Der großen Wende folgte die Stabilisierung der neuen Verhältnisse. Die ‹zweite Revolution›, von der man mit Blick auf das Ergebnis sicher zu Recht spricht, verursachte ähnliche Zerstörungen und eine ähnliche Anarchie wie die erste. Ein zweiter Aufbau und eine neue Ordnung waren nötig, um ihrem Ergebnis klare Konturen zu geben und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wieder leidlich funktionsfähig zu machen. Was zum Teil schon 1931 eingeleitet worden war, wurde zum Signum der Jahre nach dem großen Hunger und dem Ende des industriellen Umbruchs. In der Landwirtschaft nahm das Kolchossystem samt der Ablieferungspflicht und begrenzten Wiederzulassung des privaten Marktes eine feste Gestalt an. In der Industrie folgte dem ersten Fünfjahresplan der zweite, der ein maßvolleres Wachstum vorsah und vor allem darauf abzielte, das Begonnene zu konsolidieren. In der dörflichen wie städtischen Gesellschaft förderte man die neuen Schichten, die vom Umbruch profitiert hatten und den Sozialismus der neuen Art stützten.
Freilich gab es auch gegenläufige Tendenzen. Sie traten in der Herrschaftsverfassung mit besonderer Deutlichkeit zutage, unterminierten aber auch die soziale Ordnung und bedrohten die Existenz eines jeden Einzelnen. Gemeint ist die Zuspitzung des Parteiregimes zur persönlichen Diktatur Stalins samt der zunehmend willkürlichen Gewalt, die sie begleitete und ermöglichte. Von außen gesehen, nahm die Organisation der politischen Macht und staatlichen Administration endgültig einen paradoxen Charakter an: Die Fassade wurde noch demokratischer, das Gebäude selbst immer autokratischer. Nach der Selbstbehauptung der Partei in den Turbulenzen der Industrialisierung und Zwangskollektivierung war Stalins Position unangreifbar geworden. Das politische System verschmolz in der Außenwahrnehmung ebenso wie in seiner inneren Funktionsweise mit seiner Person: Die erste, die Vorkriegsphase des Stalinismus im engeren Sinne begann. Allerdings steht mehr denn je in Frage, wie diese Ordnung, wie die Herrschaft und Verwaltung zu kennzeichnen waren und worauf sich Stalins Macht gründete. Das ältere, stark systemorientierte Konzept totalitärer Herrschaft ist seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ebenso in Zweifel gezogen worden wie die Annahme, Stalin habe die Administration und den Zwangsapparat im ganzen Lande seiner tatsächlichen, eigenen Kontrolle unterworfen. Dagegen sind vor allem aus sozial- und strukturgeschichtlicher Perspektive in den siebziger und achtziger Jahren Einwände erhoben worden, da Detailstudien zahlreiche Belege für Rivalitäten, Widersprüche, Chaos und Leerlauf erbrachten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte der Totalitarismusgedanke insofern eine Renaissance, als die Ideologie samt dem politischen Monopolanspruch, den sie begründete, wieder in den Vordergrund rückte. Dabei war die Neigung groß, beiden nicht nur formale, sondern auch weitestgehende praktische Geltung zuzuerkennen. Diese Tendenz verband sich mit alltags- und mentatlitätsgeschichtlichen Studien, die auf die subjektive Aufrichtigkeit des Glaubens an den Sozialismus auch in seiner stalinistischen Variante aufmerksam machten. Wo diese ‹Revision der Revision› fortdauern wird und welche gemeinsame Schnittmenge an Erkenntnissen und Deutungen sie ermöglicht, lässt sich gegenwärtig nicht absehen. Forschung und Interpretation sind wie (fast) immer im Fluss.
Staat, Verfassung, Recht So wie die NĖP weit mehr als ihr Name war, so griffen auch die Folgen ihres Endes deutlich über die Reorganisation der Wirtschaft hinaus. Die Grundhaltung des Regimes insgesamt, die Bereitschaft zum Arrangement mit vorgefundenen, im Prinzip missbilligten Zuständen, wurde verworfen. Mit ihr verloren die theoretischen Positionen, die von der Voraussetzung eines Kompromisses zwischen Ziel und Wirklichkeit ausgingen, ihren Gegenstand. Der Koexistenz von öffentlichem und privatem Eigentum in der Wirtschaft entsprach die Trennung von Partei und Staat. Formal blieb die Partei während des Neuaufbaus nach dem Bürgerkrieg zwar eine öffentliche, aber eine nichtstaatliche Einrichtung. Sie kam in der Verfassung explizit nicht vor. Lenin beherzigte diese durchaus logische Konsequenz, indem er seinen Genossen parallel zum Widerruf des «Kriegskommunismus» vor allem die Aufgabe zuwies, die Fahne des Sozialismus hochzuhalten und den Kräften des neuen «Kapitalismus» gleichsam von außen Paroli zu bieten. Umso eher gebot der Beginn der neuen Ära eine gegenteilige Politik. Da die formale Unabhängigkeit der Partei vom Staatsapparat im Wesentlichen aus dem Übergangscharakter der Gesamtordnung erwuchs, bestand nach dem Verzicht auf pragmatische Rücksicht auch keine Veranlassung mehr, an ihr festzuhalten. Vielmehr waren die Kommunisten nunmehr aufgefordert, dem neuen Kurs in allen Bereichen zum Sieg zu verhelfen. Die Partei musste, wie es zu ihrer eigentlichen Absicht gehörte, neben der Gesellschaft an vorrangiger Stelle den Staat durchdringen. Fraglos war der Anspruch der Bolschewiki in diesem Sinne totalitär: Sie wollten lenkendes Zentrum des Gemeinwesens in allen Bereichen sein. Wo der Sozialismus zum Staatsziel erhoben wurde, wuchs der Organisation, deren Zweck darin bestand, ihn der Verwirklichung näher zu bringen, zwangsläufig quasistaatlicher Charakter zu.
Auf der anderen Seite gehörte es von Anfang an ebenfalls zum Selbstverständnis des neuen Regimes, die Volksherrschaft erstmals in der Weltgeschichte konsequent zu verwirklichen. Dies leistete der Theorie nach die Räteverfassung. Es versteht sich, dass nach einer Wende im Zeichen der Besinnung auf Geist und Taten der Revolution kein Anlass bestand, diesen Anspruch zu korrigieren. Vielmehr sah man umgekehrt gute Gründe, ihn noch offensiver zu erheben: Wo der erfolgreiche Eintritt in die sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung behauptet wurde, konnte ihr politisches Pendant nicht fehlen. Auch wenn die Diktatur der Partei strenger geworden war und sich zur Diktatur über die Partei zugespitzt hatte, hielt man an der Prämisse fest, dass allein die Partei die Interessen der Bevölkerung repräsentiere und nur ihre Teilnahme an der Staatsführung reale Demokratie garantiere. Dass weder Oktroi noch Substitution mit Selbstbestimmung vereinbar waren, konnte nicht einmal mehr ausgesprochen, geschweige denn bedacht werden. Die paradoxe Verbindung von demokratischem Schein und diktatorischer Wirklichkeit wurde gerade für den programmatischen Sozialismus zur zweiten Haut.
