Die enorme Kapitalinvestition verstärkte inflationäre Tendenzen. Grundsätzlich büßte das Budget durch den Plan zwar seine Kontrollfunktion für die wirtschaftliche Entwicklung ein. Die Planer hatten sich aber dennoch bemüht, Wachstum und monetäre Stabilität in Einklang zu halten. Diese Balance gelang in den ersten Jahren mit Blick auf die Gesamtausgaben. Eine bemerkenswerte Phantasie bei der Erschließung neuer Einnahmequellen (vor allem in Gestalt einer deutlichen Anhebung der Branntweinsteuer, der Ausgabe faktisch obligatorischer Schuldverschreibungen an die Bevölkerung und einer neuen Umsatzsteuer) verhalf dem Staat zu Einkünften, die selbst die drastisch erhöhten Investitionen übertrafen. Auf der anderen Seite wurden einige Planziele, die als Prämissen in die Berechnungen eingegangen waren, nicht erreicht. So blieb insbesondere die Verringerung der Produktionskosten (vor allem weil die Arbeitsproduktivität nicht nennenswert wuchs) weit hinter den Erwartungen zurück. Daraus entstanden erhebliche unvorhergesehene Mehrausgaben, die nicht mehr aufgefangen werden konnten.

Wichtiger aber war ein anderer Effekt. Die Investitionen erzeugten eine so rasante Dynamik, dass entschieden mehr Arbeitskräfte eingestellt wurden als geplant. Da aufgrund des großen Bedarfs auch höhere Löhne gezahlt werden mussten, entstand ein erheblicher Kaufkraftüberhang. Dieser traf auf eine Politik, die unbeeindruckt am Dogma der Beseitigung von privatem Handel und Markt festhielt. In den Städten hatte der Steuerdruck seit 1926 die meisten Ladenbesitzer bereits zur Aufgabe gezwungen. Die großen Messen wurden im Frühjahr 1929 verboten, auf dem Dorfe die Bauernmärkte während der Kollektivierungskampagne reihenweise geschlossen. Der bäuerliche Handel verschwand aber nicht völlig, sondern lebte unter der Oberfläche weiter und musste bald auch (seit 1932) in Form der Kolchosmärkte partiell wieder legalisiert werden. Deshalb ging dort, wo überhaupt noch etwas frei zu kaufen war, gerade von diesen angebotsreduzierenden Maßnahmen ein starker Inflationsdruck aus, als die Nachfrage stieg. Das Geld verlor kontinuierlich und rasch, zum Teil über 40 % pro Jahr, an Wert. Die staatliche ‹Verteilung› von Lebensmitteln, die ausdrücklich kein Handel sein sollte, konnte diesem Verfall nicht entgegenwirken. Dabei suggerierten die niedrigen Fixpreise einen Kostenvorteil, der an anderer Stelle durch die erwähnten Steuererhöhungen und Zwangsanleihen wieder einkassiert wurde. Faktisch waren die Verbraucher auf zwei Verteilungssysteme mit völlig unterschiedlichen Preisen angewiesen. Die Zeche zahlte in jedem Fall die große Masse der armen städtischen (und ländlichen) Bevölkerung.[7]

Überhaupt scheint sich der Faktor Arbeit am ehesten der Kontrolle entzogen zu haben. Die meisten der unerwünschten Begleiterscheinungen hatten mit ihm zu tun. Als Grundproblem ergab sich, dass die Arbeiterschaft schneller wuchs als angenommen. Geplant war eine Zunahme von ca. 11,3 Mio. 1927/28 (in allen Branchen) auf 15,8 Mio. 1932/33; tatsächlich zählte man 1932 22,8 Mio. Da die weitaus meisten von ihnen aus den Dörfern kamen, führte dieser Prozess zu einer noch schnelleren Urbanisierung als ohnehin schon vorgesehen. Die Stadtbevölkerung war für 1932 auf 32,5 Mio. geschätzt worden; in Wirklichkeit erreichte sie 38,7 Mio. Dem dadurch erhöhten Konsumbedarf, den die erwähnten nominalen Lohnaufschläge weiter steigerten, lief nicht nur der Versuch entgegen, den Markt aufzuheben und durch ein staatliches Verteilungssystem zu ersetzen. Er verschärfte auch den Effekt der grundsätzlichen Absicht des Planes, schwerpunktmäßig die Produktionsgüterindustrie zu fördern. Die gesamte Strategie war in entschiedener Gegnerschaft zur parallelen und deshalb langsameren Entwicklung der Landwirtschafts- und Konsumgüterindustrie durchgesetzt worden. Und je höher die Ziele gesteckt wurden, desto weiter blieben die Vorgaben für die Verbrauchsgüterindustrie zurück. Im Wirtschaftsjahr 1929/30 flossen zwei Drittel aller Investitionen in den sozialistischen Sektor, danach kaum weniger. Das Resultat dieser Kumulation von Nachfragesteigerung und Angebotsrückgang war absehbar: Schon bevor sich die Folgen der Zwangskollektivierung bemerkbar machten, brach die Versorgung der Städte zusammen. Der Staat antwortete mit Rationierung und der Ausweitung der Verpflegung am Arbeitsplatz. Auch dies entsprach dem Rekurs auf ‹kriegskommunistische› Praktiken, der die neue Politik begleitete. Lebensmittelkarten wurden seit 1928 nach und nach ausgegeben. Mitte 1929 konnten Normalverdienende und Nichtprivilegierte fast alle Grundnahrungsmittel nur noch durch Zuteilung beziehen. Zugleich bemühte man sich, die Kapazität der Kantinen und öffentlichen Küchen zu erhöhen. Einen wirklichen Ausgleich für die Versorgungsengpässe und -mängel, von Qualitätseinbußen nicht zu reden, bewirkte dies aber nicht. Auch die nominale Lohnsteigerung reichte allem Anschein nicht aus, um die wachstumsinduzierte Inflation wettzumachen. Alles spricht dafür, dass das Realeinkommen und mit ihm der gesamte Lebensstandard der Arbeiter ganz unplanmäßig sanken.[8]

Offen muss bleiben, in welchem Maße diese Entwicklung mit der wohl ernstesten Bedrohung für den ökonomischen Erfolg des ersten Fünfjahresplans zusammenhing: dem Problem der Qualität und der Arbeitsleistung. Dabei sollte man die Messlatte für den ersten Versuch nicht allzu hoch anlegen und die Voraussetzungen nicht vergessen, unter denen das Experiment stattfand. So gut wie alle Rahmenbedingungen waren ungünstig. Bahnlinien, Straßen und sonstige Einrichtungen der kommunikativen ‹Infrastruktur› mussten außerhalb der wenigen erschlossenen Zentren überwiegend noch geschaffen werden. Die Wirtschaftsverwaltung der Provinz befand sich erst im Aufbau. Ingenieure und Techniker waren knapp; viele wurden im Ausland angeworben. Allenthalben fehlte es an gelernten Arbeitskräften. Stattdessen wurde angesichts des sprunghaft steigenden Bedarfs eingestellt, wer kam – vor allem dörfliche Zuwanderer, die zumeist weder die nötigen Fachkenntnisse noch eine hinreichende Allgemeinbildung mitbrachten. Solche Schwierigkeiten waren zu erwarten. Auch deshalb hätte es nahegelegen, den Umbau langsamer zu vollziehen und die Defizite nach und nach zu beheben. So aber kumulierten sich die Engpässe und Mängel. Man wollte alles auf einmal – und programmierte damit Fehlentwicklungen, Vergeudung von Ressourcen und Arbeitskraft, Verschleiß und Pfusch.

