Die kennzeichnenden Merkmale des später so genannten «entwickelten Sozialismus» haben sich erst in den Anfangsjahren der Stalinära voll ausgebildet. Denn zweifellos markierte die Wende zum zweiten Jahrzehnt des Staatsaufbaus eine tiefe Zäsur. Wirtschaftlich wurde mit dem Abbruch der NĖP die Koexistenz zwischen staatlicher und privater Wirtschaft widerrufen; sozial entzog man neben den wenigen wirklichen Profiteuren der neuen Ordnung vor allem der ungleich größeren Zahl kleiner Händler und Gewerbetreibender die Lebensgrundlage; geistig-kulturell legte man die Künstler, Wissenschaftler, Journalisten und andere Vertreter der Intelligenz endgültig an die Kandare. Am wenigsten änderte sich politisch, da die Monopolherrschaft der Bolschewiki längst gefestigt und die linke Opposition zerschlagen worden war. Aber auch in dieser Hinsicht wurde ein weiterer, wichtiger Schritt getan: Mit den Sprechern der «rechten Opposition» mussten die Verteidiger der NĖP ebenfalls den engsten Kreis der Macht verlassen.
Was nun Gestalt annahm, unterschied sich deutlich von der frühen Sowjetordnung. Ökonomisch ersetzte die zentrale Planung nicht nur den ohnehin stark (wenn auch nicht erfolgreich) regulierten Markt, sondern auch die darauf ausgerichteten Verfahrensweisen in den staatlichen Großbetrieben (z.B. die «wirtschaftliche Rechnungsführung»); in der öffentlichen Verwaltung entstand ein neuer, riesiger Apparat, der das gesamte komplizierte Geflecht der Ressourcenzuweisung, Produktionsorganisation und Güterverteilung knüpfen und funktionsfähig erhalten musste; sozial wurde ein tiefgreifender, an den neuen wirtschaftlichen Bedürfnissen orientierter Wandel eingeleitet, der zwar seine eigene Dynamik entfaltete, aber unter Kontrolle blieb; politisch und geistig-kulturell beseitigte man die letzten Freiräume offener Meinungsäußerung und kollektiver Interessenvertretung und festigte die prinzipiell unbeschränkte, wenngleich in der Praxis nicht allgegenwärtige Herrschaft der Parteiführung; damit hing zusammen, dass die politische Polizei, bald als Teil des Innenkommissariats, noch ungehinderter eingreifen konnte als zuvor und das geschriebene Recht weiter an Geltung verlor. Jene politische, wirtschaftliche und soziale Verfassung samt dem ihr korrespondierenden kulturellen Leben bildete sich aus, die sich mit der endgültigen Etablierung Stalins im Zentrum der Macht verband und in den Jahren ihrer extremen Ausformung zum (neben dem Nationalsozialismus) zweiten Exempel einer totalitären Ordnung wurde. Die entscheidenden Vorgänge, die diese Transformation bewirkten, waren die Einführung des Fünfjahresplans und die «vollständige», äußerst gewaltsam durchgesetzte Kollektivierung der Landwirtschaft. Kaum vermeidbar zogen beide eine verstärkte politisch-soziale Disziplinierung nach sich. Denn alle Veränderungen hingen aufs engste zusammen: Ohne Kontrolle des agrarischen Sektors, gegen die sich die Bauern erbittert wehrten, und ohne Mobilisierung der sozialen Ressourcen, allen voran der Arbeitskraft, ließ sich das angestrebte industrielle Wachstum nicht planmäßig lenken.
