Nicht nur für westliche Beobachter kam der Sturz Chruščevs letztlich doch überraschend. Trotz mancher Anzeichen sprach die Machtfülle des Partei- und Staatschefs gegen die Möglichkeit einer erfolgreichen Nacht- und Nebelaktion. Auch die historische Erfahrung lehrte anderes. Noch nie war im Sowjetregime ein höchster Amtsträger zu Lebzeiten abgesetzt worden, geschweige denn ein physisch und geistig voll aktionsfähiger. Schon die Art des Coups vom 13. Oktober 1964 enthielt daher einen Hinweis auf seine Absicht: Er fand im engsten Kreis der Macht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und zielte auf eine Kurskorrektur innerhalb der gegebenen Grundordnung. Die Vermutung liegt nahe, dass der Machtwechsel nur deshalb so geräusch- und gewaltlos vonstatten ging, weil ihn ein breiter Konsens in den oberen Rängen von Partei und Staat stützte. In mancher Hinsicht verwirklichte erst diese ‹Palastrevolte›, was Chruščev auf seine Fahnen geschrieben hatte: das Prinzip der kollektiven Führung. Insofern wurde Stalins Erbe nicht nur Opfer seiner Hektik und Fehler, sondern auch seiner Leistungen – das Sowjetsystem befriedet, bei allen bleibenden Schwächen weiter modernisiert und eine Funktionärselite herangezogen zu haben, die ihr Interesse an Berechenbarkeit der Politik und eigener Sicherheit einklagte. Wenn es eine Botschaft des Umsturzes gab, lautete sie: Ende der Reformen ohne Rückkehr zur stalinistischen Angst aller vor allen. Lenin, Stalin und auch Chruščev hatten, nicht ohne je besondere Ausstrahlung, ein persönliches Regiment ausgeübt; ihre Nachfolger, nicht zufällig im Duumvirat, waren die Ersten, die im Namen der ganzen Führungskaste einer in die Jahre gekommenen revolutionären Ordnung handelten. Dies schloss personale Herrschaft nicht aus. Vor allem in der zweiten Hälfte der neuen Ära zeigte sich, dass die wichtigen Entscheidungen nicht nur in kleinstem Kreise fielen, sondern auch der Zustimmung eines einzelnen, neuen ‹Führers› bedurften. Dennoch unterschied sich die neue Herrschaft von der alten. Selbst wenn sie sich nach ihrer Festigung von Interessen und Institutionen zu lösen vermochte, blieb sie stärker daran gebunden als je zuvor. So gesehen ergriff 1964 die nomenklatura als herrschender und ‹beamteter› Teil der «Sowjetintelligenz» die Macht.
Schon im Ursprung der neuen Regentschaft war damit ein Problem angelegt, an dem sie schließlich zugrunde ging: der fließende Übergang zwischen Bewahrung und Stillstand. Was in gewisser Weise als Notbremse der ‹Apparate› diente, versteinerte zu einem Grundkompromiss, der die Kraft zur Selbstregeneration verlor. Diese Entwicklung war nicht vorgegeben. Vieles deutet darauf hin, dass es anfangs an ernsthaftem Reformwillen nicht mangelte. Der Putsch richtete sich weniger gegen Neuerungen an sich als gegen ihre Art. In verändertem Stil wurden in den ersten Jahren vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet durchaus Reformen in Angriff genommen. Auch danach ging das Bewusstsein wachsender Rückständigkeit im Konsumniveau und allgemeiner ökonomischer Leistungsfähigkeit gegenüber dem kapitalistischen Systemgegner nicht verloren. Nur erlahmte die Bereitschaft, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, weil es keine Instanz oder Person mehr gab, die Unbequemes hätte durchsetzen wollen. Der Apparat und seine Spitze richteten sich in einem Zustand ein, der von der angestrebten Konfliktregulation in sklerotische Trägheit hinüberglitt. Der Scheitelpunkt zwischen der ersten, überwiegend (mit Ausnahme sicher der Dissidenten) als annähernd erfolgreich empfundenen Phase der Brežnev-Ära und der zweiten, die zum Vorspiel des Abgesangs wurde, lag dabei irgendwann zu Beginn der siebziger Jahre. Ihm ging Brežnevs Aufstieg vom primus inter pares zum Alleinherrscher voraus, auch wenn er das Ministerpräsidentenamt nicht übernahm. Parallel dazu verlief die Installierung auffallend vieler Getreuer (und Verwandter) in materiell privilegierte Positionen mit dem Ergebnis, dass Stagnation und Korruption in der Retrospektive eine charakteristische Wortverbindung eingingen. Mit guten Gründen deutete man die Vergreisung an der Spitze als Symptom für den Zustand des ganzen Regimes. Nicht dessen Ende, aber dessen Verjüngung und Dynamisierung wurde unausweichlich. Wie sich zeigen sollte, setzte der Versuch, mit dieser Einsicht ernst zu machen, Spannungen frei, denen es nicht gewachsen war.