Symptomatisch waren Probleme, die sich beim Bau einer Musterfabrik, des erwähnten großen Traktorenwerks in Stalingrad, ergaben. Die anschaulichen Beschreibungen sind zu Recht oft zitiert worden. Man hastete und improvisierte, um den Bau im Juni 1930 fertigstellen und planmäßig mit der Produktion beginnen zu können. Als Flankierung (und Rechtfertigung) der Zwangskollektivierung war für Juli bis September die Auslieferung von 2000 Traktoren vorgesehen. Tatsächlich verließen im Juni acht, im Juli kein einziger, im August zehn und im September 25 Traktoren das Band. Hinzu kam, dass keiner, wie ein amerikanischer Ingenieur berichtete, die technische Prüfung bestand; nach siebzig Stunden Einsatz zerfielen sie «in Stücke». Die Planer und Ingenieure konnte das kaum überraschen. Bei vielen Bauteilen hatte man sich behelfen müssen. Der Stahl aus dem zugewiesenen Zuliefererbetrieb entpuppte sich als unbrauchbar, Kupferband für die Kühler kam zerrissen an, Schraubenmuttern aus einer Werkstatt, die bis dahin Nägel für den dörflichen Bedarf hergestellt, hielten nicht. Ähnlich überfordert waren die Arbeiter. In der Regel hatten sie in der kurzen verfügbaren Zeit nicht hinreichend angelernt werden können. Viele hatten noch nie eine Schraube in der Hand gehabt (russische Bauernhäuser wurden zumeist mit Holzdübeln zusammengefügt). Kaum einer war in der Lage, die Betriebsanleitungen für die importierten Maschinen zu lesen. Und die Schilderung einer amerikanischen Industriereporterin gab weit mehr als eine zufällige Situation wieder: Man müsse vom bekannten Bild heimischer Fließbänder, an denen Arbeiter auf beiden Seiten emsig hantierten, Abschied nehmen. Russische Bänder stünden «gewöhnlich völlig still». Ein einziger Arbeiter drehe ein Stück weiter in der Fabrikhalle eine Schraube in einen halbfertigen Traktor, während zwanzig andere um ihn herum stünden, seine Tätigkeit kommentierten, rauchten, diskutierten. An die Stelle der Arbeit trete meist eine ‹kindliche› Bewunderung für die Wunder der Technik. Man halte lange Reden und schreibe eloquente Artikel – aber produziere Ausschuss.[9]

Eine lange Liste weiterer Beispiele ließe sich, etwa mit Blick auf Magnitogorsk, die größte Baustelle des Landes, hinzufügen. Vorschriften wurden missachtet, weil sie niemand verstand. Entwürfe wurden ohne Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit der Objekte verändert und ins Megalomanische überhöht. Teure Maschinen wurden durch unsachgemäße Handhabung beschädigt oder blieben einfach liegen. Wo sie in Betrieb genommen wurden, fehlte es an geeigneten Rohstoffen und Halbfabrikaten. Die Produktion war zu einem erheblichen Teil unbrauchbar. Um Vollzug melden zu können, wurde Untaugliches zu Tauglichem erklärt und auf dem Papier geschaffen, was Plan und Obrigkeit verlangten. Das neue Wirtschaftssystem setzte, zumal angesichts der völlig irrealen Ziele in seiner ersten Phase, allein auf Quantitäten und forderte Fälschung und Betrug nachgerade heraus. Nicht zuletzt deshalb verdienen die offiziellen Angaben zum Nationaleinkommen und Bruttosozialprodukt, auf die sich positive Urteile über den Fünfjahresplan weitgehend stützen, wenig Vertrauen. Die nichtproduzierten oder untauglichen, aber gemeldeten Güter, die mit Reden und Gaffen verbrachte, aber angerechnete Arbeitszeit, die registrierte, aber nicht geleistete Wertschöpfung, die verschwiegene Geldentwertung und anderes mehr abgerechnet, verliert der Gesamteffekt des Stalinschen Gewaltakts die respekterheischende Aura des schieren Ausmaßes an Veränderung. Dessen ungeachtet hat man mit Blick auf den längeren, angemessenen Zeitraum bis zum Kriegsausbruch argumentiert, dass sowohl das industrielle Gesamtwachstum als auch die Steigerung der gesamten Arbeitsleistung bemerkenswert waren. In diesem Sinn, unter Ausklammerung der Kosten und Alternativen, gelang der ‹große Sprung›.[10]

Mehr noch als die Planwirtschaft verbindet sich die gewaltsame Umgestaltung des Dorfes mit der ‹zweiten Revolution› und dem Aufstieg Stalins, den sie besiegelte. Was damit Gestalt annahm, unterschied sich nicht nur von der frühsowjetischen, sondern auch von der gesamten neueren russischen Geschichte fundamental. Unter dem Aspekt der agrarischen Wirtschafts- und Sozialstruktur markierte weder der Fall der Monarchie noch der Oktoberumsturz die entscheidende Zäsur, sondern der fatale Entschluss zur raschen und ausnahmslosen Kollektivierung. Erst die Durchsetzung dieser Entscheidung, ohne Rücksicht auf den Willen der Betroffenen und die Widerständigkeit gewachsener Verhältnisse, zerstörte die überkommene Ordnung endgültig. Weil die Ressourcen des Staates, wenn auch nicht mehr seine ‹Seele› und politische Kraftquelle, immer noch auf dem Lande ruhten, ging das ‹alte Russland› in vieler Hinsicht erst jetzt unter. Erst die Liquidierung der zahllosen Privatwirtschaften und ihre erzwungene Überführung in staatsabhängige Großbetriebe entzog sowohl der obščina als auch der auf sie gegründeten Sozialverfassung und Lebens- und Denkweise die Grundlage. Bei aller Zählebigkeit von ‹Überresten› verschwand nun in einem «der großen Dramen der Geschichte» (A. Nove) unwiderruflich ein ganzer «Kontinent» (L. Kopelev). Er zerbrach unter dem doppelten Ansturm sowohl der massiven Industrialisierung als auch der gezielten, den Einsatz ökonomischer, politischer und physischer Zwangsmittel nicht scheuenden Kollektivierung.

Aber was historisch Hand in Hand ging, war sachlich nicht unauflösbar miteinander verbunden. Analytisch muss zwischen den verschiedenen Vorgängen und Problemen getrennt werden, die im tatsächlichen Geschehen kaum zu entwirren waren: den Versorgungsschwierigkeiten in den Städten, dem Beitrag der Landwirtschaft zur Industrialisierung, der «Vernichtung der Kulaken als Klasse» und dem Zusammenschluss von Individualwirtschaften. Schon deshalb wurde unter Zeitgenossen und Historikern eher noch heftiger als über die Planwirtschaft über die Ursachen und Motive der Kollektivierung gestritten. Zur Diskussion stand vor allem die Frage, ob die Zerschlagung des alten Dorfes mit seinen Myriaden privater Kleinbetriebe und einem dichten Geflecht sozioökonomischer und mentaler Interdependenzen eine unerlässliche oder auch nur förderliche Voraussetzung für die beschleunigte Industrialisierung war oder nicht. Dies schloss die Berücksichtigung außerökonomischer Aspekte ein. Ideologische Vorgaben waren ebenso zu bedenken wie das Problem der politischen Kontrolle über das flache Land, der Endkampf gegen die Opposition und der von Anfang an geäußerte Verdacht, die abrupte Wende verdanke sich einer improvisierten, vielleicht sogar kurzschlüssigen Handlung als Befreiungsschlag aus einer nicht mehr beherrschten Zwangslage. In mancher Hinsicht kann die Wahrnehmung der Situation durch die Akteure, soweit sie rekonstruierbar ist, dabei als verbindendes Glied dienen. Auch deshalb erscheint es sinnvoll, die wichtigsten Etappen der Geschehnisse und Entscheidung in ihrer Verzahnung mit den Fraktionskämpfen genauer darzustellen.

Rückblickend wird klar, dass sich das Schicksal der NĖP schon in der Getreidebeschaffungskampagne des Winters 1927/28 entschied. Als der 15. Parteitag auseinanderging, wussten die Eingeweihten, dass die Aufkäufer nur halb so viel Getreide wie im Vorjahr von den Bauern hatten erwerben können. Im weiteren Verlauf des Winters war mit keiner Besserung zu rechnen. Nach Art und Ursachen erinnerte die Krise an die Situation vom Herbst 1925. Umso bezeichnender war der Unterschied der Reaktion. Zwei Jahre zuvor, als die NĖP in höchster Wertschätzung stand, hatte man den Marktkräften nachgegeben, höhere Getreidepreise akzeptiert und den Zeitrahmen der Industrialisierung gestreckt. Nach der Festlegung auf deren erhebliche Beschleunigung schied diese – immer noch reale – Option offenbar aus. Die Mehrheit der Parteiführung wollte eine solche Lösung nicht mehr. Sie zog es vor, die Daumenschrauben staatlichen Zwangs einschließlich willkürlicher Rechtsbeugung wieder anzulegen. Bereits in den ersten Januartagen 1928 wies Stalin, der die Initiative ergriff, die örtlichen Parteiorganisationen [sic!] an, «außerordentliche» Maßnahmen zu treffen. ‹Notstandskomitees› sollten die Kampagnen leiten, die Mitglieder des Politbüros und der höchsten Parteigremien ausschwärmen, um die Koordinierung auf regionaler Ebene zu übernehmen. Welcher Art die ‹Ermahnungen› waren, die zusätzliches Getreide in die staatlichen Vorratslager bringen sollten, machten die Reden Stalins beim Einsatz in Sibirien hinlänglich klar. Auf der Grundlage einer groben Schätzung des Ernteumfangs behauptete er die Existenz erheblicher Reserven und beschuldigte die ‹Kulaken› der Hortung. Um ihnen das Handwerk zu legen, waren nicht nur die übrigen Dorfbewohner, allen voran die armen, aufgerufen, jeden Verdacht zu melden. Auch Staatsanwälte und Gerichte sollten tätig werden. Stalin schreckte nicht davor zurück, den fortan berüchtigten Artikel 107 des Strafgesetzbuches der RSFSR, 1926 zur Bekämpfung kommerzieller «Spekulation» eingeführt, offen in Anschlag zu bringen. Der Rekurs auf Methoden des Bürgerkriegs war unübersehbar. Sonderbefugnisse, die Androhung von Freiheitsentzug (3–5 Jahre) und Konfiszierung sowie die Belohnung von Denunziation (in Gestalt eines ‹Finderlohns› von einem Viertel) pervertierten den «Verkauf» von Getreide endgültig zu einer kaum verhüllten neuerlichen Requisition.[11]

Der Erfolg all dieser Maßnahmen blieb indes begrenzt. Der Rückgriff auf Repression und Gewalt samt der begleitenden Entsendung Tausender ‹Parteikader› in die Dörfer trieb das staatliche Getreideaufkommen im Januar und Februar zwar deutlich nach oben. Doch danach begann ein ebenso rapider Fall, der bis zum Ende der Kampagne im Juni für ein insgesamt enttäuschendes Ergebnis sorgte. Dazu trugen erste Blicke auf die Wintersaat maßgeblich bei. Sie zeigten den Bauern, dass der Weizen starke Frostschäden erlitten hatte, und veranlassten sie, bei der Nachsaat nicht zu sparen und Reserven für sich und das Vieh anzulegen. Für den Staat blieb wenig übrig. Solch düstere Perspektiven verfehlten ihren Eindruck auf die Politik nicht. Obwohl noch niemand laut von einer gezielten Wende sprach, erhielten diejenigen Auftrieb, die über diese Option zumindest nachdachten. In der Partei begann eine Diskussion, die neue Fronten schuf. Als das ZK in der ersten Aprilhälfte zu einer Plenarsitzung zusammenkam, beeilte es sich zwar, allen Spekulationen über ein Ende der NĖP entgegenzutreten. Ausdrücklich verurteilte es solche Gerüchte als «bösartige Agitation der Kulaken, NĖP-Leute und ihrer Nachbeter». Aber auch nach dieser Versammlung ließ kein Geringerer als der Generalsekretär selbst in verschiedenen Reden erkennen, dass man auf «ural-sibirische Methoden» (benannt nach der Region ihrer Anwendung) angesichts unverändert trüber Ernteaussichten und der Gefahr einer Versorgungskrise in den Städten nicht völlig werde verzichten können.[12]

Vorerst bemühten sich Partei und Regierung jedoch, mit anderen Maßnahmen über die Runden zu kommen. Dafür bot sich vor allem die sogenannte Kontrahierung an. Seit 1926 hatte man sich mit diesem Verfahren bei Industriekulturen darum bemüht, Lieferungen durch Vorabverträge, sozusagen durch den Kauf als Sprösslinge, sicherzustellen. Zwei Jahre später begann man, dieses System auf Brotgetreide zu übertragen. Gute Dienste leisteten besonders die verschiedenen Genossenschaften, die sich allesamt fest in staatlicher Hand befanden. Vertragspartner waren in aller Regel die obščiny. Unter den veränderten Bedingungen gingen die Absichten indes über den unmittelbaren Zweck hinaus. Angesichts der allgemeinen Hinwendung zum sozialistischen Plan zielten sie auch darauf ab, die Verbindung zwischen agrarischer und industrieller Produktion von geldlichen Transaktionen zu lösen. Wie im Kriegskommunismus sollte der direkte Austausch der ‹Gebrauchswerte› die Vermittlung über den Markt ersetzen und zugleich die Planbarkeit auch der Landwirtschaft erhöhen. Allerdings blieb der Erfolg aus. Allem Anschein nach wurde nicht einmal die Beschaffung leichter. Die Bauern lieferten nicht mehr und nicht pünktlicher als sonst. Man darf annehmen, dass es um die Freiwilligkeit der Vereinbarungen, die im Rahmen regelrechter Kampagnen getroffen wurden, nicht gut bestellt war. In vielen Fällen gaben selbst die vertraglich Gebundenen ihr Getreide nur noch bei unverhüllter Gewaltandrohung heraus.

Auch andere Maßnahmen zielten im Wesentlichen darauf ab, Einfluss und Lenkungsmöglichkeiten des Staates vor der Schwelle massiven Drucks deutlich zu erhöhen. Mit dieser Absicht organisierten die Behörden seit dem Frühjahr 1928 aufwändige Aussaatkampagnen, die nicht nur Zeitpunkt und Dauer der Feldbestellung, sondern zunehmend auch Umfang und Art des Anbaus vorzugeben suchten. In diesem Falle stellte sich ein gewisser Erfolg ein. Er zeigte an, dass das Produktivitätspotential auch der althergebrachten Kleinbetriebe noch nicht ausgeschöpft war. Auf der anderen Seite wurde das ehrgeizigere Ziel einer deutlichen Ausweitung der Anbaufläche – ebenso wie im folgenden Jahr – nicht erreicht. Ihm widersetzte sich eine Realität, die durch politische Vorgaben nicht einfach beiseite zu wischen war. Ein Mittel, sie zu verändern, bestand in der Fortsetzung der noch von Stolypin auf den Weg gebrachten Neuvermessung der Flur. Staat und Partei nutzten die Gelegenheit in wachsendem Maße, um die Bewirtschaftungsform in ihrem Sinne zu ändern. Man korrigierte die Landaufteilung zugunsten der armen Bauern oder beließ kompakte Flächen so, dass sie nur gemeinschaftlich bearbeitet werden konnten. Die «Landeinrichtung» wurde zum Vehikel der Kollektivierung. Mit guten Gründen hat man argumentiert, dass dieser Weg zum erklärten sozialistischen Ziel, wenn er im Einvernehmen mit der obščina beschritten wurde, der vernünftigste war, weil er mit der neuen Nutzungsform auch die unabdingbaren sachlich-materiellen Voraussetzungen zu schaffen suchte. Er hatte nur denselben gravierenden Nachteil wie vor der Revolution: dass er wegen des Ausmaßes der Veränderungen und der Kosten viel Zeit in Anspruch nahm.[13]

Eben ein solch bedächtiger Wandel reichte der zunehmend einflussreichen Fraktion um Stalin nach der Grundsatzentscheidung zugunsten einer schnellen Industrialisierung nicht mehr aus. Sie nutzte die Getreidekrise, um einen rascheren Umbruch der Produktions- und Besitzverhältnisse auf dem Dorf allgemein anzumahnen. Dafür sprachen aus ihrer Sicht sachliche wie ideologische Gründe gleichermaßen: allen voran der Glaube an die prinzipielle Überlegenheit der bloßen Größe und die ‹strukturelle› Notwendigkeit, auch den agrarischen Bereich größerer Planbarkeit zu unterwerfen. Die Treibjagd gegen die ‹Kulaken› bildete nur einen Aspekt dieser Strategie; ein anderer bestand in der verstärkten Förderung des Zusammenschlusses zu Kolchosen. Nach dem ‹Kriegskommunismus› im Gefolge der NĖP einem eher kümmerlichen Dasein überlassen, belief sich deren Zahl noch 1926 in der gesamten UdSSR auf bloße 18.000; erst recht blieben Sowchosen eine quantité négligeable. Wer einer Genossenschaft beitrat, tat das kaum aus ideellen Antrieben. Es waren in aller Regel die ärmsten Bauern in Regionen ohne alternative Einkommen, die auf diese Weise in den Genuss materieller Vorteile, so bescheiden sie waren, zu gelangen suchten. Überdies unterschieden sich die Kolchosen im Grad ihrer Vergemeinschaftung erheblich. Von den drei Hauptformen, der «Kommune» mit gemeinsamer Produktion und weitgehendem Gemeinbesitz, dem «artel’» mit kollektiv genutztem Gerät und Inventar und der bloßen «Genossenschaft zur gemeinsamen Landbearbeitung» (TOZ) ohne jegliche ‹Sozialisierung›, fand die Letztgenannte die weitaus größte Verbreitung. Kolchosen bestanden daher aus wenig mehr als gegenseitiger Unterstützung ansonsten nicht lebensfähiger Zwergwirtschaften.

