In mancher Hinsicht ließe sich sagen, dass die sowjetische Nachkriegszeit erst mit Stalins Tod begann. Als der Tyrann seine argwöhnischen Augen schloss, schien das Land aus einer tiefen Erstarrung zu erwachen. Die rasche Verbreitung der vielzitierten, einer Erzählung Ehrenburgs entnommenen Metapher für diesen Wandel verdankte sich nicht nur ihrer naturverbundenen bildlichen Kraft, sondern auch und vor allem der treffenden Wiedergabe einer allgemeinen Empfindung: «Tauwetter» ergriff nicht nur den geistig-kulturellen Bereich. Wie sehr sich das Gefühl, von Eis und Angst befreit zu sein, Bahn brach, lehrt nicht zuletzt der Umstand, dass es selbst die Parteispitze erfasste. Auch ihren Mitgliedern fiel die zentnerschwere Last der Todesdrohung von den Schultern, die seit der Leningrader Affäre und der ‹Ärzte-Verschwörung› wieder eine beklemmende Gegenwärtigkeit angenommen hatte. Obwohl Chruščev später behauptete, aufrichtige Tränen vergossen zu haben, hielt sich die Trauer aller in engen Grenzen. Nicht nur Berija wird man eine klammheimliche Freude unterstellen dürfen.
Trotz der Erleichterung blieb aber umstritten, wie weiter zu verfahren sei. Genau besehen, hielt diese Unsicherheit auch über die endgültige Niederlage der Gegner Chruščevs im Juni 1957 hinaus an. Andernfalls wäre vielleicht sein Sturz im Oktober 1964, aber kaum der Kurswechsel zu verstehen, der danach einsetzte. Es lag in der Natur der Sache, dass unterschiedliche Meinungen über das Ausmaß der Distanzierung von Stalins Hinterlassenschaft bestanden. Schnell war nur der kleinste gemeinsame Nenner gefunden: dass der Terror nicht fortgesetzt werden dürfe. Seine Folgen hatten sich längst als fatal erwiesen. Die permanente Androhung willkürlicher Gewalt hatte nicht nur geholfen, Partei und Gesellschaft gefügig zu machen und sie der persönlichen Diktatur Stalins zu unterwerfen. Zugleich hatte sie, als Kehrseite desselben Effekts, allgemeine Apathie und eine Furchtsamkeit hervorgerufen, die nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das soziale und politische Leben lähmte. Hinzu kamen eigene Motive der Parteioberen, die gerade in den letzten Lebensjahren des Diktators allen Anlass gehabt hatten, sich vor seinem Argwohn und seiner Unberechenbarkeit zu fürchten. Politik musste, wie man die Aufgabe treffend zusammengefasst hat, wieder an die Stelle von Gewalt treten. Da diese aber zur Substanz des Stalinismus gehörte und ihm nicht äußerlich war, stellte sich unvermeidlich die Frage, was an ihren Platz treten und in welchem Maße das tragende Gerüst des bestehenden Herrschaftssystems beibehalten werden sollte. Nicht nur die Gegner Chruščevs, sondern der bald allein starke Mann selbst hat sie durch seine Maßnahmen eindeutig beantwortet: Der Angriff galt Stalin, nicht der Sowjetordnung in der von ihm geschaffenen Form. Weder die Verstaatlichung der Industrie noch die Zwangskollektivierung standen je zur Disposition. So hatte zwar nicht der Stalinismus als spezifische terroristische Diktatur Bestand, wohl aber – über Chruščevs Sturz hinaus bis zum Beginn der Perestrojka – die sozioökonomische und politische Gesamtordnung, die ihr korrespondierte.