Machtwechsel: neue Politik und alte Inhalte Der Gedanke hat viel für sich, dass die Installierung eines (wenn auch noch so kleinen) Kollektivs an der Spitze von Partei und Staat Programm war. Die oberste Gewalt beider Apparate sollte nicht mehr in Personalunion wahrgenommen werden; Trennung von Kompetenzen, nicht Vereinigung war angesagt. So rückte Brežnev zum neuen Chefkommunisten, Kosygin zum neuen Vorsitzenden des Ministerrats auf. An den Buchstaben der Statuten gemessen, taten ZK und Oberster Sowjet mit ihrer Zustimmung zu dieser Rochade eigentlich nur das Normale: Sie wählten neue Männer in die höchsten Ämter. Es war bezeichnend für das verkehrte Verhältnis zwischen geschriebener Verfassung und Wirklichkeit, dass der Regelfall zum Putsch geriet. Entgegen den Gesetzen war die Akklamation das Übliche, die Ab- und Neuwahl aber bedeutete das Ende einer Ära. Dass im Parteipräsidium nicht nur Stühle gerückt wurden, geht auch aus der aktiven Beteiligung anderer führender Politiker hervor. Sie saßen gleichsam mit am Tisch, auch wenn sie nicht an der Stirnseite Platz nahmen. Alles belegt die Annahme, dass Brežnev und Kosygin wichtige Entscheidungen anfangs nicht nur gemeinsam trafen, sondern darüber hinaus mit anderen einflussreichen Funktionären abstimmten. Unmittelbar nach dem Putsch waren dies vor allem die übrigen Konspirateure: Podgornyj, Suslov und Šelepin.
Die neuen-alten Oligarchen sorgten denn auch für die rasche Aufhebung jener Maßnahmen, die sie als größte Zumutung ihres gestürzten Vorsitzenden betrachteten. Woran sie Anstoß nahmen, ging aus einem Leitartikel der Pravda vom 17. Oktober in ungewöhnlicher Deutlichkeit hervor: an «Aktionen, die auf Wunschdenken, Prahlerei und leeren Worten» gegründet gewesen seien, an «Voluntarismus» und «Subjektivismus». Kein Monat war vergangen, als die Spaltung der Parteiorganisation in einen industriellen und einen agrarischen Zweig rückgängig gemacht wurde (16. November). Ein Jahr dauerte es, bis die regionalen Volkswirtschaftsräte ihre Tätigkeit einstellen und sich den Weisungen der erneuerten zentralen Industrieministerien unterordnen mussten. Dabei verlief die Bündelung der Kompetenzen an der Staatsspitze bemerkenswerterweise überwiegend entlang der alten Grenzen. So war es ein Leichtes, auch das alte Personal zu reaktivieren: Zwölf der 33 neu ernannten Minister hatten dieses Amt schon vor der Reform ausgeübt, weitere zehn waren stellvertretende Ressortchefs gewesen. Ein weiteres Jahr später wurden auch das 1960 aufgelöste Unions-Innen ministerium sowie ein Bildungsministerium auf dieser Ebene wiederbegründet; fünf zusätzliche Bauministerien sowie ein Justizministerium folgten 1967 sowie 1970 und 1972, so dass die Gesamtzahl von Industrieministerien in der ersten Dekade der neuen Ära von 29 auf 36 stieg.
Besondere Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus die Annullierung einer weiteren einschneidenden Reform: der Begrenzung der Amtszeit für Funktionäre. Dass selbst die mächtigsten Kommunisten im Regelfall nach drei Amtsperioden ausscheiden sollten und darüber hinaus «mindestens» ein Viertel aller Funktionäre – auf den unteren Ebenen noch mehr – bei jeder Neuwahl ausgewechselt werden sollten, widersprach nicht nur ihrem Selbstverständnis, sondern gefährdete auch die oligarchische Herrschaftsform. Die Begründung des Widerrufs mit dem Hinweis darauf, dass der reguläre Wahlmodus ohnehin zu einer angemessenen Erneuerung des Personals führe, nahm dem Akt nichts von seinem Egoismus; allzu deutlich lagen die wahren Motive zutage. Die neuen Herrscher wollten gerade in personalpolitischer Hinsicht zu liebgewordenen Traditionen zurückkehren. Dass diese stalinistisch waren, störte sie in keiner Weise. Dazu passte die Um- und Rückbenennung des Parteipräsidiums in Politbüro, dessen Vorsitz anstelle des Ersten Sekretärs wieder ein Generalsekretär führte. Zugleich brachte der 23. Parteitag (29. 3.–8. 4. 