Dies sollte sich nun ändern. Was der 15. Parteitag im Dezember 1927 zwar nachdrücklicher als zuvor, aber ohne zeitliche Festlegung beschlossen hatte, wurde konkret. Die Getreidekrise gab auch Anlass, die «sozialistische Umgestaltung des Dorfes» auf die Tagesordnung zu setzen. Im Zuge der Aussaatkampagne wurde intensiv für die Vorzüge der kollektiven Produktion geworben. Tatsächlich war im Frühjahr 1928 noch auf freiwilliger Basis, wenn auch vom Staat gefördert, eine erste Welle der «Kollektivierung» im engeren Sinne zu beobachten. Im Vergleich zum selben Stichtag im Vorjahr wuchs die Zahl der Kolchosen zum 1. Juni 1928 um mehr als das Doppelte (auf 1,7 % aller bäuerlichen Haushalte), die Größe ihrer Saatfläche um gut 180 %. Zugleich verstärkte der Staat seine Kontrolle. Er nutzte seine Machtmittel nicht nur, um gegen Pseudozusammenschlüsse vorzugehen, sondern auch, um die neuen Wirtschaften an kürzeren Zügeln zu führen. Das Ergebnis dieser Anstrengungen blieb jedoch enttäuschend. Weiterhin traten ganz überwiegend arme Bauern in den Kolchos ein. Partei und Behörden förderten – eher unbeabsichtigt – diese Tendenz. Da die mittellosen Wirtschaften auf die althergebrachte Hilfe der Wohlhabenden angewiesen waren, traf deren Drangsalierung auch die umworbene «Dorfarmut». Ohne die suprjaga suchten sie Zuflucht in den Genossenschaften, die durch sie aber nicht an Lebenskraft gewannen. Fachleute hielten diese Entwicklung denn auch für ruinös und mahnten ihre Beendigung an. Ihre Warnungen waren umso begründeter, als sich die vollmundigen Ankündigungen führender Parteipolitiker, die Kolchosen großzügig mit Maschinen auszustatten, als leeres Gerede erwiesen. Statt ökonomische Vorteile zu bringen, warf die erste Kampagne zur beschleunigten, aber noch weitgehend gewaltfreien Kollektivierung vor allem ein Schlaglicht auf ihre Voraussetzung: dass sie nur synchron zum industriellen Fortschritt und bei hinreichender Ausstattung der neuen Wirtschaften mit Land und Maschinen sinnvoll war.

Derartige Probleme zeigten an, dass ein Wandel auf dem Dorfe ohne Stärkung des staatlichen Einflusses kaum möglich sein würde. Eine Abkehr von der NĖP zog die Notwendigkeit nach sich, die Marktmechanismen durch Lenkung und die Freiwilligkeit der bäuerlichen Entscheidungen durch Einwirkung von außen zu ersetzen. Dafür brauchten Staat und Partei mehr und solidere Stützpunkte auf dem Lande. Die erwähnte Stärkung der Dorfsowjets auf Kosten der obščina wurde nicht zufällig 1928 forciert. Ihr entsprachen auf Parteiebene intensive Werbekampagnen vor allem unter der «Dorfarmut». Bednjaki sollten die Reihen der Bolschewiki stärken und den neuen Klassenkampf von unten stützen. Zugleich überprüfte man, unter führender Beteiligung des Komsomol, die vorhandenen Dorfzellenmitglieder auf ihre soziale Herkunft ebenso wie auf ihr Verhalten und eventuell ihre Amtsführung. Immerhin 15 % wurden wegen Trunkenheit, Untätigkeit, «klassenfremden Verhaltens» und anderer vorgeblicher oder tatsächlicher Verstöße gegen Geist und Charakter der Partei ausgeschlossen, weitere 15 % ermahnt. Numerisch war das Resultat auch dieser Anstrengungen eher dürftig. Nicht nur relativ, auch absolut blieben die Kommunisten eine kleine Minderheit. Auf andere Weise vermochte die Staatsmacht dennoch ihre Interventionskraft deutlich zu steigern: Erstmals sandte sie städtische Parteikader aus, um die verordnete Politik auf dem Dorfe durchzusetzen. Alle Kampagnen wurden von solchen importierten Arbeiter- und Funktionärsbrigaden getragen. Soweit sie Erfolg hatten, war er ihren Reden und Drohungen zu verdanken. Dieses Verfahren sollte Schule machen.[14]

So war die Gesamtbilanz des Jahres 1928 ambivalent. Allem Anschein nach vermochte sich die bald so genannte «Rechte» im Frühsommer zu fangen und der offiziellen Politik wieder ihren Stempel aufzudrücken. Im Juni überwand die Regierung alle Scheu vor einem Prestigeverlust und kaufte im Ausland Getreide. Der Exporteur trat, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, wieder als Importeur auf – einen Rollenwechsel, der mit großer Aufmerksamkeit registriert wurde. Wenig später sprach sich das Juli-Plenum des ZK vorbehaltlos für die Rückkehr zum Markt aus. Es hob alle außerordentlichen Maßnahmen auf und schlug den einzig erfolgversprechenden Weg ein – es erhöhte die Aufkaufpreise. Zugleich wurde Order gegeben, die lokalen Märkte wieder zu öffnen. Doch diese scheinbare Rückkehr zum alten Zustand blieb auf halbem Wege stecken. Was beschlossen wurde, erlangte nur teilweise praktische Geltung. Hinzu kam, dass der Verzicht auf staatlichen Druck in der Partei umstritten war und seine Gegner Oberhand gewannen. Ein Übriges bewirkten die unveränderten Beschaffungsdefizite, zu denen die unklare Politik beitrug. Im Herbst zeichnete sich ab, was im Dezember Taten verlangte: Brot wurde so knapp, dass die Behörden erstmals seit dem Bürgerkrieg zur landesweiten Rationierung übergehen mussten (Februar 1929). Damit lag offen zutage, dass die Agrarpolitik des abgelaufenen Jahres gescheitert war. Die Getreidekrise bestand nicht nur fort, sie hatte sich sogar zugespitzt.[15]

Dieser Misserfolg begünstigte den Entschluss zu tieferen Einschnitten. Prüfstein für jede Strategie blieben dabei die Getreidebeschaffung und die Frühjahrs- und Herbstsaat. Keiner Erläuterung bedarf, dass die Maßnahmen, von denen man sich Linderung erhoffte, nicht ohne Lösung des Konflikts in der Parteiführung ergriffen werden konnten. So verknüpfte der Knoten, der zu entwirren war, mehrere zentrale Probleme: die Bauernfrage mit den Lebensbedingungen der Arbeiterschaft und der übrigen Stadtbewohner sowie das Schicksal der neuen Opposition mit dem Charakter der politischen Ordnung und Herrschaftsverfassung.

Dringender Handlungsbedarf entstand schon in den letzten Wintermonaten. Die wachsenden Versorgungsschwierigkeiten schufen einen günstigen Nährboden für den freien, illegalen Handel. Es zeigte sich, dass die begehrten Lebensmittel nicht völlig, sondern nur aus den staatlichen Lagern verschwunden waren. Auf dem Schwarzmarkt tauchten manche Reserven auf, die – wie im Bürgerkrieg – mit erheblichem Aufschlag verkauft wurden. Im März 1929 erreichte die Differenz zwischen Staats- und Marktpreisen bei Weizen in der Ukraine 282 %, bei Roggen war sie noch größer. Angesichts dieser Situation suchten Partei und Staat abermals bei repressiven Methoden Zuflucht. Was ohnehin nie wirklich aufgegeben worden war, avancierte wieder zur vorherrschenden Beschaffungsform. Auch wo sich Dorfversammlungen ‹freiwillig› zur Ablieferung von Getreide verpflichteten, fügten sie sich faktisch städtischen Emissären, die das Abgabevolumen gleich festsetzten. Um den Wünschen Nachdruck zu verleihen, ergänzte man die ohnehin willkürlichen Straftatbestände des Art. 107 weiter: Wer der ‹Hortung› für schuldig befunden wurde, hatte – von Schlimmerem nicht zu reden – die ‹fünffache› Menge abzugeben (pjatikratka). Erneut bemühte man sich damit, die «Dorfarmut» als Komplizen zu gewinnen. Einmal mehr machte man jedoch die Erfahrung, dass die Umworbenen sich zurückhielten. Dazu trug ein Umstand bei, der die Zwangseintreibung im Winter 1928/29 noch deutlicher kennzeichnete als im Vorjahr: Endgültig weitete sich der Kreis der Betroffenen auf die Mittelbauern aus. Dies konnte nach Lage der Dinge kaum anders sein. Da die Zahl der Wohlhabenden mit vielleicht 3 % aller Haushalte klein war, musste die Masse des benötigten Getreides woanders aufgebracht werden – bei der großen Mehrheit der Wirtschaften und Dorfbevölkerung, den serednjaki. Bereits hier wurde die Logik sichtbar, die bald dazu Anlass gab, neben den «Kulaken» noch «Unter»- und «Halb-Kulaken» zu erfinden. Die ‹Klassenanalyse› zeigte ihr wahres Gesicht. Sie verhüllte nur fadenscheinig, dass der Staat alle meinte und alles wollte.[16]

Nicht von ungefähr steuerte auch der innerparteiliche Konflikt um diese Zeit auf eine Entscheidung zu. Die beiden Hauptkontrahenten sprachen schon längst nicht mehr miteinander. Ihre Positionen waren, spätestens seit Bucharins Anmerkungen eines Ökonomen vom Herbst 1928, klar. Beide gingen jedoch nicht in die Offensive. Auch Stalin vermied es mit kluger Zurückhaltung, die Kritiker unverhohlen zu attackieren. Noch im Dezember 1928 attestierte er ihnen, keine Fraktion zu bilden und nicht gegen die Parteidisziplin zu verstoßen. Dies änderte sich nach der Jahreswende. Einer Sitzung des Politbüros vom 9. Februar 1929 kam der zweifelhafte Ruhm zu, das Signal für den Sturmangriff auf die «letzte Opposition» (M. Lewin) in der bolschewistischen Partei gegeben zu haben. Sie verurteilte nicht nur Gespräche zwischen Bucharin und Kamenev, über die Gerüchte kursierten, als Verstoß gegen das Fraktionsverbot. Darüber hinaus nannte sie die Gegner nunmehr öffentlich beim Namen und wies deren – ebenfalls erstmals in einer Plattform niedergelegten – Behauptungen auch inhaltlich in aller Schärfe zurück: Weder für «Bürokratismus», den nun auch diese Seite am Werke sah, noch gar für eine «militär-feudale Ausbeutung der Bauern» vermochte sie irgendwelche Anzeichen zu entdecken.[17]

Was mit dieser Resolution begann, fand auf der Plenarversammlung des ZK und der CKK Mitte April 1929 seinen Höhepunkt. Wenn das Schicksal der «rechten Opposition» und der NĖP noch offen war – spätestens diese Zusammenkunft besiegelte es. Siegesgewiss konnte Stalin in einer langen Rede verschärft und gebündelt alle Vorwürfe seiner Fraktion gegen die angeblich Abtrünnigen wiederholen. Zugleich formulierte er die eigene Strategie deutlicher denn je. Bucharin, Rykov und Tomskij mussten sich als ‹Kulakenfreunde› beschimpfen lassen, die den Klassenkampf auf dem Dorf nicht wahrhaben wollten und sich den Falschen an den Hals warfen. Gefahr für die NĖP komme nicht von ‹links› in Gestalt einer Unterminierung des Marktes, sondern von ‹rechts›, wo die Notwendigkeit für den Staat missachtet werde, regulierend in die vom Stärkeren diktierten Tauschbeziehungen einzugreifen. Richtig verstandene Parteilichkeit verbiete es, das Versorgungsdilemma durch Preiserhöhungen beheben zu wollen: Die Zeche müssten die Arbeiter zahlen, deren Lebenshaltung sich verteuere. Alle echten Marxisten unter den Fachleuten seien sich einig, dass der beschlossene Aufbau des Sozialismus ohne ein temporäres «Hinüberpumpen» der agrarischen Ressourcen in die Industrie nicht zu verwirklichen sei. Es verrate den seichten Liberalen, diesen Transfer als «Tribut» anzuprangern. Auch die Kritik an «Überspitzungen» bei der Getreidebeschaffung hielt Stalin für unbegründet. Nach mehreren guten Jahren verfügten die «Kulaken» nach seiner Meinung über ausreichende Reserven, um den Forderungen entsprechen zu können. Das große Ziel verlange und rechtfertige «zuweilen außerordentliche Maßnahmen». Auf Dauer müsse aber nach einer anderen Lösung gesucht werden. Es komme darauf an, die Landwirtschaft mit der schnellen, geplanten Industrialisierung kompatibel zu machen. Die politische Handlungsanweisung, die aus solchen Überlegungen zu entnehmen war, lag auf der Hand: Getreide sollte nicht nur ausnahmsweise requiriert werden und die Grundlegung des Sozialismus nicht mehr von den «Launen» der Kulaken abhängen. Damit wurden die beiden entscheidenden Weichen für die wirtschaftliche (und soziale) Entwicklung der nächsten Zukunft synchron gestellt. Dieselbe Versammlung, die den revidierten Fünfjahresplan mit entschieden höheren (wenn auch in der Folgezeit weiter drastisch heraufgesetzten) Kontrollziffern annahm, billigte auch die neue Gangart an der agrarischen ‹Front›. Während Bucharin die (auch von ihm für nötig gehaltene) Umgestaltung des Dorfes «auf europäische» und nicht «auf asiatische Art» anstrebte, akzeptierte die Partei Stalins verächtlichen Bannfluch, dass «Klasse» eben «Klasse» sei.[18]

