Vielfach lässt sich belegen, dass die NĖP nicht den eigentlichen Zielen des neuen Regimes entsprach. Sie war ein taktisches Manöver, diktiert vom Überlebenszwang und von der Einsicht, dass die Gefahr vor allem von der Bauernschaft, der großen Bevölkerungsmehrheit, ausging. Die Wirtschaftspolitik beugte sich übergeordneten Notwendigkeiten des Machterhalts. Eben deshalb rückte sie in den kommenden Jahren in den Vordergrund; nicht ohne Grund gab die NĖP der ganzen Epoche den Namen. Auf der anderen Seite blieb die Priorität der allgemeinpolitischen Überlegungen und Fernziele unangefochten. Man stritt über die Angemessenheit des eingeschlagenen Weges zum Endziel des Sozialismus, nicht über diesen selbst. Wer die konkreten Schritte der NĖP und ihren Charakter verstehen will, sollte dies nicht aus dem Auge verlieren. Der Streit ist alt (und im Zeichen der Perestrojka wiederaufgelebt), ob sie als dauerhafte Strategie oder als kurzfristige Verschnaufpause pour mieux sauter gedacht war. Lenin sprach von einem «langen Zeitabschnitt» und einer «Reihe von Jahren», legte sich aber wohlweislich nicht fest. Auch die Maßnahmen erlauben keine eindeutigen Schlüsse. So muss es genügen, von einem praktisch nicht befristeten, aber theoretisch – bei offenem Ende – temporären Charakter zu sprechen. Daraus entstand eine Ambivalenz, die sich, ohne falsche Entscheidungslosigkeit, als treffendste Kennzeichnung der NĖP anbietet: Sie verstand sich als und war ein Zwitter auf unbefristet-begrenzte Zeit, um fortdauernde staatliche Kontrolle mit partieller Freiheit des Marktes zu verbinden. Eben in dieser gewollten, prinzipiellen Unentschiedenheit lag eine der Hauptursachen für ihre Probleme. Die Frage schwebte über allen Debatten und Empfehlungen, ob ein «bisschen» Markt möglich sei.[1]
Die Anfänge der NĖP Lenin und mit ihm – wie stets seit dem Oktobercoup – die Mehrheit des Politbüros gaben eine entschieden positive Antwort. In seiner programmatischen Rede vor der zehnten, außerordentlichen Parteikonferenz im Mai 1921, die den Grundsatzbeschluss des vorangegangenen (ebenfalls zehnten) Parteitages umsetzen sollte, ließ er keinen Zweifel an ihrem Übergangscharakter. Die «wirkliche und einzige Basis für die … Schaffung der sozialistischen Gesellschaft» sei «allein die Großindustrie». Zu unterstellen, dieses «Hauptziel» könne jemals aus dem Blick geraten, sei «ganz lächerlich und unsinnig». Die Kritiker müssten aber begreifen, dass die nach Revolution und Bürgerkrieg darniederliegende Großindustrie nur durch den «Austausch» ihrer Erzeugnisse gegen landwirtschaftliche wiederaufzurichten sei. Lenin wies deshalb den Vorwurf, man verwöhne die Bauern und missachte die Arbeiter, als abwegig zurück. In der gegebenen Situation müsse das «Hauptaugenmerk» dem Dorf gelten: ohne ausreichende Versorgung der Städte und ohne landwirtschaftliche Kaufkraft keine Industrie.[2]