Mit diesem Zweck, Symbol des angeblich neuen Stadiums des Sowjetsozialismus zu sein, hat Stalin persönlich die Ausarbeitung einer neuen Verfassung angeregt und lebhaften Anteil an ihr genommen. Auf seine Empfehlung hin beauftragte der siebte (Allunions)Sowjetkongress Anfang Februar 1935 den Vorsitzenden des SNK Molotov, eine entsprechende Kommission einzusetzen. Deren Entwurf lag dem ZK bereits am 1. Juni 1936 vor und wurde von diesem Gremium, wie es nicht anders sein konnte, gebilligt. Was danach folgte, war ebenso neuartig wie ungewöhnlich. Mit großem propagandistischen Aufwand und unter Beteiligung aller Massenorganisationen wurde im Sommer und Herbst eine breite «Diskussion» inszeniert, deren offizielles Ergebnis niemanden überraschte: vorbehaltlose Zustimmung landauf landab. Ungeklärt bleibt bislang, ob die Kampagne nur der Erzeugung demokratischer Scheinlegitimation diente oder auch als Test der Möglichkeit zu verstehen war, den unteren Parteigremien und Sowjets mehr Mitwirkungschancen einzuräumen. Demnach wäre der Versuch erst abgebrochen worden, als die Angesprochenen selbstbewusst eigene Interessen zu verfolgen begannen.[1]
Wie auch immer, planmäßig kam Ende November 1936 ein außerordentlicher Sowjetkongress zusammen, der den Text der neuen Verfassung endgültig verabschiedete. Stalin ließ es sich dabei nicht nehmen, in einer mehrfach nachgedruckten Rede die Interpretation des Ereignisses vorzugeben. Er sprach von einem ‹historischen Dokument›, das «in einfacher und gedrängter Form» sowohl vom ‹Sieg des Sozialismus› als auch vom Triumph der «restlos konsequenten Demokratie» in der Sowjetunion künde. Es fasse die Umwälzung der vergangenen Dekade «fast im Protokollstil» zusammen: die Überführung sämtlicher Produktionsmittel einschließlich des Grund und Bodens in öffentliches Eigentum, die «Liquidierung» der «Kulaken» als Klasse und die endgültige Sicherung der Herrschaft von Arbeitern und Bauern. Mehrfach von stehenden Ovationen unterbrochen, pries Stalin die neue Verfassung als Beweis für die Aufhebung der «Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» und eigentliche Vollendung «bürgerlicher» politischer Verfassungen. Dabei versäumte er nicht, den propagandistischen Effekt auch nach außen zu kehren: In der gegebenen Situation wollte er dieses Zeugnis ‹echter› Demokratie nicht zuletzt als «Anklageakt gegen den Faschismus» verstanden wissen.[2]
In der Tat enthielt die Verfassung vorbildliche Bestimmungen. Sie verkündete eindrucksvolle «Bürgerrechte» für alle: einen Anspruch auf «Arbeit», «Ruhe und Erholung», «materielle Sicherheit» im Alter, «Bildung» und Gleichberechtigung für Frauen. Sie garantierte die Grundfreiheiten zur Versammlung, Rede, Schrift und Demonstration. Sie verankerte einen makellos demokratischen Staatsaufbau in Gestalt einer von unten nach oben gewählten Pyramide von Räten und jeweils von diesen bestimmten Exekutivkomitees mit der demonstrativen Ausnahmebestimmung, dass der Oberste Sowjet (der sowohl den alten Allunionssowjet als auch dessen CIK ersetzte) sowie die korrespondierenden Sowjets der Unions- und der Autonomen Republiken direkt gewählt werden sollten. Sie schrieb die Verantwortlichkeit der – weiterhin SNK genannten – Regierung gegenüber dem Obersten Sowjet fest (Art. 31). Sie brachte den föderativen Charakter des Gesamtstaats durch die Einrichtung einer Nationalitätenkammer als Teil des Obersten Sowjets und deren Gleichberechtigung mit der Unionskammer klarer zum Ausdruck, als das in der alten Verfassung der Fall war (Art. 38). Sie betonte die Unabhängigkeit der Justiz und sah als oberste Hüterin der Recht- und Verfassungsmäßigkeit des Verwaltungshandelns neben dem Obersten Gerichtshof sogar eine staatliche Prokuratur vor, die Verstöße von Amts wegen zu verfolgen hatte (Art. 102 ff.). Schließlich gab sie auch ein Wahlrecht vor, gegen das formal wenig einzuwenden war. Im Gegensatz zu den Verfassungen von 1918 und 1924 sollten die Stimmen nicht nur geheim, frei und direkt, sondern auch gleich abgegeben werden (Art. 134 ff.). Die Diskriminierung derjenigen, die angeblich nicht von eigener Arbeit lebten, wurde aufgehoben. Der etablierte Sozialismus, so lautete die Botschaft dieser markantesten Neuerung, hatte diese Art von Klassenkampf nicht mehr nötig; er konnte sich das ‹Risiko› leisten, eine ökonomisch entmachtete, als solche nicht mehr erkennbare ‹Schicht› wahlrechtlich wieder gleichzustellen.
Doch all diese Vorzüge nutzten niemandem. Zum einen gab es manche Bestimmungen, die den wohllautenden Vorschriften schon theoretisch die Kraft entzogen. So verfügte der erste Artikel, dass die Sowjetunion «ein sozialistischer Staat von Arbeitern und Bauern» sei. Die Formulierung war an dieser Stelle mehr als eine Floskel. Vielmehr enthielt sie eine fundamentale Festlegung, die als Prämisse für alle folgenden Paragraphen zu betrachten war: dass Privateigentum an Produktionsmitteln im Geltungsbereich der Verfassung ebenso wenig Platz hatte wie die «Bourgeoisie». Anstelle der «kapitalistischen Wirtschaftsordnung» wurde allein die «sozialistische» in Gestalt staatlicher oder kollektiver Betriebe zugelassen. Auch die politische Dimension dieser konstitutionellen Fixierung der Wende von 1929/30 blieb nicht unerwähnt. «Alle Macht» sollte von den Räten als Verkörperung der «Diktatur des Proletariats» ausgehen. Entsprechend betonte Stalin in seiner Exegese, dass Demokratie und Diktatur der Werktätigen nicht als Gegensätze zu sehen seien. Vor diesem Hintergrund erhielt auch die erstmalige Nennung der Partei in der Verfassung ihr Gewicht: So beiläufig sie war, so deutlich zeigte sie, dass vor allem die Bolschewiki als «Avantgarde der Werktätigen» und «Kern» aller Organisationen die «Entwicklung des sozialistischen Systems» vorantreiben und die Verfassung mit Leben erfüllen sollten. Schon diese Bestimmungen hätten ausgereicht, um den demokratischen Anstrich gründlich zu zerstören. Ein Weiteres kam jedoch hinzu: Kein Buchstabe der wohlgesetzten Paragraphen wurde je Wirklichkeit. Im Ausland durchschaute man dies nicht immer sogleich. Keine Geringeren als die angesehenen englischen Sozialisten Beatrice und Sidney Webb haben den Text für bare Münze genommen und ihrer Hoffnung auf Vollendung der «Sowjetdemokratie» Ausdruck gegeben. Tatsächlich konnte der Kontrast aber größer kaum sein: Die Verfassung blieb über vierzig Jahre in Kraft (bis 1977) – und wog doch praktisch wenig mehr als ein Fetzen Papier.[3]
Wie die Sowjetunion unter Stalin tatsächlich regiert wurde, entzieht sich bis heute genauerer historischer Kenntnis. Auch ein Vierteljahrhundert nach Öffnung der sowjetischen Archive gibt es – zumal im Vergleich zur Geschichte des «Dritten Reichs» – nur wenige Darstellungen, die über eine interpretierende Skizze der formalen Verfassungs- und Verwaltungsstruktur hinausgingen. Fallstudien sind, auch in Biographien hochrangiger Stalinscher Gefolgsleute und Mittäter ‹versteckt›, selten geblieben. Die wenigen vorliegenden bestätigen zwar, was im Zuge der Rückkehr zum Bild eines ‹starken› Diktators zum weitgehenden Konsens geworden ist. Zugleich lassen sie aber bei der Umsetzung politischer Grundsatzentscheidungen so viel Spielraum für eigene Initiativen und Interessen zentral und regional agierender Satrapen erkennen, dass sich kein eindeutiges Bild ergibt. So können Vertreter beider Auffassungen, einer eher sozialhistorisch-‹funktionalistischen› und einer eher herrschaftsorientierten, ‹totalitaristischen›, Argumente für ihre Positionen finden. Nach wie vor müssen daher knappe Verallgemeinerungen genügen.[4]
Die Verfassungskampagne und die Propagierung tatsächlicher Wahlen für die unteren Gremien von Partei und Staat in den folgenden beiden Jahren passen besser ins Gesamtbild, als der erste Blick vermuten lässt. Antibürokratische Affekte gehörten nicht nur zum Repertoire bolschewistischer, sondern gerade auch stalinistischer Politik, wie die Geschichte der ‹großen Wende› lehrt. Hinzu kommt, dass die diktatorische Herrschaftsform schon immer mit plebiszitärer Legitimation spielte, die in der Regel leichter zu sichern war als die Zustimmung gewählter oder auf andere Art delegierter Landesvertreter. Trotzkis Charakterisierung des Stalinschen Regimes als Bonapartismus hatte darin womöglich eine größere Berechtigung als im primär gemeinten Sinn des ‹Bürokratismus›. Auf einem andern Blatt stand die wirkliche Verteilung der Macht. Nichts spricht zugunsten der Annahme, dass sich die Praxis in nennenswertem Maße geändert hätte. Weiterhin stand der «demokratische Zentralismus» nur auf dem Papier. Die tatsächliche Meinungsbildung verlief ebenso wie die Umsetzung der Entscheidungen sowohl in der Partei als auch im Staat von oben nach unten. Nach wie vor bildete deshalb auch die Sowjetpyramide eine Ordnung ohne wirkliche Befugnisse. Die Ausdehnung des Wahlrechts änderte nichts daran. Von der «doppelten Verantwortlichkeit» der Exekutivkomitees auf allen Ebenen – außer der höchsten – gegenüber den jeweiligen Plena und gegenüber den nächsthöheren Exekutivkomitees fiel nur die Letztgenannte ins Gewicht. Immer noch waren die Sowjets, die der Idee nach Legislative und Exekutive zugleich sein sollten, weder das eine noch das andere, sondern ganz überwiegend eines: bloße Fassade.
