Dekret vom Dezember 1917 vorsah. Aber auch die gesetzlich fixierten Vorschriften ließen einen faktisch grenzenlosen Ermessensspielraum. In Verbindung mit der politischen Gleichschaltung der Justizbehörden öffneten sie dem Missbrauch Tür und Tor.[36]

Im Herbst desselben Jahres 1922 folgte das erste Zivilgesetzbuch des neuen Staates. Dessen Ausgestaltung fiel dem neuen Regime in vieler Hinsicht besonders schwer, da kein Weg um die Wiederzulassung des Privateigentums, den innersten Kern des kapitalistischen Übels, herumführte. Das Regime brauchte den Geist aus der Flasche, wollte ihn aber bändigen. Im Resultat gewährte man dem privaten Besitz einen bedingten Schutz. Für bestimmte «ökonomische und soziale Zwecke» erlaubte man eine Ausnahme vom Gemeineigentum, das zugleich ausdrücklich als Regelfall bestätigt wurde. Dem entsprachen die Vergabe von Unternehmen in Privatpacht für sechs Jahre und die Möglichkeit der Vererbung von Besitz an nahe Verwandte bis zu einer bestimmten, nicht allzu großzügig bemessenen Obergrenze. Fraglos nahmen diese Bestimmungen Rücksicht auf die neuen wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten. In vieler Hinsicht kehrten sie sogar, wie führende Rechtstheoretiker monierten, zur zarischen Gesetzgebung zurück, bei der die Beamten des Justizkommissariats schon aus Kapazitätsgründen erhebliche Anleihen machten. Aber die Regelungen zeigten zugleich, wie sehr das Regime darauf bedacht war, die Konzessionen gering zu halten. Auch rechtlich bildete die NĖP eine beargwöhnte, von widrigen Verhältnissen erzwungene und temporär geduldete, aber nicht eigentlich akzeptierte Abweichung vom eigentlichen Ziel.

Nach der Gründung der Union ergab sich die Notwendigkeit, ähnliche Rechtskodifikationen für den neuen Gesamtstaat vorzubereiten. Um eine gewisse Gleichförmigkeit sicherzustellen – da die Republiken formal eigenständig entscheiden konnten –, verabschiedete das (Unions-)CIK im Oktober 1924 Richtlinien sowohl für das Straf- als auch für das Zivilgesetzbuch. Dabei traten, bei aller Anlehnung an die entsprechenden Vorschriften der RSFSR, typische Akzente zutage. Vor allem wurden Vergehen gegen den Staat mit noch härteren Strafen bedroht. Dazu mussten weitere elementare Grundsätze der modernen europäischen Rechtstraditon weichen. Zum einen betonte man das Klassenprinzip zu Lasten der Gleichheit vor dem Gesetz, zum anderen verwischte man die Grenze zwischen begangenen und möglichen Taten. Die obsessive Sorge um den Schutz des sozialistischen Staates verschaffte dem Präventionsgedanken Eingang. Dieselbe Partei, die soeben noch die Verfahrensregeln des Rechtsstaates und die bürgerlichen Freiheitsrechte gegen die Autokratie eingeklagt hatte, war nun bereit, Personen auch für das zu belangen, was sie hätten tun können, aber nicht getan hatten. Krylenko, inzwischen Justizkommissar der RSFSR, kleidete diese fatale und zukunftsträchtige Innovation in die Formulierung, dass man dem Gesichtspunkt der «sozialen Gefahr» ebenso großes Gewicht beimessen müsse wie nachgewiesenen Taten. Dementsprechend empfahlen die «Grundsätze» des CIK, Personen, von denen ein solches Risiko ausgehen könne, aus ihrem Wohnort zu verbannen und gegebenenfalls zu deportieren. Bei alledem spricht es für fortdauernde Meinungsverschiedenheiten in Partei und Staat, dass solche Anschauungen auch außerhalb der Opposition kein ungeteiltes Echo fanden. Angesehene Politiker wie der Vorsitzende der CKK A. A. Sol’c und selbst Dzeržinskij warnten vor den Gefahren der Bewertung von Straftaten nach sozialer Zugehörigkeit. Klassenkampf und Kriminalität waren nach ihrer Meinung verschiedene Dinge. Beide forderten damit aber weder größere Milde für Gesetzesübertreter noch die Eingrenzung von Vergehen gegen den Staat auf überprüfbare Tatbestände, noch gar den generellen Verzicht auf den Klassenbegriff in der Rechtsprechung.