1966), der unter anderem die letztgenannten Beschlüsse fasste, aber keine erklärte Restalinisierung. Der erste Kongress der neuen Ära verfuhr wie die neuen Machthaber: Man verzichtete auf öffentliche Anklagen und demonstrative Gesten. Chruščev wurde weder vor Gericht gestellt noch propagandistisch diffamiert. Stattdessen kassierte man seine institutionellen Reformen ohne viel Aufhebens und hielt ideologische Veränderungen an. Die Entstalinisierung wurde abgebrochen; die Verbrechen des Diktators schrumpften zu «Fehlern», aber er wurde auch nicht förmlich rehabilitiert (und etwa ins Mausoleum zurückgeholt). Vieles gibt zu der Vermutung Anlass, dass dieses stille, aber effiziente Vorgehen die Kernabsicht der Putschisten recht genau wiedergab. Die nomenklatura suchte nach einem turbulenten Jahrzehnt Ruhe und Stabilität. Dazu gehörte auch die Sicherheit vor der eigenen Biographie. Überwiegend unter Stalin aufgestiegen, fühlten sich die neuen-alten Männer durch die Enthüllungen über vergangene Gräuel selbst angegriffen. Ob sie etwas zu verbergen hatten oder nicht – neugierige Fragen gar nicht erst zuzulassen war allemal besser.[1]
Es hätte jeder Erfahrung widersprochen, wäre die Installation einer neuen Führung völlig ohne persönliche Auseinandersetzungen verlaufen. Was im Einzelnen vorging, liegt noch im Dunkeln. Gleichwohl lassen sich die Ämterrochaden jener Jahre in Übereinstimmung mit den meisten damaligen Beobachtern als Resultate solcher Konflikte deuten. So besteht Einigkeit darüber, dass zunächst vor allem Brežnev und Podgornyj miteinander konkurrierten. Letzterer war nach dem Krieg im Gebietskomitee (oblast’) der Industriestadt Char’kov, danach in der Parteiorganisation der Gesamtukraine aufgestiegen. Seit Ende 1957 gehörte er zum engstem Kreis der Macht (dem Parteipräsidium), aus dem er durch seine Ernennung zum ZK-Sekretär 1963 noch herausgehoben wurde. Wenn er gemeinsam mit Brežnev maßgeblich daran beteiligt war, jene Drähte zu spannen, über die Chruščev stolperte, so darf man die Verfolgung eigener Interessen unterstellen. In diesem Licht kam es in der Tat dem bekannten Manöver der ‹befördernden Abschiebung› gleich, wenn er im Dezember 1965 dazu auserkoren wurde, dem betagten Mikojan im Vorsitz des Präsidiums des Obersten Sowjet nachzufolgen.
Als Rivale für Brežnev konnte auch A. N. Šelepin gelten, der als jüngster Spitzenfunktionär (geb. 1918) die vielleicht steilste Karriere durchlaufen hatte. Dabei halfen seine Vergangenheit als KGB-Chef (seit 1958), seine Funktion als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen seit 1961 (die es ihm faktisch weiterhin ermöglichte, den Geheimdienst zu dirigieren) sowie der Vorsitz in der CKK, die zu dieser Zeit auch für staatliche Funktionen zuständig war. All dies verschaffte ihm besondere Aufmerksamkeit und den Ruf des starken Mannes hinter den Kulissen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund müssen Umbesetzungen gesehen werden, die ihn zumindest um seine Hausmacht im Polizeiapparat brachten. Dasselbe ZK-Plenum, das Podgornyj in das Amt des ‹Staatspräsidenten› weglobte, löste im Dezember 1965 die alte CKK auf. Anderthalb Jahre später verlor Šelepin auch die entscheidende Sekretärsfunktion, als man ihn zum Vorsitzenden der Gewerkschaften ernannte. Zwar brachte das neue Amt viel Prestige, galt aber als unvereinbar mit einem Parteiamt. Da auch manche Vertraute auf andere Posten der vielköpfigen nomenklatura versetzt wurden, büßte er so viel Macht ein, dass er als ernsthafter Konkurrent Brežnevs ausschied.[2]
Im Übrigen zeichnete sich die sowjetische Führung im ersten Jahrzehnt der neuen Ära durch eine ungewöhnliche Kontinuität aus. Bei genauer Betrachtung lässt sich in der gesamten sowjetischen Geschichte keine längere Periode von vergleichbarer personeller Stabilität finden. In den zwanziger Jahren bildete Lenins Tod eine tiefe Zäsur, der Machtkämpfe und ein Elitentausch auf allen höheren Ebenen von Partei und Staat folgten. Anfang der dreißiger Jahre bewirkte Stalins Aufstieg einen ähnlichen Riss, den der anschließende «Große Terror» brutal fortsetzte. Die Profiteure der Erschießungen und Deportationen genossen, soweit sie wendig genug waren, am ehesten eine vergleichbare politische Langlebigkeit; aber auch sie wurden durch den Weltkrieg dezimiert oder waren Stalins gewalttätigen Launen ausgeliefert. So verweist nicht zuletzt die auffällige Konstanz des inneren Machtzirkels auf Veränderungen des Systems, die durch seine Pazifizierung und eine neue Form der Zusammenarbeit gekennzeichnet waren. Wie immer dieser Wandel zu deuten ist, er zementierte sowohl die Oligarchie als auch die Herrschaft der Partei über den Staat und verlängerte damit die Lebensdauer der Gesamtordnung.
Dieser ‹erste Kreis› der nomenklatura sah im März 1966 so aus: