Ähnlich schnell blühte die Kleinindustrie auf. Die Wiederzulassung des Privatbesitzes in diesem Bereich gab nicht nur dem Handwerk einen kräftigen Impuls, sondern auch dem Wirtschaftszweig, der in Russland über eine besonders lange Tradition verfügte: dem dörflichen «Hausfleiß», der allerdings aus der Rolle eines Nebenerwerbs längst herausgewachsen war. Die ‹Kustar-Hütten› nahmen ihren Betrieb wieder auf. Dörfliches Heimgewerbe und bäuerlicher Handel waren historisch untrennbar miteinander verflochten. Sie erwachten auch jetzt gemeinsam aus der kriegs- und verbotsbedingten Stagnation. Die Schnelligkeit der Renaissance überrascht nur auf den ersten Blick. Sie war möglich, weil diese Industrie mit weniger Kapital und billigeren Maschinen auskam als die große Konkurrenz und weil das technisch-organisatorische Wissen noch nicht verschüttet war. Die Demobilisierung tat ein Übriges, da sie den Dörfern lang entbehrte Arbeitskräfte zurückgab. Noch 1920 produzierte die Kleinindustrie kaum mehr als ein Viertel des Standes von 1912; 1922 erreichte der Index schon 54 %. Die Erholung galt auch für den wichtigsten Zweig dieses Gewerbes, die Textilherstellung und -verarbeitung. In welchem Maße sie von privater Initiative getragen wurde, lässt sich ebenfalls an einigen, wenn auch groben statistischen Indikatoren ablesen: 1923/24 entfielen 87,3 % der kleinindustriellen Bruttoproduktion auf den nichtstaatlichen Sektor; noch 1927/28 waren es hier 70,6 % im Vergleich zu 25,4 % im Kleinhandel. Man darf darin sowohl ein deutliches Zeichen der engen Verbundenheit zwischen Kleingewerbe und (fast vollständig privater) Landwirtschaft als auch einen Beleg für die geringere Toleranz der Partei gegenüber dem Handel sehen, der in stärkerem Maße mit Markt und Kapitalismus identifiziert wurde.[8]

Erheblich steiniger war der Weg der Großindustrie. Der Zusammenschluss verschaffte den Unternehmen zwar ein staatlich geschütztes Marktmonopol, aber er löste das Hauptproblem nicht: Der Absatz reichte nicht aus, weil er über die städtischen Käufer nicht hinauskam. Dies machte den großen Fabriken umso eher zu schaffen, als sie mit höherem technischen Aufwand produzierten und ungleich größere Schäden als die kleinen beheben mussten, um wieder arbeiten zu können. Da auch die staatliche Erstausstattung mit Kapital nicht ausreichte, nahmen viele Trusts bei einer Verzweiflungstat Zuflucht: Sie verkauften ihre Erzeugnisse zu Niedrigpreisen und versuchten, auch Inventar zu Geld zu machen, das sie zur Fortsetzung der Produktion dringend brauchten. Im Ergebnis führte dieses razbazarivanie zur Verschleuderung wertvoller Ressourcen. Industriegüter erzielten in diesen Monaten nur ca. 69 % des Gegenwerts an Agrarprodukten von 1913. Schon Ende 1921 lag zutage, dass die Unternehmen damit ihre eigene Zukunft unterminierten, statt sie zu stärken. Abhilfe war geboten. Man erblickte sie, mit tatkräftiger Unterstützung Lenins, im Versuch, die Vermarktung der Produkte exklusiv und organisiert in die eigenen Hände zu nehmen. Zu diesem Zweck begannen die Trusts, Handelssyndikate zu bilden. Auch der VSNCh baute ein eigenes Netz von Warenhäusern auf, vom Staatlichen Universalkaufhaus am Roten Platz in Moskau (GUM, heute ‹Schaufenster› der neuen Ära) bis zu den Staatlichen Handelsläden in allen wichtigen Provinzstädten. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Schon im Sommer hatten sich die Handelsbedingungen so weit zugunsten der Großindustrie verschoben, dass deren Produkte nicht mehr unter Wert verhökert werden mussten, sondern sich Industriepreise und Agrarpreise in ungefähr demselben Verhältnis befanden wie im letzten Vorkriegsjahr. Allerdings hielt diese Balance nicht an. Die Waagschale senkte sich zur anderen Seite. Für immer mehr Agrarprodukte erhielten die Bauern immer weniger Industriewaren. Sie reagierten mit Kaufabstinenz und stürzten die Industrie in die erste Rezession seit dem Bürgerkrieg.[9]

‹Scherenkrise›, Industrialisierungsdebatte und Höhepunkt der NĖP Diese Krise wurde nicht nur zur beherrschenden Erscheinung des wirtschaftlichen Lebens. Sie beschäftigte das ganze Jahr 1923 über auch die Politik. Nichts war neben dem ‹Bürokratismus›-Problem so umstritten wie die Diagnose des aktuellen wirtschaftlichen Leidens und geeignete Maßnahmen zur Abhilfe. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass die Wirtschaftspolitik insgesamt ins Visier von Kritik und Verteidigung geriet: Im Rahmen der sog. Industrialisierungsdebatte standen die Angemessenheit und Zukunft der NĖP selbst auf der Tagesordnung.

So kam es nicht von ungefähr, dass Trotzki das irritierende Phänomen als Erster an eine breitere Öffentlichkeit brachte. In seinem Referat «über die Industrie» warf er auf dem zwölften Parteitag im April 1923 die rhetorische Frage auf, ob das Hauptziel der NĖP, Arbeiter und Bauern auch ökonomisch zu verschmelzen, Wirklichkeit geworden sei und ein Güteraustausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen beider stattfinde. Zur Illustration des Gegenteils verglich er die Preisentwicklung von Agrar- und Industrieprodukten und präsentierte den Delegierten ein Diagramm aus zwei Kurven, die sich im September 1922 kreuzten und seitdem in unterschiedliche Richtungen strebten – die Industriepreise nach oben, die Agrarpreise nach unten. Die Linien zeigten die klaren Konturen einer Schere; die Krise hatte ihren Namen. Obwohl Trotzki die Erscheinung als «aktuelles Grundproblem der russischen Wirtschaft» bezeichnete, ließ er bei seinen Korrekturvorschlägen Vorsicht walten. Er regte an, den Getreideexport – nach zwei zufriedenstellenden Ernten – zu steigern, um die Agrarpreise anzuheben. Zugleich sollten energische Rationalisierungsmaßnahmen in der Großindustrie eingeleitet werden, um die Kosten zu senken. Auch Entlassungen und Lohnverzicht fasste er schweren Herzens ins Auge, nicht ohne sie als temporär unumgänglichen «Kredit» der Arbeiter an den Staat zu verbrämen. Allerdings sollten diese Vorleistungen in eine Gesamtstrategie eingefügt werden, die sie durch den erfolgreichen Aufbau einer neuen Großindustrie nachträglich rechtfertigen würde. Spätestens an dieser Stelle kam das eigentliche Anliegen der gesamten Linken zum Tragen: Auf Dauer sollte ein volkswirtschaftlicher Gesamtplan den marktwirtschaftlichen Wildwuchs, wie ihn die Scherenkrise exemplarisch zu belegen schien, ersetzen.

Die Krise nahm indes bedrohlichere Dimensionen an, als Trotzki wohl vermutet hatte. Ende September 1923 erreichte die «Schere» ihren höchsten Öffnungsgrad, als die Einzelhandelspreise für Agrarerzeugnisse auf 58 % des Vorkriegsniveaus gesunken und die entsprechenden Industriepreise auf fast 187 % gestiegen waren. Erst danach begann sie, sich wieder zu schließen; im Frühjahr 1924 war ein ungefähres Gleichgewicht wiederhergestellt. Auf dem Höhepunkt der Absatzkrise, die sich hinter diesen Zahlen verbarg, blieb auch das Schlimmste nicht aus: Nachdem Löhne nicht mehr pünktlich hatten ausgezahlt werden können, kam es in einigen großen Werken bei Nižnij Novgorod und im Ural zu Streiks. Erstmals seit Kriegsende begehrten Arbeiter, mitten im friedlichen Aufbau, gegen eben jenen Staat auf, der seine Legitimität aus ihrem Mandat ableitete und ihr Emblem im Wappen führte. Dies traf die Partei ins Mark und erschütterte das Vertrauen in die Weisheit der NĖP zutiefst. Die Vorstellung, einen Königsweg gefunden zu haben, der beide Säulen des Arbeiter- und Bauernstaates gleichermaßen und zugleich stärken würde, hatte sich als trügerisch erwiesen. Die Partei musste, jedenfalls auf kurze Sicht, alternativ entscheiden, wem sie die Priorität geben wollte.[10]

Weniger Konsens als über den Befund herrschte über seine Ursachen und die geeignete Therapie. Politisches Gewicht erlangten im Wesentlichen drei Antworten. Der bekannte Ökonom N. D. Kondrat’ev entdeckte die Wurzel des Übels hauptsächlich im Fall der Agrarpreise. Die relativ höheren Preise für Agrarprodukte im Jahre 1922 hätten die Bauern zur Erweiterung ihrer Anbauflächen veranlasst und die Industrie animiert, auch ihre Produktion zu steigern. Als das Getreide auf den Markt kam, entstand ein Überangebot, das auf die Preise drückte. Durch die anhaltende Geldentwertung ohnehin in Bedrängnis geraten, fanden sich keine Abnehmer für Industriewaren mehr. Daraus ergab sich, neben der Empfehlung weiterer Bemühungen um die Stabilisierung der Währung, vor allem eine Handlungsanweisung: die Agrarpreise anzuheben und die Industriepreise zu senken. Was ökonomisch neutral klang, lief sozial- und allgemeinpolitisch auf eine klare Parteinahme hinaus. Die Bauern, besonders die marktproduzierenden, waren zu unterstützen, den Arbeitern aber weiterhin Lohneinbußen oder gar Entlassungen zuzumuten.

Dem widersprach am energischsten die Linke Opposition. Das Chaos, schrieb Trotzki dem ZK im folgenschweren Brief vom 8. Oktober 1923, komme «von oben». Nicht nur die Finanzpolitik sei verfehlt, sondern die konkrete Handhabung der NĖP insgesamt. Das ZK habe die Preise ebenso wenig unter Kontrolle zu bringen vermocht wie den privaten Handel. Zur Abhilfe forderte Trotzki als einzig wirksame ‹Regulierung› einen volkswirtschaftlichen Gesamtplan. Keiner Erläuterung bedarf, warum sich führende Ökonomen der bereits bestehenden Planbehörde (Gosplan), namentlich S. G. Strumilin, dieser Interpretation anschlossen. Beide setzten voraus, dass die zentrale Koordinierung vor allem der Industrieförderung zu dienen habe. Auch wenn sich ihre Krisendeutung nicht ausdrücklich gegen die Bauern richtete, war offensichtlich, dass Abhilfe nicht primär in deren weiterer Unterstützung gesehen wurde.

Der erstgenannten Meinung stand eine weitere Deutung nahe, die unter den Experten der Staatsbank und des Finanzkommissariats vorherrschte. Sie verstand sich als sachlich-neutrale Analyse, hatte aber ebenfalls klare politische Implikationen. Die Anhänger dieser Sehweise zeigten sich durch den Umstand irritiert, dass sich das Überangebot an Industriewaren nicht auf marktwirtschaftlichem Wege verringerte. Wo zu viele und zu teure Produkte zu wenig Käufer fanden, hätte eine Preisreduktion durch die Anbieter nahegelegen. Deren Ausbleiben verwies auf einen Zusammenhang mit der Organisation des Verkaufs. Auch die zeitliche Parallele zwischen dem kontinuierlichen Anstieg der Industriepreise seit der Inventarverschleuderung Ende 1921 und der Syndikatsbildung deutete in diese Richtung. Mithin hatte sich die große Industrie selbst in die Stagnation und Rezession manövriert: durch monopolistischen Vertrieb und ungezügelte Gier, die zum Beispiel dem Moskauer Seidentrust 1922–23 den enormen Gewinn von 175 % eingebracht haben soll. Auch aus dieser Auffassung ergab sich die wichtigste Korrekturempfehlung von selbst. Die Industrie stand am Pranger; sie war zu veranlassen, preiswerter zu produzieren und ihre exklusive Marktstrategie aufzugeben.[11]

Eben dieser Auffassung schloss sich die Parteiführung an. Auf dem Höhepunkt der «Schere» und der Streiks setzte das ZK neben der ‹Bürokratismus›-Kommission zwei weitere Ausschüsse ein, die sich mit den Ursachen der Wirtschaftskrise und der Preisentwicklung befassen sollten. Auch in diesen Gremien fehlten prominente Oppositionspolitiker, weil sie ihnen keine Bedeutung beimaßen. Deshalb konnte es nicht überraschen, dass die dem Politbüro im Dezember 1923 vorgelegten Kommissionsberichte keinen Gedanken des linken Lagers enthielten. Stattdessen unterstrichen sie die petitio principii der «vorrangigen» Bedeutung der Landwirtschaft. Die Prämisse der NĖP, dass der Weg zur sozialistischen Industrie über ein lebenskräftiges Bauerntum führe, wurde nicht in Zweifel gezogen. Zugleich hielt die Vorlage der Preiskommission aber Kontrollen für nötig. In dieser Hinsicht verteidigte niemand mehr die Selbstregulation des freien Marktes. Damit war der Tenor für die 13. Parteikonferenz Mitte Januar 1924 vorgegeben, die über den Wirtschaftskurs der folgenden Jahre faktisch bereits ebenso definitiv entschied wie über die übrigen Monita der innerparteilichen Opposition. Rykov markierte in seinem Leitreferat als Vorsitzender des VSNCh die Kerneinsicht mit der Bemerkung, die Krise sei ein Problem der Preispolitik, nicht das Ergebnis mangelnder Planung. Die Gegenposition fand nur wenig Fürsprecher. In Abwesenheit von Trotzki wurde sie von G. L. Pjatakov, assistiert von Preobraženskij, vorgebracht. In seiner Sicht lag der Krise eine Unterproduktion der Industrie bei einem gleichzeitigen Überangebot an Getreide zugrunde. Den Großunternehmen musste also mit weiteren Subventionen geholfen werden.

Freilich war der Ausgang der Debatte dank Stalins Regie schon in ähnlicher Weise vorentschieden wie der Streit über die anderen Forderungen der Opposition. Die zentral approbierten Konferenzteilnehmer stimmten mit überwältigender Mehrheit der These zu, die aktuelle «Absatzkrise» wurzele in überhöhten Industriepreisen. Als Remedur forderten sie die Betriebe zur Rationalisierung, Produktivitätssteigerung und Preissenkung auf. Die Kreditbeschränkungen seitens der Staatsbank wurden ebenso gutgeheißen wie die übrigen Bemühungen um Deflation und Geldstabilität. Zugleich sicherte die Konferenz den Bauern ihre ausdrückliche Unterstützung zu. Großzügige Hilfe sollte vor allem die Genossenschaften anspornen, ihre Produktion wieder zu erhöhen. Dennoch konnten die konsequenten Anhänger der NĖP keinen ungetrübten Sieg feiern. Die Delegierten sprachen sich nicht nur für kompensatorische Lohnzuschläge an die Industriearbeiter und für Preiskontrollen aus. Sie bestätigten auch die Unentbehrlichkeit eines Gesamtplans für die sozialistische Wirtschaft.[12] Es sollte sich zeigen, dass dieser Beschluss kein bloßes Lippenbekenntnis war.

Die vom Parteitag im Mai 1924 (ebenfalls dem 13.) bestätigten Beschlüsse der 13. Parteikonferenz leiteten die hohe Zeit der NĖP ein. Der Zusammenhang war sicher kein unmittelbar ursächlicher. Als die wirtschaftlichen Turbulenzen im Frühjahr 1924 nachließen, begannen anderthalb Jahre, deren Bilanz als entschiedene Bestätigung für die Richtigkeit der Wende von 1921 gelten konnte. Der Kapitalmangel verringerte sich; Kredite waren wieder leichter zu erhalten, und die investive Verschuldung wuchs deutlich. Die industrielle Bruttoproduktion (1913 = 100) stieg in nur zwei Jahren (1924–1926) von 45 auf 98 (d.h. um 96,4 %), die Konsumgüterherstellung dabei von 41 auf 90 (d.h. um 98,7 %), die Erzeugung von Investitionsgütern von 52 auf 113 (d.h. um 95,1 %). Zugleich stabilisierten sich die Gewinne, besonders in der Textilindustrie. Auch wenn die Schwerindustrie etwas zurückblieb, übertrafen Ausmaß und Geschwindigkeit des Aufschwungs alle Erwartungen. Neun Zehntel des Leistungsniveaus von 1913 waren erreicht; die Sowjetunion trat wirtschaftlich in eine neue Phase ein.[13]