Weil sich in ihr eine Weichenstellung von erheblicher Tragweite bis an die Schwelle der Gegenwart vollzog, hat diese Übergangs- und Schlüsselphase in der Forschung kaum weniger Beachtung gefunden als die Revolution selbst. Dem Interesse entsprach das Ausmaß des Meinungsstreits. Umstritten waren dabei neben dem Grad der Planerfüllung (und der Zuverlässigkeit der verfügbaren statistischen Daten) vor allem die Frage nach den Motiven für die Zwangskollektivierung sowie das allgemeinere Problem der Kontinuität oder Diskontinuität zwischen den zwanziger und dreißiger Jahren, zwischen «Leninismus» und «Stalinismus». Die folgende knappe Darstellung soll diese Kontroversen nicht aussparen; die Frage nach der systematischen Kennzeichnung des Stalinismus wird dagegen später eingehend erörtert werden.
Auch nach Verkündung der NĖP hatten die Bolschewiki, wie erwähnt, ihre Vorbehalte gegenüber dem Markt nicht aufgegeben. Der Gosplan blieb nicht nur bestehen, sondern vermochte seine Position seit der ‹Scherenkrise› sogar zu stärken. Als der vierzehnte Parteitag im Dezember 1925 die gezielte Entwicklung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzte, gab er zugleich grünes Licht für die Aufstellung eines volkswirtschaftlichen Gesamtplanes anstelle der branchenbezogenen Einzelpläne, mit denen man sich bis dahin begnügt hatte. Die Experten konnten sich an eine Arbeit machen, die zu den Pionierleistungen der theoretischen Makroökonomie im 20. Jahrhundert zählt. Bereits im März 1926 legten sie einen «Perspektivplan» vor, der in den folgenden drei Jahren so heftig umstritten war wie kaum eine andere Frage. Weitgehend unberührt blieben dabei grundlegende Verfahrensentscheidungen; sie avancierten bald zu Kernprozeduren der Planwirtschaft und prägten mit der neuen Politik auch ein neues Vokabular. Akzeptiert wurde der Planungszeitraum, den die Autoren auf fünf Jahre festlegten. Dieses Intervall schien sinnvoll zu sein, da es einerseits überschaubar war, andererseits kurzfristige Ernteschwankungen in einer ‹Durchschnittskurve› auffing und zugleich den Vorteil hatte, ungefähr der unterstellten Bauzeit der projektierten Großvorhaben zu entsprechen. Desgleichen setzte sich die Einführung sogenannter «Kontrollziffern» durch, die nach Ablauf eines jeden Wirtschaftsjahres (anfangs von Oktober bis September reichend) zu erstellen waren und als Richtwerte für weitere Entscheidungen dienen sollten.
Umso heftiger gerieten die Plandaten selbst ins Kreuzfeuer der Kritik. Dazu trug der Umstand bei, dass der Gosplan nicht die einzige Behörde blieb, die über die wirtschaftliche Entwicklung nachdachte. Konkurrenz machten ihm vor allem verschiedene Kommissionen des VSNCh, der sich stärker von ideologisch-politischen und weniger von ökonomisch-wissenschaftlichen Überlegungen leiten ließ. Hinzu kamen die erneuten Versorgungsengpässe, die sicher den härtesten Test für die Belastbarkeit der NĖP bildeten und die Lage zuspitzten. Sie traten jedoch ein, als die Weichen (wie erwähnt, auf dem 15. Parteitag Ende 1927) schon in eine andere Richtung gestellt worden waren. Genau besehen, vermochte es nicht zu überraschen – und verweist auf tiefere, später zu erörternde Motive –, dass eine wachsende Gruppe im Politbüro für einen klaren Kurswechsel plädierte. Stalin förderte diese Wende nach Kräften; aber er wäre nicht der gewiefte Taktiker gewesen, der er war, wenn er nicht gespürt hätte, dass sie in der Luft lag. Im Verhältnis zu Bauern und Händlern bedeutete die neue Linie die Rückkehr