Weil die proklamierte Aufhebung der Gewaltenteilung ebenfalls nur auf dem Papier stand, hatte sich die in der Sowjetordnung formal nicht vorgesehene selbständige Exekutive in Gestalt der Regierung nicht nur erhalten, sondern weiter gefestigt. Auch nach Lenins Tod war der Gedanke nie ernsthaft erwogen worden, den SNK etwa mit dem CIK des Allunionssowjets zu verschmelzen. Vielmehr passte man die Kommissariate an den Wandel der Verhältnisse und Anforderungen an. Der nachhaltigste Impuls ging dabei von der Einführung der Planwirtschaft aus. Obwohl die Branchenministerien erst im Krieg geschaffen wurden, ergab sich von Anfang an die Notwendigkeit, die neue, bald mächtigste Bürokratie überhaupt durch die Bildung zweier allgemeiner Ministerien für die Schwer- und die Verteidigungsindustrie in das Kabinett aufzunehmen. Hinzu kam die Oberste Planbehörde als permanent vertretenes «Staatskomitee». Drei weitere Industrieressorts (Nahrungsmittel, Holz und Leichtindustrie) wurden jeweils auf Republikebene ohne Unionspendant eingerichtet. Dagegen schlug sich die Zwangskollektivierung bezeichnenderweise weniger deutlich nieder. Angesichts der Fiktion formaler Gleichberechtigung der einzelnen Unionsrepubliken lag im Verhältnis zwischen den Republiks- und den Unionsministerien ein erhebliches Konfliktpotential. Bislang spricht wenig dafür, dass es – anders als in den ersten Jahren der Unionsexistenz – in der Stalinära störend in Erscheinung trat. Die allgemeine Unterordnung der Republikskommissariate unter die entsprechenden Unionskommissariate scheint ausgereicht zu haben, um die Hierarchie auch in der Praxis zu fixieren und Letzteren einen Instanzenzug zu verschaffen, über den sie selbst nicht verfügten. Da alle Gremien gleichermaßen von der Partei besetzt und dirigiert wurden, fielen die wichtigen Entscheidungen ohnehin andernorts. Es war symptomatisch, dass Stalin darauf verzichtete, Lenin auch im Vorsitz des SNK zu beerben. Angesichts der begrenzten Befugnisse der Regierung konnte er es sich leisten, selbst dieses formal herausragende Amt einem getreuen Paladin, dem vielfach einsetzbaren Molotov, zu übertragen.[5]
Das eigentliche Novum der dreißiger Jahre aber bestand nicht in der Hegemonie der Partei, sondern – neben der wachsenden Bedeutung des Terrors als Herrschaftsinstrument – in der persönlichen Diktatur über die Partei. In der Tat wich die ‹kollektive Führung›, worauf später N. S. Chruščev seine Anklage hauptsächlich stützte, dem letzten Wort eines Mannes in allen wichtigen Angelegenheiten. In der Essenz knüpfte dieses Verfahren zwar an die letzten aktiven Jahre Lenins an, ohne dessen Zustimmung keine wichtige Entscheidung getroffen wurde. Aber sosehr sich Stalin auch als ‹Erbe› in Szene setzte, er war nicht Lenin. Bei aller Zustimmung, die er in manchen Gruppen von Partei und Bevölkerung gefunden haben mag, konnte er sich auf keine annähernd vergleichbare, selbst von Kritikern akzeptierte Autorität stützen. Vielmehr setzte er sich gegen zahlreiche innerparteiliche Gegner und millionenfachen Widerstand in der Bevölkerung durch. Stalin unterwarf und entmachtete seine tatsächlichen und vermeintlichen Opponenten (anfangs nicht vorrangig durch physische Liquidierung), aber er gewann sie nicht. Auch dadurch mögen die bleibende Härte seines Regimes und der nachfolgende Terror zu erklären sein, der bei aller Eigendynamik und manchen anderen Opfern die ‹alten Bolschewiki› durchaus gezielt traf. Insofern besaß seine Diktatur eine andere Qualität. Sie stand nicht nur im Gegensatz zum oligarchischen Entscheidungsprozess, den es nach Lenins zweitem Schlaganfall fraglos gab, sondern ging darüber hinaus in neuer Weise aus innerparteilichen, schließlich mit terroristischen Mitteln beendeten Machtkämpfen hervor. Vor Kriegsausbruch verkörperte Stalin nicht, wie Lenin, die Herrschaft der Partei (zumindest ihrer Mehrheit) über die Bevölkerung im Sinne des bolschewistischen Anspruchs und des Oktoberumsturzes, sondern die Herrschaft eines Teils der Partei über einen anderen. Allem Anschein nach fand diese nie formalisierte, sowohl gegen die geschriebene Verfassung als auch gegen die institutionelle Struktur des Staates verstoßende Machtkonzentration in der Schlüsselstellung eines Geheim- und Privatsekretariats einen organisatorischen Ausdruck. Wo letztlich alle zentralen Anweisungen der Billigung eines Mannes bedurften, wuchs dessen engstem Vertrauten (seit 1930 A. N. Poskrebyšev) eine Machtfülle zu, die weit über seine eigentliche Funktion hinausging.[6]
Gesellschaft und Rechtsordnung waren aus den genannten Gründen (vgl. IV. 2) in der Sowjetunion vielleicht noch enger miteinander verzahnt als in anderen Staaten. Nach der Revolution hatte man das Justizwesen – in Umkehrung seiner vorgeblichen Funktion für das alte Regime – erklärtermaßen in den Dienst der «Diktatur des Proletariats» gestellt. Der Preis dieser Instrumentalisierung war hoch: Jede Untat der Tscheka fand ihre Rechtfertigung; Recht wurde auf programmatische Weise parteilich und büßte seine regulierende, Erwartungssicherheit stiftende Kraft ein. Schon deshalb verlangte der Wiederaufbau im Zeichen der NĖP auch rechtliche Konsequenzen. Nicht nur das teilweise wiederzugelassene Privateigentum brauchte gesetzlichen Schutz; die ganze Gesellschaft konnte den Übergang zum Frieden nur auf der Grundlage verlässlicher Rechtsnormen bewältigen.