Auf der Hand lag, was der neue Kurs als Erstes zu leisten hatte: endlich so viel Getreide in die staatlichen Scheuer einzubringen, dass die Versorgung der Städte gesichert war. Schon seit Jahresbeginn hatte man mit der propagandistischen Vorbereitung der Saatkampagne begonnen. Nach dem Vorbild des Vorjahres wurden in den Dörfern spezielle Komitees gebildet, die dafür sorgen sollten, dass es weder an Saatgut und Inventar noch an Arbeitskräften mangelte. Auch mit auswärtiger Hilfe geizten Partei und Staat nicht; Arbeiterbrigaden wurden in so großer Zahl in die Dörfer entsandt, dass ihre Kontrollfunktion nicht zu übersehen war. Dennoch erreichte man nur im Vergleich zu 1928, nicht aber im Vergleich zu 1927 eine Ausdehnung der Saatfläche. Lange wurde dieses absehbare Ergebnis verschwiegen. Seit der Aprilkonferenz galt nur schönfärberischer Optimismus als Dokumentation des erwarteten sozialistischen Aufbauwillens. Als dennoch deutlich wurde, dass die tatsächliche Ernte leicht unter und nicht über dem Vorjahresniveau lag, blieb zur Gesichtswahrung und Vermeidung weiterer Kalamitäten nur ein Ausweg – die Beschaffungsquote zu erhöhen. Demgemäß setzten die Machthaber alle Hebel in Bewegung, um möglichst noch vor den prekären Wintermonaten ausreichend Getreide zu beschaffen. Das zuständige Volkskommissariat mobilisierte die ihm faktisch untergebenen Produktions- und Konsumkooperativen, um die Kolchosen und Einzelbauern an ihre Vertragspflichten zu erinnern. Die Partei rief in nie dagewesenem Ausmaß Freiwillige aus dem Komsomol und den Gewerkschaften zum Einsatz. Auch psychologisch begann die innere ‹Front› die äußere zu ersetzen; die ‹Ernteschlachten› warfen ihren Schatten voraus. Neue Pläne wurden erstellt, die für jedes Dorf monatliche Ablieferungsmengen festlegten. Gemeindeversammlungen und Dorfsowjets erhielten die Befugnis, Behinderungen bei der Planerfüllung zu ahnden. Fortan konnten die pjatikratka und andere, im neuen (zusätzlich zum Art. 107 geschaffenen) Paragraphen 61 des Strafgesetzbuches verankerte Strafen administrativ ohne gerichtliche Anordnung mit ausdrücklicher polizeilicher Unterstützung verfügt werden.

Der wachsende Druck blieb nicht ohne Antwort. Die Bauern versuchten mit allen Mitteln, die Abgabepflicht zu umgehen. Dazu gab auch der Umstand Anlass, dass sich ihre Versorgung mit Industriewaren nicht besserte. Die einschlägigen Planungen konnten nicht eingehalten werden. Umgekehrt stieg die Kaufkraft der Stadtbewohner aufgrund der enormen Investitionen in Großbauten und -unternehmen nominal stark an. Im Resultat war es für die Landbevölkerung noch vorteilhafter als zuvor, ihre Erzeugnisse privaten Kleinhändlern zu verkaufen, die sie in den städtischen Außenbezirken illegal für teures Geld weitergaben, oder auf den Ackerbau ganz zu verzichten und sich als Industriearbeiter zu verdingen. Gelegentlich vergruben Bauern ihr Korn oder verbrannten es lieber, als es den staatlichen Agenten auszuliefern. Auch gewaltsamer Widerstand blieb nicht aus: Bauern attackierten Requisitionsaktivisten, setzten Scheunen in Brand oder verteidigten ihr Getreide mit der Waffe. Dennoch bei so viel Zwang und personellem Aufwand konnten sich diesmal auch die Ergebnisse sehen lassen. Die (noch zuverlässigen) Daten bezeugen, dass im Sommer 1929 zweimal mehr Getreide eingebracht wurde als im Vorjahr. Im Dezember konnte der Volkskommissar für Handel Mikojan triumphierend melden, dass bereits 92,1 % des gesamten Jahresplans 1929/30 beschafft worden seien. Die Freude wurde allerdings dadurch empfindlich getrübt, dass sich die Versorgungslage nicht entspannte. Obwohl der größere Teil des ‹Surplus› in den Staatshandel floss, reichte die Menge nicht aus, um den Fehlbedarf zu decken. Hinzu kam eine weitere Enttäuschung. Auch der Getreideexport, den man wieder aufnehmen konnte, brachte wegen des Preisverfalls im Gefolge der Weltwirtschaftskrise nicht den erhofften und – zur Finanzierung der Industrieimporte – dringend benötigten Erlös. Sachkennern war außerdem klar, dass das quantitativ eindrucksvolle Getreideaufkommen teuer erkauft worden war. Die Bauern hatten sich verausgaben müssen, aus Protest Vieh geschlachtet oder ihre Wirtschaften ganz aufgegeben, um Repressalien vorzubeugen. So glich das Resultat dem sprichwörtlichen Pyrrhussieg: Es war um den Preis der Zerstörung der Voraussetzungen für eine Wiederholung im folgenden Jahr erreicht worden und trug dennoch nicht einmal dazu bei, die Ernährungskrise zu beheben.[19]

Neuen Nachdruck verlieh die Kurskorrektur vom April 1929 auch jenem Vorgang, der das Problem ein für alle Mal lösen sollte. Denn beide entsprangen derselben Geisteshaltung: Wer das Versagen politisch-fiskalischer Steuerung durch Klassenkampf zu kompensieren suchte, war auch geneigt, die vermeintliche Wurzel des Übels, die ‹Anarchie› des Marktes und den Eigennutz der großen Produzenten, radikal zu extrahieren. Als Partei und Staat beschlossen, die Kollektivierung voranzutreiben, hoben sie faktisch auch den Rest ihrer Freiwilligkeit auf. Bis zum April 1929 galt im Prinzip (wenn auch in der Realität zumeist schon nicht mehr), dass sich die selbständigen Bauern von den Vorteilen gemeinsamen Wirtschaftens überzeugen und sich aus eigenem Antrieb zusammenschließen sollten. Danach wurde Druck ausgeübt, durch Kampagnen städtischer Aktivisten, durch diskriminierende Steuern für wohlhabendere Besitzer sowie in wachsendem Maße auch durch Gewaltandrohung. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch die ökonomische Binsenweisheit akzeptiert, die dem Fünfjahresplan ebenso zugrundelag wie den Vorstellungen Bucharins: dass die Kollektivierung nur sinnvoll sei, wenn sie durch den Einsatz von Traktoren und anderen Maschinen unterstützt würde. In diesem Sinne ging man von einer unauflöslichen Verbindung zwischen Industrialisierung und Kollektivierung aus. Seit der Niederlage der «Rechten» setzte sich dagegen die Auffassung mehr und mehr durch, dass schon die bloße Zusammenlegung von Ackerflächen und Inventar ohne begleitende Verbesserung der Anbaumethoden einen erheblichen Fortschritt bedeute. Der Großbetrieb wurde, ohne Ansehung seiner Ausstattung, zum Selbstzweck.

