Paradoxerweise erscheinen die sowjetischen Nachkriegsjahre im Rückblick als eine Art Endzeit. Obwohl am Beginn der größte Triumph der sowjetischen Geschichte stand, war der Jubel kurz. Bei allem Siegestaumel konnte die Erleichterung über das Ende des Gemetzels die Sorge über das absehbare Ausmaß der Anstrengungen zum Wiederaufbau nicht verdrängen. Für viele, wenn auch nicht für die Mehrheit, kam eine weitere beklemmende Einsicht hinzu: Der Triumph stärkte die bestehende Ordnung auf die denkbar wirkungsvollste Weise. Während die nationalsozialistische Diktatur in den Trümmern des Großdeutschen Reiches versank, stieg die russische gefestigt aus der Asche mehrfach verbrannter Erde empor. Wenn es eine Leistung gab, die dem Sowjetregime hoch angerechnet wurde und ihm half, seine Lebenszeit trotz fortdauernder Repression und enttäuschter wirtschaftlicher Versprechen mehr als zu verdoppeln, dann war es die Selbstbehauptung gegen den deutschen Überfall. Stalin hat dies in einer der ersten öffentlichen Nachkriegsreden überraschend offen ausgesprochen. Der große Kampf, so belehrte er Anfang Februar 1946 seine Moskauer ‹Wähler›, sei nicht nur ein Fluch gewesen, sondern auch eine «große Schule der Prüfung … für alle Kräfte des Volkes». Was vor dem Krieg entstanden sei, habe die Feuerprobe in allen Teilen bestanden. Das Gerede vom «Kartenhaus» und vom «gewagten Experiment» sei ein für alle Mal widerlegt.[1]
In diesem gesteigerten Selbstbewusstsein lag bereits ein Impuls für die kommende Politik: Man bemühte sich, das Rad zurückzudrehen. Nach dem Ende der akuten äußeren Bedrohung entfiel die Notwendigkeit, die Bevölkerung hinter der Staatsführung zu versammeln und dafür politisch-ideologische Konzessionen zu machen. Es zeigte sich, dass die Liberalisierung im Kriege allein Erwägungen der Zweckmäßigkeit entsprungen war und keine ‹Bekehrung› der Machthaber spiegelte. Auf allen Gebieten, nicht zuletzt auf ökonomischem und kulturellem, versuchte man, die alte Ordnung wiederherzustellen. So gab vor allem ein Merkmal der Nachkriegsentwicklung ihr typisches Gepräge: die Restauration des ‹Kommandosozialismus› der dreißiger Jahre. Mit guten Gründen fühlten sich die Zeitgenossen weniger am Anfang als am Ende einer Epoche. In vieler Hinsicht erstarrte das politisch-soziale und kulturelle Leben. Was als ungeheure Dynamik, wenn auch oktroyiert und vom Terror angetrieben, begonnen hatte, endete in der bewegungslosen Abhängigkeit von der Willensäußerung eines einzigen Mannes, der auf seinem Podest vereinsamte. Zugleich hat man darauf aufmerksam gemacht, dass es bei alledem auch «Hoffnungen» und sogar einen «Geist der Freiheit» gab, den die Kriegsheimkehrer mitbrachten. Nur erwiesen sich Erstere als «Illusionen», und Letzterer wurde rasch unterdrückt, auch wenn er untergründig fortgelebt haben mochte.[2] Der personale Zuschnitt des Gesamtsystems rächte sich. Nicht nur alterte es mit seinem Führer; es bedurfte auch erst der Zäsur seines Todes, bevor diese Erwartungen an die Oberfläche treten und Reformen – wie dosiert und sektoral begrenzt auch immer – auf den Weg gebracht werden konnten.
Bei dem Versuch, die kriegsbedingten Veränderungen gleichsam ungeschehen zu machen, mussten Art und Form der Herrschaft am wenigsten korrigiert werden. Stalin und seine Partei hatten Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nach wie vor fest im Griff. Weder waren neue politische Organisationen entstanden noch konkurrierende Machtzentren. Nach wie vor ließ sich die Herrschaftsordnung am treffendsten als personale Diktatur kennzeichnen, die sich auf das uneingeschränkte Bestimmungsmonopol der Kommunistischen Partei und auf die exklusive Verfügungsgewalt über außerordentliche, illegale Zwangsinstrumente stützte. Nur innerhalb dieses Rahmens waren Verschiebungen eingetreten, die teilweise nachwirkten und zum besonderen Charakter der letzten Stalinjahre beitrugen.