Entsprechend stand eben dieser Vorrang wie immer auch begrenzter Rechtssicherheit mit dem Ende der NĖP erneut zur Disposition. Schon die Getreiderequisition im ersten Krisenwinter 1927/28 trat die Eigentumsgarantie ebenso wie die Persönlichkeits- und Bürgerrechte mit Füßen. Nicht nur Wirtschaftspolitik und Ideologie, bald gefolgt von der gesamten inneren Politik, kehrten zu den Prinzipien der Bürgerkriegsjahre zurück, sondern auch das Justizwesen in all seinen Aspekten. Sichtbar wurde diese Wende zuerst in der Rechtstheorie. Von der Partei ermuntert, konnten radikale Marxisten, angeführt von Pašukanis, Stučka und Krylenko, gegen pragmatisch orientierte Spezialisten in der Kommunistischen Akademie und andernorts vorgehen. Vorwürfe des ‹vulgären Positivismus›, ‹sentimentalen Soziologismus› oder gar ‹liberal-humanitärer› Prämissen blieben nicht ohne personelle Konsequenzen. Wie die Wirtschaftsexperten im Gosplan verloren die Gemaßregelten, wenn ihnen nicht Schlimmeres geschah, ihre Stellung. Neue Leute rückten auf, die zu begründen versuchten, was die Renaissance ‹linker› Orthodoxie vorgab: die Orientierung von Recht und Rechtsprechung an den Lehrsätzen vom Klassenkampf und vom ‹Absterben des Staates› bei der Vollendung des Sozialismus. Die Korrespondenz zur Stalinschen Politik und einer ideologischen Kampagne, die den Aufbruch in eine bessere Welt ohne agrarische und industrielle Überreste des Kapitalismus begleitete, ist unübersehbar. Dagegen schlug der Wandel in der formalen Organisation der Rechtsprechung kaum durch. Die Veränderungen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Anpassung an die neuerliche Korrektur der territorial-administrativen Gliederung (Abschaffung des okrug). Nicht nur der Übergangscharakter der Zeit erklärt diese Diskrepanz, sondern wohl auch die wachsende Sichtbarkeit einer Erscheinung, der die Zukunft gehörte: die Aushöhlung aller Legalität durch Sondergerichte und die uneingeschränkte Selbstjustiz der Geheimpolizei.[7]
Was sich in den frühen Schauprozessen ankündigte, gewann nach dem Abschluss des Wendemanövers alleinigen Vorrang. Alles spricht dafür, dass um 1935 – die Datierung ist unterschiedlich – eine weitere Zäsur der Rechtsentwicklung zu verzeichnen war. Es begann die letzte Vorkriegsetappe, die im Zeichen der Sicherung des Erreichten stand. Der Umbruch mündete auch in dieser Hinsicht in die Aufgabe, neue Stabilität zu schaffen. Damit stand aber nicht nur eine Korrektur der Gesetze, sondern auch eine der Rechtstheorie an. Die mobilisierende, auf die Zukunft gerichtete Funktion wich einer eher konservierenden. Hinzu kam, dass sich die neue Ordnung stärker auf das Monopol staatlicher Gewaltausübung stützte als die alte. Auch wenn die herrschaftsfreie Gesellschaft proklamiert wurde, war es offensichtlich, dass der Staat als Inhaber und Vollstrecker der Zwangsgewalt ebenso wenig ‹abstarb› wie die öffentliche Verwaltung. Was eben noch als ‹wirklich› marxistisch galt, wurde nun als geistige Sabotage an den Errungenschaften des Sozialismus denunziert. Wie viele andere zahlte Pašukanis einen hohen Preis für seine Gesinnungsfestigkeit. Zum Menetekel einstiger Wahrheiten geworden, verschwand auch er in den Säuberungen des Jahres 1937. Den Sieg trugen A. Ja. Vyšinskij, gefürchteter Chefankläger in den Schauprozessen des ‹Großen Terrors›, und seine opportunistischen Mitstreiter davon, die aus dem großen Reservoir elastischer Versatzstücke des stalinistischen «Marxismus-Leninismus» eilfertig eine passende ‹Erklärung› fabrizierten. In ihrer Sicht bestand die Koexistenz von ‹bürgerlichem› und ‹sozialistischem› Recht und damit auch die Notwendigkeit eines starken Sowjetstaates fort, solange dieser von einem kapitalistischen Bollwerk im Ausland umgeben war. Auch rechtlich sollte der Sozialismus wehrhaft sein.
In diesem Sinne wurden, anders als in der vorangegangenen Etappe, frühzeitig auch Eingriffe in das materielle Recht und die Organisation der Rechtsprechung vorgenommen. Den Auftakt bildete die Einrichtung eines «Sonderkomitees» im Zuge der Verschmelzung der OGPU mit einem neuen, unionsweiten Innenkommissariat, des bald berüchtigten NKVD, im Juli 1934. Laut Gesetz vom 5. November des gleichen Jahres gehörte diesem Gremium ex officio zwar auch ein Vertreter des Generalstaatsanwalts beim Obersten Gerichtshof an. Aber dessen Präsenz allein änderte, selbst wenn sie mehr als ein bloßes Alibi war, nichts an der entscheidenden Tatsache, dass die Exekutive mit der neuen Einrichtung die Möglichkeit besaß, ohne reguläres Verfahren, ohne Appellation und Überprüfbarkeit durch ordentliche Gerichte, Strafen zu verhängen. Dass deren Begrenzung auf fünf Jahre Verbannung und «Besserungsarbeit» beachtet wurde, darf als unwahrscheinlich gelten. Schon vor dem Mord am Leningrader Parteichef S. M.Kirov schuf die Gründung des Sonderkomitees die Möglichkeit zur unkontrollierten administrativen Schnelljustiz. Der Ausnahmezustand war, falls er faktisch nicht ohnehin bestand, institutionell auf den Weg gebracht. Nach den Leningrader Schüssen wurden, neben der Verfügung von Sondermaßnahmen bei «terroristischen» Anschlägen, mehrere bereits bestehende Strafbestimmungen auch förmlich verschärft. Dabei blieb vom marxistischen Urgedanken der sozialen Verursachung von Vergehen und der korrigierenden statt vergeltenden Aufgabe der Strafe wenig übrig. Schon das geschriebene Recht nahm eine bemerkenswerte Härte an. Insofern kam der oft zitierten Absenkung des Straffähigkeitsalters bei schwereren Delikten auf zwölf Jahre im April 1935 durchaus exemplarische Bedeutung zu.
Weit schlimmer war freilich die parallele Unterminierung jeglicher Gesetzmäßigkeit durch die unkontrollierte Gewalt der Exekutive nicht nur in Gestalt der Geheimpolizei. Schauprozesse und förmliche Verfahren vor Sondergerichten brauchte man letztlich nur für prominente Opfer; auch von ihnen erfuhr die Öffentlichkeit, wenn überhaupt, erst post festum. Die zahllosen anonymen Anderen verschwanden ohne derartiges Aufheben. Angesichts dessen konnte die Bestätigung der Unabhängigkeit der Justiz und makelloser Rechtsstaatlichkeit in der neuen Verfassung von 1936 nur wie blanker Hohn wirken. Das Grundübel war und blieb, dass die Einparteienherrschaft weder politischen Pluralismus noch gar die geschützte Unabhängigkeit der regulären staatlichen Gewalten zuließ. Recht im Stalinschen Staat konnte es ebenso wenig geben wie ein richtiges Leben im falschen.[8]
Terror und Schauprozesse Ungeachtet aller Säuberungen und der wirksamen Unterdrückung erklärter Gegner wurde die Partei als Institution von der ‹großen Wende› am wenigsten berührt. Sie wechselte ihren Kurs, erneuerte ihre Mitglieder, erweiterte ihre Einflusssphäre und schickte sogar eine eigene ‹Armee› in ihren Krieg gegen das Dorf. Aber sie beschleunigte damit in vieler Hinsicht nur bestehende Tendenzen. Zu den Ergebnissen der «zweiten Revolution» gehörte an vorrangiger Stelle, dass die letzten Bereiche relativ eigenständiger Regulation beseitigt und ebenfalls zentraler Verfügungsgewalt unterworfen wurden. Da das Parteimonopol nicht nur fortbestand, sondern sich sogar zur Herrschaft eines Mannes und seiner Clique verengte, lief dieser Vorgang auf die weitere Konzentration aller politischen Macht an und in der Parteispitze hinaus. Dennoch wäre es voreilig, daraus bereits auf eine völlig unbedrohte Stellung Stalins zu schließen. Gewiss konnte er den industriellen Spurt trotz aller Pannen als persönlichen Triumph werten. Und noch mehr schlug die wider alles Erwarten einigermaßen ausreichende Ernte von 1933 (nicht weil sie gut gewesen wäre, sondern weil angesichts von Deportation und Hunger weniger Menschen zu ernähren waren), um deren Bedeutung er wusste und die er nach Kräften zu ermöglichen geholfen hatte, zu seinen Gunsten zu Buche. Aber das blutige Drama der Zwangskollektivierung hatte auch in der Partei Spuren hinterlassen. Dass offene Opposition schnell zum Schweigen gebracht wurde, besagte nicht allzu viel über die Verbreitung unterschwelliger Unzufriedenheit. Der nächste Parteitag musste Auskunft über die Stimmung und Wünsche zumindest der Funktionsträger nach dem Gewaltakt geben. Insofern wohnte ihm eine größere Spannung inne als manchen früheren Veranstaltungen dieser Art.