Diese Einsicht war ebenso richtig wie trivial. Die Landwirtschaft konnte die Industrie (wenn überhaupt) nur tragen, wenn sie selbst Überschüsse für den Marktverkauf produzierte. Für jeden Verständigen ergab sich daraus von selbst, dass man bei der Einführung der Naturalsteuer nicht stehenbleiben konnte. Was weiter nottat, skizzierte Lenin bereits im Entwurf für die einschlägige Resolution der erwähnten Parteikonferenz: Neben der «systematischen» Entwicklung des Warenaustauschs zwischen Stadt und Land sollten private und genossenschaftliche Klein- und Mittelbetriebe gefördert, die Verpachtung von Staatsbetrieben an Privatpersonen ermöglicht sowie die «Selbständigkeit» der Großbetriebe «hinsichtlich der Verfügung über Finanzmittel und Materialreserven» mit dem Ziel der Anpassung ihrer Produktion an den ländlichen Bedarf gestärkt werden. Zugleich machte gerade der Parteiführer aus seinen Vorbehalten gegenüber den freizusetzenden ‹kapitalistischen› Kräften kein Hehl. Man wird nicht fehlgehen, die Schlüsselrolle, die er den Genossenschaften zuwies, mit dieser Skepsis in Verbindung zu bringen. Zentral gelenkte Kooperativen sollten als Produktionsgenossenschaften die lokale Industrie technisch und finanziell unterstützen und als Konsumgenossenschaften den Warenaustausch zwischen Stadt und Land abwickeln. In dieser Funktion dienten sie der Bekämpfung der «anarchischen» (d.h. sich staatlicher Kontrolle entziehenden) Eigenschaften des Marktes, eine für den Konzessions- und Mischcharakter der NĖP gewiss bezeichnende Formulierung.[3]
Die konkreten Maßnahmen folgten diesem Programm im Großen und Ganzen. Den grundlegenden Schritt hatte schon das Dekret vom 21. März 1921 verkündet. Getreide sollte fortan nicht mehr requiriert, sondern von den Bauern als berechenbare Steuer abgeliefert werden. Entscheidend war dabei der Verzicht auf die Requisition der «Überschüsse». Anders als häufig nachzulesen, sank die aufgebrachte Menge im Vergleich zum Vorjahr nicht, sondern stieg sogar; die neue Steuer traf mehr Bauern als die Eintreibungen zuvor. Aber die Produzenten durften nun behalten, was sie zusätzlich ernteten. Eine weitere spürbare Erleichterung trat ein, als der zwölfte Parteitag zwei Jahre später die Voraussetzungen für gegeben hielt, um die Naturalsteuer durch eine Geldleistung zu ersetzen. Parallel dazu betrieb man die Anpassung von Industrie, Handel und Gewerbe an die neuen Freiheiten. Mitte Mai 1921 stellte der SNK die Verstaatlichungen ein; bereits nationalisierte Betriebe wurden ihren Eigentümern allerdings nicht zurückgegeben. Zugleich beseitigte er alle Auflagen, die es dem Staat ermöglicht hatten, die Genossenschaften an die Kandare zu nehmen. Ein Erlass vom 5. Juli räumte ihnen ebenso wie Einzelpersonen das Recht ein, staatliche Industrieunternehmen zu pachten. Vertragspartner war bei Betrieben von lokaler oder regionaler Bedeutung der jeweilige Volkswirtschaftsrat des Gouvernements, bei Großbetrieben von nationalem Gewicht der VSNCh. Die Pächter mussten zusagen, die allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu beachten und für die ihnen überlassenen Vermögenswerte zu haften. Im Gegenzug durften sie ihre Produkte frei verkaufen. Sie waren nicht zur bevorzugten Lieferung an den Staat verpflichtet, so wie der Staat umgekehrt keinerlei Hilfs- und Versorgungsaufgaben übernahm. Löhne sollten frei ausgehandelt werden. Per Dekret vom 7. Juli wurde die Gewerbefreiheit für Handwerks- und sonstige gewerblich-industrielle Kleinbetriebe wiederhergestellt. Jeder erwachsene Sowjetbürger durfte fortan selbständig wirtschaften, wenn er nicht mehr als «10 oder 20 Lohnarbeiter» beschäftigte, nur ein Unternehmen besaß und dieses registrieren ließ. Desgleichen wurde ihm erlaubt, stationär oder ambulant Handel mit Waren aller Art zu treiben, soweit sie nicht aus staatlich gelieferten Rohstoffen gefertigt waren. Anfang Dezember 1921 verfügte der SNK sogar, alle Betriebe dieser Kategorie, auch wenn sie bereits in staatliche Verwaltung überführt worden waren, an ihre alten Besitzer zurückzugeben. Damit waren Kleinhandel und -industrie de jure, auch wenn die Praxis wie meist nachhinkte, in der Tat weitgehend reprivatisiert worden.[4]