Dieser Befund hilft, auch ein weiteres Dilemma der Diadochen zu verstehen. Da sich die gleichsam pauschale Terrordrohung als untauglich erwies, die dringend erforderliche aktive Unterstützung des Regimes zu erzeugen, bedurfte es eines Ersatzes. An Massenkampagnen zur Leistungserhöhung nach Art der Stachanovščina war nicht zu denken. Allzu offen lag ihre Kurzatmigkeit zutage. Was nötig schien, war eine Motivationsressource von größerer Kraft und Dauerhaftigkeit, die sich mit neuen Zielvorgaben für die mittel- und langfristige Wirtschaftsentwicklung verbinden ließ. Chruščev suchte die Lösung für dieses Problem in einem Bündel von Maßnahmen. Ob die zentralen Planungsbehörden Kompetenzen an neugeschaffene lokale Wirtschaftsräte abgeben mussten, die Aufkaufpreise für Agrarprodukte erhöht, die Verkaufspreise in den staatlichen Läden niedrig gehalten oder umfassende Wohnungsbauprogramme aufgelegt wurden, dahinter stand derselbe Kerngedanke: den materiellen Erwartungen der Bevölkerung in größerem Maße entgegenzukommen, um das Eigeninteresse der Betroffenen im Interesse des Ganzen zu stärken. Spätestens Stalins Erben erkannten mithin, woran das System zutiefst krankte – an Gleichgültigkeit und mangelnder Produktivität. Auch das vielzitierte Neulandprogramm gehört in diesen Zusammenhang; es sollte durch Extensität wettmachen, was an Intensität fehlte. Da aber nichts anschlug, hastete Chruščev von Reform zu Reform und schuf sich mehr Feinde, als er auf Dauer abwehren konnte. Sein Sturz befriedigte den Wunsch nach Ruhe, Berechenbarkeit und Statussicherung, kurierte aber nur an Symptomen; die Wurzel des Übels blieb unberührt.
Obwohl die neuen Machthaber das Problem anfangs erkannten, gingen sie den Prämissen gemäß, unter denen sie angetreten waren, weit vorsichtiger zu Werke. Im Rückblick gesehen, vertaten sie damit – wenn man nicht ohnehin von der Unheilbarkeit der Defekte ausgeht – die vielleicht letzte Chance zur Rettung der Ordnung, der sie vorstanden. Diese Perspektive relativiert den Sturz Chruščevs zu einer Zäsur primär der politischen Ordnung. Zugleich verbindet sie seine Politik mit Gorbačev und dem Ende der Sowjetunion: Weder er noch seine Nachfolger vermochten die elementaren Schwächen zu beheben, unter denen vor allem das stalinistische, in erheblichem Maße aber auch schon das sozialistische System der zwanziger Jahre gelitten hatte. Stattdessen hinterließ Chruščev seinen Erben noch die zusätzliche Last seiner kostspieligen ‹Wohlstands›-Politik: Hinter deren Anfänge, die er auf den Weg brachte, und die Erwartungen, die sich damit verbanden, konnte kein Generalsekretär zurückgehen.[1]
Dabei war es zu Beginn der neuen Ära alles andere als beschlossen, dass überhaupt nennenswerte Reformen bevorstanden. Bevölkerung und Partei atmeten zwar auf, aber die Führung war die alte. Alle hatten Stalin treu gedient; alle verdankten ihren Aufstieg allein ihm. Niemand gehörte ihr an, der im Verdacht stand, das, was er hinterlassen hatte, möglichst schnell beiseite räumen zu wollen. Dennoch geschah dies in einer Hinsicht umgehend: Die entscheidenden Akteure waren sich sehr rasch darin einig, zu einer kollektiven Führung zurückzukehren. Auch die höchstrangigen Genossen mochten vor keinem «Boss» (interner Name für Stalin) mehr zittern und auf seinen Befehl tanzen, wie Chruščev das einmal tun musste. Außerdem misstrauten sie einander so sehr, dass ihnen gemeinsame Beschlüsse als bester Weg erschienen, die anderen im Blick zu behalten. Aber ebenso gab es wohl eine Solidarität der Altgedienten, die zu einer Art von Oligarchie drängte. Jedenfalls verdient es Beachtung, dass zur Sitzung des Büros des Parteipräsidiums, das am Vormittag des 2. März erstmals seit Längerem ohne Stalin im Kreml zusammenkam, neben den gewählten Mitgliedern auch die in Ungnade gefallenen ‹alten Kämpfer› Molotov und Mikojan eingeladen wurden (obwohl der vožd noch lebte). Überdies war zumindest Mikojan an der Debatte über Vorschläge zur Neuverteilung der Macht beteiligt, die am 4. März, als an Stalins Tod nicht mehr zu zweifeln war, diskutiert wurden.
Zugleich lassen diese ersten Stunden der neuen Ära aber ebenfalls erkennen, dass die Gewichte in der neuen Führung unterschiedlich verteilt waren. Dabei spielte Chruščev – entgegen der üblichen, auf den Rückblick und seine Memoiren gegründeten Meinung – zunächst keine zentrale Rolle. Vielmehr waren es Berija und Malenkov, die den Plan ausarbeiteten. Berija hatte als Chef des Atomprogramms, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats und nicht zuletzt als Koordinator der Geheimdienste immer noch eine starke Stellung, zumal alle fürchteten, dass er belastendes Material gegen sie aus Stalins Panzerschrank entwendet haben könnte. Malenkov kontrollierte den Parteiapparat und galt als Kronprinz des Diktators. Auf der Grundlage dieses Papiers fasste eine gemeinsame Sitzung von ZK, Ministerrat und Präsidium des Obersten Sowjet bereits am 5. März Beschlüsse, die auf die Annullierung des ungeliebten Umbaus vom Vorjahr hinausliefen. Das erweiterte Präsidium wurde abgeschafft, Stalins junge Garde damit wieder aus dem Zentrum der Macht entfernt, Malenkov mit dem Vorsitz im Ministerrat betraut und Berija wieder als Innenminister eingesetzt. Molotov und Mikojan kehrten ins höchste Parteigremium (das Büro des Präsidiums) zurück, und Chruščev übernahm den durch Malenkovs Wechsel frei gewordenen Vorsitz der Partei. Faktisch wurde das alte Politbüro wiederhergestellt, in dem man auch wieder unter sich war. Dabei vermied man aber jede Ämterhäufung, die Macht wurde austariert: Obwohl gewiss nicht alle gleich waren, sollte als Voraussetzung wirklich gemeinsamer Entscheidungen formal annähernde Parität herrschen.[2]
Und auch die ersten im Lande sichtbaren Schritte zur Abkehr vom alten Schreckensregime gingen nicht auf Chruščev zurück. Entgegen seiner zur offiziösen Version avancierten Darstellung steht inzwischen außer Frage, dass ausgerechnet Stalins letzter oberster Henker, der die erlogenen Anklagen über eine bemerkenswert lange Zeitspanne selber fabriziert hatte, die Initiative ergriff, um diesen willkürlichen Terror zu beenden. Auf seinen Vorschlag hin beschloss das Präsidium schon eine Woche nach Stalins Tod, die Vorwürfe in der «Ärzteverschwörung» zu überprüfen. Dem folgte am 27. März die ebenfalls von ihm vorbereitete Entscheidung, alle Gulag-Häftlinge, die weniger als fünf Jahre zu verbüßen hatten, freizulassen. Auch wenn «politische Häftlinge» dabei ausgenommen wurden, war die Maßnahme fraglos «spektakulär», weil sie 1,2 Mio. Insassen in die Freiheit entließ und der Gulag auf beinahe die Hälfte schrumpfte. Anfang April wurden die Ärzte sowie Opfer der «Mingrelier»- und anderer Affären rehabilitiert. Und auch Molotovs Frau durfte ihre Haftstätte verlassen; Berija ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich zu ihm zurückzubringen. Auch gegenüber den deportierten nationalen Minderheiten (sowie allem Anschein nach außenpolitisch im Umgang mit den ‹Bruderstaaten› des Ostblocks) präsentierte sich der neu-alte Innenminister plötzlich als Liberaler.
Aus Saulus schien Paulus geworden zu sein – nur bleiben die Motive für die Bekehrung offen. Berija selber konnte bald keine Auskunft mehr darüber geben, und andere Zeugnisse, sollte es sie je gegeben haben, sind verschollen. Was bleibt, sind Spekulationen. Die Absicht, seinen verheerenden Ruf in der Bevölkerung aufzubessern, weil er verstanden hatte, dass die öffentliche Meinung nach dem Ende der Tyrannei an Bedeutung gewinnen würde, wird man nicht von der Hand weisen wollen. Dennoch überzeugt vielleicht eher der Hinweis darauf, dass er die Zustände im Land dank seiner verschiedenen Funktionen am besten von allen kannte. Er wusste, dass der ökonomische Nutzen des Gulag in keinem Verhältnis mehr zu den Kosten der Überwachung stand. Ihm war als Chef des wichtigsten Rüstungsprogramms klar, wie groß der militärtechnische Nachholbedarf der Armee war. Im Ministerrat blieben ihm die Mängel der Industrie nicht verborgen. Und nicht zuletzt versorgte ihn der Geheimdienst mit (annähernd) authentischen Berichten über die Stimmungslage und die Erwartungen der Bevölkerung. Opportunistisch blieb die neue Haltung allemal, und Moral war nach wie vor keine Kategorie, die Berija vertraut gewesen wäre. Dennoch gebührt ihm die Anerkennung, als Erster die Überfälligkeit von Reformen erkannt und dies – nicht ohne das Selbstbewusstsein, der mächtigste der Diadochen zu sein – auch umgesetzt zu haben. Chruščev, der als treuer Exekutor (im Wortsinn) Stalins in der Ukraine nicht weniger Schuld auf sich geladen (sondern höchstens rein numerisch weniger Opfer auf dem Gewissen) hatte als Berija, hat sich diesen Lorbeer aller neuen Evidenz zufolge zu Unrecht angeheftet.[3]
Richtig aber bezeugen seine Memoiren, dass sein Stern in den Monaten nach seiner Berufung zum Ersten Sekretär der Partei aufging. Man hat Malenkov oft eine gewisse Ignoranz bei seiner Wahl vorgeworfen, den Vorsitz im Ministerrat zu übernehmen; gerade als langjähriger Chef der Kaderabteilung der Partei hätte er wissen müssen, dass er damit aufs falsche Pferd setzte. Nur macht man es sich damit zu einfach. Der Tadel ignoriert, dass sich die Gewichte zwischen Politbüro und Ministerrat in den letzten Jahren der Stalinära verschoben hatten. Dieser Transfer erhielt nach Stalins Tod einen weiteren, kräftigen Impuls. Vor allem das Büro des Ministerrats wurde zum Versammlungsort der «einflussreichsten Sowjetführer» und zum Forum der «neuen herrschenden Elite». Der Ministerrat war auch das agilere Gremium; sein Präsidium tagte von Mitte März bis Anfang Juli 1953 mehr als dreimal so oft wie das Präsidium der Partei und zog dabei Kompetenzen an sich, die eigentlich diesem zustanden. Da der Vorsitzende des Ministerrats in Leninscher Tradition auch die Sessionen des Parteipräsidiums/Politbüros leitete, was er natürlich wusste, traf Malenkov keinesfalls eine so unsinnige Entscheidung, wie es in der Retrospektive erscheinen mochte. Und dennoch war Molotov gewiss nicht der Einzige, der diesen Wechsel befremdlich fand; es zieme sich für ein «wahrhaftes Mitglied des Politbüros» nicht,[4] sich so ganz und gar mit einem Gremium zu identifizieren, das primär für die Wirtschaft und Staatsverwaltung zuständig war und letztlich nur ausführen sollte.
Chruščev gelang es nun, diese tief eingewirkte Überzeugung der altgedienten Parteigenossen für die Stärkung seiner Position und seines Amtes zu nutzen. Dabei kamen ihm mehrere Umstände zu Hilfe. Zum einen vermochte er sich als Gegenspieler Berijas in Szene zu setzen, der dessen beinahe ungestüme, mit unverhohlenem Führungsanspruch (und «Verachtung») verbundene Abkehr von alten Positionen, wenn auch hinter Einwänden gegen konkrete Maßnahmen verborgen, zurückwies. Berija aber fürchteten alle. Wer ihn zum Wortführer einer ‹antiparteilichen› Position stempeln konnte, schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: die Ächtung eines unsympathischen Unholds, dem niemand auch nur über einen kurzen Weg traute, und die Wiederherstellung der Suprematie der Partei. Zum anderen nutzte Chruščev den Vorteil, unterschätzt zu werden. Obwohl er gewiss kein Außenseiter war, hatte ihn niemand auf der Rechnung – ein Umstand, den man sogar zum Hauptgrund für seinen Triumph erklärt hat. Hinzu kam sicher ein ausgeprägtes Geschick in konspirativen Intrigen. In jedem Fall stand Chruščev hinter dem Komplott, dem Berija schließlich zum Opfer fiel.
Molotov wurde gewonnen, weil Berija Ende Mai 1953, als sich die Krise in Ost-Berlin zuspitzte, sogar bereit war, die DDR aufzugeben; auch der alte und neue Außenminister hielt das für Verrat an 18 Mio. Ostdeutschen, die man den «amerikanischen Imperialisten» überlasse. Entscheidend aber war, Malenkov auf die Seite der Konspirateure zu ziehen. Über die Motive für dessen Seitenwechsel ist lang gerätselt worden. Vermutlich stellte sich Berija selber ein Bein, als er treulos und verschlagen, wie er war, selber Ränke schmiedete – gegen seinen Alliierten Malenkov. Chruščev ließ sich die Chance nicht entgehen, diesem davon zu berichten; danach konnte er auf einen Rächer mehr zählen. Auch Vorošilov freute sich, eine alte Rechnung begleichen zu können, und Kaganovič schloss sich nach alter Gewohnheit den Stärkeren an. Noch wichtiger und unverzichtbar aber war, dass auch Verbündete gewonnen wurden, denen unmittelbare Zwangsmittel in Gestalt bewaffneter Truppen zur Verfügung standen (zumal auch Berija über solche verfügte). Dies war gesichert, als sich (neben anderen Offizieren) auch der Kriegsheld Žukov gegen den Innenminister stellte.
Was folgte, war ein inszenierter showdown und Sturz in bester stalinistischer Tradition. Auf einer Sitzung des Präsidiums des Ministerrats (nicht der Partei, um keinen Argwohn zu wecken) am 26. Juni 1953 sah sich Berija mit einer ganzen Liste von Anklagen konfrontiert. Besonders scharf äußerte sich Chruščev, der ihm sogar vorwarf, mit dem britischen Geheimdienst kollaboriert zu haben. Als Malenkov, der den Vorsitz führte, im Resümee der ‹Debatte› seine Verhaftung forderte und einen Knopf drückte, drangen von einem Nebenraum aus heimlich in den Kreml gebrachte bewaffnete Soldaten in den Sitzungssaal ein und führten Berija (den man nicht an seine Aktentasche ließ, weil man eine Pistole darin fürchtete) ab. Nach Anbruch der Dunkelheit brachte man ihn an seinen Leibwächtern vorbei in das Hauptquartier eines Moskauer Luftwaffenstützpunkts, dessen Oberbefehlshaber als alter Bekannter Chruščevs den Putsch unterstützte. Rätselhaft bleibt, warum der notorisch misstrauische Geheimdienstchef, der sicher überall seine Spitzel hatte, darauf nicht vorbereitet war und ‹kalt erwischt› wurde. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, dass Chruščev (was er natürlich verheimlichte) ein doppeltes Spiel trieb und Berija, allzu selbstsicher, davon ausging, Malenkov werde verhaftet. Stattdessen wäre er dann selber in die sprichwörtliche Grube gefallen, die er für seinen vermeintlichen Kompagnon vorbereitet hatte.
Und auch der Schlussakt folgte ganz dem alten Drehbuch. Mitte Dezember machte man Berija und sechs seiner Vertrauten, darunter der ehemalige Minister für Staatssicherheit Merkulov, den Prozess. Die Anklage lautete auf Verrat und Konterrevolution. Zu Richtern bestellten die Sieger treue Militärs und hohe Parteigenossen (nicht etwa Juristen). Natürlich wurde der Angeklagte schuldig gesprochen und am 24. Dezember standrechtlich erschossen. Im Juli und Dezember 1954 folgte noch eine Art Nachspiel; ihm fielen ein leitender Inszenator des ‹Ärztekomplotts› sowie ein weiterer ehemaliger Minister für Staatssicherheit, Abakumov, zum Opfer. Damit aber fand die Stalinsche Art des Umgangs mit Rivalen samt der (im Wortsinne) mörderischen Lösung politischer Konflikte endgültig ihren Abschluss.[5]
Der erfolgreiche Coup gegen den ‹Herrn der Finsternis› besiegelte auch endgültig die Neuverteilung der Funktionen an der Spitze von Partei und Staat. Zwar ‹korrigierte› er die offiziöse Liste der Mitglieder des wieder verkleinerten Parteipräsidiums in einer Position, bestätigte aber die übrigen (Tabelle 44). Nur die Rangordnung, die sie im prestigesüchtigen Sozialismus ebenfalls enthielt, musste bald geändert werden. Der Hintermann Chruščev rückte weit nach oben. Das neue Amt verschaffte ihm erhebliche Möglichkeiten zu personalpolitischer Einflussnahme und informeller Lenkung. Dazu trug bei, dass er nach dem Wechsel Malenkovs an die Spitze des Ministerrats mit der Folge des Ausscheidens aus dem Sekretariat (nicht dem Präsidium) der Partei der Einzige war, der in beiden zentralen Gremien Sitz und Stimme hatte. Wie seine Memoiren eindrucksvoll belegen, nutzte Chruščev seine neuen Kompetenzen zielstrebig und geschickt mit dem Ergebnis seiner förmlichen Wahl zum Ersten Sekretär der KPdSU. Als die Entscheidung am 13. September 1953 bekanntgegeben wurde, war auch diese Gemeinsamkeit nicht zu übersehen: Der ‹Überraschungskandidat› war dort angekommen, wo Stalin (ebenfalls keiner der ersten Anwärter auf die Nachfolge Lenins) einst begonnen hatte. Ungeachtet sehr anderer Methoden und Vorstellungen von Herrschaftsausübung erwies er sich – nicht zum ersten Mal – als gelehriger Schüler: Wirkliche Macht ging im bolschewistisch-monokratischen Staat nur von der Verfügung über die Monopolpartei aus. Chruščev erlangte sie, weil er die Partei zu stärken und wiederzubeleben versprach.