zu repressiven Maßnahmen, von fiskalischem Druck bis zu offener Gewalt. In der Industrie schloss sie nicht nur die Bestätigung des Entschlusses zur zentralen, plangeleiteten Steuerung der Wirtschaft ein, sondern darüber hinaus eine entschiedene Tendenz zur Selbstradikalisierung und maximalistischen Utopie. Man wollte den westlichen Kapitalismus bald nicht nur in der Produktion pro Kopf «einholen und überholen», sondern auch technologisch. Dazu brauchte man große und moderne Industriekomplexe, die teils aus Gründen der Sicherheit vor äußeren Angriffen, teils nach Maßgabe der Rohstofflager, teils auch zum Zweck regionaler Wirtschaftsförderung fernab der traditionellen zentralrussischen Standorte im Ural, in Südsibirien und in Mittelasien errichtet werden sollten – und in immer kürzerer Zeit.[1]
Denn nach der grundsätzlichen Entscheidung gegen den Markt und für den Plan wurde dies zur entscheidenden Frage der neuen Strategie: in welchem Tempo die Industrie wachsen und die anderen Bereiche der Volkswirtschaft sich diesen Vorgaben anpassen sollten. Die Planer gingen bis Ende 1927 von einer Drosselung aus; sie hielten es für ausgeschlossen, die hohen Wachstumsraten der Wiederaufbauphase fortzuschreiben. Nicht nur diese Position wurde im Zuge der Wende verdammt. Auch andere fachkundige Bedenken gegen eine allzu forsche Gangart und Überanstrengung der Volkswirtschaft stießen auf taube Ohren. Sie wurden als Abwiegelei, Feigheit und mehr und mehr auch als Sabotage an der Revolution gebrandmarkt. Der neuen Militanz, die sich mit verstärkter Unduldsamkeit als einzig wahre sozialistische Einstellung verstand, kam es gelegen, dass zwei der prominentesten Warner im Gosplan, V. G. Groman und V. A. Bazarov, 1917 im menschewistischen Lager gestanden hatten. Sie wurden nun, nach dem bewährten Muster der Kampagne gegen Trotzki, offen angegriffen und an ihre «schmachvolle», angeblich immer noch lebendige Vergangenheit erinnert. Die Mehrheitspropaganda erkannte einen neuen Feind, den «Rechtsabweichler», der seine anfängliche Abstraktheit verlor und individuelle Züge annahm.
Im selben Maße wuchs der Druck auf die Planer. Noch im Laufe des Jahres 1928 legten sie zwei korrigierte Versionen vor; erst die nächste wurde im Mai 1929 vom fünften Sowjetkongress gebilligt. Wohl enthielten auch diese Vorgaben noch Reste der anfänglichen Vorsicht. Vernünftigerweise blieben sie sich der Unkalkulierbarkeit wesentlicher Rahmenbedingungen grundsätzlich bewusst und bemühten sich, dies in Gestalt einer Basis- und einer Optimalvariante zu berücksichtigen. Letztere ging von der Annahme aus, dass im Planzeitraum kein ernsthafter Ernteausfall eintreten, der Handel mit der kapitalistischen Außenwelt «deutlich» zunehmen, die Produktivität merklich steigen, die Eigenkosten sinken und der relative Anteil der Militärausgaben zurückgehen würden. Desgleichen behandelte man den Agrarsektor mit Vorsicht und veranschlagte den Anteil der in Sowchosen oder Kolchosen tätigen Landbevölkerung relativ gering. Dennoch sorgten die hochgesteckten politischen Ziele dafür, dass schon die Normalvariante außerordentliche Wachstumsraten vorsah. So sollten die gesamtwirtschaftlichen Investitionen – dies die Schlüsselvariable – vom Wirtschaftsjahr 1927/28 bis 1932/33 um 250 % und in der großen staatlichen, dem VSNCh unterstehenden Industrie um 320 % steigen. Die Optimalvariante sah sogar eine Erhöhung um 320 % bzw. 440 % vor. Ein erheblicher Teil des Geldes sollte in Neubauten fließen, im ersten Planjahr 32 %, im letzten sogar 55,9 %. Laut Strumilins Berechnungen lief diese Absicht schon in der Minimalversion darauf hinaus, fünf Jahre lang 31,9 % des Nationaleinkommens vorrangig für den Ausbau der Grundindustrie zu verausgaben.[2]
Zugleich hielten die Warnungen an. Den Planern selbst, und nicht nur den Vorsichtigen, verschlug es den Atem. Sie sagten den mittelfristigen Kollaps voraus, weil der ungeheure Kraftakt die Bildung von Reserven ausschließe; sie prophezeiten eine dramatische Inflation und soziale Unruhen, weil die Versorgung der Arbeiter zusammenbrechen müsse; und sie beschworen das Schreckbild offener und permanenter Gewaltanwendung eines Staates, der den Protest der Arbeiter gegen den erzwungenen Konsumverzicht (und die Empörung der Bauern gegen ihre Enteignung) anders nicht mehr werde unterdrücken können. Zwangsläufig verband sich diese Kontroverse mit dem Streit über die Agrarpolitik und dem neuerlichen Richtungs- und Machtkampf an der Parteispitze. Als Bucharin auf dessen erstem Höhepunkt, im Herbst 1928, seine aufsehenerregenden Bemerkungen eines Ökonomen veröffentlichte, forderte er nicht nur zum Verzicht auf Repressalien gegen die Bauern auf, sondern auch zu einem Industrialisierungstempo, das die parallele Entwicklung der Landwirtschaft erlaubte. Er apostrophierte die «Trotzkisten», meinte aber die Stalinisten, wenn er an die Binsenweisheit erinnerte, «dass die Entwicklung der Industrie von der Entwicklung der Landwirtschaft» abhänge und zwischen beiden ein ‹dynamisches Gleichgewicht› zu wahren sei. Wer unter Aufbietung aller Kräfte ungeheure Ressourcen einseitig investiere, nehme Einbrüche an anderer Stelle in Kauf und verlangsame das Gesamttempo der Entwicklung, statt es zu beschleunigen. Seine Botschaft blieb, bei grundsätzlicher Anerkennung des eingeschlagenen Weges, dieselbe wie im Streit mit den linken ‹Überindustrialisierern›: Die Brechstange könne kein dauerhaftes Fundament für den Sozialismus legen.[3]
Freilich fanden solche Einwände noch weniger Gehör als zu Jahresbeginn. In dem Maße, wie die Haltung zu den Planungszielen den Stellenwert eines Bekenntnisses für oder wider das Regime annahm, verhärteten sich die Fronten. Es begann ein regelrechter Wettkampf um den schnellsten Weg zum Sozialismus. Die Wirklichkeit wurde nur noch am Rande zur Kenntnis genommen; stattdessen verfuhr man nach der Devise, dass möglich sein musste, was möglich sein sollte. Auf dieser Grundlage arbeitete der VSNCh unter Kujbyševs Leitung Ende August neue «Kontrollziffern» aus. Sie sahen allein für das Wirtschaftsjahr 1929/30 eine Produktionssteigerung der staatlichen Industrie von 31,2 % vor. Der größte Teil davon (23,5 %) sollte durch eine höhere Arbeitsleistung (Produktion pro Jahr), der Rest durch Kostensenkungen erreicht werden. Schon hier wurde das Kardinalübel der verordneten Planung in aller Deutlichkeit sichtbar: Qualitative Gesichtspunkte fielen der Faszination von Zahlen, Daten und moderner Maschinerie endgültig zum Opfer. Zwar wehrten sich die Ökonomen des Gosplan noch in einem letzten publizistischen Aufbäumen gegen die abermalige Missachtung ihrer Vorgaben. Ein prominenter Bolschewik aus ihren Reihen kommentierte die neuen Ziele mit der Bemerkung, ‹nur ein Krieg› könne eine solche Mobilisierung des Nationaleinkommens rechtfertigen. Die Experten vermochten sich aber nicht durchzusetzen. Mitte November 1929 nahm das ZK die Regierungsvorschläge an. Demnach sollten die Investitionen in die (staatliche) Industrie und Elektrizitätsgewinnung allein im laufenden Wirtschaftsjahr von 2,8 Mrd. Rubel, wie im Plan bis dahin vorgesehen, auf 4 Mrd. steigen. Um dies zu ermöglichen, sollten die industriellen Produktions- und die Baukosten um 11 % bzw. 14 % vermindert werden. Die industrielle Produktion sollte insgesamt um 32 % und die Produktivität der Arbeitskraft um 25 % zunehmen.[4]
In ähnlicher Weise wurden die Maßzahlen des gesamten Fünfjahresplans heraufgesetzt; die ‹genetische› Rücksicht auf das Ausgangsniveau wich endgültig der Fixierung auf vorgegebene ‹teleologische› Ziele. Nach der Entmachtung der ‹rechten› Opposition im April 1929 hatte Stalin, wenngleich ihm noch längst nicht alle Mitglieder des Politbüros ergeben waren, freie Hand. Er konnte es sich leisten, den Rat nüchterner Fachleute auch in dieser Hinsicht in den Wind zu schlagen. Ihren Warnungen hielt die Pravda die neue Parole entgegen: «den Fünfjahresplan in vier Jahren [erfüllen]»! Die Spiralbewegung dauerte auch in den folgenden Jahren an. Dabei galt der besondere Ehrgeiz der Grundstoff- und Energiegewinnung (Kohle, Eisen, Stahl, Öl) sowie der Fabrikation von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen. Nicht zuletzt daran wurde deutlich, was die ‹Akkumulation› aus eigener Kraft in der Sache bedeutete: die Mobilisierung aller Kräfte und Ressourcen, um das Fundament für den Eintritt ins Maschinenzeitalter regional wie sektoral (unter Einschluss der Landwirtschaft) sprunghaft zu verbreitern und die Industrialisierung des ausgehenden Zarenreichs mit neuen, gewaltsamen Mitteln beschleunigt fortzusetzen. Stalin hat diesen Bezug zum Hauptproblem des Ancien Régime in einer Rede, mit der er Anfang November 1929 den Triumph über seine letzten Gegner feierte, in aller Offenheit hergestellt: «Wir gehen», so lauteten die vielzitierten Schlusssätze, «mit Volldampf den Weg der Industrialisierung – zum Sozialismus, unsere uralte, ‹reußische› Rückständigkeit hinter uns lassend. Wir werden zu einem Lande des Metalls, einem Lande der Automobilisierung, einem Lande der Traktorisierung.» Die Warner konnten als einzigen Trost verbuchen, dass noch weitergehende, vollends phantastische Projekte, die den Grundstein für einen fünfzehnjährigen «Generalplan» bildeten, nicht mehr gehört wurden. Sie lagen dem 16. Parteitag vom Juli 1930, der die gesamte Politik der forcierten Industrialisierung und der Zwangskollektivierung endgültig billigte, gar nicht erst vor.[5]
Die Ergebnisse des ersten Fünfjahresplans waren in der westlichen Forschung lange Zeit umstritten. Die Möglichkeit dazu eröffneten die Deutbarkeit der statistischen Daten und die Uneinheitlichkeit des Gesamtbildes. Hinzu kamen unterschiedliche weltanschauliche Vorprägungen der Betrachter, da das Urteil über den wirtschaftlichen Neubeginn von der Gesamtinterpretation des Sowjetsozialismus kaum zu trennen ist. Inzwischen scheint ein weitgehender Konsens erreicht zu sein. Demnach darf man davon ausgehen, dass kein einziges Planziel erreicht worden ist. Weder der Kapitaleinsatz noch der industrielle Gesamtausstoß, noch gar die Arbeitsleistung, um nur die wichtigsten Indikatoren zu nennen, wuchsen im vorgesehenen Maße. Einige Sektoren wie vor allem die kleine Industrie und der Außenhandel verzeichneten sogar umgekehrt einen deutlichen Rückgang. So gesehen steht, am Maßstab der Kongruenz von Absicht und Realisierung gemessen, der Misserfolg außer Frage. Und auch das Verhältnis von Aufwand und Ertrag war, nach allem, was sich kontrafaktisch ermitteln lässt, alles andere als günstig.
Von diesem Urteil zu trennen ist der Befund, dass der Kraftakt dennoch eines erreichte: den Grundstein für eine verbesserte ‹Infrastruktur› vor allem bei der Energiegewinnung, eine neue Schwerindustrie und die Anwendung modernster Technologie zu legen, wie sie Russland seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Im Zeichen des Planes entstanden die ersten Großprojekte, denen nicht nur eine ökonomische Schlüsselfunktion, sondern auch ein hoher Symbolwert zukam: der Dnepr-Staudamm samt Elektrizitätswerk (schon 1927 begonnen), das neue Stahlzentrum Magnitogorsk im Südural, zugleich die erste Retortenstadt des Reiches, die Erschließung der Kohlevorkommen im Kuzbass und ihre Verbindung mit den Eisenerzen im Ural als erster Schritt zu einem riesigen neuen Schwerindustriezentrum im vorderen Sibirien (Kuzneckstroj, Ural-Kuzbass-Kombinat), die Maschinenbaufabrik in Sverdlovsk (Uralmaš), die turkmenisch-sibirische (Turksib-)Bahnlinie (von Semipalatinsk über Alma Ata in Richtung Taschkent), das größte europäische Landmaschinenkombinat in Rostov am Don (Rostsel’maš), die Automobilwerke in Nižnij Novgorod (Gor’kij), das Traktorenwerk in Stalingrad – wegen des dringenden Bedarfs seiner Produkte in der kollektivierten Landwirtschaft politisch-propagandistisch besonders exponiert – und andere mehr. Das technische Wissen und die anspruchsvollen Produkte stammten dabei aus dem Westen, der sich auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise nicht zierte, den Versuch einer programmatisch antikapitalistischen Industrialisierung durch die Lieferung von Spitzenerzeugnissen zu fördern. So kamen die Fließbänder und Maschinen des Traktorenwerks aus Milwaukee; bei den Planungen assistierten deutsche Spezialisten, und vor Ort arbeiteten amerikanische Ingenieure. Nur Kapital konnten und wollten die krisengeschüttelten westlichen Staaten nicht zur Verfügung stellen. Der zweite Anlauf zur Industrialisierung (nach den 1890-er Jahren) wurde in extrem kurzer Zeit überwiegend aus eigener Kraft unternommen und war in dieser Form aufs engste mit dem Experiment der zentralen, nun nicht mehr unverbindlichen, sondern durch staatliche Gewalt exekutierten Wirtschaftsplanung verbunden.[6]
Unabhängig von Unterschieden in der Gesamtwertung waren sich alle westlichen Autoren von Anfang an darüber einig, dass der Erfolg allzu teuer erkauft wurde. Die beispiellose Anstrengung erwies sich als Überanstrengung, weil sie sich auf wenige Bereiche konzentrierte und dadurch dringend benötigte Ressourcen aus anderen Sektoren abzog. Die exzessive Planung ‹verschwand› in dem Sinne ‹im Plan› (M. Lewin), dass sie unvorhergesehene destruktive Kräfte freisetzte. Was mit Macht vorangetrieben werden sollte, kam voran; was als zweitrangig galt, blieb liegen. Der marktlose Dirigismus setzte sowohl Entscheidungen über das Tempo als auch über sektorale Prioritäten voraus. Entgegen Stalins und sonstigen propagandistischen Behauptungen verlangte die «sozialistische Offensive» nicht nur vom «Klassenfeind» (den «NĖP-Leuten» und «Kulaken») Opfer, sondern auch von der großen Masse, denen sie eine bessere Zukunft schaffen sollte. Zu solchen unbestrittenen, nicht bedachten oder in Kauf genommenen sozioökonomischen Folgen des ‹großen Sprungs› gehörten vor allem folgende Erscheinungen.