Anders verfuhr man mit den Großbetrieben. Es entsprach der angestrebten Verbindung von staatlicher Lenkung und Marktregulierung, dass die bereits vollzogene Nationalisierung durch dasselbe Dekret, das ihre Fortsetzung untersagte, ausdrücklich bestätigt wurde. Lenin war keinesfalls gewillt, die «Kommandohöhen» der Wirtschaft zu verlassen; die Opposition brauchte ihn davon nicht zu überzeugen. Andererseits hatte sich die zentrale Produktionsplanung durch die Hauptverwaltungen (glavki) des VSNCh als ineffektiv erwiesen. Die einschlägige Kritik, vor allem auf dem achten Sowjetkongress im Dezember 1920 vorgebracht, war offensichtlich berechtigt. Schon im letzten Bürgerkriegsjahr hatte man erste Konsequenzen gezogen und die Zahl der glavki von 52 auf 16 reduziert. Die eigentliche Anpassung an die neuen Wirtschaftsprinzipien aber wurde durch den Zusammenschluss von Staatsunternehmen der gleichen Branche zu sog. Trusts vollzogen. Dabei wechselte man nicht nur das Etikett. Die neuen Produktionsverbände sollten weitgehende Selbständigkeit genießen. Sie erhielten ein eigenes Management, eine Grundausstattung an fixem Kapital und das Recht, in eigener Regie Verträge zu schließen. Der VSNCh entließ sie aus seiner direkten Leitung, nicht ohne zugleich seine Fürsorge einzustellen: Wesentlicher Zweck der Reorganisation war es, das Staatsbudget von der Alimentation der Unternehmen zu entlasten und diese dem Prinzip der eigenverantwortlichen «wirtschaftlichen Rechnungsführung», dem chozrasčet, zu unterwerfen. Allerdings verzichtete der Staat nicht auf seine Oberaufsicht. Angesichts mancher Rentabilitätsprobleme und ökonomisch unsinniger, von Regionalinteressen geleiteter Fusionen zog der VSNCh im Gegenteil die Zügel wieder an. So bestimmte das abschließende Trustgesetz vom 10. April 1923, dass die Vorstandsmitglieder von ihm ernannt wurden und seiner Aufsicht unterlagen. Einen Teil der Unternehmen, vor allem der Energiewirtschaft und Metallverarbeitung, nahm man ganz von der Neuregelung aus; sie blieben unter der unmittelbaren Kontrolle der sechzehn restlichen glavki. Im Übrigen kam das unverminderte Gewicht des Staates auch in der Verfügung zum Ausdruck, dass 22 % des Gewinns einem Fond zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten zufließen sollten, mithin nicht für Investitionen zur Verfügung standen.[5]
Unentbehrlich und von großer Bedeutung war schließlich die parallele Finanzreform. Der Markt konnte nicht wiederhergestellt werden, wenn die Währung nicht in Tagen, sondern in Stunden an Wert verlor, wie Preobraženskij auf dem zehnten Parteitag spottete. Der SNK erkannte auch diese Notwendigkeit und ergriff bemerkenswert radikale Maßnahmen. Ende Juni wurden alle Maximalgrenzen für Vermögen von privaten und juristischen Personen aufgehoben. Einen Monat später verlangte der Staat, der noch ein Jahr zuvor sogar die Bezahlung von Elektrizität und Wasser aufgehoben hatte, die Begleichung seiner Dienste in bar. Am 21. August wurde die Rückkehr zur Aufstellung eines ordentlichen (tendenziell ausgeglichenen) Staatshaushalts gesetzlich verankert, am 10. Oktober zusätzlich die Ausgliederung der kommunalen Budgets aus dem Gesamthaushalt beschlossen. Im Februar 1922 folgten eine allgemeine Einwohnersteuer und eine Einkommenssteuer, die dem Bürger in Heller und Pfennig vor Augen führten, was die Rückkehr zu geordneten öffentlichen Finanzen kostete. Besonderer Symbolwert aber kam der wichtigsten Maßnahme zu: der Wiedereröffnung der Staatsbank am 16. November 1921. Auch wenn die Kapitalausstattung sehr zu wünschen ließ, markierte ihre Neugründung den Beginn der Wiederherstellung des Kreditwesens. Erst damit wurde wenigstens die Aussicht geschaffen, dass die prospektive Geldwirtschaft auch über Geld verfügte. Allerdings war auf dieses Geld vorerst wenig Verlass. Dass angesichts der ungebrochen rasanten Inflation eine Währungsreform überfällig war, bestritten nicht einmal die Gegner der NĖP. Der erste Schritt dazu wurde ebenfalls noch im November durch die Ausgabe neuer Banknoten (Sovznak = Sowjetzeichen) im Verhältnis von 1: 10.000 getan. Allerdings bedurfte es noch mancher zusätzlicher Maßnahmen und einiger Geduld, bis die Anstrengungen Wirkung zeigten.[6]
Der Erfolg dieser vor dem Hintergrund kriegskommunistischer Träume gewiss einschneidenden Kurskorrektur war unterschiedlich. Die Freigabe des Handels schoss schnell über das Ziel hinaus. Der Versuch, den Austausch zwischen Stadt und Land durch den Zentralverband der Konsumgenossenschaften (Centrosojuz) zu steuern, schlug gänzlich fehl. Die staatlichen Aufkäufer erwiesen sich nach wie vor als inflexibel. Gemäß einem Abkommen von Mitte Mai 1921 erhielt Centrosojuz die gesamten Staatsvorräte an Rohstoffen mit der Auflage, sie gegen Nahrungsmittel in einem bestimmten Verhältnis zu tauschen. Es zeigte sich jedoch, dass sich der fixierte ‹Naturalkurs› von den Marktpreisen entfernte und die Bauern ihre Erzeugnisse lieber den Meistbietenden als den quasistaatlichen Agenten anboten. Die weitere Loslösung der Zentralgenossenschaft aus staatlicher Obhut im Oktober brachte wenig. Zwar konnte sie fortan selbständig wirtschaften und überdies ein Vorkaufsrecht bei Staatsunternehmen in Anspruch nehmen. Aber die Konkurrenz blieb überlegen, zumal neben den Einzelhändlern zunehmend auch neue, unabhängige landwirtschaftliche Genossenschaften Zuspruch fanden. Nutznießer der Liberalisierung war der private, in der Regel bäuerliche Kleinhändler. Mit gutem Grund wurde er als NĖP-Mann zur Symbolfigur der zwanziger Jahre in Russland. Von ihm ging die größte Dynamik aus. Er brachte Waren in die Stadt und versorgte vor allem das kleine Gewerbe, das einen steilen Aufschwung nahm, mit Rohstoffen. Unvollkommene, aber tendenziell zutreffende statistische Daten verdeutlichen diese Entwicklung: 1923/24 hatten Privathändler einen Anteil von etwa 66,5 % am Bruttoumsatz des Detailhandels; zugleich wickelten sie nur 18,1 % des Großhandelsvolumens ab. Dies war die NĖP in nuce und eine wesentliche Ursache für ihren raschen Erfolg. Sie belebte den traditionsreichen, ganz überwiegend bäuerlichen Handel. Vielleicht nicht dieselben Personen, aber ihre Nachfolger bereisten dieselben Dörfer und klopften an denselben Türen an wie vor 1914. Vielfach taten sie nach 1921 nur offen, was sie im Bürgerkrieg insgeheim betrieben hatten: In mancher Hinsicht war die NĖP eine bloße Legalisierung des Schwarzhandels.[7]