Plausibel hat man argumentiert, dass hierin die treibende Kraft und ideologische Motivation dessen lag, was seit April forciert wurde. Die vorangegangene Entwicklung konnte die Erwartungen nicht zufriedenstellen. Ein deutscher Beobachter sprach noch im Juli 1929 eine offenbar evidente Wahrheit aus, als er die von ihm inspizierten Kolchosen «moribund» nannte. In vieler Hinsicht war dies eine Folge der alten, ‹liberalen› Handhabung der Kollektivierung. Solange ökonomische Motive und Freiwilligkeit den Ausschlag gaben, verzichteten in der Tat nur solche Bauern auf ihre Selbständigkeit, die nichts zu verlieren hatten. Zu ändern war dieser Zustand im Wesentlichen nur auf zweierlei Weise: durch die Verbesserung des Anbaus oder die Ausdehnung der Betriebsflächen. Im Idealfall sollte beides miteinander verknüpft sein, da die Traktoren ihre ganze Leistungsfähigkeit erst in großen Wirtschaften würden entfalten können. Die Wirklichkeit zeigte indes sehr schnell, dass es um die Realisierbarkeit der beiden Wege sehr unterschiedlich stand. Sogenannte Maschinen- und Traktorenstationen (MTS), die jeweils mehrere Sowchosen, Kolchosen und Einzelhöfe mit Zugkraft versorgen sollten, gehörten zwar zu den vorrangigen Zielen des Fünfjahresplans und wurden seit 1928 auch mit größerem Elan als zuvor eingerichtet. Zu Jahresbeginn 1929 verfügte der Dachverband der Getreideproduktionsgenossenschaften (Chlebocentr) über 13 solcher Stationen mit je 25 Traktoren; bis zum 15. November vergrößerte sich sein Netz auf 61 Stationen mit je 33 Traktoren, die 362 Staats- und Kollektiv- sowie über 55.300 Einzelwirtschaften betreuten. Und Ende 1930 standen dem gesamten MTS-System gut 31.000 Traktoren zur Verfügung. Auch diese Zahl blieb indes zu gering und die Ausstattung zu dürftig, um einen nennenswerten Effekt erzeugen zu können. Auch wenn erste Traktorenwerke – in Stalingrad und bald darauf in Char’kov – ihre Produktion aufnahmen, blieb die Realität gerade in dieser Hinsicht weit hinter den hochfliegenden Plänen zurück. Hinzu kamen hohe Selbstkosten und lange Ausfallzeiten wegen schlechter Qualität, mangelnder Ersatzteile und sorgloser Wartung. Da die Vertragswirtschaften auch noch ein Drittel und mehr ihrer Ernte für die maschinelle Feldbestellung bezahlen mussten, lohnte sich diese Art von Technisierung für sie nicht. Fürs Erste kam die Industrialisierung der Landwirtschaft nicht vom Fleck.[20]

Leichter war der andere Weg zu beschreiten. Um die Kolchosen zu vergrößern, bedurfte es keiner großen Investitionen und neuen Fabriken. Hier genügte, jedenfalls bei Ausblendung qualitativer Aspekte, der ‹bloße› Zwang. Die Bereitschaft, ihn anzuwenden, wuchs in dem Maße, wie das sozialistische Fieber und jene Mentalität um sich griffen, die das Heil vom ‹großen Sprung› in die Verheißungen der ‹unvermischten› neuen Wirtschafts- und Sozialordnung auch auf dem Lande erwartete. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde diese ideologische Wende zum ersten Mal durch eine Plenarversammlung des Moskauer Parteikomitees bekannt. Der oberste Bolschewik der Hauptstadt sprach bei dieser Gelegenheit in einer bezeichnenden Formulierung vom bevorstehenden ‹Endkampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus›. Und er kündigte an, worin sich diese Phase vom bestehenden Zustand unterscheiden werde: Die Kollektivierung werde als «Bewegung auch der Mittelbauern … ganze Dörfer» erfassen und im Moskauer Gouvernement in «ein bis zwei Dekaden» abgeschlossen sein. Damit waren in der Tat die wesentlichen Kennzeichen der neuen Agrarpolitik benannt. Auch wenn die angegebene Frist im Vergleich zur baldigen Wirklichkeit ein nachgerade gemächliches Tempo unterstellte, schloss vor allem die Vereinnahmung der serednjaki und die implizierte Ausgrenzung der Kulaken Gewaltanwendung ein. Niemand konnte ernsthaft glauben – am allerwenigsten ein überzeugter Kommunist –, dass die vermeintlichen kleinen und großen Agrarkapitalisten ihrer ökonomischen Vernichtung begeistert zustimmen würden. Dieses Programm bedeutete eine Kriegserklärung gerade an den Durchschnittsbauern. Von nun an grassierte die Angst auf dem Dorfe.[21]

In welchem Maße sie berechtigt war, zeigten die Vorgaben für die Sommerkampagne. Parallel zur Steigerung der Wachstumsraten im Fünfjahresplan übertrafen sich die Agenturen in der Heraufsetzung der Kollektivierungsziele. Im Juni 1929 gab Chlebocentr bekannt, bis zum Ende des Wirtschaftsjahrs (Mitte 1930) eine Million bäuerlicher Haushalte in der RSFSR und 1,5 Mio. in der UdSSR zusammenschließen zu wollen. Im August nannte Gosplan für denselben Zeitraum bereits die Richtgröße von 2,5 Mio. Haushalten mit 13 Mio. ha bestellten Landes. Am 12. September meldete die Pravda, dass diese Zahl deutlich zu übertreffen sei, und kündigte für die Getreideüberschussgebiete eine Kollektivierungsquote von mindestens 50 %, für die gesamte UdSSR von 60 % bei Ablauf des Fünfjahresplans Mitte 1933 an. Rein quantitativ wurde zwischen Juni und Oktober in der Tat viel erreicht. Der Anteil der zusammengeschlossenen Wirtschaften erhöhte sich in der UdSSR von 3,9 auf 7,5 % entsprechend 1,9 Mio. Haushalten, in der Ukraine (der alten ‹Kornkammer› des Reiches) auf 10,4 % (vgl. Tab. 9).