Zuallererst ist auf Stalins Stellung zu verweisen, die der Kriegstriumph nicht nur in der äußeren Welt, sondern vor allem auch im eigenen Lande gestärkt hatte. Autorität und Macht des sowjetischen Führers standen im Zenit. Niemand wagte, ihn auch nur im mindesten zu tadeln. Trotz der Auflösung des GKO im September 1945 vereinigte er weiterhin alle höchsten Kompetenzen in seiner Hand. Schon seine regulären Vollmachten dürften zu dieser Zeit in der gesamten zivilisierten Welt singulär gewesen sein: Stalin war Generalsekretär der einzigen Partei, Vorsitzender des SNK und Oberbefehlshaber der Armee, der sich nach dem Sieg noch den exklusiven Titel eines Generalissimus hatte verleihen lassen. Da faktische Kontrollen fehlten, galten seine Anordnungen ohne jede Einschränkung.
Doch dies war nur eine Seite der Entwicklung. Zugleich wurde der unbeschränkte Herrscher alt und menschenscheu. Das berühmte Licht hinter den Fenstern seines Kabinetts im Kreml mochte weiterhin die ganze Nacht brennen; der Zimmerbewohner war dennoch immer seltener anwesend. Mehr und mehr zog er sich nach Kuncevo bei Moskau auf die «Nahe Datscha» zurück und ließ nur noch die engsten Gefolgsleute vor. Auch bei diesen meist spätabendlichen Zusammenkünften konnte von gemeinsamer Beratung ebenso wenig die Rede sein wie von kollektiven Beschlüssen. Stalin bat nach Lust und Laune zu sich, brachte die Rede auf Staatsgeschäfte, holte von den Anwesenden – von einem Verhör kaum zu unterscheiden – Informationen ein und trug ihnen seine Beschlüsse zur Bestätigung vor. So, wie die Einladung einem Befehl gleichkam, vermischte er selbstherrlich private Gastlichkeit und Amtshandlungen. Er holte seine Genossen mit derselben Verbindlichkeit ins kremleigene Kino, um mit ihnen – dies eine bemerkenswerte Passion – neue Wildwest- und sonstige ausländische Filme anzuschauen, wie nachher zu nächtlichen Gelagen, die sich in Sitzungen des Politbüros verwandeln konnten. Selbst wichtigste Entscheidungen fielen bei solchen Gelegenheiten gleichsam nebenher. Stalins Zechgenossen ließen sich dies gefallen, obwohl einige von ihnen vor der «Ehre» der Einladung zitterten. So viel Macht sie im Lande ausübten, so schwach waren sie vor ihm. Keiner wagte zu widersprechen. Jeder wusste, dass der Führer sich durchzusetzen verstand und kaltblütig genug war, die extralegalen Foltermittel anzuwenden, die ihm reichlich zu Gebote standen. Alle Spitzengenossen, auch diejenigen, die ihn nach seinem Tode vom Sockel stürzten, fügten sich willig in die Rolle von Ordonnanzen. So weit ging ihre Treue, dass sie Stalin bei neuen Intrigen halfen und sich sehenden Auges zu potentiellen Opfern von Folter, Verbannung und Hinrichtung machten. Ob Stalins Wahn in den letzten Lebensjahren krankhafte Züge annahm, wie Chruščev später behauptete, mag trotz der schwer verständlichen Verhaftung seines langjährigen Privatsekretärs A. N. Poskrebyšev und des ebenfalls treueerprobten Chefs der Leibwache offenbleiben. Unberechenbarer wurde er auf jeden Fall – mit der Folge einer eigenartigen und typischen Lähmung der Politik. Argwöhnisch und misanthropisch, ließ der ergraute Diktator eher regieren, als dass er sich selbst um die Alltagsgeschäfte gekümmert hätte. Dennoch war die Angst vor ihm so gewaltig und sein Geschick des divide et impera so groß, dass er die Zügel bis zuletzt fest in der Hand hielt. Es war bitterer Ernst, wenn selbst ein so regelmäßiger Gast in Kuncevo wie der spätere Verteidigungs- und Premierminister Nikolaj A. Bulganin auf einer der Fahrten zur Nahen Datscha gegenüber Chruščev sinnierte: «Man setzt sich als Freund bei Stalin zu Tisch, aber man weiß nie, ob man allein nach Haus fahren wird oder ob man gebracht wird – ins Gefängnis.»[3]
Solange der Diktator bei Kräften war, gelang es ihm, durch gezielte Rügen und Intrigen bis hin zu Säuberungen eine Art von Machtbalance unter seinen Schildknappen herzustellen. Solches divide et impera sorgte dafür, dass keiner zu stark wurde und seine souveräne Letztentscheidung außer Frage stand. In den ersten Nachkriegsjahren konnte sich vor allem Ždanov im Licht von Stalins Zuneigung sonnen. Danach schien Malenkov seine besondere Gunst zu genießen. Dann ging der Stern Chruščevs auf, als Stalin ihn 1949 nach Moskau zurückholte. Zugleich begann der unbestrittene «Führer» einige seiner ältesten und mächtigsten Gefolgsleute zurechtzuweisen und zu brüskieren. Molotov warf er mehrfach verfehlte Meinungen und falsche Entscheidungen vor, bis er ihn im März 1949 sogar als Außenminister entließ. Zynisch nutzte Stalin die angebliche Sympathie von Molotovs jüdischer Frau für ‹zionistische› Umtriebe, um sie verhaften zu lassen und als faktische Geisel zu halten. Zur gleichen Zeit verlor auch Mikojan, zuvor ebenfalls mehrfach Ziel Stalinschen Zorns (unter anderem wegen seines Versagens bei der Hungersnot von 1946–47, als er Landwirtschaftskommissar war), sein Regierungsamt. Ihren Höhepunkt erreichte diese Missbilligung, als der Diktator beide auf dem 19. Parteitag im Herbst 1952 sogar öffentlich an den Pranger stellte – und sich bei manchen Zuhörern der Eindruck verdichtete, ihnen stehe Schlimmes bevor. Und auch der allmächtige Berija erregte mehr und mehr das Missfallen seines Herrn. Offenbar diente schon die ‹Umsiedlung› Chruščevs in die Hauptstadt der Absicht, ein Gegengewicht gegen ihn zu installieren. Vor allem aber zielten Korruptionsvorwürfe, die Stalin 1951/52 höchstpersönlich gegen die georgische Parteiführung lancierte, in Wahrheit auf ihren Moskauer Schutzherrn. Dennoch entgingen alle drei einer Verhaftung wohl nicht nur, weil ihr ungnädiger Zuchtmeister bald starb. Vielmehr hat man plausibel argumentiert, dass Stalin nicht die Absicht hatte, es bis zum Äußersten kommen zu lassen. Er verteilte seine Ungnade ebenso wie sein Wohlwollen dosiert – als Strategie zur Sicherung der eigenen, personalen Herrschaft. In der Tat erklärt ein solches Kalkül am ehesten, warum beide trotz aller Kritik im engsten Kreis der Macht verblieben – als Mitglieder des Politbüros und Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats zugleich. Alle standen nach wie vor in hohem Ansehen, und Stalin selber wandte sich an Molotov, wenn er außenpolitischen Rat brauchte.[4]
Mit dem Vorbehalt, dass der Diktator auch ihn kontrollierte und kujonierte, wird man dennoch einen kleinen Zirkel höchster Funktionäre ausmachen können, der das Land beherrschte und die zentralen Regierungsgeschäfte besorgte. In dem Maße, wie sich Stalin nach Kuncevo – oder immer häufiger und monatelang an die Schwarzmeerküste – zurückzog, mag ihm faktisch auch ein gewisser Spielraum für eigenständige Entscheidungen zugewachsen sein. Postsowjetische, archivgestützte Recherchen haben dabei die Namen weitgehend bestätigt, die schon Chruščev in seinen Memoiren nannte. Demnach gehörten Anfang der 1950er Jahre