Das CIK verband die Verabschiedung seiner Leitlinien mit der Empfehlung an die Republiken, bis zum März 1925 entsprechende Gesetze zu erlassen. Tatsächlich zogen sich die Beratungen länger hin. Erneut ging die RSFSR voran, die 1926 ein novelliertes Strafrecht erließ. Im Kern hielt man dabei an den Grundsätzen von 1922 fest. Dessen ungeachtet wurden in Übereinstimmung mit den Vorschlägen des CIK die Strafen für Vergehen gegen die staatliche Ordnung erhöht. Das Ungleichgewicht verstärkte sich: Während Mord höchstens mit zehnjähriger Zwangsarbeit geahndet werden konnte, stand auf schwere Staatsverbrechen die Todesstrafe. In einer abermals in diesem Sinne ergänzten Fassung vom 6. Juni 1927 wurde dieser Kodex zum Muster, den die anderen Republiken ohne nennenswerte Korrekturen übernahmen.

Noch weniger änderte sich im Zivilrecht. Zwar lag nach der Bildung der Union auch in diesem Bereich die Notwendigkeit auf der Hand, ein entsprechendes Gesetzbuch für den Gesamtstaat zu schaffen. Aber Eile schien nicht geboten, da die Bestimmungen der RSFSR einschließlich der Agrar- und Arbeitsgesetze übertragen wurden und wesentliche Änderungen im Rahmen der NĖP ohnehin ausschieden. Als der SNK 1927 schließlich eine entsprechende Kommission einsetzte, führte deren Tätigkeit zu keinen konkreten Ergebnissen mehr. Ein Zusammenhang mit der Peripetie der NĖP liegt nahe. Schon nach geltendem Recht verfügten die Gerichte über ausreichenden Spielraum, um die «allgemeinen Prinzipien der sowjetischen Gesetzgebung» auch bei der Auslegung der Garantien für privates Eigen- und Unternehmertum anzuwenden. Die Waage neigte sich immer deutlicher zu verschärfter Kontrolle, ohne dass dem «Klassenstandpunkt» explizit mehr Gewicht zugebilligt wurde. Man beließ es bei einem status quo, den selbst der sechste Juristenkongress der UdSSR im Februar 1929 trotz mancher Breitseiten seines Vorsitzenden P. I. Stučka noch nicht anzutasten wagte.[37]

Der Kernabsicht zur rechtlichen Stabilisierung der neuen Ordnung entsprach nach dem Ende des Bürgerkriegs auch der institutionelle Aufbau der Justiz. Nicht zufällig wurden die einschlägigen Reformen ebenfalls im ersten Friedensjahr 1922 auf den Weg gebracht. Zwar bestätigten sie einige grundsätzliche Organisationsprinzipien, die sich aus der revolutionären Staatsdoktrin ergaben. Weiterhin sollten Gerichte von den Sowjets der jeweiligen Verwaltungsebene gewählt werden. Weiterhin bestimmte deshalb die Partei, wer über wen Recht sprach. Dennoch zollte man dem Übergang zur Normalität auch auf diesem Gebiet Tribut. Die Einsicht setzte sich durch, dass eine funktionsfähige Rechtsordnung, die nicht mehr vorrangig zur Verteidigung der «Diktatur des Proletariats» diente, ein höheres Maß an Professionalität brauchte. Man müsse, formulierte selbst Krylenko, vom Prinzip Abschied nehmen, dass «jeder eines jeden Richter» sein könne. Um dies sicherzustellen, verankerte das neue Statut vom 31. Oktober 1922 die Mitwirkung der jeweils vorgesetzten Justizbehörde bei der Richterwahl, sei es durch die Nominierung der Kandidaten oder durch die Ernennung der Gewählten. Auch Anwälte konnten in Grenzen wieder tätig werden. Vor allem in Wirtschaftsfragen war rechtskundiger Rat gefragt. Zwar blieb der Anwaltsstand ein Schatten seiner selbst, aber es gab ihn wieder.

Hinzu kam an der Spitze der Pyramide die Schaffung eines Obersten Gerichts, dessen Vorsitzender, der Staatsprokuror, nicht nur über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltungs- und Regierungsmaßnahmen wachen, sondern auch das Recht zur Anfechtung einer jeden Entscheidung haben sollte. Ihm fiel gleichsam die Rolle eines Wächters über die Legalität auch des revolutionären Staates selbst zu. In diesem Sinne übernahm die Unionsverfassung sowohl den Prokuror als auch den Obersten Gerichtshof. Dabei hielt sie aber am Prinzip der Wahl durch den CIK fest; die Eigenständigkeit der Jurisdiktion wurde durch ihre Begründung geleugnet. Der Gerichtshof durfte denn auch nur auf Initiative des CIK tätig werden. Schon dies hinderte ihn daran, sich zu einem Verfassungsgericht zu entwickeln. Auf der anderen Seite zog der Prokuror erhebliche faktische Kompetenzen an sich. Er kompensierte seine Abhängigkeit gleichsam durch den Umstand, dass Justizkommissariate nur auf Republikebene bestanden und er die einzige einschlägige Behörde der Union war.[38]

Es lag in der Konsequenz einer solchen Normalisierung, dass die außerordentlichen Organe ihre Existenzberechtigung endgültig verloren. Formal versäumte das Sowjetregime auch nicht, diesen zwingenden Schluss zu ziehen. Im Februar 1922 wurden die zentralen und lokalen Einrichtungen der Tscheka aufgelöst, Anfang 1923 die Revolutionären Tribunale. Allerdings gab es zwischen beiden Maßnahmen einen qualitativen Unterschied: Während die Tribunale tatsächlich verschwanden, wechselte die Tscheka nur den Namen; fortan hieß sie GPU und ressortierte im Innenministerium. Über die Kontinuität konnte niemand im Zweifel sein, der auf Ross und Reiter schaute. Das berüchtigte alte Hauptquartier an der Lubjanka diente der neuen Institution ebenso wie der alten, der gefürchtete Hausherr Dzeržinskij stand auch der neuen vor, da er zum Innenkommissar avancierte, und sein Vertreter blieb ebenso derselbe wie der größte Teil des sonstigen Personals.

In mancher Hinsicht wurde die Position der politischen Polizei sogar gestärkt: Anders als die Tscheka war die GPU eine reguläre Einrichtung. Kompetenzen, über die jene – formal – nur für den Ausnahmefall und befristet verfügte, standen dieser gesetzmäßig und auf Dauer zu. Von Anfang an gehörten dazu auch jene entscheidenden Befugnisse, die den ‹Tschekisten› die Handhabe zur Verbreitung von Angst und Schrecken im ganzen Lande gegeben hatten. Zum einen durfte auch die GPU «besondere Militärabteilungen» aufstellen und in eigener Regie einsetzen. Zum anderen erhielt sie – wenn auch durch die Bildung einer besonderen Kommission im Innenkommissariat pseudolegal verbrämt – das Recht, «sozial gefährliche» Personen nach Gutdünken zu verbannen oder in Arbeitslager einzuweisen; auf frischer Tat ertappte «Banditen» durfte sie sogar erschießen. Drittens schließlich wurde ihr nach einem halbjährigen Streit mit dem Justizkommissariat die Oberaufsicht über alle Arbeits- und sonstigen besonderen Internierungslager in der Union übertragen. Demgegenüber wog die Auflage nicht schwer, die Verhafteten spätestens nach zwei Monaten an ordentliche Gerichte zu überstellen oder auf freien Fuß zu setzen, wenn das CIK keine Sondergenehmigung zu ihrer weiteren Sekretierung erteilte. Sie bot keinen wirklichen Schutz, weil ein entsprechender Beschluss angesichts der Gleichschaltung der Räte leicht zu erwirken war.

Was diese Machtfülle anzeigte, schrieb die Unionsverfassung 1924 förmlich fest. Die GPU stieg zu einer selbständigen Einrichtung des Gesamtstaates auf. Die Erweiterung ihres Namens zu OGPU war nicht nur eine Veränderung des Etiketts, sondern bezeichnete eine tatsächliche Rangerhöhung. Zwar blieb ihr ein eigenes Kommissariat mit Stimmrecht verwehrt; aber ihr Leiter gehörte dem UnionsSNK an und war den Ressortchefs weitgehend gleichgestellt. Die OGPU durfte fortan im ganzen Land gegen «Konterrevolution, Spionage und Banditenwesen» kämpfen. Sie konnte in allen Republiken Dependancen errichten, Truppen stationieren und Lager eröffnen. Dabei war sie allein dem SNK und dem CIK, mithin keiner regionalen Instanz, verantwortlich. Mit dieser Aufwertung der einstigen Notstandsorganisation par excellence erklärte die Verfassung im zentralen Bereich der Herrschaftssicherung und inneren Ordnung endgültig den Ausnahmezustand zum Normalfall. Die OGPU trat als dritte Säule des revolutionären Regimes neben die monopolistisch-autoritäre Partei und die zunehmend loyale, elitäre und gesamtstaatsbewusste Armee.[39]

So überrascht es nicht, dass auch die willkürliche Gewaltanwendung gegen angebliche Regimefeinde fortdauerte. Die NĖP führte zwar, wie man annehmen darf, zu einem Verzicht auf Massenerschießungen und andere Auswüchse des inneren Krieges. Angesichts des Personalabbaus von etwa 143.000 im Dezember 1921 auf 105.000 im Mai 1922 mag darüber hinaus die Vermutung einer Einschränkung des Aktionsradius der GPU im Vergleich zur Tscheka plausibel erscheinen. Aber der Grundsatz der Unantastbarkeit der Person galt auch in der neuen Ära nur eingeschränkt. Er blieb, ebenso wie die Beachtung der übrigen Menschenrechte, an politisches Wohlverhalten gebunden. Hinzu kam, dass sich auch der innerparteiliche Spielraum im Zuge der Entmachtung der Opposition verengte. Bald wurde nicht nur das Bekenntnis zum bolschewistischen Staat, sondern die Zustimmung zu jener Gestalt gefordert, die Stalin und seine Helfer ihm gaben. Aber es wäre falsch, den späteren Diktator zum alleinigen Urheber dieser Entwicklung zu erklären. Kein Geringerer als Lenin hat während der Reorganisation der Tscheka den Justizkommissar mehrfach mit Nachdruck daran erinnert, dass nach seiner Meinung «der Terror nicht abgeschafft», sondern näher bestimmt und «im Grundsatz legalisiert» werden sollte; der entsprechende Paragraph müsse dabei «so weit wie möglich gefasst werden, da nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen über die Bedingungen seiner Anwendung in der Praxis entscheiden» könne. Insofern galt in dieser Frage ähnlich wie beim Fraktionsverbot, dass Stalin fortführte und für seine Zwecke nutzte, was er im Prinzip schon vorfand.[40]

Über die konkrete Tätigkeit der GPU und OGPU war lange wenig bekannt. Mit der förmlichen Ausrufung des friedlichen Aufbaus im Zeichen der NĖP verpflichtete sich der Staat auf Legalität, die seine Geheimpolizei nicht offen konterkarieren sollte. So schien im Wesentlichen nur an einigen spektakulären Ereignissen und legislativ-administrativen Weichenstellungen das wachsende Gewicht auf, das ihr in Wahrheit zukam. Am Anfang stand der erste Schauprozess der Sowjetgeschichte, der im Sommer 1922 führenden Sozialrevolutionären gemacht wurde. In Anwesenheit des belgischen Sozialisten Emile Vandervelde und anderer Vertreter der Zweiten Internationalen rechnete das Regime gleichsam repräsentativ mit den Rivalen von gestern ab. Dabei fiel es den Anklägern nicht sonderlich schwer, Beweise für «antisowjetische» Umtriebe vorzulegen. Der Maßstab selbst enthielt schon das Urteil und widerlegte den Anschein von Rechtmäßigkeit, den das förmliche Verfahren erweckte. So verfehlte auch die großzügige Geste, mit der die Vollstreckung der zwölf verhängten Todesurteile ausgesetzt wurde, ihre Wirkung auf die internationale Öffentlichkeit. Denn die wesentliche Erkenntnis, die der Westen aus der Veranstaltung zog, blieb davon unberührt: dass politische Opposition im ersten sozialistischen Staat der Erde auch zu Beginn seiner friedlichen Ära als Kapitalverbrechen galt. Was ein Jahr später nach der Niederschlagung eines Aufstands in einem Arbeitslager auf der Eismeer-Insel Solovki (SLON) über das Schicksal der Begnadigten nach außen drang, verstärkte diesen Eindruck. Das neue Regime ging mit seinen Gegnern nicht besser um als das alte.

Eher war das Gegenteil der Fall. Was inzwischen aus den Archiven zutage gefördert worden ist, legt den Schluss nahe, dass es sehr viel rigoroser mit ihnen verfuhr. Denn trotz des ‹Burgfriedens› mit der Bauernschaft beschränkte es sich nicht auf eingehende Beobachtung. Unruhen und Proteste waren offenbar nicht nur deutlich häufiger als bekannt; sie scheinen auch ein solches Gefährdungspotenzial entfaltet zu haben, dass die OGPU meinte, einschreiten zu müssen. Sie tat das meist in eigener Regie, an der zivilen Justiz vorbei. Außergerichtliche Strafen waren trotz allen Anscheins von Legalität eher die Regel als die Ausnahme. Dabei verhängte die Geheimpolizei auch weiterhin häufig «das höchste Strafmaß». Zusammenfassende Daten sind nicht bekannt. Aber es wirft tiefe Schatten auf die vermeintliche Friedlichkeit der NĖP, dass selbst 1925, auf ihrem Höhepunkt, in nur dreieinhalb Monaten «194 Personen, d.h. etwa 2,2 pro Tag», hingerichtet wurden. Offenbar bedurfte die Ruhe an der Oberfläche der Absicherung durch drakonische ‹Vorbeugung› außerhalb jeder Gesetzlichkeit.[41]

Spätestens die Solovki-Affäre bewies auch, dass die Arbeitslager der Tscheka nicht aufgelöst worden waren und ihrer Aufnahme ins Strafgesetzbuch eine bittere Realität entsprach. Wohl hielt sich die Zahl der Internierungsstationen noch in Grenzen. Offizielle Daten gaben für 1926.591 mit 149.000 Insassen an; andere Schätzungen belaufen sich auf 240.000–270.000 Häftlinge im letzten Jahr der NĖP. Im Vergleich zur kommenden Ära war diese Zahl klein, im Vergleich zur zarischen schon groß: In den Gefängnissen des alten Regimes hatten sich vor dem Krieg auch auf dem Höhepunkt der Verhaftungen nach dem Wiederaufflammen der Streiks (1912) nie mehr als 184.000 Menschen gedrängt. Aber noch in anderer Hinsicht wurde in den friedlichen Jahren der NĖP der Grundstein für die Schrecken des nächsten Jahrzehnts gelegt. Dzeržinskij selbst regte 1924 an, die Arbeitslager für die wirtschaftliche Erschließung der weitgehend unberührten Territorien im Norden und Osten zu nutzen. Was er vielleicht nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in beiden Bereichen formulierte – nach Lenins Tod hatte er den Vorsitz im VSNCh übernommen –, traf eine tiefere politische und sozioökonomische Disposition. Der Vorschlag vereinigte die Herrschaftssicherung mit jenem alles überragenden Ziel, das spätestens durch die Debatte über den «Sozialismus in einem Lande» in den Vordergrund trat: der Mobilisierung aller Ressourcen für die Industrialisierung und Modernisierung des Landes. Diese Symbiose, die der gefürchtete Kommandant des SLON eilfertig aufgriff, war zukunftsträchtig – sie legte das Fundament für ein eigenes, auf unfreier Arbeit beruhendes ökonomisch-soziales Subsystem. Der «Archipel GULAG» (A. I. Solženicyn) formierte sich.[42]