Ende Januar 1934 kamen 1966 Delegierte aus allen Landesteilen zusammen. In welchem Maße sie für die Parteibasis standen, wird man angesichts der längst üblichen Einflussnahme übergeordneter Instanzen auf ihre Wahl kaum mehr in Erfahrung bringen können. Aus einer Umfrage der Mandatskommission geht indes ein anderer bemerkenswerter Umstand hervor: dass ca. 80 % der Teilnehmer im Revolutionsjahr oder während des Bürgerkriegs in die Partei eingetreten waren. Da dies nur für 10 % aller Parteimitglieder galt, repräsentierte die Versammlung nicht die ‹Aufsteiger› im engeren Sinne und jene militante junge Garde, die Stalins Kurswechsel durchzusetzen geholfen hatte. Mit gutem Grund ist dem propagandistischen Etikett «Parteitag der Sieger» daher die Kennzeichnung als «Parteitag der alten Garde» an die Seite gestellt worden. Im Rückblick auf die Schrecken der folgenden Jahre zeigt sich, dass es die letzte Veranstaltung mit diesem Merkmal war. Wie ihre entsetzten Nachfolger 22 Jahre später erfuhren, wurden nicht weniger als 1108 (= 56,4 %) der Abgeordneten unter der Anschuldigung «konterrevolutionärer Verbrechen» verhaftet. Viele überlebten ihre Strafe nicht. So darf ein weiterer Titel des Kongresses keine geringere Berechtigung für sich in Anspruch nehmen: dass er auch ein «Parteitag der Opfer» war.[9]
Dabei war ein solcher Ausgang nicht vorauszusehen. Die Zeichen standen auf Versöhnung. Nach der Ernte des Jahres 1933 verbreitete sich in der Parteispitze mit dem Gefühl des Sieges (oder der Erleichterung der Davongekommenen) auch eine Neigung, die Grabenkämpfe der jüngsten Vergangenheit beizulegen. Umgekehrt versuchten die Verlierer zu retten, was zu retten war, und zeigten – zum wiederholten Mal – Reue. Ihre Unterwerfung schien akzeptiert zu werden. Kamenev, Zinov’ev, Radek und andere wurden wieder in die Partei aufgenommen und als Delegierte zur großen Feier eingeladen: Alles war vorbereitet, um dem Land und der Welt neue Einigkeit und Macht zu demonstrieren. Ganz oben auf der Welle des Jubels und des Stolzes schwamm Stalin. Er konnte in seinem Rechenschaftsbericht mit größerer Überzeugungskraft als je zuvor verkünden, «alle» könnten sich davon überzeugen, «dass die Parteilinie gesiegt» habe und der Aufbau des «Sozialismus in einem Lande» möglich sei. Die Zuhörer dankten ihm mit Begeisterungsstürmen, die sicher nicht nur bloßem Opportunismus oder der Suggestivkraft des Massenapplauses, sondern auch ‹aufrichtiger› Verblendung entsprangen. Für so viel Verehrung reichte der «Führer»-Titel schon nicht mehr aus. Nun attestierte man dem «großen Genius» Stalin unter «donnernden Hurrarufen» «Ruhm und Ehre». Als sich Lenins Todestag zum zehnten Mal jährte, hatte der Staatsgründer nach den Bekundungen der Partei endgültig einen würdigen Nachfolger gefunden: Von Lenin zu Stalin, lautete fortan die unbestrittene Sukzession. Dabei wurde die Wirkung dieser Botschaft durch den Auftritt der einstigen Kritiker noch verstärkt. Zinov’ev, Kamenev, Pjatakov, Bucharin, Rykov, Tomskij und andere schlossen sich der Huldigung, zum Teil in peinlich-devoten Worten, ausdrücklich an. Anders als Trotzki widerriefen sie ihre angeblichen Sünden. Sie gönnten Stalin das Schauspiel eines Kniefalls, um weiterhin einer Organisation angehören zu können, die Teil ihres Selbst war. Es gehörte zur tiefsten Tragik der folgenden Jahre, dass sie auch dadurch ihren Kopf nicht zu retten vermochten.[10]
Gleichwohl deutete bislang alles darauf hin, dass es einen Vorfall gab, der dem Diktator den Triumph gründlich vergällte: der Auftritt eines potentiellen Rivalen. Zugleich sind in jüngster Zeit viele ernst zu nehmende Zweifel an dieser Version der Ereignisse geäußert worden. Die gesamte Vorgeschichte und Geschichte des Mordes am Leningrader Parteichef Kirov beruht auf einer fragilen Indizienkette. Einige Glieder haben sich als brüchig erwiesen, ohne dass andere an ihre Stelle getreten wären. Es kann so gewesen sein, wie es seit einigen Jahrzehnten aufgrund weniger Quellen rekonstruiert wurde; es kann sich aber auch gar nichts dergleichen zugetragen haben.
Die ‹Verschwörungsthese› meinte aus Memoiren und Berichten Hinweise darauf entnehmen zu können, dass Vorbehalte gegen Stalin geäußert und sogar Versuche unternommen wurden, seine Ablösung vorzubereiten. Dabei avancierte Kirov ohne seine aktive Teilnahme zum Hoffnungsträger. Dem wichtigsten Gewährsmann zufolge (keinem Geringeren als Bucharin) stand der Leningrader Parteichef für eine flexiblere und weniger gewalttätige Umsetzung der «Generallinie». Wohl hatte er sich während des ersten Fünfjahresplans als kompromissloser Verfechter wahnwitziger Planziffern erwiesen. Auch beim Bau des berüchtigten Weißmeer-Kanals, des ersten Großprojekts, das überwiegend von Zwangsarbeitern des Gulag errichtet wurde, hatte er keine Skrupel erkennen lassen. Als Mann Stalins nahm er Gewalt in Kauf, vermied aber das Odium willkürlicher Brutalität. So erwarb er sich in der Partei und Bevölkerung trotz allem den Ruf, «für die Abschaffung des Terrors» zu stehen. Mit Gor’kij riet er zu einem Neubeginn und verkündete in seinen Reden, dass es in der Partei «keine unversöhnlichen Feinde von Bedeutung» mehr gebe. Eingedenk der Chancenlosigkeit für einen wirklichen Gegner Stalins (den es in den oberen Parteietagen auch längst nicht mehr gab) mochte es deshalb naheliegen, dass sich die kleine Schar Entschlossener, die den Generalsekretär ablösen wollte, an Kirov hielt und ihn bat, als Gegenkandidat zur Verfügung zu stehen. Kirov aber lehnte nicht nur ab, sondern informierte darüber hinaus Stalin. Die ‹Palastrevolte› fand nicht statt. Dennoch blieb Stalin dieser Version zufolge eine Demonstration der Popularität seines Rivalen wider Willen nicht erspart. Kirov wurde nicht nur ins ZK, sondern auch zu einem der Sekretäre des ZK gewählt. Der «Alte Bolschewik» machte auf die Konsequenzen dieser Bestallung aufmerksam: Sie war mit einer Übersiedlung nach Moskau verbunden und hätte die Präsenz Kirovs im Zentrum der Macht erheblich gestärkt. Die nachhaltigste Lektion zog der Generalsekretär jedoch aus dem Ergebnis der Wahlen zum neuen ZK. Nach dem alten Usus des «Ballotierens» gaben die Delegierten über jeden Kandidaten sowohl positive als auch negative Voten ab. Bei der nächtlichen Auszählung stellte sich heraus, dass Kirovs Name nur ganz wenige Male durchgestrichen worden war, während auf Stalin, Molotov und Vorošilov je über hundert Gegenstimmen entfielen. Das Ergebnis wurde gefälscht und der «Führer» mit überwältigender Mehrheit im Amt bestätigt. Die überkommene, stark biographisch orientierte Deutung leitet aus diesem Geschehen die Vermutung ab, Stalin habe in dem Vorfall eine ernste Gefährdung seiner Alleinherrschaft gesehen und machthungrig, skrupellos und hinterhältig, wie er war, die Beseitigung nicht nur Kirovs, sondern der gesamten alten bolschewistischen Garde beschlossen.
Sicher spricht neben der Chronologie der Geschehnisse vor allem die unleugbare Instrumentalisierung des Attentats für eine solche Deutung. Dass Stalin ihn als Vorwand für die erste Welle von Gewalt und Verhaftungen nutzte, passt zu seiner bekannten Paranoia und der hinterhältigen Grausamkeit, die er in den folgenden Jahren im Übermaß bewies. Niemand hat je bezweifelt, dass ihm eine solch mörderische Intrige zuzutrauen war. Nur fehlt es nach wie vor an Beweisen. «Trotz sorgfältiger Suche» sind «nicht einmal Indizien» für eine Verschwörung entdeckt worden. Dieser Befund, der vor der Öffnung der Archive vielleicht noch als lässlicher Mangel gelten konnte, ist danach fraglos zu einem schwerwiegenden Einwand geworden. Auch aus Kirovs Parteikarriere lässt sich kein Argument für die ihm zugeschriebene Rolle gewinnen, sondern eher das Gegenteil. Insofern haben sich die Zweifel an der Geschichte des «Alten Bolschewiken» nachhaltig verstärkt.[11]
Ähnliches gilt für den genauen Hergang des Anschlags, den man oft mit der Ermordung Ernst Röhms und seiner Spießgesellen Ende Juni 1934 verglichen hat – ein Coup, dessen Kaltschnäuzigkeit Stalin nachweislich beeindruckte. Dass das NKVD und der Generalsekretär selber ihre Hände im Spiel hatten, versuchte erstmals zu Beginn der fünfziger Jahre ein Überläufer des KGB zu belegen. Seit Chruščev diese Vermutung in seiner Geheimrede vor dem 20. Parteitag der KPdSU aufgriff und auf dem 22. Parteitag 1961 weitere Einzelheiten enthüllte, galt sie in der westlichen Literatur mehr oder weniger als Faktum. Sie stützte sich auf eine Reihe von Merkwürdigkeiten, die anders nicht plausibel erklärbar zu sein schienen.
So ging man davon aus, dass der Attentäter Leonid Nikolaev, ein einfacher, vom Leben enttäuschter und etwas verwirrter Kommunist, zuvor bereits versucht hatte, Kirov aufzulauern. Er sei vom örtlichen NKVD verhaftet, aber nach kurzer Vernehmung wieder freigelassen worden, obwohl er einen Revolver samt einer Karte mit der Route, die das Opfer gewöhnlich nahm, bei sich trug. Selbst die Schusswaffe habe man ihm zurückgegeben. Als Nikolaev den Parteichef am 1. Dezember 1934 in dessen gut bewachtem Dienstgebäude, dem Smolnyj, schließlich erschoss, war es ihm nicht nur gelungen, bewaffnet bis in den dritten Stock zu gelangen. Er traf Kirov außerdem allein an, da der Leibwächter am Eingang von neuen, aus Moskau entsandten Wachen aufgehalten worden war. Am nächsten Morgen kam Stalin höchstpersönlich, begleitet von Molotov, Vorošilov, Ždanov und anderen Mächtigen des Landes, nach Leningrad, um die Vernehmungen durchzuführen. Als Kirovs unglückseliger Leibwächter unter Bewachung durch zwei Moskauer NKVD-Leute zum Verhör gefahren wurde, streifte der Lastwagen eine Hauswand. Obwohl der Wagen bis zum Zielort weiterfahren konnte, war der wichtige Zeuge tot. Anders als die Bewacher, die bald erschossen wurden, überlebte der Fahrer die Stalinära und sagte gegenüber der Chruščevschen Untersuchungskommission aus, ein neben ihm in der Führerkabine sitzender NKVD-Mann habe ins Steuer gegriffen und den Unfall vorsätzlich herbeigeführt. Auch der Arzt, der den Totenschein ausstellte, räumte zu dieser Zeit ein, dass die letalen Verletzungen des Leibwächters nicht durch den Aufprall zu erklären gewesen seien. Weitere Informationen aus zweiter und dritter Hand schienen diesen Hergang zu bestätigen. So soll Nikolaev im Gefängnis geäußert haben, der ganze Anschlag sei vom Geheimdienst inszeniert worden. Nicht zuletzt erregte im Rückblick auch die ungewöhnliche Aufmerksamkeit Argwohn, die der «Führer» dem Angeklagten schenkte; immerhin besuchte er diesen in seiner Zelle und redete eine geschlagene Stunde auf ihn ein.
Auf der anderen Seite ist schon seit längerem daran erinnert worden, dass keine dieser Auffälligkeiten und kolportierten Aussagen das Staatsverbrechen schlüssig beweise. Nikolaev habe den Revolver legal seit 1918 besessen. Er sei in unverdächtigen Umständen verhaftet und wieder entlassen worden. Kirov sei entgegen seiner vorherigen telefonischen Ankündigung völlig unerwartet in seinem Büro erschienen; der Attentäter habe ihn deshalb ohne Leibwächter und zufällig getroffen. Der Generalsekretär habe überdies kein wirkliches Motiv gehabt, Kirov ermorden zu lassen. Beide Männer seien keine Gegner gewesen, sondern Gesinnungsgenossen, die gerade damit begonnen hätten, einen Feldzug gegen die administrative Verkrustung des Regimes vorzubereiten. Der Leibwächter sei in einem tatsächlich unvorhersehbaren, nicht arrangierten Unfall tragisch ums Leben gekommen. Und auch das vermeintliche Tatmotiv Nikolaevs löse sich in nichts auf: Kirov habe kein Verhältnis mit dessen Frau gehabt und sei auch kein notorischer Schürzenjäger gewesen. So wird die Glaubwürdigkeit der bisherigen Geschichte mit so gewichtigen Argumenten unterminiert, dass sie nach gegenwärtigem Kenntnisstand als widerlegt gelten muss. Nikolaev war ein «psychisch labiler Einzeltäter», der sicher nicht zufällig Kirov erschoss, aber nicht im Auftrag des NKVD und Stalins.[12]
Weitgehend unbestritten sind dagegen die Folgen des Attentats. Stalin nutzte die Gunst der Stunde. Mit dem Mord begann etwas qualitativ Neues: Innerparteiliche Gegner wurden fortan nicht mehr ‹nur› entmachtet, aus der Partei ausgeschlossen, verbannt oder (wie Trotzki) des Landes verwiesen; nun geschah ihnen dasselbe wie den «Konterrevolutionären» von einst – man steckte sie in Gefängnisse und Arbeitslager, wo die große Mehrzahl von ihnen elend zugrunde ging, oder liquidierte sie gleich. An die Stelle der politischen und räumlichen Entfernung trat die physische Ausmerzung. Der Begriff der «Säuberungen» gewann – begründeterweise erst jetzt – jenen Beiklang eines zynischen Euphemismus, der ihn zum Synonym für ungezählten Schreibtischmord stalinistischer Prägung machte. Das Instrument dieses Terrors stand in Gestalt des NKVD bereit: Dank der Fusion mit der OGPU verfügte es nicht nur über die reguläre Polizei, sondern auch über die Geheimpolizei sowie verschiedene paramilitärische Truppen der inneren ‹Sicherheit›, kontrollierte die Arbeitslager und erwarb damit einen Status, der ihn deutlich über die anderen Kommissariate hinaushob. Gewaltmittel hatte man im Bürgerkrieg und während der Zwangskollektivierung (aber auch dazwischen) zur Genüge erprobt. Nun kam eine neue Entschiedenheit hinzu, die maßgeblich von Stalin ausging. Kein einziger prominenter Altbolschewik, der mit dem Generalsekretär irgendwann einmal die Klinge gekreuzt hatte (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Kollontaj), sollte diesen Ansturm überleben.
Was die Stunde geschlagen hatte, erfuhr die Bevölkerung bereits drei Tage nach dem Attentat. Die Pravda veröffentlichte ein Dreipunkte-Dekret, das die Untersuchungsbehörden bei «Terrorakten» zur Eile anhielt, die Justizorgane ermächtigte, Todesurteile ohne Rücksicht auf eine mögliche Begnadigung zu verhängen, und dem NKVD befahl, Hinrichtungen «sofort» nach der Urteilsverkündigung zu vollstrecken. Allem Anschein nach war dieser Erlass vorbereitet. Stalin brachte ihn im Nachtzug mit nach Leningrad und sorgte noch am Abend des 1. Dezember für seine Unterzeichnung. Das Politbüro wurde erst zwei Tage später befragt, stimmte dem fait accompli aber selbstredend zu. Die Eile passt ins vorherrschende Bild. Sie nährt den Verdacht, dass der Mord an Kirov einen Vorwand lieferte, um auch den kläglichen Rest an Legalität über Bord zu werfen und mitten im inneren und äußeren Frieden den Ausnahmezustand auszurufen.
Möglicher Argwohn wurde bald bestätigt. Keine zwei Wochen später nannte Ždanov, Nachfolger Kirovs in Leningrad, die ersten Opfer öffentlich beim Namen, deren Köpfe nun rollen sollten: Zinov’ev, Kamenev und ihre Helfershelfer, darunter unvermeidlich auch Trotzkisten. Ihnen wurde die eigentliche Planung des Anschlags zur Last gelegt, die der willfährige Nikolaev nur ausgeführt habe. Mit der Ausrottung dieser «Schlangenbrut» begann man gleich vor Ort und verhaftete dreizehn Leningrader Bolschewiki, die noch im Dezember mit dem Attentäter nach einem geheimen Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurden. Zugleich suchte die Propaganda angestrengt nach präsentablen Gründen für die Willkür, indem sie die Vergangenheit der Leningrader Parteiorganisation als Zinov’evsche Hausmacht ins Feld führte. Die Fiktion der Rechtmäßigkeit, so durchsichtig und falsch sie war, glaubten die Machthaber aufrechterhalten zu müssen. Diesem Widersinn entsprang auch der Rückgriff auf die Schauprozesse der Wendejahre, die man nun gegen die alte Parteiprominenz richtete und im Großen inszenierte. Zum Staatsterror gehörten mehr denn je erpresste Geständnisse und befohlene Anschuldigungen gegen die nächsten Opfer. Auch dies wurde nach den Schüssen auf Kirov in großer Hast eingefädelt: Schon Mitte Dezember befanden sich die einstigen Triumvirn Zinov’ev und Kamenev, erst ein gutes Jahr zuvor wieder in die Partei aufgenommen, unter der Anklage des Hochverrats im Gefängnis. Aus Beweismangel wurden sie zunächst nur zu einer Haftstrafe verurteilt und in den Ural gebracht. Aber ein spektakulärer Prozess blieb ihnen nicht erspart. In der Zwischenzeit zwang man sie, Taten zu gestehen, die sie nicht begangen hatten. Bis alles vorbereitet war, brauchten auch die Folterknechte des NKVD und die schrecklichen Richter noch anderthalb Jahre.
Unterdessen machte Stalin deutlich, dass die neue Härte kein einmaliges Exempel war. Von Anfang bis Mitte 1935 rollte die erste Welle des neuen Massenterrors durchs Land. Weitere personelle Umbesetzungen halfen dabei. Sie vervollständigten Stalins Kontrolle über die Exekutoren der Willkür, die zugleich selbst an Macht gewannen und sie in unterschiedlichem Maße für eigene Ziele nutzten. Anfang Februar rückte Nikolaj I. Ežov, Stalins neuer Mann fürs Grobe, in der Nachfolge Kirovs zum Sekretär des ZK auf. Als man ihm wenige Wochen später auch noch die Leitung der ZKK anvertraute, war klar, worin seine Hauptaufgabe bestehen würde. Im Juni übernahm außerdem Vyšinskij das Amt eines Generalstaatsanwalts, in dem er es durch schrillen Fanatismus und skrupellose Tatkraft zu ähnlich zweifelhaftem Ruhm brachte wie der Vorsitzende des nationalsozialistischen «Volksgerichtshofs» Roland Freisler. Sein Name wurde zum Synonym für Schauprozesse und Rechtsbruch im Namen des Gesetzes. Solche und zahllose kleine Helfer, die wie in jeder Diktatur ‹nur› Befehle ausführten, sorgten für plötzliche Todesfälle oder brachten hinter Stacheldraht, wen immer ein Verdacht traf. Ob Kujbyšev am 25. Januar eines natürlichen Todes starb oder gezielt falsche Medikamente erhielt, hat sich bislang nicht klären lassen. Möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich, erscheint ein Mord ebenso wie im Falle Gor’kijs ein Jahr später. Ganz sicher gerieten dagegen Šljapnikov und andere alte Kämpfer, darunter nicht nur oppositionelle, in die Fänge des NKVD. Bezeichnend für die neuen Methoden war ihre Zufälligkeit: Verhaftung und Deportation trafen, wen sie trafen – Verwandte, Bekannte, Gegner und Missliebige. Der Denunziation wurden Tür und Tor geöffnet. In vielem wiederholten sich die Schrecknisse der Kulakenverfolgung, mit dem bezeichnenden Unterschied allerdings, dass die Jagd diesmal vor allem in den Städten und der Partei stattfand. Nicht allein «Klassenfeinden», wie dehnbar der Begriff auch immer war, wurde der Kampf angesagt, sondern – in der neuen Stalinschen Terminologie – mehr und mehr «Volksfeinden».[13]
Parallel zu den Verhaftungen fand eine neue «Säuberung» der Partei statt. Ein Zirkular vom Mai 1935 wies die Parteizellen an, ihre Mitglieder nach den Maßstäben kommunistischer Moral und Klassenverbundenheit zu überprüfen. Anfang 1936 folgte eine große Umtauschaktion aller Parteibücher mit demselben Ziel. Infolge der Revision wurden 170.000 von 1,8 Mio. (= 9,1 %) registrierten Bolschewiki ausgeschlossen. Weitere, allem Anschein nach aber eher weniger, erhielten, mit demselben Effekt, keine neuen Ausweise. Diese Maßnahmen gingen jedoch in der Regel über die herkömmliche Praxis nicht hinaus. Die Anregung erscheint daher berechtigt, sie stärker vom Terror zu trennen, als das bisher oft der Fall war. Zum Argument für eine Relativierung der massenhaften Verstöße gegen die ‹sozialistische Gesetzlichkeit› taugen sie wenig.[14]
Seit dem Herbst 1935 konnten die Stadtbewohner fürs Erste wieder ruhiger schlafen. Verhaftungen wurden seltener. Angst und Schrecken passten nicht zur Lobpreisung der Sowjetdemokratie während der bevorstehenden Diskussion über den Verfassungsentwurf. Auch die Außenwirkung dieser Propagandakampagne sollte nicht getrübt werden. Im Rückblick entpuppte sich der relative Friede jedoch als die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Ob als Reaktion auf ein gescheitertes Experiment oder nicht, in dieser Zeit wurde der erste große Schauprozess gegen das «trotzkistisch-zinov’evistische terroristische Zentrum», wie die offizielle Sprachregelung lautete, vorbereitet. Die Peiniger scheuten dabei kein Mittel, um das gewünschte Schuldbekenntnis sicherzustellen. Sie desorientierten die Gefangenen mit Fehlinformationen, quälten sie durch pausenlose Verhöre, griffen (mit ausdrücklicher Billigung Stalins) zur Folter und nahmen Angehörige und Verwandte, Kinder eingeschlossen, als Geiseln. Vor allem die Gewaltandrohung und -anwendung gegen Unschuldige scheint – auch in späteren Fällen – Wirkung gezeigt zu haben. Den Ausschlag aber gab ein Wortbruch des «Führers» selber: In einem persönlichen Gespräch akzeptierte Stalin ausdrücklich die Bedingung Zinov’evs und Kamenevs, dass es keine Todesurteile geben dürfe. Damit war der Weg frei für eine höhnische Parodie auf jedes Rechts- und Wahrheitsempfinden, wie sie trotz mancher Vorläufer bis dahin noch nicht inszeniert worden war. Der Prozess begann am 19. August 1936 vor dem obersten Militärgericht im Festsaal des einstigen Adelsklubs. Die Hauptangeklagten spielten gefügig ihre Rolle; Kamenev bekannte, gemeinsam mit Trotzki und Zinov’ev «Leiter und Organisator» einer Verschwörung gegen Kirov gewesen zu sein; Zinov’ev bezichtigte sich, durch ‹fehlerhaften Bolschewismus› «über den Trotzkismus zum Faschismus» gelangt zu sein. Mit vierzehn Leidensgenossen wurden sie des Mordes an einem «prachtvollen Bolschewiken» für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Keinen halben Tag nach dem Richterspruch, am Morgen des 25. August, meldete die Pravda Vollzug. Die blutlechzende Forderung Vyšinskijs, «diese tollwütigen Hunde allesamt» zu erschießen, war in bezeichnender Hast erfüllt worden.[15]
Auch manche Bolschewiki mochten fürchten, dass es bei diesen Opfern nicht bleiben würde. Seit die Namen von Pjatakov, Radek, Bucharin, Tomskij, Rykov und anderen während der Verhandlungen gefallen waren, hatten sie Gewissheit: Die Staatsmacht annoncierte den nächsten Prozess. Bereits nach vier Wochen wurden die beiden Erstgenannten, die über den geringsten Rückhalt in der Partei verfügten, verhaftet. Noch deutlicher enthüllte jedoch eine weitere Personalentscheidung die Bedeutung des Signals, das damit gesetzt wurde. Von der Krim aus schickte Stalin am 25. September ein Telegramm mit der dringenden Aufforderung an das Politbüro, Jagoda als Volkskommissar des Innern abzulösen, weil er sich als «offensichtlich unfähig» erwiesen habe, «den trotzkistisch-zinov’evistischen Block zu entlarven»; als Nachfolger empfahl er Ežov. Partei und Regierung gehorchten umgehend. Bereits zwei Tage später wurde der neue Mann ernannt und der alte zum Kommissar für das Post- und Telegraphenwesen degradiert. Zur Erklärung dieser Umbesetzung, der zahlreiche Entlassungen in den unteren Rängen folgten, hat man meist ebenfalls auf Stalins Drang nach uneingeschränkter Machtausübung verwiesen und jüngst die besondere ‹Eignung› des neuen Mannes für den gerade begonnenen Vernichtungsfeldzug hervorgehoben. Ežov glaubte aufrichtig an eine Verschwörung der einstigen Weggenossen und Gegner seines Herrn. Seine Karriere verband sich ausschließlich mit dem Aufstieg des Generalsekretärs. Man schilderte ihn als ebenso intelligent wie servil und nachgerade hörig. In höherem Maße noch als der ältere Jagoda war er ganz und gar Stalins Kreatur. Schon aus diesem Grunde führt die Bezeichnung, die man der schlimmsten Phase der Verfolgungen, von Anfang 1937 bis zum Herbst 1938 gab, in die Irre: Die Ežovščina könnte mit gleichem Recht auch Stalinščina heißen. Ungeachtet eigener Interessen und Gegner, die (wie es kaum anders denkbar war) auch der willfährige Ežov verfolgte, steht außer Zweifel, dass der Diktator alle wichtigen Fäden in der Hand behielt. Dem widersprechen Belege für eigene Aktivitäten der bolschewistischen Regionalfürsten in keiner Weise. Im Gegenteil, gerade aus ihrer Verbindung erwuchs, wie eine großangelegte Studie über die Umsetzung der Mordbefehle in der sowjetischen Provinz gezeigt hat, eine neue Dimension der Gewalt. Insofern kommt dem suggestiven Etikett für diese Jahre trotz der reißerischen Nebentöne der Vorzug zu, diese veränderte Qualität richtig benannt zu haben: In der Tat brach mit dem Wechsel an der Spitze des NKVD der «Große Terror» aus.[16]
Der zweite Prozess fand in der letzten Januarwoche 1937 statt. Nicht nur der Vorsitzende, der Ankläger und der Veranstaltungsort waren dieselben wie beim ersten; auch die Vorwürfe und der Ablauf folgten dem erprobten Muster aufs Genaueste. Abermals wurde das Schreckbild einer großangelegten trotzkistischen Verschwörung gegen das Vaterland der Revolution beschworen. Als Novum kam höchstens hinzu, dass die Lüge nun nicht einmal mehr vor der Behauptung einer Einheitsfront angeblicher Widersacher gleich welcher Provenienz haltmachte. Nicht nur das Land, sondern die ganze Welt schied sich in gut und böse, in Anhänger des Stalinschen Lichts und Handlanger der kapitalistisch-konterrevolutionären Finsternis. Wie im ersten Verfahren waren die Angeklagten, neben Radek, Pjatakov und dem ehemaligen Finanzkommissar Sokol’nikov vierzehn weitere, geständig und bekannten sich zu den abwegigsten Taten. Radek erfand sogar im Geiste seiner Peiniger die «Viertel-» und «Achteltrotzkisten», die der Konspiration hinter der Maske treuer Kommunisten Dienste leisteten. Solche Beflissenheit trug ihm jedoch bei Vyšinskij keine Nachsicht ein. Stalins Scharfmacher beschimpfte auch die neuen Angeklagten als «Horde von Banditen, Räubern, Dokumentenfälschern, Diversanten, Spitzeln, Mördern», die «nur ein Strafmaß» verdienten – «die Erschießung, den Tod». Wie im ersten Prozess brauchten die Richter auch in diesem nur einige Abendstunden, um eine Entscheidung zu fällen. Dreizehn der Beschuldigten wurden zum Tode, vier, darunter Radek und Sokolnikov, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Letzteren nützte die ‹Milde› allerdings wenig. Sie starben nur zwei Jahre später im Arbeitslager, Radek dabei nachweislich durch die Hand gedungener Mörder.[17]
Was nach dem zweiten Schauprozess folgte, war nicht nur in der kurzen Geschichte der Sowjetunion beispiellos. Willkür und Gewalt der sog. ‹Sicherheitsorgane› nahmen nicht nur ein neues Ausmaß an, sondern gewannen durch ihre Unberechenbarkeit und Härte auch eine neue ‹Präsenz› für jeden Einzelnen. Die Drohung von Zwangsarbeit und Tod wurde zum Bestandteil des täglichen Lebens, der Schrecken allgegenwärtig. Man musste lernen, mit ihnen umzugehen wie mit Krankheiten oder Unfällen. Die Menschen wurden nicht mehr verhaftet, wie ein zeitgenössisches Bulletin im Ausland kommentierte, sondern ‹verschwanden› einfach. Viele durchwachten die Nächte, weil die schwarzen Limousinen des NKVD vorzugsweise um Mitternacht ausschwärmten, und machten sich reisefertig, wenn es spätabends an der Wohnungstür klingelte. Andere verscheuchten die Angst durch Alkohol. Die meisten ignorierten die Gefahr oder gaben sich Mühe, dies zu tun, so wie man die jederzeitige Möglichkeit von Schicksalsschlägen ignoriert.[18]
Zugleich gab es nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Gewiss keine ganz kleine Minderheit versuchte, Nutzen aus einem Selbstlauf der Terrormaschine zu ziehen, der auf eigenproduzierten Antrieb gerade angewiesen war. Denunziationen wurden gezielt ermuntert, Rachegelüsten und Gemeinheit Tür und Tor weit geöffnet. Die Fälle waren Legion, in denen Nachbarn, Freunde und Verwandte zu Häschern und Hehlern wurden, um vermeintliche Vorteile zu ergattern oder sonstige niedrige Instinkte zu befriedigen. Dabei konnten sie eine Art von Multiplikation ihrer Niedertracht gleich einkalkulieren: In der Regel ‹verschwanden› nicht nur die Angeschwärzten, sondern auch deren Verwandte und Bekannte. Bei aller Omnipotenz fürchtete die Geheimpolizei Mitwisser. Wer als Außenstehender Kenntnis von ihren Operationen haben konnte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Dass auf diese Weise selbst nach den pervertierten Maßstäben des NKVD viele Unschuldige in den Mahlstrom des Lagersystems gerieten, störte die Praxis nicht. Auch in den unteren Rängen des großen Apparates kannte man genügend Methoden, um Vergehen selbst dort ‹nachzuweisen›, wo es keine gab. Inquisition und Folter gehörten in diesen Jahren in gleicher Weise zum alltäglichen Terror wie zu den Haupt- und Staatsaktionen.
Bei alledem bleibt unbestimmt, wie viele Menschen von dieser Orgie staatlicher Gewalt erfasst wurden. Bis zum Untergang der Sowjetunion war man auf punktuelle und zumeist subjektive Quellen angewiesen, überwiegend Memoiren, Erlebnisberichte oder spätere offiziöse Enthüllungen. Hinzu kam die Verschiedenartigkeit des Leidens und der Repressalien. Nicht immer wurde klar zwischen Tod und Inhaftierung sowie zwischen den verschiedenen Formen der Inhaftierung unterschieden. Der Opferbegriff überwölbte alles. Aus beiden Gründen dürften die enormen Diskrepanzen zwischen den Schätzungen und Hochrechnungen zu erklären sein, die im Laufe einer intensiven Debatte über beinahe ein halbes Jahrhundert vorgelegt worden sind. Seit dem Untergang der Sowjetunion und der Öffnung der Archive hat die Debatte ein neues Fundament erhalten, das zur Versachlichung zwang. Kontroversen über den Umgang mit den Zahlen und ihre Interpretation sind geblieben, aber der Abstand zwischen den Resultaten ist geringer geworden. Es hat sich gezeigt, dass auch die ‹Bürokraten› im NKVD (wie ihre Kollegen in der Gestapo oder dem Reichssicherheitshauptamt) Buch führten. Listen und Zahlen sind aufgetaucht, die zwar weiterhin manche Probleme aufwerfen, da sie sich auf unterschiedliche Zeiträume beziehen und nicht immer klar ist, welche Strafkategorien und Personengruppen sie erfassen. Dennoch stehen die Größenordnungen inzwischen so weit außer Frage, dass sich Vertreter auch gegensätzlicher Gesamtdeutungen in ihrem Rahmen bewegen. Dabei haben sich Ergebnisse aus den ersten postsowjetischen Jahren im Großen und Ganzen bestätigt. Neuere Recherchen geben zwar Anlass zu Korrekturen im Detail, aber nicht in der Dimension. Da eine alternative, knappe Zusammenstellung fehlt, bleibt diese Übersicht instruktiv (vgl. Tab. 12).