neben dem baldigen Staats- und Parteichef selber Berija, Bulganin, Malenkov, Kaganovič, Mikojan und Molotov zu diesem «Septett». Dabei war auch das Gewicht dieser handverlesenen nächsten Gehilfen unterschiedlich. Einige repräsentierten bedeutende Institutionen, wie Malenkov den Parteiapparat, Berija den Geheimdienst und Bulganin die im Ministerrat vertretenen Ressorts. Andere, wie Molotov und Kaganovič, aber auch Mikojan, gehörten von Anfang an zu Stalins Truppe; sie standen, was ihm bewusst war, gleichsam für sein System. Wenn es in diesem inneren Kreis noch einen weiteren Kern gab, dann war er am ehesten in jenen vieren zu sehen, die sich bald auch als Erste auf den Weg zu ihrem todkranken Führer machten: Berija, Malenkov, Chruščev und Bulganin. Dagegen dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass die anderen erst später informiert wurden. In jedem Fall waren es – abgesehen von Molotov und Mikojan, die nie eingeladen wurden – diese häufigen Konsumenten ansonsten verbotener Filme und unerschwinglicher Delikatessen, die bald das Erbe des Diktators antraten. Sie verkörperten die Kontinuität, die bei aller Distanzierung von der unmittelbaren Vergangenheit nicht übersehen werden sollte. Gerade Stalins Diadochen waren keine namenlosen Tyrannenmörder, sondern seine erklärten Kronprinzen.[5]
Freilich reichte die Gruppe sowjetischer Spitzenpolitiker deutlich über Stalins Tischgemeinschaft hinaus. Ein so riesiges Land konnte nicht von einer Handvoll führender Genossen regiert werden. Bei der Beschreibung der breiteren Machtelite ist es üblich geworden, zwischen Partei- und Staatsführung zu unterscheiden. Gute praktische Gründe sprechen dafür; sie sollten aber nicht übersehen lassen, dass das charakteristische Merkmal nicht nur stalinistischer, sondern sowjetischer Herrschaftsausübung insgesamt gerade in der engen Verzahnung beider bestand. Im Ganzen betrachtet, galt dabei auch für die Nachkriegsjahre, dass die Partei Vorrang hatte. Die Grundsatzentscheidungen wurden von ihren Funktionären getroffen; und erst die (zusätzliche) Aufnahme in ihre zentralen Gremien verlieh – unterhalb Stalins – wirklich bedeutende faktische Machtbefugnisse. Dennoch war nicht zu übersehen, dass das Gewicht anderer Sektoren der Gesamtordnung zunahm. Besonders Industrie und Armee wuchsen zu mächtigen Organisationen heran, die Anspruch auf Repräsentation erhoben und nicht folgenlos vom Entscheidungszentrum ferngehalten werden konnten. Als Illustration dieser Entwicklung können die Karrieren der fünf neuen Mitglieder des Politbüros dienen, die in den frühen vierziger Jahren in dieses Gremium aufstiegen. Von ihnen waren nur zwei, Berija und Malenkov, Parteifunktionäre im engeren Sinne. Die anderen, Voznesenskij, Bulganin und Kosygin, vertraten eher die Belange anderer Institutionen: die hohe Planungsbürokratie, die Staatsverwaltung und die Industrie. Alle Genannten einte dabei die Altersgenossenschaft und ein Qualifikationsmerkmal: Sie traten der Partei im und nach dem Bürgerkrieg bei und absolvierten primär technische Fachschulen. Sie verkörperten die neue technisch-administrative ‹Intelligenz› und die erste sowjetische Generation im engeren Sinne. Zugleich gehörten sie zu den Profiteuren des Terrors, dem sie ihren raschen Aufstieg in zum Teil sehr jungen Jahren verdankten. Sie waren, wie immer sie sich nach dem Tod ihres Gönners verhielten, die eigentlichen Stalinisten.[6]